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Ist es angebracht, in einer Welt in Schieflage noch Glück zu verspüren? Unbedingt, sagt Constantin Schreiber – und ermutigt uns, der Leichtigkeit Platz zu schenken , ohne der Welt den Rücken zu kehren. Bestseller-Autor und Tagesschau-Sprecher Constantin Schreiber sucht und findet in seinem neuen Werk Antworten auf die Frage, wie es sich in Zeiten von Krieg, Klimakrise, Inflation und Pandemie mit dem Glück verhält. Können wir in diesen Zeiten glücklich sein? Dürfen wir uns überhaupt noch freuen – oder sind wir vielleicht sogar dazu verpflichtet? Schreiber besucht Orte und Menschen, die glücklich machen und glücklich sind, schildert, wie Glücksgefühle entstehen, und fordert uns auf zu mehr Mut zum Frohsinn – denn nur wer glücklich ist, hat die Kraft, die großen Herausforderungen unserer Zeit anzupacken. Eine kluge, persönliche, höchst unterhaltsame und Zuversicht spendende Lektüre für alle, die keine schlechten Nachrichten mehr aushalten – von einem, der weiß, wovon er spricht.
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Seitenzahl: 148
Constantin Schreiber
Glück im Unglück
Wie ich trotz schlechter Nachrichten optimistisch bleibe
Hoffmann und Campe
26. Februar 2022, 20 Uhr. Der Tagesschau-Gong erklingt. Aus der einen Ecke des ARD-Studios 2 in Lokstedt setzt sich die Kamera in Bewegung. Sie hängt an einer Art Schiene an der Decke und fährt während des Openings auf mich zu. Ich bemerke, wie der sogenannte Fächer – also die fünf Bilder, die während des Sendungsbeginns hinter mir zu sehen sind – über die Projektionswand fährt. Die Synchronstimme von Angelina Jolie sagt meinen Namen, für mich das Signal, anzufangen.
»Guten Abend, meine Damen und Herren, ich begrüße Sie zur Tagesschau!«
Wenige Tage zuvor, am 24. Februar, hat der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine begonnen. Auch an diesem Abend das beherrschende Thema. »Vormarsch russischer Truppen auf Kiew« steht hinter mir auf der Wand. Zuerst ein Beitrag über den Widerstand der Ukraine gegen die russischen Angreifer. Danach »Hunderttausende Ukrainer auf der Flucht«, ein Bericht aus den Brennpunkten in Rumänien, Ungarn und Polen. Eine Mutter kann ihre Kinder umarmen, die andere für sie über die Grenze gebracht haben. Bilder von berührender Solidarität in diesen Ländern.
Ich arbeite sehr viel in letzter Zeit, in manchen Monaten achtundzwanzig Tage. Schichtdienst. Warum so viel? Immer wieder sind Kolleginnen und Kollegen wegen Corona ausgefallen. Urlaub war lange wegen der Reisebeschränkungen ohnehin nicht möglich. Selten, fast nie, habe ich Gutes zu verkünden. Dabei halte ich mich eigentlich für einen optimistischen Menschen und besitze auch eine gesunde Distanz, kann nach der Arbeit gut abschalten oder mich mit anderen Dingen beschäftigen. Aber die nicht abreißenden Horrornachrichten – ich merke: Das macht etwas mit mir.
Vor kurzem war es ein Beitrag über Jugendliche in Syrien, die auf Müllkippen nach Essbarem suchen, über den ich noch lange Zeit nachdenken musste. Und ein Beitrag über einen Kinderschänder-Ring. Jetzt, mit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine, die ständigen Bilder von weinenden Frauen und Kindern, von Verzweiflung, aber auch von großer Hilfsbereitschaft … Und so passiert mir in dieser 20-Uhr-Sendung am 26. Februar 2022 etwas, was mir noch nie passiert ist, seit ich vor der Kamera stehe: Ich bin fix und fertig. Gleichzeitig stelle ich etwas Erstaunliches fest: Man kann Nachrichten vorlesen und dabei selbst weghören. Jemand hätte mich anschließend auffordern können: Nenne drei Schlagzeilen, die du gerade vorgelesen hast – ich hätte es nicht gekonnt. Am Ende der Sendung ändere ich spontan die Verabschiedung – ein No-Go in der Tagesschau. Ich sage nicht: »Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend!« Das konnte ich nicht, nach all den schrecklichen Dingen, die wir vorher zu sehen bekommen hatten. Was soll da schön sein? Ich wünsche »einen guten Abend«. »Gut« ist natürlich auch etwas anderes. Aber es erschien mir weniger zynisch. Als wir in der Konferenz anschließend darüber sprechen, stimmen mir viele zu. Seitdem wünschen wir zum Ende der Sendung häufiger einmal einen »guten« oder »angenehmen« Abend. Es sind eben keine schönen Zeiten.
