Knochenjagd - Kathy Reichs - E-Book
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Knochenjagd E-Book

Kathy Reichs

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Beschreibung

Jeder Knochen erzählt eine Geschichte. Diese Frau kann sie hören. Ein neuer Fall für Tempe Brennan.

Ihr neuester Fall konfrontiert Tempe Brennan, forensische Anthropologin, mit einem albtraumhaften Szenario: In einer verlassenen Wohnung in Montreal findet sich, eingewickelt in ein Handtuch, versteckt unter einem Waschbecken, die Leiche eines Neugeborenen. Schlimmer noch: Neben diesem tauchen noch zwei weitere tote Babys auf. Die fieberhafte Suche nach der Mutter beginnt. Ist sie eine herzlose Mörderin, getrieben von ihren Dämonen? Auf der Flucht vor ihrem Zuhälter? Geriet sie zwischen die Fronten eines Drogenkriegs? Ihre Spur führt Tempe Brennan und ihren Kollegen Andrew Ryan tief in die kanadische Einöde – und in das Revier eines eiskalten Killers, der einen abgründigen, grausamen Plan verfolgt ...

Ein eiskalter Killer. Ein abgründiges Motiv. Die Jagd beginnt jetzt.

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Kathy Reichs

Knochenjagd

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Klaus Berr

Karl Blessing Verlag

Titel der Originalausgabe: Bones Are ForeverOriginalverlag: Scribner, New York

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2012 by Temperance Brennan, L.P.Published by arrangement with the original publisher,Scribner, an imprint of Simon & Schuster, Inc.Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012by Karl Blessing Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, ZürichSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-08373-1

www.blessing-verlag.de

Von Kathy Reichs erschienen:

Aus der Temperance-Brennan-ReiheFahr zur HölleBlut vergisst nichtDas Grab ist erst der AnfangDer Tod kommt wie gerufenKnochen zu AscheHals über KopfTotgeglaubte leben längerTotenmontagMit Haut und HaarKnochenleseDurch Mark und BeinLasst Knochen sprechenKnochenarbeitTote lügen nicht

Aus der Virals-Reihe mit Brendan Reichs

Nur die Tote kennt die WahrheitTote können nicht mehr reden

Für meinen sehr, sehr alten FreundBob »Airborne« Abel

1

Die Augen des Babys verblüfften mich. So rund und weiß und so pulsierend vor Bewegung.

Wie der winzige Mund und die Nasenöffnungen.

Ich ignorierte die Madenmassen, schob zwei behandschuhte Finger unter den kleinen Torso und zog sanft eine Schulter nach oben. Kinn und Glieder fest an die Brust gepresst, hob sich das Baby ein wenig.

Mit protestierendem Gesumme stoben Fliegen davon.

Ich prägte mir die Details ein. Zarte Augenbrauen, kaum zu erkennen auf einem Gesicht, das nur schwer als menschlich zu identifizieren war. Aufgeblähter Bauch. Durchscheinende Haut, die sich von perfekten, kleinen Fingern ablöste. Unter Kopf und Hintern lagen Pfützen von einer grün-braunen Flüssigkeit.

Das Baby steckte im Toilettentisch eines Badezimmers, eingeklemmt zwischen der Rückwand und einem verrosteten Abflussrohr, das gekrümmt vom Waschbecken herabführte. Es lag in fötaler Haltung, den Kopf verdreht, das Kinn nach oben ragend.

Es war ein Mädchen. Glänzend grüne Geschosse umschwirrten seinen Körper und alles in seiner Umgebung.

Einen Augenblick lang konnte ich es nur anstarren.

Die wabernd weißen Augen starrten zurück, wie verwirrt über die verzweifelte Notlage ihrer Besitzerin.

Meine Gedanken wanderten zu den letzten Augenblicken des Babys. War es bereits im dunklen Leib der Mutter gestorben, als Opfer einer herzlosen Verdrehung der Doppelhelix? Oder im Kampf ums Überleben, an die schluchzende Brust ihrer Mutter gedrückt? Oder kalt und allein, im Stich gelassen und unfähig, sich Gehör zu verschaffen?

