Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ulli Engelbrecht hat die schönsten Rockstorys & Popgeschichten aus seinen früheren Büchern für die Anthologien KLINGENDE WUNDER und RUNDE DINGER generalüberholt, neu zusammengestellt und hier und dort mit kommentierten Fotos versehen. Die Kurzgeschichten laden ein zu einer Zeitreise in die 1970er- und 1980er-Jahre (und auch darüber hinaus) und erinnern in diesem Band an exzentrische Eigentümlichkeiten wie die rätselhaften Codes der Frauen, an merkwürdige Hörräume für psychedelische Musik oder an die politische Bildung mit Ton Steine Scherben. Und natürlich werden auch nicht die runden Dinger vernachlässigt, nämlich die Schallplatten, die den Soundtrack zu all den Ereignissen lieferten. Mit dabei sind: Dicky Betts & The Great Southern, Stone Sour, Deep Purple, Iron Maiden, The Lords, Tina Turner, Madonna, Whitney Houston, Roy Black, Ulli Martin, Die Flippers, Can, Chris Rea, UFO, Sandra, Uriah Heep, Amon Düül II und so viele mehr.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 143
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Zum Geleit
So fängt es meistens an
Keine Macht für Niemand
Mit
Jessica
in stimmungsvoller Landschaft
Fucking Fuck Shit Fuck – Entschuldigung!
Hart ist nicht hart genug
Flauschig, friedlich, freundlich
Vom guten alten Stoff
Die kolumbianische Kapuzenspinne
Komischer Glanz in Mädchenaugen
Vom Akt der Gnadenlosigkeit
Carina, Eva und die anderen
Alles klar, Herr Kommissar?
Die Angst der Feuerwehr
Auch Ästheten kuscheln gern
Das Geheimnnis der drei Sicherheitsnadeln
Symphonie des Grauens
Die Jacksons
Der Festival-Fan
Die rätselhaften Codes der Frauen
Viel zu nahe an der Realität
Du wills vonne Presse sein?
Immer im Rückstand
Wir sind das Volk!
Flüchtige Beziehungen
Mit Maria Magdalena im Tongebirge
Ganz schön abgedreht
Über Klang-Alchemisten
Werden Sie Schlager-Experte!
Holland. Im März.
Ulli Engelbrecht hat die schönsten
Rockstorys & Popgeschichten aus seinen früheren
Büchern für die Anthologien
„Klingende Wunder“ und „Runde Dinger“
generalüberholt, neu zusammengestellt
und hier und dort mit kommentierten
Fotos versehen.
Viel Spaß!
Ich sitze am Küchentisch
bei geöffneter Balkontür
blicke auf den Hof
mit den hohen Mauern drumherum
verbaue einen langweiligen Nachmittag
eher lustlos zu einem
rotweißblauen Legostein-Haus
Kunterbunte Geborgenheit
mit einem großen Zimmer für mich allein
das ich als zehnjähriger Steppke
in Wirklichkeit aber nicht habe
Angetrieben von dieser Melodie
von diesem Lied
Penny Lane
Vielleicht auch so eine öde Straße
wie die, in der ich wohne
doch die Melodie gibt ihr
etwas Erhabenes, etwas Sinnliches
Es trifft dich in solchen Momenten
wo du nichts weiter denkst
oder beim Spielen mit irgendwas
oder vielleicht beim Regentropfen zählen
Du summst mit und wirst
ungewollt eins mit den Tönen
saugst das Vordergründige auf
den Rhythmus, das bisher Unerhörte
Und am Abend heimliche Blicke
durch den Türspalt wagen
und die Ohren spitzen
weil der Fernseher läuft
und dramatische Klänge aussendet
die taktweise zum Abenteuer rufen
zum Krimi, zum Quiz, zur Show
verheißungsvolle Melodiefetzen
mit denen ich mich im Schlaf wohlig zudecke
Ich weiß auch noch dies
das Radio von meinem Bruder nebenan
Radio Luxemburg auf Mittelwelle
hohl und blechern klingende Lieder
als wären sie in eine Konservendose
hineingesungen worden
Dandy
I’m A Believer
Dear Mrs. Applebee
Puppet On A String
Verrauscht und verzerrt und von
überlagerten Funkwellen gepeinigt
und trotzdem wunderbar
So zwängen sich die Pop-Miniaturen
aus dem Transistor
umgarnen mich und sie dringen sofort
ein in meine Gedankenwelt
um sich auf ewig darin einzubrennen
Als kleiner Mensch wertest du nichts
weil Musik für dich noch unschuldig ist
deshalb lässt du dich von den zahllosen
Stromschnellen in den Klangflüssen mitreißen
ohne Angst vorm Ertrinken
Im Gegenteil
du nutzt die Chance, du traust dich
du schwimmst dich dabei frei, und bist offen
für den Freischütz in der Schule, als Beispiel
oder für Frohsinnsfanfaren
wie Humba Humba Täterä – auch sowas, klar
In Musik getauchte Momente sind packend
sind überwältigend, sind exemplarisch
gehören sie doch dir allein
und du kannst damit machen, was du willst
So fängt es meistens an
Keine Ahnung, warum ich am 12. Juni 1972 ausgerechnet dieses Konzert besuchte. Aber es war das erste Mal überhaupt, dass in der Stadt eine bekannte Band gastierte. Sicher, ich kannte sie vom Namen her, aber was die so spielte, das wusste ich nicht.
