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Ein Mord, eine Verschwörung – und ein seit Jahrtausenden gehütetes Geheimnis Als der Priester der Sankt-Nicholas-Kirche in Alexandria tot aufgefunden wird, herrscht nicht nur in der Gemeinde heller Aufruhr: Alles deutet auf Mord hin. Doch wer oder was steckt dahinter – die Mafia, ein Familienstreit oder doch der erfolgshungrige Archäologe, der in den Gotteshäusern der Stadt etwas zu suchen scheint und vielen ein Dorn im Auge ist? Die junge Kommissarin Theodora Costanda wird mit dem Fall betraut und stößt auch durch ihre Außenseiterrolle – als Frau, als Angehörige der griechischen Minderheit, als Christin – bei ihren Ermittlungen auf eine Mauer des Schweigens. Doch sie gibt nicht auf und kommt einem uralten Bund auf die Spur, der eines der größten Geheimnisse der Antike zu bewahren sucht – um jeden Preis. Die Reihe um Theodora Costanda ist in folgender Reihenfolge erschienen: - Band 1: Kleopatras Grab - Band 2: Echnatons Fluch
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Seitenzahl: 345
Constantin Schreiber
Ägypten-Krimi
Roman
Wissenschaftler gehen davon aus, dass uns nur ein Prozent des Wissens der Antike überliefert ist – vielleicht, nein, sehr wahrscheinlich ist unsere Vorstellung von Geschichte somit falsch. Was, wenn wir einen Schlüssel erhielten, die wahre Vergangenheit zu erkennen und unsere Herkunft zu verstehen? Was, wenn wir dann erkannten: Es war alles anders! Wir müssen alles neu begreifen!
Freitag
Zuerst war er untergegangen in dem Lärm des Verkehrs, der unablässig über die Brücke geführt wird, aber dann hören sie ihn doch – den schrillen, hektischen Aufschrei. Die Menschen in den Cafés verstummen, die spielenden Kinder am Strand halten inne, Passanten auf der Promenade bleiben stehen und recken die Köpfe. Auf der Terrasse des San-Giovanni-Hotels lehnt eine junge Frau an der Brüstung. Die Augen schreckgeweitet zeigt sie in Richtung Brücke, die die kleine Bucht von Stanley Beach überspannt. In sanften Wellen schwappt das Wasser unten gegen die Brückenpfeiler, zwischen denen sich ein lebloser Körper im Takt hebt und senkt – er ist bekleidet, männlich, die Arme ausgebreitet, den Kopf unter Wasser.
Schon laufen die Menschen am Ufer zusammen, Einheimische wie Touristen. Heute, an einem Freitagnachmittag, ist der Strand voll. Es sind vielleicht die letzten Tage in diesem Jahr, an denen es noch warm genug ist, die Sonnenstrahlen am Meer zu genießen. Die Wintermonate stehen bevor, in denen es hier an der Nordküste Ägyptens mild, aber regnerisch ist. Jedenfalls zu ungemütlich für einen Tag am Meer. Jetzt aber, Ende Oktober, ist der Strand noch mal so voll wie sonst nur im Sommer. Stanley Beach an Alexandrias Uferstraße, der Corniche, ist für gewöhnlich ein einziger großer Laufsteg, auf dem sich stolz die Vielfalt dieser Stadt präsentiert. Sehen und gesehen werden ist das Motto. Doch jetzt schauen alle nur auf die leblose Gestalt, keine fünfzig Meter vom Ufer entfernt.
Ein Mann läuft zum Strand hinunter, ist mit wenigen Sprüngen im Wasser, krault in Richtung Brückenpfeiler, zieht den Körper zu sich und schleppt ihn an Land.
Der Tote muss schon geraume Zeit im Wasser getrieben haben. Die Haut ist bläulich weiß, das Gesicht aufgedunsen. Einige Badegäste halten ihren Kindern die Augen zu, andere haben Smartphones gezückt und machen Fotos.
Jetzt ertönen Polizeisirenen. Mehrere Polizeiwagen nähern sich dem Platz, wo die Corniche zur Brücke abzweigt. Sie halten an. Dann kommen die Polizisten. Sie fordern die Schaulustigen auf, beiseitezutreten und sie durchzulassen. In den nächsten Minuten sind sie und die Einsatzhelfer damit beschäftigt, den Ort abzusperren und Sichtschutze aufzustellen.
Ein Arzt trifft ein, kniet sich neben die Leiche. Er betrachtet das schlammverschmierte Hemd des Mannes, reißt es auf. Auf dem hellen Torso hebt sich deutlich eine blutrote Stichwunde nahe dem Herzen ab. Zwei der Polizisten beobachten das Geschehen mit ernsten Gesichtern. Das ist kein Fall für sie. Sie sind einfache Streifenpolizisten aus dem Viertel.
Einer der beiden holt sein Handy aus der Tasche, nimmt einen Anruf entgegen, nickt, legt wieder auf. Er wendet sich an seinen Kollegen. »Jemand von der Mordkommission ist schon unterwegs. Ein Theo.«
»Eine Theo«, sagt wie aufs Stichwort die Frau, die sich den beiden von hinten genähert hat. »Theodora Costanda, tasharrafna – sehr erfreut«, sagt sie im besten alexandrinischen Arabisch, damit klar ist: Sie ist von hier.
Sie kennt das – die Irritation wegen ihres griechischen Namens. Und natürlich wegen ihres Geschlechts. Eine Frau bei der Polizei, noch dazu in der Mordkommission – das ist ungewöhnlich in Ägypten, selbst in Alexandria.
Alexandria mit seinem hohen Anteil an Christen und den vielen modernen, säkularen Musliminnen ist anders als andere Städte des Landes. Hier tragen weniger Frauen einen Hijab. Viele arbeiten inzwischen in Berufen, die traditionell von Männern dominiert wurden und noch immer dominiert werden. Aber mit ihrer hellen Haut, ihren blauen Augen und den halblangen, gewellten braunen Haaren wirkt Theo auf die meisten Ägypter wie eine agnabija, eine Ausländerin. Doch Alexandria ist ihre Heimat – wenn sie auch nicht hier geboren ist. Aber das ist eine lange Geschichte.
Zwei Männer mit schweren Taschen nähern sich der Absperrung, werden von den Polizisten aufgehalten. Die Kollegen sehen unsicher zu Theodora herüber.
»Die Spurensicherung. Lasst sie durch«, sagt Theodora in bestimmendem Ton.
»Sind Sie die ermittelnde Kommissarin?«, fragt einer der Männer, der sich ihr als Polizeimeister Basil vorstellt.
Theodora nickt.
Als der Polizist an ihr vorbei zu dem Toten schaut, wird sein Blick starr. Dann sieht er Theodora verwundert an. »Wissen Sie, wer das ist?«
Theodora schüttelt den Kopf.