An dem Abend gehe ich nachdenklich nach Hause. Ukraine. Corona-Krise. Klimakrise. Energiekrise. Eine Hiobsbotschaft jagt die nächste. Wir haben weniger Geld. Politiker rufen zum Verzicht auf, so wie Marie-Agnes Strack-Zimmermann von der FDP im August 2022, als sie von den Deutschen »Opferbereitschaft« fordert. Sich einzuschränken ist das Gebot der Stunde. Die Stimmung ist gedrückt. Wer will schon lachen angesichts der Kriegsbilder aus dem Osten Europas? Wer will und kann sich gut fühlen, wenn das Klima zu kippen droht? Wer will schon Spaß haben, wenn immer mehr Menschen nicht wissen, wie sie ihren Lebensunterhalt bezahlen sollen? Da fühlt man sich schnell schuldig.
Schon bald sitze ich wieder im Sender in der Maske. Tagsüber sind meistens zwei Kolleginnen oder Kollegen da, um die Sprecher und Moderatoren bei ARD-aktuell zu schminken. Ich bin müde, weil ich gestern erst spät ins Bett gekommen bin, und halte die Augen geschlossen. Die beiden Maskenbildnerinnen unterhalten sich, während auf einem großen Bildschirm die Nachrichten laufen. In der Ukraine hat die russische Armee eine Geburtsklinik beschossen. Eine Frau wird auf einer Trage blutüberströmt über ein Trümmerfeld transportiert. Sie stirbt wenig später, wie wir erfahren.
Eine der Maskenbildnerinnen greift zur Fernbedienung. »Ich schalte mal den Ton aus, ich kann das nicht mehr hören. Da wird man ja depressiv.«
Die andere entgegnet: »Ich habe schon Albträume davon.«
Ich sage nichts, aber denke: Aha, es geht nicht nur mir so.
Viele Freunde, Bekannte und Kollegen berichten, dass sie ihre Kompensationsstrategien haben: Fußballspielen, Häkeln, Gartenarbeit, Wandern. Alte Interessen und Hobbys werden reaktiviert, seit die Welt derart aus den Fugen geraten scheint, und manch einer schafft sich endlich den schon lange gewünschten Hund an.
Viele entscheiden sich auch dafür, einfach keine Nachrichten oder Talkshows mehr zu gucken. Die Einschaltquoten spiegeln das wider. Während der Corona-Pandemie hatten die Zuschauerzahlen der 20-Uhr-Tagesschau Rekorde geknackt. Mit Beginn des Kriegs in der Ukraine schalten deutlich weniger Menschen ein. Denn die einzige Information scheint zu sein: Es ist alles ganz schlimm, und es wird immer noch schlimmer.