Ich war schon Stunden vorher im Schulzentrum an der Querenburger Straße, wo die Band Ton Steine Scherben am Abend auftreten sollte, und beobachtete jetzt die drei Dutzend jungen Leute, Studenten und Schüler, die Tapeziertische aufstellten und akkurat Flugblätter, Sticker, Bücher und Broschüren stapelten. Ich blätterte hier und da, streunte von einem Stand zu nächsten, besuchte die DKP und den SDAJ, den Spartakus-Bund, die Marxisten-Leninisten, das Schüler- und Lehrlingskollektiv und Gewerkschaftsleute.
Ein paar Typen entrollten auch Transparente.
Von
REVOLUTION
war da die Rede und
WIR SIND KNECHTE DES KAPITALS.
In der Aula schmückten verschiedene große Bettlaken die Wände. Mit roter Farbe und in krakeliger Schrift geschrieben stand da:
DAS IST UNSER HAUS
Oder auch:
DIE, DIE UNSERE HÄUSER KILLEN,
WOHNEN IN DEN SCHÄRFSTEN VILLEN
Ich fand die markigen Sätze beeindruckend und schlenderte zurück ins Foyer, blieb vor einem Tisch stehen, an dem jemand Platten anbot. Ich kramte beiläufig eine Scherben-Platte aus dem Karton, las mir die Texte durch. Was die Band da so singt, ist ja ganz schön frech und aufsässig, stellte ich fest:
Wenn ich nach Hause komme, sitzt da ein alter Typ
Der sagt, er ist mein Vater
aber ich glaub nicht, dass er‘s ist
Wir sehen uns nur manchmal und dann reden wir nicht viel
Doch wenn wir reden, dann sagt er
Junge, aus dir wird mal nicht viel…
Au Backe, genau das kannte ich aber auch. Wie oft hatte ich schon hören müssen, dass aus mir auch nichts werden würde, da meine schulischen Leistungen nicht besonders waren. Du kommst zur Müllabfuhr. Zu mehr taugst du sowieso nicht, hieß es immer, wenn ich mal eine Mathe-Arbeit verrissen hatte und sie meinem Vater zur Unterschrift vorlegen musste. Und dann wurde mir wieder und wieder vorgehalten, wie fleißig und intelligent doch mein Bruder sei, der studierte, oder meine Cousine oder mein Cousin.
Und ich hatte die Szenen vor Augen, wie mit mir „Schule“ gespielt wurde, wenn Onkel Gerd und Tante Annie mit Ulrike und Heiko an Feiertagen zu Besuch kamen. Dann gab’s ein Blatt Papier und ich sollte abwechselnd Aufgaben rechnen oder Vokabeln aufschreiben. Und wie sie sich vergnügten, wenn ich irgendwas nicht wusste. Und dass es mir jedesmal Angst machte, so bloßgestellt zu werden, und dass sich in der Familie eigentlich keiner dafür interessierte, wie sehr mich das bedrückte.
Ich begriff auf einen Schlag, dass ich mit meinen Problemen nicht allein war auf der Welt. Und dass alle Leute in der Aula, die sich nun nach und nach füllte, sicherlich ähnliche Gedanken hatten. Aber was ich eben besonders toll fand: Es gibt eine Band, die über solche Leiden Songs schreibt.
Auf der Bühne rücken die Musiker nun Verstärker und Stative zurecht, schnallen sich Gitarren und den Bass um, stimmen ihre Instrumente. Ich spute mich, um in der aufgeregten Menschenmenge einen guten Platz zu bekommen und bin mehr als gespannt.