»Ich dachte … weil Sie Christin sind …«
Theo betrachtet erneut das zur Seite gedrehte, aufgequollene blasse Gesicht. Sie ist sich sicher, dass sie den Mann noch nie gesehen hat.
Basil hilft ihr auf die Sprünge. »Abuna Gabriel. Der Priester der Sankt-Nicholas-Kirche.«
Theo runzelt die Stirn. »Sankt Nicholas? Die ist nicht gerade in der Nähe, oder?«, murmelt sie.
Der Polizist schüttelt den Kopf.
Theodora sieht auf die Leiche. Ein ermordeter Geistlicher in einem Land, in dem orthodoxe Christen immer wieder Opfer islamistischer Anschläge werden. Das verheißt nichts Gutes.
Das Zentrum Alexandrias ist noch immer geprägt von den Prachtbauten, die im europäischen Stil errichtet wurden, als die Stadt Ende des 19. Jahrhunderts wieder zu Reichtum und Bedeutung gelangte, nachdem die antike Metropole im Mittelalter zu einer ärmlichen Hafenstadt verkommen war. Baumwolle machte Ägypten damals wohlhabend. Über Alexandria wurde der Rohstoff nach Europa und Amerika verschifft. Unweit der Hafenpromenade, auf dem Tahrir-Platz, findet sich die Reiterstatue von Mohammad Ali. Er hat Ägypten in die Moderne geführt. Die »Place des Consuls«, wie der Platz damals hieß, war nicht nur die Adresse vieler Konsulate, sondern mit ihren zahlreichen Cafés und Restaurants und vornehmen Geschäften bevorzugte Flaniermeile für reiche Europäer und die wohlhabende Oberschicht des Landes. Heute ist der Platz gesäumt von zwei parallel verlaufenden Hauptverkehrsadern, die wenige hundert Meter weiter im Osten in die Fuad-Straße münden. Dort, unweit des in weißer Pracht erstrahlenden Kulturpalasts, der »Bourse Toussoun«, sowie umgeben von weiteren Bauten im neoklassizistischen und Art-déco-Stil, steht ein Gebäude, das mit seiner futuristischen blau-weißen Kunststoff-Fassade sonderbar deplatziert wirkt – die Polizeistation al-Attarin.
Hier im ersten Stock befindet sich Theos kleines Büro. Die Klimaanlage, die über dem Fenster angebracht ist, brummt. Im Zimmer herrschen fast schon zu kühle achtzehn Grad. Theo sitzt an diesem Abend am Schreibtisch und starrt auf ihren Laptop. Es ist ungewöhnlich heiß für Ende Oktober, denkt sie. Ob das etwas mit dem Klimawandel zu tu hat? Seit sie vom Strand zurückkehrt ist, hat das mulmige Gefühl nicht nachgelassen. Wenn sich herausstellen sollte, dass die Tat islamistisch motiviert war, dann würden ihre Ermittlungen zwangsläufig sofort politisch ausgeschlachtet werden.
In Alexandria ist das Zusammenleben von Christen und Muslimen lange Zeit friedlich gewesen, anders als im Süden, in Oberägypten. Doch vor allem seit der sogenannten »islamischen Wiedergeburt« ist es auch hier immer wieder zu Gewaltausbrüchen gekommen. Damals, in den achtziger Jahren, zerstörten islamistische Fundamentalisten Kirchen, Wohnhäuser und Geschäfte von Christen. Klöster wurden überfallen, Mönche misshandelt und getötet. Nur allzu oft stand die Polizei tatenlos daneben – oder schloss sich dem Mob sogar an. Und dann kam es zu dem Anschlag vom 1. Januar 2011, der alles verändern sollte. Vor der Allerheiligenkirche explodierte eine Bombe, als die Kopten gerade ihren Neujahresgottesdienst feierten. Einundzwanzig Menschen starben, siebenundneunzig wurden verletzt. Ein Blutbad. Theo kann sich nur allzu gut daran erinnern. Sie war mit Freundinnen tagsüber auf der Corniche spazieren gegangen, wo zwischen kurzen winterlichen Regenschauern immer wieder eine wärmende Sonne durchkam. Nesrin war auch dabei, ihre beste Freundin. Als sie sich an dem Tag verabschiedeten, sagte Nesrin noch, wie sehr sie sich darauf freute, den Abend mit ihrer Familie zu verbringen. Mit ihrer Großmutter wollte sie später in die Allerheiligenkirche. Es war das letzte Mal, dass Theo Nesrin gesehen hat. Und jetzt der ermordete griechisch-orthodoxe Priester …
Theo schließt das Dokument, in dem sie stichwortartig die Ereignisse des heutigen Tages notiert hat. Für einen Moment sieht sie ins Leere. Sie ist ratlos. Ist sie wirklich die Richtige für diese Ermittlung? Als Frau? Als Christin? Als relativer Neuling bei der Kripo?
Noch dazu wird sie von den Kollegen auch wie eine Außenseiterin behandelt. Al-junanija ist hier so was wie ihr Spitzname – »die Griechin«.
In der Schule nannten viele Lehrer sie »Hibatullah«, was die arabische Übersetzung ihres Namens ist: »Theodora«, »Geschenk Gottes«. Daraus wurde für gewöhnlich kurz »Hiba«. Sie hätte »Theo« vorgezogen.
Theodora fühlt, dass sie mit ihren griechischen Wurzeln inzwischen einer aussterbenden Art angehört – wenngleich diese Wurzeln sehr tief reichen. Alexandria ist im Altertum schließlich von Griechen gegründet worden. Noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts zählte die griechische Gemeinde über hunderttausend Mitglieder, heute sind es nur noch vierhundert. Doch was spielen diese alten Geschichten in der modernen Welt noch für eine Rolle?
Theo klappt den Laptop zu. Schluss jetzt mit der Grübelei. Sie beschließt, morgen mit ihrem Chef über die Sache zu reden. Vielleicht ist er froh, wenn sie den Fall von sich aus abgibt. Vielleicht hat er ihn ihr nur nicht entzogen, weil er fürchtet, das könnte ein schlechtes Licht auf ihn werfen, wenn die griechisch-orthodoxe Gemeinde davon Wind bekam.
Sie sieht auf ihr Handy – 21.19 Uhr. Draußen ist es längst dunkel. Sie verspürt Hunger. Sie hat ihrer Mutter versprochen, bei ihr vorbeizuschauen. Bestimmt hat sie etwas gekocht. Gefüllte Paprika vielleicht, die Theo so gerne isst. Ja, sie muss wirklich los. Sie hat es sich abgewöhnt, ihr vorher Kurznachrichten zu schicken, sie liest sie ohnehin nicht oder zu spät. Sie geht besser einfach los und schnappt sich ein Taxi, dann ist sie in fünf, sechs Minuten bei dem Apartmenthochhaus, in dem ihre Mutter lebt. Es ist eine schöne Wohnung, allein schon wegen des großen Panoramafensters gen Osten, durch das morgens sofort die Sonne hereinscheint in das Zimmer mit dem beigen Sofa und den Ikonen an den Wänden.