Vor kurzem waren meine Eltern zu Besuch. Mein Vater, ein sehr humorvoller und lebensbejahender Mensch, blätterte im Spiegel, der bei uns im Wohnzimmer herumlag, und schlug ihn schließlich wieder zu. »Es ist wirklich alles schrecklich.«
Ich sah meinen Vater erstaunt an. Er ist Jahrgang 1938. Ich sagte: »Aber früher gab es doch auch schlechte Nachrichten! Die Kuba-Krise in den Sechzigern. Den Ölpreisschock in den Siebzigern. Tschernobyl in den Achtzigern …«
Mein Vater nickte. »Ja, aber wir hatten dennoch immer das Gefühl, dass es vorangeht, dass es bergauf geht. Dass der Wohlstand zunimmt im Land und der Einzelne immer mehr Möglichkeiten bekommt. Das ist jetzt anders.«
In der Tat. In dem Spiegel geht es um den drohenden Abschwung. Die Krise sei ein »Symptom dafür, dass eine chaotische Epoche angebrochen ist. Dass sich vieles nicht vorübergehend ändern wird, sondern grundsätzlich – und wohl eher zum Schlechteren«. Der Artikel warnt: »Auf dem Spiel steht die Zukunftsfähigkeit des deutschen Wirtschafts- und Sozialmodells. Das mag hysterisch klingen, doch ein Blick auf das globale Chaos erklärt die Dynamik.« Und stimmt die Leser darauf ein, dass es darum gehe, »freiwillig auf Wohlstand« zu verzichten.
Gewiss, Krisen hat es zu allen Zeiten gegeben, aber im Moment haben wir es mit einem ganzen Bündel an Krisen und Herausforderungen zu tun, ganz unterschiedlicher Art, die auf verschiedene Weise auf uns einwirken.
Da ist zunächst einmal Corona. Das Virus wütet nun schon seit über drei Jahren. Mehr als 150000 Menschen sind allein in Deutschland an der Atemwegserkrankung gestorben. Die Lockdowns und die übrigen Maßnahmen, die ergriffen wurden, um das Virus einzudämmen, hatten weitreichende Folgen, die aber ungleich verteilt waren. Es litten vor allem Menschen in kleinen Mietwohnungen und die Unternehmer in der Gastronomie und in der Veranstaltungsbranche. Weniger betroffen waren etwa Beamte in Einfamilienhäusern auf dem Land ohne Kinder. Fair war das nicht, und viele der Maßnahmen waren wohl auch nicht notwendig, wie etwa die Kita-Schließungen, denn Kindergärten waren, wie die Bundesregierung später einräumte, nicht Pandemietreiber.
Dann ist da natürlich der Ukraine-Krieg. Gerade, als man zu Beginn des Jahres 2022 das Gefühl hatte, dass die Pandemie langsam überwunden wäre, schlug Kreml-Diktator Putin zu und setzte seinen angedrohten Angriffskrieg gegen die Ukraine in die Tat um. Die Bilder von überfüllten Intensivstationen, von Menschen beim Antigen-Schnelltest oder beim Impfen wurden abgelöst von Bildern der Zerstörung, schreiender und weinender Frauen und Kinder und von Flüchtlingsströmen, wie es sie in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hat.
In einer tiefen Krise steckt auch unsere Debattenkultur, vor allem im Internet, wo selbst prominente Menschen, denen man ein Gespür für angemessenen Umgang unterstellt hätte, ausfallend und beleidigend werden oder in einer Weise pauschalisierend auftreten, wie man es bislang nur von Rechtspopulisten kannte. Vor allem bei Twitter, das ja, wie wir wohl inzwischen alle wissen, das Schlechteste im Menschen zum Vorschein bringt.
Da ist außerdem der Klimawandel. Nach Expertenaussagen steuert die vom Menschen verursachte Erderwärmung auf einen Kipppunkt zu. Das Thema Klimakrise ist wie die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg allgegenwärtig. Die EU hat bereits 2020 angekündigt, bis 2030 im Rahmen eines »Green Deals« eine Billion Euro bereitzustellen. Das Aus der Verbrennermotoren ist beschlossen. Immer neue Windräderparks entstehen, immer mehr Solarpanels kommen zum Einsatz – und doch stehen wir erst am Anfang eines langen Weges: weg von fossilen Brennstoffen hin zu erneuerbaren Energien. Ein gewaltiger Transformationsprozess, der erst noch in Gang kommen muss – und bei dem viele Angst haben vor möglichen Kosten und den Veränderungen, die diese Entwicklung für sie mit sich bringt.
