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Eine Million Flüchtlinge sollen bis Ende 2015 nach Deutschland gekommen sein - hunderttausende Syrer, Iraker, Afghanen. Für die meisten von ihnen sind wir ein fremdes Volk. Von unserem Land wissen sie: Es ist sicher. Es ist reich. Es bietet ein Leben. Ihre alte Heimat nicht. Aber wie anders unser Alltag und unsere Kultur sind - davon haben die meisten keine Vorstellungen. In seinem Buch erklärt TV-Moderator Constantin Schreiber, wie Deutschland tickt, wo die Unterschiede zur arabischen Welt liegen und wie Flüchtlinge wirklich bei uns ankommen. Unser Essen, unsere Kirche, unsere Politik. »Marhaba, Flüchtling!« macht dort weiter, wo Schreibers Sendung »Marhaba«, produziert von RTL/n-tv, aufhört. Und zeigt auch auf, wie Flüchtlinge, aber auch die arabische Welt, auf unsere Werte und Lebensart reagieren und wie sich ihr Deutschlandbild von unserem Selbstverständnis unterscheidet.
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Seitenzahl: 89
Constantin Schreiber
Marhaba, Flüchtling
Wie tickt Deutschland und wie sehen die Flüchtlinge unser Land?
Übersetzt ins Arabische von M. Abdelaziz
Hoffmann und Campe
Deutschland ist in internationalen Umfragen derzeit das beliebteste Land der Welt. Und eines der erfolgreichsten dazu. Wer hätte das gedacht? Das Land der Volksmusik, von Rammstein und Helene Fischer, von kompliziertem Föderalismus und in ihrem Umfang einzigartigen Steuererklärungen, das Land von Traumschiff, Gartenzwergen und Baumärkten. Das Land, das im vergangenen Jahrhundert so viel Terror und Leid über die Menschheit gebracht hat und auf dessen Gebiet durch eine Mauer getrennt Sozialismus und Marktwirtschaft gegeneinander antraten. Nicht wenige reiben sich erstaunt die Augen und fragen, was denn da eigentlich passiert ist. Wer könnte dieses Land der Gegensätze zwischen Ostsee und Zugspitze, zwischen Rhein und Oder erklären? Mit all seinen Eigenarten, seiner inneren Zerrissenheit und seinem Streben nach Harmonie, Ruhe und Sicherheit, das im Länderfinanzausgleich seinen fiskalischen Ausdruck findet. Wer erklären oder auch nur verstehen will, wie Deutschland tickt, hat viel zu tun. Das fängt schon bei der Sprache an. Ich kann mir nur ansatzweise vorstellen, welche Steilvorlagen Wortkonstrukte wie »Unternehmenssteuerfortentwicklungsgesetz« für Deutsch-Anfänger bieten. Und ich habe Verständnis für jeden, der sich angesichts der manchmal zu stark ausgelebten Leidenschaft für vermeintlich präzise Sprache an den Kopf fasst.
Deutschland ist eine besondere Mischung aus Provinz und Stadt, aus Spießigkeit und Welterfahrenheit, aus Tüftlergeist und Schützenfest, aus Einzelfallgerechtigkeit und Solidargemeinschaft, aus Ordnungssinn und Freiheitsliebe. Diese Spannungsbögen bilden den Nährboden, auf dem Besonderes gedeihen kann. Und – das war neu – Deutschland hat in den vergangenen Jahren eine ganz eigene Lässigkeit entwickelt. Plötzlich sind wir cool, weil auf eine angenehme Weise liberal, weil wir schönen und begeisternden Fußball spielen, weil wir den Sommer zu feiern wissen und weil wir im Herzen Europas ein freundliches Gesicht zeigen. Das alles ist Deutschland. Wer könnte es erklären?
Constantin Schreiber unternimmt mit »Marhaba, Flüchtling!« genau diesen Versuch. Gott sei Dank, muss man sagen. Denn nicht alles, was so über unser Land erzählt wird, stimmt auch. Und gerade weil einige Regeln und Phänomene nicht auf Anhieb logisch sind, muss man sie erklären. Ein Blick hinter die Kulissen deutscher Eigenheiten und Emotionen hilft jedem, der neu ins Land kommt, weiter. Aber Constantin Schreibers Blick auf unser Land ist auch spannend für diejenigen, die schon länger oder auch immer in Deutschland leben.
So sind in den letzten Wochen und Monaten binnen kurzer Zeit viele hunderttausend Menschen neu in Deutschland angekommen. Die meisten von ihnen sind mit einer anderen Kultur, Tradition und Religion groß geworden. In ihren Heimatländern ist der Islam die bestimmende Religion, statt Rechtsstaatlichkeit ist staatliche Willkür an der Tagesordnung, die Ehre der Familie steht im Zweifel über allem anderen, und der Umgang mit Juden oder Schwulen ist nicht gerade zimperlich, um nur einige Beispiele zu nennen. Selbst wenn man unterstellt, dass sich viele der Flüchtlinge und Migranten genau deswegen nach Freiheit und Frieden sehnen, sind sie im konkreten Alltag oftmals regelrecht einem Kulturschock ausgesetzt.
