Klingende Wunder - Ulli Engelbrecht - E-Book

Klingende Wunder E-Book

Ulli Engelbrecht

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Beschreibung

Ulli Engelbrecht hat die schönsten Rockstorys & Popgeschichten aus seinen früheren Büchern für die Anthologien KLINGENDE WUNDER und RUNDE DINGER generalüberholt, neu zusammengestellt und hier und dort mit kommentierten Fotos versehen. Die Kurzgeschichten laden ein zu einer Zeitreise in die 1970er- und 1980er-Jahre (und auch darüber hinaus) und erinnern in diesem Band unter anderem an die Musik von Pink Floyd, die nicht unbedingt für Entspannung sorgen muss. Der Autor porträtiert zudem die Gnadenlosigkeit eines Disco-Dämons, stellt die Bankettmusik für die tanzenden Eitelkeiten vor oder berichtet von einem Sonntagsspaß mit einem Blaublüter. Mit dabei sind: Matt Bianco, Eloy, The Sparks, Heart, Sade, T. Rex, Led Zeppelin, Golden Earring, Nazareth, Prince, Roland Kaiser, Ted Nugent, Judas Priest, Modern Talking, Klaus Schulze, The Police, Little Feat, Mike Oldfield, Nena und so viele mehr.

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Inhalt

Zum Geleit

Ja keinen flotter Dreier mit mir

Bankettmusik für die tanzenden Eitelkeiten

Sturmfreie Bude im wilden Osten

FlapFlapFlap bedeutet: Das ist alles Mist!

Musik machen mit Gottes Segen

Musik, die mir nichts sagt

Mehr als nur ein dummes rundes Ding

Die verschwundene Schallplatte

Ein Abend voll klingender Wunder

Der gnadenlose Disco-Dämon

Gebet eines Metallers

Schmackhafte Würstchen in einem rotierenden Topf mit kochendem Wasser drin

Frei ab 18 Jahren

Die Alro-Gang

Auf dem Land ist das anders

Sonntagsspaß mit einem Blaublüter

Major Tom

Ich hab‘ aber Abitur!

Seltsame Hirngespinste

Kalte Latte im Schlachthof

Schlechte Musik zu schlechten Bildern

Von wegen, Pink Floyd sorgt für Entspannung

Die Zeit nach Mitternacht

Sind nur kleine Planeten

Zum Geleit

Ulli Engelbrecht hat die schönsten Rockstorys & Popgeschichten aus seinen früheren Büchern für die Anthologien „Klingende Wunder“ und „Runde Dinger“ generalüberholt, neu zusammengestellt und hier und dort mit kommentierten Fotos versehen.

Viel Spaß!

Ja keinen flotten Dreier mit mir

Ich möchte an dieser Stelle erwähnen, dass ich eine besondere Beziehung zu meinem Über-Ich pflege. Mein spezieller Zwillingsbruder macht mir seit Kindestagen das Leben schwer. Will ich dies, will er jenes. Ein ewiges Hin und Her. Deshalb schaute ich schon sehr früh anderen Pärchen zu: Wie sie miteinander umgehen, und ob ich aus ihrem Verhalten Erkenntnisse gewinne, die unserer Lebensgemeinschaft förderlich sein könnten.

Dick & Doof gehörten dazu, ebenso Fix & Foxi, Simon & Garfunkel, Lucky Luke & Jolly Jumper, Batman & Robin. Ich beobachtete sie genau, fand aber leider nichts Verwertbares, da sie alle ähnlich agierten wie wir. Ich verfolgte auch die Arbeit der ZDF-Fahnder Eduard Zimmermann & Werner Vetterli und die der dialoglustigen Bösewichthäscher Brett Sinclair & Danny Wilde. Wieder nichts.

Und dann lernte ich von Marlies & Karin, meinen älteren Cousinen aus der väterlichen Verwandtenlinie, die Faszination für Schlager kennen und von Black & Decker, den Heimwerker-Maschinen aus der Do-It-Yourself-Produktlinie aus dem väterlichen Keller, die Kunst des Bohrens.

Toll, Musik und Basteln, zwei interessante Hobbys, um die ich mich nun kümmern wollte.