Da ist das Thema Flucht und Migration. Viele Migranten kommen nach Deutschland als Studenten oder Fachkräfte. Andere als EU-Ausländer im Rahmen der europäischen Freizügigkeit. Aber viele auch als Geflüchtete, wie im vergangenen Jahr vor allem aus der Ukraine oder aus Afghanistan und Syrien. Deutschland war nach Angaben der UN Ende 2021 nach der Türkei und Kolumbien und vor Pakistan und Uganda das Land, das die drittmeisten Flüchtlinge aufgenommen hat, nämlich 2,2 Millionen. Auf Platz zwei sind wir hinter den USA, was die Zahl der gestellten Asylanträge angeht. Nach dem »Krisenjahr 2015«, in dem die schnell anwachsende und hohe Zahl an syrischen Flüchtlingen Deutschland vor große Herausforderungen stellte, ist das Thema sensibel, politisch heikel und umstritten und polarisiert nach wie vor, vor allem angesichts wieder steigender Flüchtlingszahlen.
Da sind zudem die Inflation und die größer werdende Armut. Hilfsorganisationen wie die Tafeln in Deutschland verzeichnen einen so hohen Bedarf wie noch nie bei gleichzeitig sinkenden Lebensmittelspenden. Wer durch das Frankfurter Bahnhofsviertel geht oder die Dortmunder Nordstadt oder Berlin-Wedding, der sieht sich mit einer Form des sozialen Elends konfrontiert, das sich bereits mit dem Beginn der Corona-Pandemie verschärft hatte und nun, mit der Rekordinflation und dem erneuten Zustrom vieler Schutzsuchender, gewaltige Ausmaße annimmt.
Und da ist schließlich das, was man die Durchpolitisierung des Alltags nennen könnte – die allgegenwärtigen Diskussionen um Gender-Sprache, kulturelle Aneignung und allgemein um Political Correctness. Nachrichten werden darauf hin durchleuchtet, mit welcher politischen Intention sie gebracht werden. Böse Debatten um einen Kinderchor, der von einer Oma als »Umweltsau« singt, um Talkshows, in denen »alte weiße Männer« über Rassismus diskutieren (»Letzte Instanzen«) oder Straftaten, bei denen Zuwanderer beteiligt sind, sind an der Tagesordnung. Um Inhalte geht es kaum. Dafür umso mehr um Frontenbildung: Wie tickt derjenige politisch, der mir gegenübersitzt? Verwendet er das richtige Vokabular? Empört er sich über die richtigen Dinge? Ist er Freund oder Feind?
Immer mehr Menschen laufen mit einem Politradar durch den Alltag, der alles darauf hin abscannt, mit wem wir es politisch zu tun haben. Ein Freund fragte, ob ich zu einer Satireshow in der Hamburger Laeiszhalle mitkommen würde. Warum nicht?, dachte ich. Einfach mal lachen. Ich dachte an irgendetwas in Richtung Switch oder RTL Samstag Nacht. Unterhaltsam, mal auf andere Gedanken kommen. Aber falsch gedacht. Das Satireprogramm war todernst. Es ging um: Krieg, Klima, Flucht. Und der Comedian, in der Rolle eines etwas trotteligen Zeitgenossen, arbeitete sich daran ab, wie unfähig die aktuelle Politik mit den Herausforderungen umgehe – mit einem an die Leinwand projizierten Affenfelsen, der irgendeine Statistik lustig wiedergeben sollte. Ich ging nach Hause, ohne ein einziges Mal richtig gelacht zu haben. Es war schrecklich.
Ist die Lage so schlimm, wie sie scheint, oder verfallen wir einem übertrieben Paniktrend?