Theo eilt durch das Foyer dem Ausgang entgegen. »Ma’a as-salama«, verabschiedet sie sich von Muhammad, dem Wachmann, der die Zufahrt zur Polizeistation bewacht. »Ma’a as-salama«, grüßt Muhammad freundlich zurück.
Seit knapp drei Jahren arbeitet sie nun in der Polizeistation von al-Attarin, und wann immer sie kommt, morgens, mittags, abends, Muhammad ist zur Stelle. Vermutlich schläft er in seiner kleinen Pförtnerloge.
Auf der Straße winkt sie ein Taxi heran. Der Fahrer lehnt sich zum offenen Fenster der Beifahrertür herüber.
Theo tritt näher. »Masa al-chair, guten Abend. Zum Bustan Tower. Bikam – wie viel?«
»Zehn Pfund!«
»Acht!«
»Neun!«
»Einverstanden.«
Als sie ins Taxi steigen will, hält sie inne. Zehn Meter weiter stehen zwei Männer rauchend an der Hauswand. Bildet sie sich das nur ein, oder starren sie zu ihr herüber? Theo kneift die Augen zusammen, versucht im Zwielicht Gesichter zu erkennen. Als die zwei Gestalten bemerken, dass sie ihrerseits beobachtet werden, lassen sie ihre Zigarette fallen, treten sie aus und schlendern davon.
Samstag
Als Theo am nächsten Morgen das Polizeigebäude betritt, ist sie tief in Gedanken versunken. Ihre Schritte hallen im Korridor wider, als sie in Richtung ihres Büros geht. Ihre Laptop-Tasche hält sie vor der Brust wie einen Schutzschild. Sie nimmt die zwei Kollegen gar nicht wahr, die im Vorbeigehen grüßen und ihr irritiert nachschauen, weil sie keine Antwort erhalten.
Sie war spät nach Hause gekommen und hat schlecht geschlafen. Die ganze Zeit hat sie überlegt, ob sie die Ermittlungen wirklich übernehmen soll oder nicht. Gewiss, es wäre ihr Fall. Aber sie ist sich nicht sicher, ob sie ihn sich schon zutraut. Ein toter Priester! Das birgt viel Zündstoff. Mit ihrer Mutter hat sie darüber nicht sprechen wollen. Die macht sich ohnehin immer schon genug Sorgen um ihre Tochter. Und jemand anderen hat sie nicht, dem sie sich in dieser Sache anvertrauen kann.
Die Gefahr zu scheitern ist groß, verdammt groß, denkt Theo zum gefühlt hundertsten Mal. Doch wenn es ihr gelänge, den Fall zu lösen, hätte sie ein für alle Mal bewiesen, dass man ihr heikle Fälle durchaus anvertrauen kann.
Als sie die Tür zu ihrem Büro erreicht hat und sie öffnet, bleibt sie wie angewurzelt stehen. Ein zweiter Schreibtisch steht dem ihren gegenüber. Und an ihm sitzt ein junger Mann und lächelt sie an.
Er erhebt sich. »Theodora Costanda?«, sagt er und macht einen zögerlichen Schritt auf sie zu.
»Ja.«
»Sie sind die erste Frau, mit der ich zusammenarbeiten darf. Fadi al-Sawi. Ich bin Ihr neuer Kollege.«
Theodora sieht ihn mit großen Augen an. »Mein neuer was?« Einen Moment glaubt sie, sich verhört zu haben. Was um alles in der Welt hat das zu bedeuten?
Der junge Mann lächelt sie noch immer an. Theo holt tief Luft. Was erwartet er? Dass sie ihn mit Handschlag begrüßt? Ihn im Namen der Polizeibehörde al-Attarin willkommen heißt?
Theo löst sich aus ihrer Erstarrung. Sie wirft die Laptop-Tasche auf ihren Schreibtisch und macht auf dem Absatz kehrt.
Sie stürmt den Gang hinunter zum Büro ihres Chefs, Faruk Hani. Sie hält sich nicht damit auf, an der Tür zum Vorzimmer anzuklopfen.
Zu Berenice, der Sekretärin, die gerade telefoniert, sagt sie: »Ich muss mit ihm sprechen. Sofort!«
Berenice sieht verwundert auf, bedeckt den Hörer mit der Hand. »Ich … ich weiß nicht. Theo!«
Doch zu spät. Sie geht bereits durch den Raum, an ihr vorbei und ins Zimmer ihres Vorgesetzten, der an seinem Schreibtisch sitzt und Zeitung liest. Die Hände in die Hüften gestemmt, baut sie sich vor ihm auf. »Was soll das?« Theos linke Augenbraue hebt sich, wird zu einem insistierenden Fragezeichen.
Faruk Hani legt die Zeitung beiseite. »Was soll was?«
»Sie wissen, was ich meine. Fadi al-Sawi. Und plötzlich habe ich kein Einzelbüro mehr?«
Hani räuspert sich. Er nickt, nimmt die Lesebrille ab.
»Theodora. Bitte setzen Sie sich.« Er weist auf einen der Besucherstühle vor dem Schreibtisch. »Das kam auch für mich sehr plötzlich. Es war nicht meine Entscheidung. Eine Anweisung von oben.«
Theo lässt sich auf den Stuhl fallen. »Anweisung von oben? Was soll das heißen? Seit wann interessieren die sich für einfache Ermittler und mischen sich in Personalentscheidungen ein?«
»Ich war ja auch verwundert. Ich wurde erst gestern Abend informiert.«
»Gestern Abend?« Theo stutzt. »Nachdem wir den toten Priester gefunden haben?«
Hani lehnt sich auf seinem Bürostuhl zurück. Er ist Ende fünfzig, untersetzt, ein schwarzer Haarkranz ziert einen ansonsten kahlen, glänzenden Schädel. Jetzt nickt er stumm.
»Das heißt, Sie kennen ihn gar nicht?« Als Hani noch immer nichts sagt, spricht sie aus, was zweifellos in einem Fall wie diesem naheliegt. »Hat man uns etwa einen Aufpasser geschickt?«
Hani richtet sich abrupt auf. »Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Vielleicht ist es nur ein Zufall. Al-Sawi tritt hier ganz offiziell seine erste Stelle an. Er ist angeblich einer der Besten von der Polizeiakademie in Kairo.«
Theo schaut nachdenklich vor sich hin. »Und wie gehen wir jetzt vor?«
Hani zuckt mit den Schultern. »Wir machen unsere Arbeit, wie immer. Al-Sawi wird Ihnen zur Hand gehen. Binden Sie ihn in Ihre Ermittlungen ein. Dann werden Sie schnell merken, ober er nur ein Handlanger vom Innenministerium ist oder ein fähiger Polizist.«
Theo nickt. Sie war noch immer wie benommen. »Wahrscheinlich haben Sie recht.« Sie erhebt sich.