Da schaute mein Über-Ich zunächst blöd aus der Wäsche, weil es sich nicht entscheiden konnte. Aber dass da auch Musik im Spiel war, fand es gut. Und so trug es sich zu, dass wir ab diesem Zeitpunkt für eine geraume Zeit einer Meinung waren.

Zum Glück gab’s in den Tagen meiner Jugend das britische Komponistengespann Nicky Chinn & Mike Chapman, das mir reihenweise dufte Songs schenkte, die, von Sweet, Suzie Quatro oder Mud gespielt, Weltruhm erlangten und die meiner heftigen pubertären Alles-ist-blöd-Mentalität eine träumerische Note unterjubelten.

Ich wurde jetzt umgänglicher, bekam jäh Sehnsucht nach Mädchen und wünschte mir sofort eine süße Freundin, mit der ich fest zusammen sein wollte. Mit Songs wie Coco im Kopf und Tiger Feet auf Cassette knüpfte ich erste Kontakte mit Martina & Maria oder Christine & Claudia. Da hing man dann nach der Schule im farbenfroh ausgemalten Jugendheim ab, schlürfte Fanta & Cola, redete über dies & das und auch über die Aufklärer Ernie & Bert („Heute habe ich euch ein A mitgebracht. Wollt Ihr mal wissen, was man mit einem A alles machen kann?“).

Allerdings führten meine frühen Bemühungen zu keinem handfesten Paarungs-Erfolg, deshalb freute ich mich auf die neue Bekanntschaft mit Jagger & Richards bei Asbach & Cola. Ich stieg nun in eine sehr enge Beziehung mit der Musik ein, weg vom Pop und hin zum Rock. Die Rolling Stones und der Alkohol – ein verdammt heftiger Mix, ein verdammt stimulierendes Gebräu. Und Benny besaß den Stoff und die tollen Platten mit den tollen Nummern Honky Tonk Woman, Street Fighting Man, Tumbling Dice und auch tolle Platten mit ganz neuen Nummern. Sehr schnell rotierten nun auch Songs von Page & Plant, Osbourne & Iommi, Blackmore & Dio auf meinem Plattenspielerteller: Led Zeppelin, Black Sabbath, Rainbow. Ich mochte ebenso die Musik der Gebrüder Mael & Mael, mit Vornamen Russell & Ron, allgemein besser bekannt als The Sparks. Eine Combo, bei der es musikalisch anders als bei den anderen zuging und bei deren amüsanten Kompositionen trotzdem hübsche Melodien über einen kunstvoll geknüpften, glamrockfarbenen Notenteppich kullerten. Das sagt Ihnen jetzt nichts? Dooooch. Ich erinnere an zwei ganz große Hits mit langen Titeln: Never Turn Your Back To Mother Earth und This Town Ain‘t Big Enough For Both Of Us. Partykracher. Beide. Sogar heute noch.

Eines Tages aber endete die bis hierhin einigermaßen friedliche Koexistenz. Seitdem führt mein Über-Ich ein kompromissloses Eigenleben. Andauernd mischt es sich ein, mal mahnend, mal kampfbereit, mal verschlagen, mal skrupellos und vor allem: Es weiß immer alles besser. So wie im Fall der Wilson-Schwestern, Nancy & Ann.

Nur weil mein spezieller Zwilling diese eine Single gut fand, musste ich gleich die komplette Platte kaufen! Die LP hieß „Little Queen“ und überzeugte mich persönlich überhaupt nicht. Ann & Nancy Wilson, die Leader Of The US-amerikanischen Band Heart, die da in mittelalterlicher Tracht gewandet auf dem Cover posierten, vermixten fusseligen Folk und faserige Rock’n’Roll-Akkorde zu einem faden Pop-Cocktail, den ich nicht bereit war, einfach so zu schlucken. Während ich protestierte, griente mein Über-Ich und zwang mich dazu, immerfort Barracuda zu spielen, damit er sein Vergnügen hatte. Furchtbar so was!