Und auch unser Land war ja nicht immer so, viele Rechte und Freiheiten, die wir für selbstverständlich halten, wurden erst in den letzten Jahren und Jahrzehnten mühsam erkämpft. So können wir uns heute freuen, dass Deutschland toleranter, offener, liberaler und wohlhabender ist als je zuvor. Genau das ist es, was Deutschland heute für viele Millionen Menschen auf der Welt zum Sehnsuchtsort werden lässt. »The German way of life« – das ist offensichtlich ein Exportschlager in den weltweiten sozialen Netzwerken.
»Willkommen in Deutschland« – das heißt auch, dass sich Gäste an die Spielregeln halten, die bei uns gelten. Genau das fordert übrigens auch die Genfer Flüchtlingskonvention von denen, die in anderen Gesellschaften Zuflucht finden.
Freiheit bedeutet auch Verantwortung. Freiheit ist jeden Tag aufs Neue anstrengend, weil mir immer wieder Menschen und Meinungen begegnen, die mir nicht gefallen. Sie erfordert ein hohes Maß an Respekt und Toleranz. Weil ich für mich nur einfordern kann, was ich auch anderen zugestehe. Weil auch Freiheit Grenzen hat, wenn sie die Freiheit eines anderen einschränkt.
»Ich bin zwar anderer Meinung als Sie, aber ich würde mein Leben dafür geben, dass Sie Ihre Meinung frei aussprechen dürfen.«
Diese Voltaire zugeschriebene Äußerung ist Zumutung und Richtschnur zugleich. Wer sie befolgt, hat verstanden, worum es geht.
Wir sollten Flüchtlinge und Migranten ermuntern, sich angesichts der offenen und pluralen deutschen Gesellschaft nicht unterkriegen zu lassen, aber sich auch nicht abzukapseln. Bei uns ist ziemlich viel normal, was woanders eher ungewöhnlich ist: Frauen und Männer haben die gleichen Rechte. Viele Leute laufen leicht bekleidet durch die Stadt. Schwule und Lesben gehören zur Gesellschaft dazu, und jeder kann über Religionen Witze machen. All das mag für Menschen aus einem anderen Kulturkreis gewöhnungsbedürftig sein, aber für die Deutschen war der Weg zu diesen Errungenschaften lang, und sie sind stolz auf das Erreichte.
Jeder, der zu uns kommt und nach Abschluss der Verfahren voraussichtlich länger bleiben wird, ist herzlich eingeladen zu zeigen, was er kann. Im Grunde genommen ist es egal, woher jemand kommt. Viel wichtiger ist und muss sein, wohin man will. Deutschland ist ein Land der Chancen. Wer auf dem langen und beschwerlichen Weg bereits gezeigt hat, wie sehr er sein Leben selbst in die Hand nehmen will, der kann es auch in Deutschland schaffen. Ob in der Flüchtlingsunterkunft, in der Nachbarschaft, im Unternehmen – jeder soll sich ermuntert fühlen, sich einzubringen. So können wir gemeinsam daran arbeiten, dass es Deutschland in zehn Jahren noch genauso gut geht wie heute. Voraussetzung dafür ist, die neue Heimat zu verstehen. Das fängt bei der Sprache an, bei den Verhaltensweisen, wenn Menschen aufeinandertreffen, bei kulturellen oder auch modischen Codes, die sich wie selbstverständlich in unserem Alltag etabliert haben. All dies und noch viel mehr will dieses Buch anschaulich aufbereiten, für die, die in den letzten Wochen neu in Deutschland angekommen sind, ebenso wie für die, die schon lange da sind.
Ich wünsche ihm viele Leser.
Jens Spahn Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen
Kann ich sagen, wie Deutschland »tickt«? In der Flüchtlingskrise, in Sachen Zuwanderung, Integration, Islam? Viele Jahre lebte und arbeitete ich in Ländern des Nahen Ostens: in Syrien, dem Libanon, Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten – und immer wieder habe ich unmittelbar gespürt, wie die Menschen auf mich, den »Deutschen«, reagierten, welche Vorstellungen sie von uns haben, was Deutschland für sie bedeutet. Das führte dazu, dass ich immer wieder gefragt wurde: Was ist eigentlich deutsch? Was antworte ich, wenn mich arabische Menschen fragen »Mögt ihr keine Ausländer?«, »Esst ihr alle Schweinefleisch?«, »Warum habt ihr keinen Glauben mehr?«. Wenn wir nun überlegen, was wir arabischen Flüchtlingen, die zu uns kommen, über unser Land, unsere Kultur, unsere Geschichte, unser tägliches Leben erzählen wollen, dann sind mir die Fragen sehr vertraut. Viele davon habe ich mit meiner Sendung »Marhaba – Ankommen in Deutschland« zu beantworten versucht.