Hani lächelt sie an. Offenbar ist er froh, dass die Sache damit erledigt ist.
Bei der Tür wendet Theo sich noch einmal um. »Aber das nächste Mal, wenn ich einen neuen Kollegen bekomme, schicken Sie mir vorher wenigstens eine WhatsApp. In Ordnung?«
Zwei Minuten später betritt Theo erneut ihr eigenes Büro und bleibt mit verschränkten Armen mitten im Raum stehen. Ihr neuer Kollege schaut sie unsicher an, als erwarte er direkt einen Rausschmiss. Doch Theo bemüht sich um ein Lächeln – was ihr jedoch eher schlecht als recht gelingt.
»Das war gerade kein guter Start«, sagt sie, macht ein paar Schritte auf den jungen Mann zu und streckt ihm die Hand entgegen. »Ich bin Theo. Willkommen! Auf gute Zusammenarbeit!«
Fadi ist erneut aufgestanden und schüttelt ihre Hand. »Auf gute Zusammenarbeit.« Er setzt sich. »Nun, ich habe mich in den Fall natürlich schon etwas eingelesen«, beginnt er ohne Umschweife. »Das heißt, was man in den Zeitungen und im Internet darüber findet. Für unsere Online-Akten fehlt mir leider noch der Zugang. Vielleicht gibst du mir ein kurzes Update?«
Theo setzt sich ihm gegenüber. Von draußen dringt der morgendliche Verkehrslärm herein. Es wird erneut ein heißer Tag. Zu heiß für Oktober. Sie seufzt. »Ja. Ja, natürlich.«
Das Apartment befindet sich im zehnten Stock. Als sie ins Wohnzimmer geführt werden, fällt ihnen als Erstes die große Fensterfront auf, durch die man einen weiten Blick über das Mittelmeer hat, das an diesem Tag jedoch wolkenverhangen ist. Mehrere wuchtige Sessel und ein Sofa stehen um einen niedrigen Sofatisch gruppiert auf dem Marmorboden. Drei kleine Kronleuchter hängen an der Decke. Schwere goldene Vorhänge zieren die Wände neben den Fenstern. Die Klimaanlage ist auf die höchste Stufe gedreht. Theo fröstelt und bedauert, keine Strickjacke mitgenommen zu haben.
Sajida Lina, die Witwe des Priesters Abuna Gabriel, eine kleine, rundliche Frau Ende vierzig, sitzt in dem Sessel an der Kopfseite des Tisches. Ihre Augen sind rot verweint, doch sie wirkt gefasst, ihre Miene verrät den resoluten Charakter, mit dem sie ihre fünf Kinder aufzieht.
»Theodora Costanda von der Kriminalpolizei«, stellt Theo sich vor. »Und das ist mein Kollege Fadi al-Sawi. Ich danke Ihnen, dass Sie uns empfangen. Mein aufrichtiges Beileid.«
Lina lächelt gequält.
Theo macht eine entschuldigende Geste. »Wenn es nicht passt, können wir auch zu einem späteren Zeitpunkt …«
»Nein, nein, Kommissarin. Es ist gut, dass Sie gekommen sind. Ich will, dass derjenige, der das getan hat, so schnell wie möglich gefunden wird. Es geht dabei nicht nur um mich und um meine Familie. Es geht um uns alle – Christen wie Muslime.«
Sie weist zum Sofa, und Theo und Fadi setzten sich.
Wie viel Kraft es wohl kostet, denkt Theo, in solch einer Situation auch an andere zu denken, an den Frieden zwischen Christen und Muslimen. Sie betrachtet erneut den Raum. Er zeugt von großem Wohlstand. Draußen waren ihr die drei Autos auf dem Stellplatz der Familie aufgefallen, darunter ein Porsche Cayenne.
»Sajida Lina, wir müssen Ihnen einige Fragen stellen.« Als Lina nickt, fährt sie fort. »Wann haben Sie Ihren Mann das letzte Mal gesehen?«
Lina muss nicht lange überlegen. »Vorgestern. Wir wollten zum Essen ausgehen, in den Engineers Club an der Corniche. Aber mein Mann hatte es sich anders überlegt. Also sind wir allein mit den Kindern gefahren.«
»Wir?«
»Ich und Amal«, sagt Lina. »Amal ist unsere Haushaltshilfe. Sie hat Sie hereingeführt.«
Fadi räuspert sich. Er hat ein Notizbuch und einen Bleistiftstummel hervorgeholt. »Ist sie schon lange bei Ihnen?«
Theo sieht sich überrascht zu ihrem Kollegen um. Für einen Moment hat sie vergessen, dass sie zu zweit sind.
»Sie ist seit drei Monaten bei uns. Aber inzwischen gehört sie fast zur Familie.« Ein mühsames, angestrengtes Lächeln erscheint auf ihren Lippen. »Es war so ein schöner Abend. Sie haben Lieder von Amr Diab gespielt, und Amal hat mit den Kindern getanzt, hat sie alle mit auf die Tanzfläche genommen. Sie hatten so einen Spaß. Ich war ganz verwundert. So kannte ich Amal gar nicht so. So gelöst, so unternehmungslustig. Sie und die Kinder waren die Attraktion des Abends. Und sie fanden wahrlich kein Ende! Wir sind erst kurz vor Mitternacht zurückgekommen.«
»Und Ihr Mann war da wo?«, fragt Fadi.
»Ich dachte, er sei schon zu Bett gegangen … Wir schlafen in getrennten Schlafzimmern, müssen Sie wissen …« Sie macht eine Pause und schaut gedankenversunken aus dem Fenster.
»Aber dem war nicht so?«, hakt Fadi nach einem Moment der Stille nach.
Lina schüttelt den Kopf. »Offenbar nicht. Ich habe das erst am nächsten Tag bemerkt, und auch nicht sofort. Ich hatte an dem Tag so viel zu tun, war den ganzen Vormittag unterwegs … Erst zu Mittag habe ich in sein Zimmer geschaut. Das Bett war noch genauso, wie Amal es am Donnerstagmorgen gemacht hatte.« Sie senkt den Kopf, und für einen Moment scheint es, als würde sie in Tränen ausbrechen. Doch sie hat sich rasch wieder unter Kontrolle und sieht Theo mit festem Blick an.
Die wiegt den Kopf, als sei ihr gerade ein Gedanke gekommen. »Hatte es einen Grund, dass Ihr Mann nicht mit zu dem Abendessen wollte?«
»Er hatte noch zu tun. Bürodinge. Die erledigt er meistens am Abend. Und er geht auch nicht so gern aus.«
Theo nickte. »Sajida Lina, Ihr Mann trug, als man seinen Leichnam fand, keine Wertsachen bei sich. Vermissen Sie etwas? Seine Brieftasche, andere Wertgegenstände, eine Uhr …?«
Lina schüttelt den Kopf. »Nein, seine Brieftasche ist hier, sie liegt in seinem Arbeitszimmer.«
»Fehlt sonst etwas, Kleidungsstücke? Er trug nur Hose und Oberhemd, keine Jacke …«
»Das Jackett muss er an dem Tag wohl hiergelassen haben, ist ebenfalls in seinem Arbeitszimmer.«
»Sein Handy?«, wirft Fadi ein.