Eines Tages ertappte ich mich dabei, dass ich Artikel des täglichen Bedarfs plötzlich paarweise einkaufte: Butter, Milch, Marmelade, Brot. Sogar Hosen, sogar Schuhe. Mein spezieller Zwilling wieder: Es könne doch passieren, dass Brot, Marmelade, Milch und Butter am Wochenende plötzlich dann alle ist, wenn die Geschäfte geschlossen sind. Und mit Hose und Schuhe könntest du zufällig irgendwo hängen bleiben, vielleicht sogar in einem deiner komplizierten Beziehungsgeflechte, in denen du so gerne herumkletterst. Dann wären sie unrettbar kaputt. Sei dann froh, wenn du Ersatz hast. Verrückt, nicht wahr?

Ende der 1970er-Jahre brachte ich mir aus meinem Urlaub in Frankreich einige Platten mit: Tai Phong, Magma und Gong. Ein paar Monate vorher, in Holland, kaufte ich Focus, Ekseption, Herman Brood und Earth & Fire. Davor legte ich mir Platten von deutschen Bands zu, Kraan und Guru Guru. Obwohl ich mit zahlreichen aktuellen Scheiben aus dem In- und Ausland ausgestattet und zudem über das, was in der Musikszene passierte, stets gut informiert war, hockte ich ständig im Plattenladen oder besuchte Flohmärkte und suchte wie ferngesteuert krampfhaft nach Platten, die es nicht gab und auch gar nicht geben konnte, da von vielen meiner Lieblingsbands nichts Neues anstand.

Es könne allerdings sein – so die Meinung meines Über-Ichs – dass du eventuell etwas übersehen hast: Eine bessere Pressung vielleicht, ein abweichendes Covermotiv, eine heimlich produzierte Live-Platte oder eine Platte, die vielleicht nur außerhalb Europas erschienen und die aber gerade jetzt über irgendwelche dubiosen Kanäle nach Deutschland gekommen und nun endlich erhältlich ist. Ich opferte sinnlos viel Zeit und wurde niemals fündig.

Nun wird erneut das gute alte Vinyl gehandelt. Das schwarze Plaste-Wunder meiner Jugend steht wieder stolz in den Regalen kleiner Record-Dealer und sogar großer Medienmärkte. Nicht nur aktuelle Bands veröffentlichen ihre Werke auf Vinyl, auch die Altmeister aus dem Plattensteinzeitalter sind mit am Start, sorgen dafür, dass ihre neuen Werke und ihre bereits betagten Elaborate abermals als Black Beauties veröffentlicht werden. Und können sie den Verkaufsvorgang nicht mehr selbst organisieren, da sie eventuell schon verstorben sind, besorgen es die pfiffigen Witwen, Waisen, Kinder und Kindeskinder aus den jeweiligen Familienclans. Somit beginnt das Spiel von Neuem, als CDs bis zur Halskrause mit sogenanntem „unveröffentlichtem Material“ vollgepfropft wurden: Es gab tonnenweise Outtakes, Demos, Bootleg-Sounds und alternative Versionen, obskure Live- und inoffizielle Radiokonzert-Mitschnitte und sogar Übungseinheiten, die der ein oder andere Musiker in aller Stille in seiner Nasszelle absolvierte.

Mich interessiert das nicht, denn Bonustracks sind für mich kein Gewinn. Bonustracks sind wie unangenehme Pickel am Schwanz. Für mich war es immer klar gewesen, dass die Bands nie mehr eingespielt hatten, als nur das, was tatsächlich auf ihren Platten erschienen war. Sollen sie doch heute veröffentlichen, was sie wollen. Ich bin mit meinen Originalen zufrieden.

Mein Über-Ich jedoch ist da völlig anderer Meinung. Und so landeten in letzter Zeit auf meinem Abspielgerät ein paar komische Tonträger, die ich nur unter Protest erstanden habe. Ich habe nach diesem Vorfall sofort meinen speziellen Zwilling zur Seite genommen und mit Nachdruck gesagt, dass es so mit uns nicht mehr weitergehen könne. Wir hätten doch nun wirklich genügend Streitereien ausgefochten und sollten jetzt, im fortgeschrittenen Alter, etwas weiser mit uns umgehen und mehr miteinander als gegeneinander arbeiten. Ich habe dann schnell die originalen Platten herausgekramt, die wir nun in stillen Abendstunden gemeinsam hören. Und was soll ich sagen: Seitdem ist es zu keinem besonderen Ereignis zwischen uns beiden mehr gekommen.