Wie lange dauert es, bis ein Neugeborenes das Leben aufgibt?

Ein Sturzbach der Bilder rauschte durch mein Gehirn. Keuchender Mund. Zappelnde Glieder. Zitternde Händchen.

Zorn und Trauer ballten sich in meinen Eingeweiden zusammen.

Konzentrier dich, Brennan!

Behutsam legte ich die winzige Leiche wieder auf ihren Platz zurück und holte einmal tief Luft. Meine Knie knackten, als ich mich aufrichtete und ein Spiralnotizbuch aus meinem Rucksack zog.

Fakten. Konzentrier dich auf die Fakten.

Auf dem Toilettentisch lagen ein Seifenriegel, ein schmuddeliger Plastikbecher, ein stark angeschlagener Zahnbürstenhalter aus Keramik und eine tote Kakerlake. Das Medizinschränkchen enthielt eine Aspirinflasche mit zwei Tabletten, Wattestäbchen, Nasenspray, Tabletten gegen Verstopfung, Rasierklingen und eine Packung Hühneraugenpflaster. Kein einziges verschreibungspflichtiges Medikament.

Warme Luft, die durch das geöffnete Fenster wehte, ließ das neben der Kommode hängende Toilettenpapier flattern. Mein Blick bewegte sich in diese Richtung. Auf dem Spülkasten stand eine Schachtel mit Papiertüchern. In der Schüssel selbst war ein schleimiges, braunes Oval zu erkennen.

Ich ließ den Blick nach links wandern.

Schlaffe Stoffbahnen hingen am abblätternden Fensterrahmen, ein längst grau gewordener Blumendruck. Die Aussicht durch die schmutzverkrustete Scheibe zeigte eine Petro-Canada-Tankstelle und die Rückseite einer Autowerkstatt.

Seit ich die Wohnung betreten hatte, hatte mein Hirn immer wieder das Wort »gelb« gemeldet. Der schlammverspritzte Stuck auf der Fassade des Gebäudes? Die triste Senffarbe im Treppenhaus? Der abgenutzte maisfarbene Teppich?

Was auch immer. Die grauen Zellen säuselten weiter. Gelb.

Ich fächelte mir mit dem Notizbuch Luft zu. Schon jetzt waren meine Haare feucht.

Es war neun Uhr vormittags am Montag, den vierten Juni. Um sieben war ich von einem Anruf von Pierre LaManche geweckt worden, dem Chef der rechtsmedizinischen Abteilung des Laboratoire de sciences judiciaires et de médecine légale in Montreal. LaManche war von Jean-Claude Hubert aus dem Bett geholt worden, dem Chief Coroner der Provinz Quebec. Huberts Weckruf war von einem Beamten der SQ mit dem Namen Louis Bédard gekommen.

Laut LaManche hatte Caporal Bédard das Folgende berichtet:

Etwa gegen zwei Uhr vierzig morgens am Sonntag, den dritten Juni, hatte sich eine siebendundzwanzigjährige Frau namens Amy Roberts im Hôpital Honoré-Mercier vorgestellt und über exzessive Vaginalblutungen geklagt. Dem diensthabenden Notarzt Dr. Arash Kutchemeshgi fiel auf, dass Roberts desorientiert wirkte. Da er Reste der Plazenta und eine Vergrößerung des Uterus feststellte, vermutete er, dass die Frau vor Kurzem entbunden hatte. Als er sie nach einer Schwangerschaft, Geburtswehen oder einem Baby fragte, antwortete Roberts ausweichend. Sie hatte keine Ausweispapiere bei sich. Kutchemeshgi beschloss, das örtliche Revier der Sûreté du Québec anzurufen.

Etwa gegen drei Uhr zwanzig an diesem Morgen sorgte eine Karambolage von fünf Autos für sieben Krankenwägen vor der Notaufnahme des Hôpital Honoré-Mercier. Als man das Blut schließlich weggewischt hatte, war Kutchemeshgi zu erschöpft, um sich an die Patientin zu erinnern, die vermutlich kurz zuvor entbunden hatte. Zu diesem Zeitpunkt war die Patientin sowieso schon wieder verschwunden.