Und da - da trabt der Sänger ans Mikrofon! Klein und schmächtig ist er, dieser Rio Reiser, der ein echter Anarchist sein soll, wie ich vorhin am Stand der Gewerkschaft aufgeschnappt hatte. Der komme aus Berlin-Kreuzberg, und dort würde man einfach leerstehende Häuser besetzen und als billigen Wohnraum benutzen oder zum Jugendzentrum erklären. Der Rio solle auch mit mehreren Leuten ein Haus besetzt haben, in dem sie zusammenwohnen, in dem er mit der Band probt.
Das T-Shirt mit dem ummauerten Brandenburger Tor hängt dem Scherben-Sänger aus der abgewetzten Jeans. Gemeinsam mit seinen drei Mitspielern wuselt er auf der Bühne herum, guckt mal hier, guckt mal da, stellt sich schließlich ans Mikro und entschuldigt dafür, dass zwei Lautsprecher der Gesangsanlage wohl gerade eben kaputt gegangen sei. Deshalb sollen wir, das Publikum, mehr in die Mitte der Aula rücken, damit wir ihn, Rio, akustisch besser verstehen würden. Wir alle ziehen nun ein paar Meter weiter zur Bühne, setzten uns auf den Boden. Rio bedankt sich artig, dreht sich zum Gitarristen, nickt, und es geht los:
Ich habe viele Väter und ich habe viele Mütter
ich habe viele Schwestern und ich habe viele Brüder
Meine Brüder sind schwarz und meine Mütter sind gelb
Und meine Väter sind rot und meine Schwestern sind hell
Und ich bin über zehntausend Jahre alt
und mein Name ist Mensch…
Mit halbgeöffnetem Mund und mit Stielaugen schaue ich in Rios Gesicht und denke mir nur, meine Güte, mit welcher Inbrunst der kleine und schmächtige Mensch da singt. Ich genieße den bluesigen Rock, die illustrativen Texte, die ausgelassene Stimmung.
Warum geht es mir so dreckig
was kann ich allein dagegen tun...
Sklavenhändler, hast du Arbeit für mich
Sklavenhändler, ich tu alles für dich...
Wer das Geld hat, hat die Macht
und wer die Macht hat, hat das Recht
Die Texte bringen Dinge auf den Punkt, über die ich mir auch schon mal so meine Gedanken gemacht habe.
Nicht sagen, was ich denke, nicht denken was ich sage
Ich möcht` am liebsten tot sein
und von allem nichts mehr seh`n
ich möchte so besoffen sein
und von allem nichts mehr seh`n…
Genau. Sagen, was ich so denke, geht bei mir zuhause auch nicht. Denn sage ich mal das, was ich von meiner strebsamen Cousine oder meinem langweiligen Cousin halte, schaltet Mutter ihre Ohren auf Durchzug.
Und erzähle ich von meinen besten Freund Micha, der mit seinen Eltern prima klarkommt, auch mal laut Musik hören darf, heißt es sofort, dass der sowieso kein Umgang für mich sei. Warum denn nicht, will ich dann wissen. Doch anstelle einer Antwort gibt’s nur einen bösen Blick.
Das alles geht mir jetzt durch den Kopf, während ich Rio und seinen Musikern zuhöre und mir ab und an auch das Publikum anschaue. Diese Begeisterung! Da stehen die Jungs, die Mädchen, allesamt kaum älter als ich, und klatschen sich die Hände rot. Die Gesichter glühen rosig, die Augen leuchten.
Ich will nicht werden, was mein Alter ist…
Aha, so klingt also der Song, dessen Text mir eingangs meine „Schule“-Erinnerung zurückgebracht hatte. Klar, dass es dafür tosenden Applaus gibt.
Was nun plötzlich folgt, ist kaum zu glauben. Es gibt tatsächlich auch stille Momente zwischen den lauten Nummern. Songs wie Alles verändert sich oder Der Traum ist aus, die die Kraft der Solidarität beschwören.
Ich denke in dem Moment an die sogenannte Rote-Punkt-Aktion neulich in der Innenstadt, als sich Studenten, Schüler und Lehrlinge auf die Straße setzten, um ihre Forderungen nach einem kostenlosen Nahverkehr durchzusetzen.
Das fand ich richtig gut. Weil die sich einfach da gemeinsam hinsetzten und Spaß daran hatten, die Straßenbahnen und Busse am Weiterfahren zu hindern. Die Leute hatten Bier dabei und Schnittchen und sangen auch Lieder. Einige Protestler hielten Passanten an, redeten mit ihnen, hielten ihnen ein Flugblatt vor die Nase und den Roten-Punkt-Aufkleber fürs Auto, sprachen davon, dass man doch nur in der Gemeinschaft stark sei.