Dafür meldet sich in letzter Zeit verstärkt der dritte Kollege zu Wort, der jahrzehntelang stumm im tiefsten Unterbewusstsein schlummerte. Ich habe ehrlich keine Ahnung, was das Es nach all den Jahren plötzlich von mir will.

Ich weiß nur dies: Einen flotten Dreier mit mir können sich die beiden von der Backe schminken.

Bankettmusik für die tanzenden Eitelkeiten

Gefälligkeitslalla, diese Bezeichnung gefällt dir aber wohl nicht, oder?

Aber so war es doch, gestehe es dir doch endlich einmal ein. Diese einlullende Funk-, Samba-, Cha Cha Cha- oder Calypso-Soße, die sich auf einmal aus allen Lautsprechern ergoss, kam zwar immer jazzmäßig geschmackvoll gewandet daher, war allerdings so heuchlerisch wie die, die sie goutierten.

Denk’ doch mal zurück: Als sich um 1983 herum die popmusikalische Langeweile mit Opportunismus und Konformität paarte, da musste es bei diesem flotten Dreier wohl passiert sein. Neun Monate später erblickte in London ein frech grinsender Bastard das Licht der Welt, der sich aber so lieb und kooperativ gab, dass er von allen Menschen sofort ins Herz geschlossen wurde: Der New British Jazz. Der Kürze halber einfach mal Cool-Pop genannt.

Erinnerst du dich noch an Songs von Bryan Ferry, Matt Bianco, Simply Red, Everything But The Girl, Carmel, Spandau Ballet, Alison Moyet oder – noch schlimmer: Heaven 17?

Für mich wirkte diese Musik wie ein riesengroßer Flauschhaarteppich, der das krisengeschüttelte Alltagsleben verdeckte und unter den sich vortrefflich die apokalyptischen Vorboten kehren ließen.

Das sei Quatsch, sagst du? Diese Musik sei offen gewesen und ehrlich, habe sich entwickelt, habe Stil und Wurzeln?

Meine Güte, hast du dich blenden lassen: Er machte sich doch nur wichtig, dieser Bastard, der so erschreckend schnell und erfolgreich heranwuchs. Tat so, als ob er das Erbgut großer Künstler in sich tragen würde, nämlich das von Miles Davis, Charles Mingus, Duke Ellington, Charlie Parker und so vielen anderen. Nichts von alledem stimmte.

Cool-Pop war weder Hardbop, Bebop noch Jazz. Cool-Pop war einfach nur ganz schlechtes Zitat. Cool-Pop war so bedeutungslos wie ein Regentropfen, der vom Himmel auf die funkelnden Strass-Applikationen pastellfarbener Karottenjeans tropfte.

Diese Musik habe bei dir romantische Gefühle ausgelöst, sagst du?

Das kann ich nicht glauben. Diese überzuckertsüße, lässig-plätschernde Musik, die wohl immer nur im Saxofon-dominierten Quintett-Format spielbar war, untermalte als Soundtrack doch nur den fragwürdigen Lebensentwurf der Young Urban Professionals, die plötzlich überall auftauchten und sich in ihrer Gleichgültigkeit aus Überzeugung mit einem Hauch von Luxus umgaben. Frei nach dem Motto: „Lacoste es, was es wolle!“

Keine Ahnung, was diese Yuppies arbeiteten, aber scheinbar hatten sie neben Geld auch noch alle Zeit der Welt, wenn sie mit ihrer American-Express-Card und ihrem Filofax großspurig-gelassen so taten, als seien sie auf den Boulevards oder in den Straßenschluchten von Paris oder New York zuhause, dabei schlenderten sie doch nur durch die Fußgängerzonen in Castrop-Rauxel, Gelsenkirchen-Buer oder Bottrop-Boy. Sie lasen Börsenkurse anstatt Bücher, erfanden Worte wie „Event“ und „Location“, und wenn sie redeten, dann wurden Lösungen „angedacht“ und Probleme „gehandelt“. Sicherlich bezeichneten sie auch ihr mieses Innenstadt-Wohnblock-Appartement als „Loft“ und hörten stundenlang solche belanglosen coolen Popsongs wie You’re The Best Thing von Style Council, Diamond Life von Sade oder Elegance von Prefab Sprout auf ihrer sündhaft teuren Bang & Olufsen-Stereo-Anlage.