Am 25. September 2015 stellten wir bei n-tv die erste Ausgabe unseres arabischen Flüchtlingsmagazins online. Mit dem, was folgte, hatte ich nicht gerechnet: Tausende Zuschriften von Deutschen und Arabern, von Menschen und Medien aus aller Welt, die fragten, kommentierten, lobten und kritisierten. Viele schrieben mir, wie sie Deutschland sehen, was für sie unser Land ausmacht. Vorsicht ist geboten, bei alldem nicht in Verallgemeinerungen zu verfallen, die der Vielfalt unseres Landes nicht gerecht werden. In der Redaktion haben wir von dem »gemeinsamen Nenner« unserer Gesellschaft gesprochen: Was können wir für »Marhaba« als allgemeingültig für die große Mehrheit der Menschen zwischen Flensburg und Passau zusammenfassen? Aus den vielen Gesprächen, die ich im Laufe der Jahre mit arabischen Menschen in Ägypten, Syrien und anderswo geführt habe, aus den Zuschriften von Deutschen und Arabern zu »Marhaba« und aus den Diskussionen in unserer Redaktion versuche ich zusammenzutragen, was Deutschland in der Flüchtlingskrise heute ausmacht, wie wir ticken, was man über uns wissen muss. Aber auch, mit welchen Erwartungen, Vorurteilen und Unterschieden Menschen aus der islamischen Welt jetzt zu uns kommen. Vom gegenseitigen Verständnis wird abhängen, ob wir es schaffen, gemeinsam eine friedliche Zukunft zu gestalten.
Diese Krise begann weit entfernt. Sie begann auf den Schlachtfeldern um Aleppo, in den Trümmern von Misrata, im Elend von Tripolis. Sie schwappte über das Mittelmeer nach Lampedusa, Lesbos und von dort ins Herz der Europäischen Union. Seit Sommer 2015 ist sie da, offiziell angekommen in Deutschland. Die Menschen, die man vorher nur als winzige Punkte auf Bildern von katastrophal überfüllten Flüchtlingsbooten sah, stehen nun vor dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo), warten auf Bahnhöfen oder an Bushaltestellen. Mehr als eine Million Flüchtlinge haben wir bis Ende 2015 aufgenommen – es ist eine nie dagewesene Situation, eine Herausforderung für Politik, Wirtschaft, Gemeinschaft, aber auch für die Medien.
Seit dem 25. September 2015 moderiere ich Deutschlands erste arabischsprachige Sendung für Flüchtlinge: »Marhaba – Ankommen in Deutschland«. Darin will ich in kurzen Videoclips auf Arabisch einen Eindruck davon geben, was uns Deutsche und unser Land ausmacht. Die Idee dazu kam mir während meiner Elternzeit im September. Meine Frau und ich verfolgten intensiv Talkshows und politische Debatten zum Thema Flüchtlinge. Und wir ärgerten uns über viele davon. Man redete vor allem über Flüchtlinge und kaum mit ihnen. Meine Frau gab den Anstoß: »Warum erklärst du nicht auf Arabisch, was gerade in unserem Land diskutiert wird? Du sprichst die Sprache, und jetzt kommen Hunderttausende, die sie auch sprechen und Hilfe brauchen, und zwar dringend.«
Montags erzählte ich der n-tv-Chefredakteurin Sonja Schwetje von der Idee, und bereits am Freitag war die erste Folge online. Wir hatten uns ganz bewusst dagegen entschieden, Pressearbeit für das Format zu machen. BILD war für die Aktion »BILD hilft« heftig in die Kritik geraten. Es gehe der Zeitung gar nicht um Hilfe, sondern um Eigen-PR, hieß es. Diesen Vorwurf wollten wir uns nicht machen lassen. Es gab keine Pressemitteilung, keinen Hinweis auf das neue Format. Wir hatten auch gar keine Vorstellung davon, ob es überhaupt bei unseren Adressaten, den Flüchtlingen, ankommen würde. Denn n-tv ist ein Sender, der sich an deutsche Nutzer richtet.
Freitagabend stellten wir die erste Folge auf der n-tv-Website online und luden sie bei Facebook hoch. Der denkbar ungünstigste Zeitpunkt der Woche, um möglichst viele Menschen zu erreichen, denn ab Freitagnachmittag sackt der Online Traffic üblicherweise in den Keller. Wer hohe Klickzahlen erreichen will, postet seine Inhalte zu Bürozeiten – morgens oder mittags. Umso erstaunter waren wir, als wir quasi im Minutentakt sehen konnten, wie die Abrufzahlen in die Höhe schnellten. Innerhalb kürzester Zeit waren wir bei über 200000 Abrufen, was für n-tv.de eine Menge ist. Und nicht nur das! Unser Video verbreitete sich bis zum Sonntag auch rasant unter arabischen Facebook-Nutzern. Prominente arabische Medienpersönlichkeiten wie der TV