Lina stutzt. »Ich weiß nicht. Ich habe gestern von unterwegs versucht, ihn anzurufen, vergeblich … Hier ist es jedenfalls nicht. Die Ladestation ist ja leer.«
»Sajida Lina, wir müssen den Computer Ihres Mannes mitnehmen, um die Daten auszuwerten. Sind Sie damit einverstanden?«
Als Lina schicksalsergeben nickt, wirft Theo ihrem Kollegen einen Blick zu, der besagt, dass er sich darum kümmern soll.
»Hatte Ihr Mann Feinde?«, fährt sie fort.
Die Frau schüttelt den Kopf. »Nein. Er hatte natürlich nicht nur Freunde. Aber Feinde, die ihm nach dem Leben trachten würden. Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Ist Ihnen vielleicht irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen in letzter Zeit?«, fragt Fadi. »War Ihr Mann anders als sonst? Wirkte er beunruhigt?«
Lina überlegt einen Moment, dann schüttelt sie den Kopf. »Nein. Nein, ich habe wirklich nichts bemerkt. Er war wie immer, fürsorglich, liebevoll.«
»Könnten wir einmal mit Amal sprechen?«, fragt Theo.
Für einen Moment wirkt Lina überrascht. »Aber natürlich«, sagt sie schließlich und ruft Richtung Flur: »Amal!«
Schüchtern betritt die junge Frau das Zimmer und blickt unsicher in die Runde.
»Amal, die Kommissare haben ein paar Fragen an dich«, sagt Lina.
Theo betrachtet die junge Frau genauer, als sie näher tritt. Obwohl Hijab und Brille sie älter machen, dürfte sie erst etwa Anfang zwanzig sein. Sie wirkt bedrückt, verängstigt beinahe.
»Woher kommen Sie, Amal, sind Sie von hier?«, fragt Theo.
Die junge Frau schüttelt den Kopf. »Nein, ich komme aus einem kleinen Ort nilaufwärts. Meine Eltern haben dort ein Feld und bauen Obst und Gemüse an.«
»Sajida Lina sagte, Sie sind am Donnerstagabend mit ihr und den Kindern ausgegangen?«
»Ja, es war so ein schöner Abend.« Unwillkürlich erhellt sich ihre traurige Miene. »Wir waren richtig in Partylaune. Wir haben Zuckerwatte gegessen und getanzt …« Sie bricht ab. »Wir konnten ja nicht ahnen, dass zur selben Zeit …« Sie seufzt tief. »Es ist so schrecklich. Wer tut denn so etwas?« Ihre Stimme ist nur noch ein Flüstern.
»Um das herauszufinden, sind wir hier«, sagt Theo. »Ist Ihnen in letzter Zeit vielleicht irgendetwas aufgefallen. War Abuna Gabriel anders als sonst?«
Amal schüttelt den Kopf. Sie sieht von Theo zu Sajida Lina und wieder zurück. »Nein, er war wie immer. Ich verstehe das alles nicht …«
Theo nickt Fadi zu, beide erheben sich.
»Danke, Sajida Lina. Das war vorerst alles. Sollte Ihnen noch irgendetwas einfallen, melden Sie sich bitte. Sie haben ja unsere Telefonnummer. Wir finden hinaus.«
Theo und Faid gehen in Richtung Ausgangstür, während Sajida Lina auf ihre Hände blickt und Amal den beiden plötzlich sehr streng, mit zusammengekniffenen Augen, hinterherschaut.
In der Mitte der mit Fackeln schwach ausgeleuchteten Grotte kniet eine Frau mit gesenktem Kopf, hinter ihr eine Gestalt in einem langen Umhang, das Gesicht von einer großen Kapuze verdeckt. Es ist kühl und klamm, der Boden von grobem Sand bedeckt. Mit einem Tuch verbindet die Gestalt der Frau die Augen, dann fesselt er ihre Hände hinter dem Rücken. Sie lässt alles ruhig über sich ergehen. Sie ist hier, um die ersten Prüfungen zu absolvieren.
»Bist du bereit?«, fragt die Gestalt im Umhang. »Ja, Thesmophoros, Meister.«
Die Frau steht auf. Die Gestalt führt sie in einen von Fackeln erhellten Gang. Nach etwa zwanzig Schritten endet er vor einer steinernen Tür, an die er dreimal schlägt.
»Das Tor der Menschen öffne sich!«
Wie von Geisterhand geht die schwere Tür tatsächlich langsam auf. Die Gestalt führt die Gefesselte in einen weitläufigen Saal. Auch dieser Raum ist nur von Fackeln erhellt. In einem Halbkreis stehen dort weitere Ordensbrüder in langen Umhängen, die Gesichter unter Kapuzen verborgen.
Einer von ihnen tritt vor. Er hat ein altes Pergament in der Hand. »Höre und billige die Verfassung von Crata Repoa!«
Die Frau nickt.
Von der Seite nähert sich ein anderer Mann. Er trägt keinen Umhang, sondern sein muskulöser Oberkörper ist nackt, sein Schädel kahl und glänzend. Er hält mit beiden Händen ein Schwert vor der Brust. Jetzt legt er die Spitze an die Kehle der Frau.
»Ich gelobe, meinen Brüdern und Schwestern in Lebensgefahr beizustehen. Ich gelobe, das göttliche Geheimnis zu wahren. Ich gelobe, mit meinem Leben zu bürgen … Unterwirfst du dich dieser Verfassung?«
»Ja, das tue ich!«
»Gelobst du Treue und Verschwiegenheit?«
»Ich gelobe es! Bei der Sonne, beim Mond und den Sternen am Firmament.«
Zwei der Priester kommen rasch auf sie zu, während der Mann mit dem Schwert zur Seite tritt. Sie lösen ihre Fessel, nehmen ihr die Augenbinde ab. Dann fassen sie sie grob an den Armen, sodass sie sich kaum mehr bewegen kann. Die Gestalt mit dem Pergament tritt nah an sie heran. Einer der Anwesenden ruft:
»O Hierophant, hoher Priester, sprich zu uns.«
Der so Angesprochene lässt seinen Blick schweifen. »Ich wende mich zu euch, die ihr das Recht habt, mich anzuhören! Schließet alle Türen fest zu, damit die Profanen und die Spötter nicht hineinkommen mögen! Ihr aber, Mene Musae, Kinder der himmlischen Beobachtungen, höret meine Rede! Ich trage euch große Wahrheiten vor. Hütet euch vor Vorurteilen und Leidenschaften, welche euch von dem rechte Wege der Glückseligkeit entfernen werden! Richtet eure Gedanken auf das göttliche Wesen, und lasset dasselbe stets vor euren Augen sein, um dadurch euer Herz und Sinne zu leiten. Wenn ihr den sicheren Pfad der Glückseligkeit betreten wollt, so bedenkt, dass ihr stets vor den Augen der Allmächtigen einhergehet, die die Welt erschaffen. Es ist das einzige Wesen, welches alle Dinge erhält und hervorgebracht hat,und das von sich bestehet. Sie siehet alles, aber kein Sterblicher kann sie sehen und kein Mene wird sich ihren Blicken entziehen.«
Der Priester blickt auf und spricht die Bewerberin nun direkt an: Diese Prüfung ist der Naturlehre und der Schrift gewidmet. Hast du die Geheimnisse der Hieroglyphen studiert?«
»Ja, das habe ich!«
»So lies uns diesen altehrwürdigen Text vor.«
Der Hierophant reicht ihr das Pergament.