Es kommt darauf an, was man als »schlimm« definiert. Schlimm ist sicherlich der Vertrauensverlust gegenüber den gesellschaftlichen Institutionen, der Politik, den Medien. Viele Menschen empfinden den Staat und staatliche Institutionen zunehmend als einen Gegner, der einem das Leben schwer macht – nicht nur Menschen, die man der rechten oder gar rechtsextremen Szene zuordnen würde, für die das natürlich ohnehin gilt. Der Eindruck, dass der Staat einem Steine in den Weg legt, ist heute Mainstream – und vielleicht ja auch nicht in jedem Fall ganz unzutreffend. Wir erinnern uns an die absurde Situation, dass während der Corona-Zeit Fallzahlen per Fax übermittelt wurden, während das längst auch digital möglich gewesen wäre. An absurde Maskenregeln, die nun wirklich keiner mehr nachvollziehen konnte: Passagiere im Zug sollten eine FFP2-Maske tragen, Zugbegleiter nur eine medizinische Maske – als würde das Virus da einen Unterschied machen. Im Flughafenterminal musste man keine Maske tragen – selbst wenn man bei den lange Zeit nicht funktionierenden Sicherheitskontrollen zu Hunderten dicht an dicht stand –, ab dem Einsteigen dann aber schon.
Oder man denke an Steuererklärungen, die daherkommen wie ein wissenschaftlicher statistischer Bericht und für Normalsterbliche einfach nicht nachvollziehbar sind. Oder an die Tatsache, dass plötzlich jeder Haus- und Wohnungseigentümer dem Staat Informationen zu Immobilien zusenden soll, inklusive aller möglichen Unterlagen, nachdem herauskam, dass die bisherige Regelung zur Grundsteuer verfassungswidrig war.
Schlimm ist unzweifelhaft der Wohlstandsverlust für viele Menschen in unserem Land. Die Armutsquote in Deutschland betrug 2022 laut Paritätischem Armutsbericht 16,6 Prozent, das sind 13,8 Millionen Menschen. Ein neuer Höchststand. Die Vermögensungleichheit hierzulande ist hoch, auch wenn nach Angaben der Bundesbank die vermögensärmeren Haushalte in Deutschland von 2009 bis 2021 etwas zu der reicheren Hälfte des Landes aufholen konnten. Allerdings entfielen immer noch 50 Prozent des gesamten Nettovermögens in Deutschland auf die oberen 10 Prozent. Und das war vor Inflation, Zinserhöhung und Ukraine-Krieg, die inzwischen selbst Teile der Mittelschicht vor Existenzfragen stellen. Viele sind schon froh, wenn sie ihren Lebensstandard einigermaßen halten können.
September 2022. Ich sitze in der Hamburger S-Bahn in Richtung Innenstadt. Nach jedem Halt geht jemand durch den Mittelgang und bettelt. Nach jedem einzelnen Halt! Ich steige am Hauptbahnhof aus. Hamburg ist statistisch eine der reichsten Städte Europas. Hier ist davon wenig zu sehen. Gleich in der Nähe, keine fünf Minuten vom Bahnhof entfernt, ist eine Methadon-Ausgabestelle. Was sich dort an menschlichen Dramen abspielt, ist kaum zu schildern. Anders in den westlichen Vororten oder in der Gegend um die Alster. Wer sich in Hamburg von einem Viertel ins andere bewegt, der kann die Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich sehr genau beobachten.
Ich fahre mit dem Zug von Hamburg nach Frankfurt. Zum Frankfurter Bahnhofsviertel muss man nicht mehr viel sagen. Hier geht es noch etwas heftiger zu als in der Hansestadt. Blut, Spritzen und Erbrochenes wechseln sich auf dem Bürgersteig ab. Die Verelendung ist schockierend.
Die Spaltung im Land hat viele Facetten. Und in unserer Wahrnehmung wird sie allerdings noch zusätzlich verstärkt. Wir lesen von Frauen, von Menschen mit Migrationshintergrund, von Alten und Jungen, von Ostdeutschen, die benachteiligt werden, weil sie sind, wie sie eben sind: Frau oder Mann oder Ostdeutscher und irgendwie nicht der »Norm« entsprechend. Alles richtig, aber – ohne bestehende Missstände und Probleme abtun zu wollen – könnte man nicht auch mal sagen, was wir schon alles erreicht haben? Wie gut manches funktioniert und dass sehr viele Menschen von sozialen Errungenschaften und gesellschaftlichen Veränderungen profitieren? Wenn man so manche hitzige Diskussion verfolgt, könnte man den Eindruck gewinnen, als sei das Unrecht die Norm in unserem Land. Und das wird doch wohl kaum jemand für ein korrektes Abbild der Wirklichkeit halten! Aber genau dieser Eindruck verfestigt sich in den Köpfen der Menschen, auch bei jungen Menschen: Es herrscht überall Unrecht in Deutschland!