Das sei der Neid der Besitzlosen, sagst du?

Ich denke nicht. Mir ist noch bewusst, dass ich dort, wo diese Musik rund um die Uhr zu hören war, immer viel Geld losgeworden bin. Nämlich in eben jenen „Locations“, die als schicke Cocktail- und Café-Bars wildwuchernd die Stadt überzogen, wo farbenfröhliche Getränke wie Blue Curaçao oder Roter Genever ausgeschenkt wurden, wo Marken wie Rémy Martin oder Pommery ihren festen Platz im Regal und auf dem Tresen hatten.

Im zumeist unromantischem und neonlichtdurchflutetem Ambiente, in dem auch die Tasse Kaffee zwei bis drei Mark mehr kostete, offenbarte sich der Smalltalk der Gäste stets als aufgeblasene Sprachlosigkeit, die so schwer im Raum lastete, dass neben den coolen Klängen einzig das Klackern der Eiswürfel im Asti Cinzano und das Rattern der Registrierkasse zu hören war.

Vorurteile seien das, sagst du?

Ich glaube nicht. Viele machten mit bei diesem Spiel der Selbstreklame. Besonders die, die es sich nicht leisten konnten. Ich kannte Postbedienstete, Verwaltungsangestellte oder Verkäuferinnen, die ihr karges Gehalt dafür aufs Spiel setzten, um ihre plötzlich erwachten narzistischen Begierden zu befriedigen. Ich kannte Facharbeiter, Ladenbesitzer oder Taxifahrer, die sich Wet-Gel in die Haare schmierten und Gucci-Parfüm auflegten, sich wie Crockett und Tubbs aus der TV-Serie „Miami Vice“ fühlten und sich zum Affen machten.

Für ihre „Meetings“ zwängten sie sich in teure Designer-Klamotten, orderten zudem ein Sektgedeck nach dem anderen und glaubten fest an sich und drehten sich um ihresgleichen und ließen sich ihre Sicht aufs mondäne Leben von Zeitgeist-Magazinen wie Tempo oder Wiener diktieren. Mir kam es immer so vor, als ob sie kurz vorm Untergang der Welt in edler Runde noch einmal so richtig abfeiern wollten. Wie weiland auf der Titanic: Der Dampfer sinkt und die Musi spielt dazu.

Tut mir leid, aber für diese Menschen konnte ich mich nie erwärmen. Ich habe mir auch mit schärfster Phantasie nie vorstellen können, mit jenen Frauen Sex haben zu wollen, deren Attitüden stets zwischen Blasiertheit und gespielter Unnahbarkeit pendelten und von deren blank polierter Oberflächlichkeit jedes kritische Wort herunter rann und die immer alle so aussahen wie die Matt-Bianco-Sängerin Basia.

Depressives Gerede sei das, sagst du?

Nein, nein. Diese trügerische Haltung war für mich nicht erstrebenswert. Es gab Alternativen. Ich wollte nicht den Kopf in den Sand stecken, ich wollte lieber Druck machen, politisch aufrütteln und so weiter. Machte ich dann auch. In einer Gruppe mit sieben Leuten. Als Fritz Brause mit allerliebster hüpfender Polyrhythmik zur fröhlichen Shilly-Shally-Party rief, gründeten wir eine Zeitschrift, die sich mit zunehmender Arbeitslosigkeit, mit neuer Armut, mit Neonazis, mit der Kaputt-Sanierung von Wohnraum oder mit der Öko-Bewegung auseinandersetzte. Als die coolen Klänge der Dekadenz immer populärer wurden, prangerten wir die politischen und gesellschaftlichen Katastrophen an.

Und als dem Cool-Pop in den heißen Tagen der Ostermärsche endlich das billige Make-Up zerfloss und das grinsende Gesicht jenes Bastards wieder zum Vorschein kam, da war es dann auch jedem klar geworden: Cool-Pop log jahrelang Gefühle und Sehnsüchte und Lebensfreude herbei und war im Grunde nie etwas anderes gewesen als eine vernebelte Bankettmusik für die tanzenden Eitelkeiten.