Die Bewerberin kneift die Augen zusammen, um in dem schummrigen Licht besser sehen zu können. Ihr ernster Blick hellt sich nach wenigen Sekunden auf. Sie erkennt die Zeilen. Sie fährt mit den Fingern sanft über die Hieroglyphen und liest:
»Ich bin die Mutter der Natur, Herrin aller Elemente, erster Spross aller Geschlechter, erstgeborenes Kind der Zeit, Höchste aller Gottwesen, Königin der Unterirdischen, Erste der Himmlischen, all-einzige Erscheinung aller Götter und Göttinnen. Mit einem Wink gebiete ich über des Himmels lichtes Firmament, des Meeres heilsam wehende Winde und die vielbeklagten stillen Reiche der Unterwelt. Ich, die eine und einzige Gottheit, werde in vielfältiger Gestalt, mit unterschiedlichen Bräuchen und unter mannigfachen Namen auf dem ganzen Erdkreis verehrt. Doch die weisen Ägypter verehren mich mit den mir angemessenen Zeremonien und nennen mich mit meinem wahren Namen: Königin Isis!«
Die Bewerberin richtet den Blick stolz zum Oberpriester und reicht ihm das Pergament zurück.
Der nickt mit ernster Miene und spricht: »Du bist in die Gesellschaft aufgenommen.
Ein anderer Priester tritt hinzu und setzt der Bewerberin eine Mütze auf, die wie eine Pyramide gefaltet ist. »Trage dieses Xylon!«, spricht er. Dann legt er ihr ein goldenes Tuch um, das er vor der Brust verknotet.
Der Priester greift nach der rechten Hand der Frau, als wolle er sie schütteln. Dabei drückt er in besonderer Weise mit seinem Daumen auf den Ballen der Bewerberin.
»Das ist unser Erkennungsgruß.«
Die Frau nickt.
»Höre nun das Losungswort, woran sich alle Eingeweihten erkennen. Es lautet – Amoun.«
Samstag
Als es klopft, stopft Doktor Nabil hastig den restlichen Schokoriegel in den Mund. Seit drei Monaten versucht er, möglichst keine Kohlenhydrate zu sich zu nehmen – kein Weiß- oder Fladenbrot, keine Schokolade. Denn sein Arzt hat ihm dringend geraten, mindestens zehn Kilo abzunehmen. Das Herz. Seither isst er nichts als Joghurt und rohes Gemüse. Und tatsächlich sind die Pfunde schon bald nur so gepurzelt. Doch seit ein, zwei Wochen scheint der Abwärtstrend zum Stillstand gekommen zu sein. Und als eben der Magen besonders laut geknurrt hat, hat er es nicht länger ausgehalten. Er hat gewusst, dass seit drei Monaten ganz unten in seiner Schreibtischschublade noch dieser Schokoriegel liegt …
»Herein!«, ruft er mit vollem Mund.
Die Tür geht auf und Theodora Costanda betritt sein Büro.
»Kommissarin Junanija, wie schön, Sie zu sehen.« Das ist durchaus aufrichtig gemeint, wenngleich er sich gewünscht hätte, sie wäre ein paar Minuten später aufgekreuzt. Möglichst unauffällig lässt er die Verpackungsfolie im Mülleimer verschwinden. »Setzen Sie sich doch!«
Die Kommissarin setzt sich und schlägt die Beine übereinander. »Wie sieht’s aus?«, fragt sie und sieht sich auf seinem Schreibtisch um, auf dem sich Mappen, Akten und Zeitschriften aller Art stapeln – die Tastatur des Computers ist halb unter Papieren begraben. »Wie weit sind Sie mit dem Priester?«
»Ich habe meinen Bericht noch nicht geschrieben, aber die Obduktion ist abgeschlossen.«
»Ich bin ganz Ohr.«
Nabil nickt. »Nun, Todesursache war, wie Sie schon vermutet haben, eine Stichverletzung. Ein Stich mit einer langen, schlanken Klinge in die Brust leicht links des Sternums, also ins Herz, ausgeführt mit mittlerer Kraft. Die Verletzung hat sofort zum Tod geführt.«
»Haben Sie den genauen Todeszeitpunkt?«
»Als die Leiche gefunden wurde, war sie bereits etwa zwanzig Stunden tot. Das heißt, der Mord wurde irgendwann am Donnerstag zwischen 20 und 22 Uhr verübt. Der Leichnam wurde unmittelbar danach ins Meer geworfen. Demnach war das Ufer auch der Tatort. Das ist daran zu erkennen, dass …«
»Kampfspuren?«
Nabil seufzt. »Keine. Es hat offenbar keinerlei Gegenwehr stattgefunden.«
»Keine Abwehr, ein Stich von vorn. Er hat mit dem Angriff ganz offensichtlich nicht gerechnet«, sinnierte Theodora.
Nabil nickt.
»Gibt es irgendwelche Spuren, die auf den Täter hinweisen?«
Nabil zuckte mit den Schultern. »Leider nein. Und wenn es welche gegeben hat, hat das Meerwasser sie weggewaschen. Ich habe Sand und pflanzliche Rückstände, die sich an der Haut und der Kleidung befanden, zur Analyse gegeben. Die Auswertung dauert noch. Eventuell kann ich Ihnen danach den genauen Ort nennen, wo die Leiche ins Wasser geworfen wurde.«
Theodora nickt. »Immerhin etwas.« Sie erhebt sich, wendet sich zum Gehen. »Das heißt, wir können die Leiche freigeben?«, fragt sie, die Hand schon auf der Klinke.
Nabil ist ebenfalls aufgestanden. »So eilig?«, fragt er verwundert.