Aber klar: Es gibt sie, diese Spaltung. Und sie nimmt zu – was aber nicht nur ein deutsches Phänomen ist. Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich ist vor allem ein globales Problem, und dem ein oder anderen schwant, dass Deutschlands Platz auf der Seite der reichsten Länder auf Dauer nicht garantiert ist. Ich habe vor kurzem einen Reiseführer über Dubai geschrieben, eine Stadt, in der ich drei Jahre gelebt und gearbeitet habe. Ich habe Freunde dort, kehre regelmäßig in die Hauptstadt des gleichnamigen Emirats zurück. Was mich zunehmend schockiert, sind die Preise dort. Übernachtungen für 1000 oder 2000 Euro die Nacht – in den besseren Hotels ist das inzwischen normal. Was auch damit zusammenhängt, dass der Dirham an den US-Dollar gekoppelt ist. Und je schwächer der Euro sich zum Dollar entwickelt, desto teurer wird es für Menschen aus der Eurozone. Für russische Staatsbürger sieht das anders aus. Entgegen allen Erwartungen schoss der Rubel-Wechselkurs seit Beginn des Ukraine-Kriegs durch die Decke, macht für Russen den Urlaub am Golf immer billiger. Dabei rede ich nicht von Oligarchen, denen sowieso alles egal ist, sondern von vielen Millionen Menschen der russischen Mittelschicht, die sich Urlaube in den Luxushotels in Dubai leisten können. Ebenso wohlhabende Nigerianer und Äthiopier. Der weltweite Wohlstand verlagert sich immer mehr in Richtung China, Indien und andere aufstrebende Schwellenländer. Im Entstehen begriffen ist eine neue Weltordnung, in der – vereinfacht gesagt – gilt: Wir brauchen sie, aber sie nicht uns. Nicht mehr.
Das mag nach einem Luxusproblem klingen, ist es aber nicht. Denn je abhängiger wir werden von den russischen, chinesischen und arabischen Despoten dieser Welt und je unabhängiger sie von uns werden, desto schlechter steht es um die Stabilität unseres Wohlstands. Das dürfte spätestens mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine klar geworden sein. Die Vorherrschaft des Westens nähert sich ihrem Ende. China, Indien, Russland, die reichen arabischen Staaten sind bevölkerungsreicher, rohstoffreicher und jünger, sie sind politisch hoch ambitioniert und machthungrig. Wer sich in Dubai umschaut, bekommt gewissermaßen einen Eindruck von der neuen Weltepoche: Wer dort im Luxus schwelgt, sind russische Mittelständler, reiche Äthiopier und Nigerianer, für die Geld keine Rolle spielt.
Ist das schlimm? Dass der Westen Macht abgibt, dass sich globaler Wohlstand neu sortiert? Man könnte sagen: Ist doch gut, dass der Reichtum endlich auch in anderen, bis vor kurzem bitter armen Ländern ankommt – wenn wir nicht gleichzeitig wüssten, dass der Reichtum in der Regel von einer ohnehin schon wohlhabenden Oberschicht abgeschöpft wird und nur sehr spärlich bis zu den ärmeren Schichten durchsickert.
Eines bringt diese historische Zäsur zwangsläufig mit sich: Unsicherheit. Denn wie sich die Welt im Einzelnen neu sortiert, lässt sich heute noch nicht absehen. Idealerweise wird es so sein, dass in einer neuen multifokalen Welt verschiedene Kulturen, Länder und Wirtschaftsräume einander gegenseitig voranbringen: durch Wissensaustausch, Handel und Kooperation. Eine solche Entwicklung ist nicht unwahrscheinlich, denn bisher wenig entwickelte Länder haben Rohstoffe, die der Westen, wie gesagt, dringend braucht. Diese Länder sind gleichzeitig Investitionsräume.