Sturmfreie Bude im wilden Osten

Als ich endlich zuhause war, knallte ich die Zimmertür zu, legte ich mich sofort auf mein Bett und heulte los. Mit den Händen vorm Gesicht. Richtig ausgiebig geheult habe ich. So wie damals, als ich aus diesem Horrortraum erwachte und der festen Meinung gewesen war, dass Papa und Mama bei einem Unfall ums Leben gekommen sind. Aber da war ich sechs Jahre alt. Ein Kind. Jetzt war ich 14. Da heult man nicht einfach drauf los, wenn’s mal schiefläuft.

Heute aber war etwas schiefgelaufen. Und alles nur wegen dieser blöden Schallplatte. Ich fand nach einer halben Stunde Irrfahrt durch die Dunkelheit endlich die Rüsingstraße, die mich zurück auf den Werner Hellweg Richtung Innenstadt führte. Menschenleer, kaum Verkehr, stockdunkel. Vielleicht war es der Zorn, vielleicht das angestrengte Trampeln, vielleicht die vielen Zigaretten, der Alkohol, die schwüle Luft an diesem spätsommerlichen Abend, die meine Gefühle noch im Zaum hielten.

Die ersten Tränen tropften nämlich erst los, als ich am Ostring-Gymnasium entlang radelte. Am Schwanenmarkt hielt ich beim Klohäuschen an und wischte mir den Schnodder aus dem Gesicht. Die weitere Fahrt auf dem Nordring bis zur Uhlandstraße, wo ich wohnte, fiel rasanter aus als sonst üblich, und als ich mein Rad in den Kellerverschlag des fünfstöckigen Mietshauses trug, stellte ich es ruppiger ab als sonst. Ich war müde, sauer, traurig, erschöpft, wütend, weil ich richtig Angst gehabt hatte. Sie machte sich jetzt erst bemerkbar. Die Kopfschmerzen quälten mich aber schon vorher, weil diese dämliche Musik immer noch in meinen Ohren rotierte.

Bodo redete nie viel. Und wenn er was sagte, dann war es nicht wichtig. Nur einmal hörte ich genauer hin, weil er etwas von einem Gitarristen mit Lockenkopf faselte, der auf seiner neuen Platte wie selbstvergessen mit seinem Instrument vor seiner Verstärkeranlage steht und von einem Lichtschein umrahmt wird. Eine besondere Platte soll es sein: Schwarz das Cover, glitzerpoppig die Musik. Elf Titel, knapp 40 Minuten Spieldauer, zwei Songs davon waren wohl Riesenhits. Bodo wollte diese Platte auf keinen Fall in die Messdienerstunde mitbringen, aber ich könne sie mir ja bei ihm zuhause anhören, lud er mich ein.

Um Platten von Bands zu hören, die neu waren, war mir kein Weg zu weit. Normalerweise. Bodo aber war mir suspekt. Der dickliche Junge war schnell auf 180, wenn ihm irgendetwas nicht passte, und dann schwitzte er stark und daumengroße rote Flecken erblühten auf seinen Wangen. In solchen Momenten roch er auch nicht gut, und ein eigenartiger Duft umwehte ihn, der an Nähmaschinenöl und ranziger Butter erinnerte.

Ich war eher ungewollt mit ihm befreundet, aber es war wichtig, weil sein älterer Bruder, der einer unser Gruppenleiter war, für uns wichtig war. Er beaufsichtigte uns, wenn zum Beispiel eine Ferien-Freizeit in irgendeinem münsterländisches Kaff anstand. Bodos Bruder guckte weg, wenn man nachts aus dem Fenster stieg, um heimlich zu rauchen oder zu trinken oder einfach nur herumzustreunen und an Fensterscheiben zu bollern, um Leute aufzuschrecken. Bodos Bruder kümmerte sich nicht drum und verpetzte uns vor allem nicht beim Vikar.

Bodo holte mich also mit dem Rad gegen Mittag von der Propsteikirche ab. Bodos Familie wohnte in Werne, einem wilden Stadtteil im Bochumer Osten, wo das Leben rauher war, denn dort gab es schnell eins auf’s Maul, wenn man nicht spurte oder wenn man nicht dazu gehörte.