Theodora zuckt mit den Schultern. »Die griechisch-orthodoxe Gemeinde wird es uns zu danken wissen.«
Theo fährt zurück zum Kommissariat, wo sie Fadi mit seinen Recherchen zurückgelassen hat. Er muss ihr wahrlich nicht auf Schritt und Tritt folgen. Außerdem hat sie ihn gebeten, die Online-Medien im Blick zu behalten. Im Netz kursieren bereits die wildesten Gerüchte über die Hintergründe des Attentats. Auch das Fernsehen hat schon berichtet. Ein angebliches Bekennerschreiben einer muslimischen Gruppe ist aufgetaucht. Auf einem Account des Nachrichtendienstes »X«, der sich »Märtyrer des Herrn« nennt, haben sich bereits Nutzer gemeldet, die schreiben: »Er hat den Propheten beleidigt in seinen Predigten«, oder aber: »Deswegen musste er sterben. Wir haben ihn seiner gerechten Strafe zugeführt.« Die Quellen scheinen nicht glaubwürdig, die üblichen Trittbrettfahrer, aber sie werden dem trotzdem nachgehen müssen.
Vor allem müssen sie schnell sein. Theo weiß genau, wie so etwas läuft. Es gibt genügend Verbrechen in dieser Stadt, ach was, in diesem Land, deren Täter nie ermittelt werden können. Das gibt es natürlich überall auf der Welt, aber hier in Ägypten sind die Aufklärungsquoten besonders schlecht. Ihr ist klar, woran das häufig liegt. Es ist die allgegenwärtige Korruption und Vetternwirtschaft. Ein Anruf hier, ein Bakschisch dort, und viele Akten landen zum Verstauben in irgendeinem Archiv. Und die vielen Verbrechen in den Armenvierteln. Wer hat denn überhaupt ein Interesse daran, hier wirklich zu ermitteln? Überlasst das den Leuten dort selbst – hat sie häufig genug gehört, als sie auf der Polizeiakademie in Kairo eine Fortbildung gemacht hat und sie mit Kollegen in Ezbet Khairallah war, dem berüchtigten Armenviertel, in dem es vor Drogen nur so wimmelt und bewaffnete Gangs Frauen und Mädchen kidnappen, um sie zu verkaufen. Ja, immer wieder kommt es zu einem öffentlichen Aufschrei, wenn prominente Fälle bekannt werden, in denen Mädchen verschwanden oder getötet wurden. Aber die allermeisten dieser Fälle bleiben ungesehen und unbemerkt von der Öffentlichkeit. Wenn in Ezbet Khairallah junge Frauen auf offener Straße in ein Auto gestoßen werden und nie wieder auftauchen. Vielleicht, weil ein reicher kranker Ausländer viel Geld für eines ihrer Organe bezahlt hat. Oder sie werden der Familie wieder angeboten gegen ein Lösegeld, das die arme Familie noch viel tiefer in die Armut treibt. Und manch eine Familie entscheidet sich dann für das Geld und gegen die Tochter. Denn es ist ja nur eine Tochter.
Aber dieser Fall ist anders!
Wenn sie nicht zügig den Täter finden, wird ihr Chef, Faruk Hani, einen Anruf bekommen, in dem ihm klargemacht wird, dass man sofort einen Namen brauche. Das entscheidende Argument lautet in solch einem Fall: Es sei in seinem eigenen Interesse. Das reicht. Der Polizeipräsident weiß, was das heißt. Im besten Fall hängt sein Job davon ab, im schlechtesten sein Leben. Und irgendein armer Kerl, dem man eine Tat in die Schuhe schieben kann, findet sich schließlich immer.
Als Theo wenig später die Tür zu ihrem Büro aufmacht, zuckt Fadi zusammen. Offenbar muss auch er sich erst daran gewöhnen, dass er jetzt im Team arbeitet.
»Und? Schon was herausgefunden?«, fragt Theo etwas streng, während sie ihre Tasche auf den Tisch wirft und den Stuhl zu sich heranzieht.
Fadi kramt in seinen Unterlagen. »Ähm, also, der Laptop des Toten ist noch bei den Technikern. Aber ich habe ein bisschen im Internet recherchiert. Abuna Gabriel stammt aus Kairo, ausgebildet an der St.-Athanasius-Hochschule hier in der Stadt. War später ein paar Jahre in Großbritannien. Verheiratet, fünf Kinder, das wussten wir ja bereits. Ich habe mit dem Gemeindebüro der St.-Nikolaus-Kirche und auch mit einigen Priesterkollegen telefoniert. Alle beschreiben ihn als freundlich, zurückhaltend, integer. Ein treusorgender Hirte und liebender Familienvater.«
»Okay. Das muss nicht viel heißen. Jeder Mensch hat seine Schattenseiten. Man muss nur gründlich genug nachforschen.«
Theo setzt sich und startet den Computer. Während sie darauf wartet, dass der Rechner hochfährt, schaut sie hinaus aus dem Fenster auf die gegenüberliegende Häuserwand, die in der Nachmittagssonne rot zu glühen scheint.
Sie will gerade das Schreibprogramm öffnen, als es klopft. Berenice, die Sekretärin, steckt den Kopf zum Zimmer herein.
»Da sind zwei Damen, die euch sprechen möchten.« Berenice macht einen Schritt zur Seite, und Sajida Lina betritt den Raum, gefolgt von Amal, der Haushaltshilfe.
Theo erhebt sich. »Kommen Sie herein«, sagt sie und reicht ihnen die Hand zum Gruß. Fadi hält die Rechte zum Gruß auf Höhe seines Herzens. »Bitte setzen Sie sich. Was führt Sie zu uns?«
Lina schaut sie gefasst an, nickt. »Ich wollte Ihnen zunächst danken, dass der Leichnam meines Mannes so schnell freigegeben wurde. Die Beerdigung kann schon morgen stattfinden. Ich würde mich freuen, wenn Sie zur Trauerfeier kämen.«
Theo nickt. Sie weiß, wie wichtig es für die orthodoxen Christen ist, die Toten binnen drei Tagen zu bestatten. Sie will etwas sagen, doch Lina fährt bereits fort.
»Aber weswegen wir eigentlich hier sind – Sie haben gefragt, ob in letzter Zeit irgendetwas Ungewöhnliches geschehen wäre.«
»Ja. Ist Ihnen dazu noch etwas eingefallen?«
Lina nickt. »Es war vor einigen Tagen, spätabends. Ich bin am Arbeitszimmer meines Mannes vorbeigegangen. Ich dachte, er sei längst schlafen gegangen. Aber an seinem Schreibtisch brannte noch Licht. Er hat telefoniert, ganz offenbar mit Yannis. Yannis Stephanopoulos.«
Theo wird hellhörig. Sie kennt Stephanopoulos. Er wohnte in der Nachbarschaft, als sie noch bei ihrer Mutter lebte. Die Erinnerungen an ihn sind alles andere als angenehm.