Manche Demonstranten gingen in ihrer Absicht aber noch weiter, diskutierten über Benachteiligung und Behördenwillkür, Ausbeutung durch Unternehmen und fehlende Mitbestimmung und vor allem: dass man sich nicht alles gefallen lassen dürfe.
Ganz ruhig und ganz bestimmt sagten die das. Ich hörte eine Weile zu und war doch reichlich verwundert, als unerwartet mehrere Mannschaftswagen der Polizei auftauchten, aus denen die Beamten heraussprangen und die Protestler und Demonstranten im Laufschritt mit Schlagstöcken auseinandertrieben.
Alles verändert sich, wenn du es veränderst,
doch du kannst nicht gewinnen, solange du allein bist…
RamBamBam - BamBamBam…
Radios laufen
Platten laufen
Filme laufen
TVs laufen
Es rockt nun heftiger, ruppiger…
Reisen kaufen
Autos kaufen
Häsuer kaufen
Möbel kaufen
Wofür?
Und so unerwartet brutal wie ein Hurrikan fegt plötzlich die Refrainzeile durch den Raum und zieht sogar die wenigen Zuhörer, die sich ganz nach hinten verdrückt hatten, ziemlich nah an die Bühne. Und geballte Fäuste fliegen in die Luft und Rio gibt Gummi und die Menge macht mit:
Macht kaputt, was euch kaputt macht!!!
Ungläubig verfolgte ich die Szenerie und fühlte mich hin und her gerissen. Was da gesungen wird, welcher Druck sich da entlädt! Gespenstisch und faszinierend zugleich.
Als ich nach Hause ging, war der Abend für mich noch lange nicht vorbei. Das Konzert hatte mich verunsichert, beeindruckt, aufgerüttelt, erschlagen. In der Nacht konnte ich kaum schlafen, ständig spukten mir Textfetzen im Kopf herum:
Allein machen sie dich ein
schmeißen sie dich `raus, lachen sie dich aus…
Wir brauchen keine Fabrikbesitzer,
denn die Fabriken gehören uns
aus dem Weg Kapitalisten
die letzte Schlacht gewinnen wir…
Es sind überall dieselben, die uns unterdrücken
in jeder Stadt und in jedem Kland
mach `ne Faust aus deiner Hand
Keine Macht für Niemand…
Da war plötzlich ein aufrührerisches Gefühl in mir, das mir neu war, das mir fremd war, das mir aber vor allem signalisierte: Vom nächsten Taschengeld musst du dir unbedingt eine Scherben-Platte kaufen!
So aufregend ein Konzert auch sein kann, umso ärgerlicher ist es, wenn sich das Erfrischungsangebot als äußerst überschaubar offenbart.
Wir sitzen am Frühstückstisch, kauen bedächtig die knusprigen Brötchen mit Erdbeer-Marmelade und gucken noch müde und vom gestrigen Grasmähen mit der Sense muskelverkatert durch das halb geöffnete Fenster. Durch den schmalen Spalt drängt sich kühler Morgennebel hinein, schwebt eine Weile über der Butter, stößt dann an die Kaffeekanne, löst sich auf und hinterlässt ein paar Tropfen am Griff. In der Ferne begrüßen die drei Kühe von Bauer Maiworm den Tag, muhen nacheinander ihre Müdigkeit heraus. Unser Hund schläft noch. Denken wir. Doch Judith ist schon wach, leckt emsig über ihre Vorderpfoten, gähnt dann ausgiebig, reckt sich, reckt sich nochmals und – legt sich wieder hin.
Mit Jürgen zusammen waren wir anfangs zu dritt in unserer Wohngemeinschaft. Stimmt gar nicht, da war auch noch Uschi, die mit Helmut liiert war. Aber nicht lange. Lag daran, dass ihre unberechenbaren Stimmungschwankungen häufig in Tobsuchtsanfällen ausarteten. Keine Ahnung warum. Ich kam mit ihr nicht klar. Ab und an besuchten uns Leute aus Bochum, blieben ein, zwei Tage, redeten viel über das, was sie alles mal tun wollen und organisieren werden und warfen sich dann doch nur ihre Trips ein, genossen ihren Rausch auf der nahegelegenden Waldlichtung, fuhren dann wieder zurück. Die konnten mit unserer Idylle augenscheinlich nichts anfangen.