»Wie gesagt, ich habe mich gewundert, dass er noch nicht schlief, und bin deswegen stehen geblieben. Viel konnte ich nicht verstehen, er sprach sehr leise, schien aufgeregt. Und er sagte so etwas wie: ›Der Archäologe kommt uns gefährlich nah.‹ Nun, an dem Abend habe ich mir nichts dabei gedacht. Es gibt natürlich immer wieder Probleme und Ärger in der Gemeinde, Schwierigkeiten, die gelöst werden müssen. Aber da Sie gefragt haben, dachte ich, ich sollte es Ihnen vielleicht lieber sagen.«
»Ja, vielen Dank, Sajida Lina. Wir werden dem auf jeden Fall nachgehen.«
»Der Archäologe?«, meldet sich Fadi zu Wort. »Wen könnte er gemeint haben?«
Lina zuckt mit den Schultern. »Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht dieser französische Multimillionär – wie heißt er noch gleich? – der mit seiner Jacht hier in Alexandria vor Anker liegt«, antwortet die Witwe, und ihr Tonfall verrät, dass sie offenbar beides verachtet – Franzosen und Multimillionäre.
Theo sieht sie fragend an. »Wie kommen Sie darauf? Es gibt viele Archäologen in der Stadt.«
»Nun, wir sprachen noch kurz vorher von ihm. Ich hatte einen Artikel über ihn gelesen … Wenn ich nur auf den Namen käme!«
»Jacques Bernheim«, ruft Fadi, den Blick auf seinen Bildschirm gerichtet. Er hat ihn offenbar im Internet gefunden.
»Ja, richtig. Nun, wir sprachen über den Artikel. Offenbar ist dieser Bernheim hier, um in der Hafenbucht versunkene Straßenzüge zu finden. Die Sache schien meinem Mann gar nicht zu gefallen. Er reagierte regelrecht erbost, und ich wusste gar nicht warum.« Sie seufzte. »Und am Ende, an dem Abend in seinem Arbeitszimmer, sagte er dann noch so etwas wie: Ja, ich kümmere mich darum.«
»Sind Sie da sicher?«
»Nun ja, ich weiß nicht … Aber Amal, du warst doch auch da. Was hast du denn davon mitbekommen?«
Amal schaut erschrocken auf. »Ich?«
»Ja, ich habe doch gesehen, wie du auf der anderen Seite im Flur gestanden hast. Hast du noch etwas mitbekommen von dem, was mein Mann gesagt hat?«
»Ich … Ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern«, sagt Amal leise und schaut auf ihre Hände, die sie in ihrem Schoß gefaltet hat.
Lina sieht Amal verwundert an, wendet sich dann aber rasch wieder Theo zu.
Der war der Gesichtsausdruck der Frau nicht entgangen. »Und dafür sind Sie extra hergekommen, Sajida Lina? Das wäre doch nicht nötig gewesen. Sie können uns auch jederzeit telefonisch erreichen.«
Lina schüttelt leicht den Kopf. »Es ist nicht nur das. Ich habe bereits heute Vormittag gemerkt, dass Sie aufrichtig sind, dass Sie es ernst meinen. Finden Sie die Wahrheit heraus. Wir beide wissen, wie schnell in diesem Land die Dinge aus dem Ruder laufen. Lassen sie es nicht dazu kommen. Ich vertraue Ihnen. Das wollte ich Ihnen persönlich sagen.«
Sonntag
Normalerweise ist der Sonntag in der arabischen Welt ein gewöhnlicher Arbeitstag. Entsprechend lärmend geht es bereits am Morgen am zentralen Tahrir-Platz zu. Doch trotz all dem Gehupe in den wie immer völlig verstopften Straßen ist das Läuten der Glocken der Evangelismos-Kathedrale trotzdem bereits zu hören. Theo hat sich entschlossen, an diesem Tag den Gottesdienst zu besuchen. Sie möchte hören, ob Patriarch Petros in seiner Predigt womöglich auf den Mord an Abuna Gabriel zu sprechen kommt und wie ganz allgemein die Stimmung in der Gemeinde ist.
Schon von weitem sieht sie die Schlange am Eingangsportal. Alle Gottesdienstbesucher werden abgetastet, müssen ihre Taschen öffnen und vorzeigen. Schwer bewaffnete Polizisten stehen daneben. Das ist immer so, aber seit dem Mord und dem ominösen Bekennerschreiben im Internet sind die Kontrollen verschärft worden. Entsprechend angespannt ist die Stimmung.
Theo ist schon lange nicht mehr in der Kathedrale gewesen. Als sie jetzt das Innere betritt, ist sie erneut überwältigt von der Pracht des Gotteshauses, das aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammt, aber erst vor wenigen Jahren von der milliardenschweren Onassis-Stiftung aufwendig restauriert worden ist. Überall glänzt rosenfarbener Marmor und Gold. Wenn man den Blick nach oben richtet, glaubt man in den blauen Sternenhimmel zu sehen.
Auf dem Weg nach vorn küsst Theo die aufgestellten Ikonen. Sie sind nach orthodoxem Glauben ein Fenster zur himmlischen Wirklichkeit, durch das die Besucher die Gegenwart Gottes erfahren. Links, in der dritten Reihe, findet Theo noch einen freien Platz. Sie hat sich ein kleines Kissen mitgebracht. Zwei Stunden auf einer harten Holzbank stellen keine geringe Herausforderung dar.
Mit dem Einzug des Priesters und der Messdiener beginnt die Messe. Die Gemeinde singt das Eingangslied. Die meisten Menschen in der Kirche haben an diesem Morgen noch nichts zu sich genommen. Wer wahrhaft glaubt, fastet vor der Kommunion. Theo folgt dem Ritus, der ihr von Kindesbeinen an vertraut ist. Sie hört den Eröffnungslobpreis, antwortet auf die Gebetsrufe des Diakons, wendet den Kopf zum Einzug mit dem Evangeliar, hört die Epistel und die Worte aus dem Evangelium, und wann immer die Dreifaltigkeit Gottes erwähnt wird, bekreuzigt sie sich.
Schließlich betritt der Patriarch, Petros der Zweite, die Kanzel. Er trägt das Koukoulion, die rundliche Kopfbedeckung orthodoxer Patriarchen, um seinen Hals hängt die Panagia, eine Ikone der Gottesgebärerin Maria. Oben angekommen, schlägt er die Mappe auf, die er mitgebracht hat, und beginnt seine Predigt.
»Liebe Gemeinde! Wir sind die Kirche Christi, die an der Seite der Unterdrückten, Gequälten und Ausgebeuteten steht und den Friedensstiftern und Friedfertigen hilft. Wir sind die Kirche der Armen, der Entrechteten, der Witwen und Waisen, die Kirche des Friedens, die für die Errettung aller Menschen betet. Wir beten auch für gerechte Herrschaft, wie schon der heilige Basilius sagte: ›Gedenke, o Herr, jeder Herrschaft und Gewalt, unserer Brüder im Palaste und des ganzen Heeres. Erhalte die Guten in Deiner Güte und mache die Bösen durch Deine Güte gut.‹