Ich machte das Fenster weiter auf, atmete tief den würzigen Tannennadelduft ein, suchte die Musikcassette mit dem „Rockpalast“-Auftritt, den Helmut gestern Abend aufgenommen hatte. Dicky Betts, der ehemalige Gitarrist der Allman Brothers, spielte nach Spirit und Mothers Finest als letzter Act. Und er ließ mit seiner Great-Southern-Band diese federnde und relaxte US-Südstaatenmusik lebendig werden und verzichtete natürlich nicht auf Jessica. Vorspulen, warten, noch ein bisschen vorspulen und – klack, das Band lief endlich an und entließ dieses unverwüstliche instrumentale Kleinod zunächst in unsere Küche. Doch die Musik hielt sich dort nicht lange auf, pflanzte sich fort und weiter hinaus, vereinnahmte die friedliche und stimmungsvolle Landschaft, die sich hinter der schmalen Straße vor unserer Haustür auftat und verschmolz mit der gurgelnden Melodie des schmalen Baches, dessen sanfter Strom sich glucksend an den Steinen brach.
Wahnsinn!
Wie oft schon hatte ich Jessica mit den zweistimmigen Gitarren-Sätzen gehört. Und jedesmal spürte ich ein Kribbeln in der Magengegend, und es kam mir dann vor, als müßte ich jetzt und sofort aufspringen und... ja, genau das war der Punkt. Und was? Diesmal war alles ganz anders.
Jürgen nervte zu oft und drehte einfach zu viele krumme Dinger. Nicht nur, dass er im großen Stil den Leuten defekte Kühlschränke, die er aus dem Sperrmüll gefischt hatte, verkaufte und uns somit – weil man gegen ihn Anzeige erstattet hatte – die Polizei ins Haus brachte. Auch seine dubiosen Geschäfte mit Drogen und Schrottautos und dem Benzinklau riefen immer häufiger die Kripo auf den Plan. Es folgte das Rauchgiftdezernat, dann wieder die Kripo und so fort – so hatte ich mir das Landleben nicht vorgestellt. Wir schmissen ihn irgendwann raus.
Als die allererste „Rockpalast“-Nacht gesendet wurde, wohnten wir noch in der Stadt. Rory Gallagher, Little Feat und Roger McGuinns Thunderbyrds guckten wir zusammen mit der Clique in der viel zu engen Wohnung vom Ulli. Es gab Pils und Haschischkuchen, Chips und Käse, Gulschsuppe und Schokolade. Wir waren schon eine verschworene Gemeinschaft, die sich da in der Juli-Nacht 1977, 23 Uhr Ortszeit, vor dem Bildschirm gruppiert hatte. Parallel zum Fernseh-Bild gab’s im Radio den Stereo-Ton, und es hätte alles so schön sein können, wenn nicht die Sicherung der Endstufe von Ullis Anlage durchgeknallt wäre. Natürlich passierte dies kurz vor der Sendung und deshalb konnten wir die ganze Nacht nichts in Stereo hören, mussten uns mit dem Fernsehton in Mono begnügen. Aber wir schlossen die zwei Boxen an die Flimmerkiste an und bildeten uns ein, dass wir unterm Dach an der Herner Straße den gleichen Raumklang hätten, wie die 4000 Leute in der Essener Grugahalle.
Micha, der Gitarrist, und Benny, der Bassmann, wohnten zwar nicht bei uns, waren aber fast täglich da, weil ich mit ihnen musizierte. Micha kam aus Bochum, absolvierte in der Nähe von unserem Haus seinen Zivildienst in einer Familienfreizeitstätte. Benny lebte in Olpe. Mit Gitarre, Bass und Schlagzeug rockten wir uns funk- und bluesmäßig einen lockeren Stil zurecht, der später noch durch die Stimme von Emil, einem Bayern, den es nach Drolshagen verschlagen hatte, verstärkt wurde. Auftritte hatten wir wenige. Auf einem Feuerwehrball improvisierten wir über das Thema unseres einzigen Stücks, weil wir mehr noch nicht hinbekommen hatten. Ein anderer Auftritt war in Bochum, bei einem Festival in der Ruhrlandhalle, als Benny sturzbetrunken auf der Bühne stand, trotzdem aber noch den Takt halten konnte.
Mir kam es schon wie eine Ewigkeit vor. Dabei lag der erste „Rockpalast“ erst etwas mehr ein halbes Jahr zurück. Als wir es uns gestern Nacht beim zweiten „Rockpalast“ in aller Stille vor dem kleinen, geliehenen Farb-TV bequem machten, ständig an der Antenne fummelten, um einen guten Empfang zu bekommen, redeten Helmut und ich darüber, wie schnell wir unseren Entschluss, aufs Land zu ziehen, doch wahrgemacht hatten.
Das ging ja fast von heute auf morgen.