Gegen vierzehn Uhr fünfzehn an diesem Nachmittag erinnerte sich Kutchemeshgi, erfrischt nach vier Stunden Schlaf, dann doch an die Patientin und rief bei der SQ an.

Ungefähr um siebzehn Uhr zehn fuhr Caporal Bédard zu der Adresse, die Kutchemeshgi Roberts’ Aufnahmeformular entnommen hatte. Da auf sein Klopfen niemand reagierte, ging er wieder.

Gegen achtzehn Uhr zwanzig sprach Kutchemeshgi mit der Notaufnahmeschwester Rose Buchanan, die, wie der Arzt, eine Vierundzwanzig-Stunden-Schicht arbeitete und Roberts auch gesehen hatte. Buchanan erinnerte sich, dass Roberts einfach verschwunden war, ohne dem Personal Bescheid zu geben; außerdem meinte sie, sich an einen früheren Besuch Roberts’ erinnern zu können.

Etwa gegen zwanzig Uhr recherchierte Kutchemeshgi im Archiv und erfuhr so, dass Amy Roberts schon elf Monate zuvor wegen Vaginalblutungen ins Hôpital Honoré-Mercier gekommen war. Der untersuchende Beamte hatte in ihrem Krankenblatt die Möglichkeit einer kürzlichen Entbindung notiert, aber nichts weiter dazugeschrieben.

Da er befürchtete, dass ein Neugeborenes in Gefahr war, und ihn sein Gewissen plagte, weil er nicht sofort seine Absicht in die Tat umgesetzt und die Behörden informiert hatte, rief er nun noch einmal bei der SQ an.

Etwa gegen dreiundzwanzig Uhr fuhr Caporal Bédard noch einmal zu Roberts’ Wohnung. Die Fenster waren dunkel, und wie zuvor kam niemand an die Tür. Diesmal ging Bédard außen um das Gebäude herum. Als er einen Müllcontainer im Hinterhof durchsuchte, entdeckte er ein Knäuel blutiger Handtücher.

Bédard beantragte einen Durchsuchungsbeschluss und rief den Coroner. Sobald der Beschluss am Montagmorgen ausgegeben war, rief Hubert LaManche an. Da er die Auffindung verwester Überreste befürchtete, rief er mich an.

Und deshalb war ich jetzt hier.

An einem wunderschönen Junitag stand ich im Bad einer heruntergekommenen Wohnung im dritten Stock ohne Aufzug, die seit 1953 keinen Malerpinsel mehr gesehen hatte.

Hinter mir lag ein Schlafzimmer. Eine schartige und abgenutzte Frisierkommode stand an der südlichen Wand, ein kaputtes Bein gestützt von einer umgedrehten Bratpfanne. Die Schubladen waren offen und leer. Auf dem Boden lag ein Lattenrost mit Matratze, darum herum schmuddelige Bettwäsche. In einem kleinen Wandschrank befanden sich nur Kleiderbügel und alte Magazine.

Vom Schlafzimmer führte eine Doppelfalttür – der linke Flügel hing schief in seiner Führung – in ein Wohnzimmer, das im Heilsarmeeschick möbliert war. Ein mottenzerfressenes Sofa. Ein Couchtisch mit Brandlöchern von Zigaretten. Ein uralter Fernseher auf einem wackeligen Metalluntersatz. Tisch und Stühle aus Chrom und Resopal.

Die einzige Andeutung von architektonischem Charme verströmte ein flaches Erkerfenster, das auf die Straße hinausging. Eine eingebaute, dreiteilige Holzbank reichte vom Boden bis unter das Fensterbrett.

Eine schmale, billige Küche, die man vom Wohnzimmer aus betrat, teilte sich eine gemeinsame Wand mit dem Schlafzimmer. Als ich zuvor schon einmal kurz hineingeschaut hatte, hatte ich rundliche Küchengeräte gesehen, die mich an meine Kindheit erinnerten. Die Arbeitsflächen waren mit gerissenen Keramikkacheln gefliest, die Fugen geschwärzt von Jahren der Vernachlässigung. Das Spülbecken war tief und rechteckig, nach Art des Farmhausstils, der jetzt wieder in Mode war.

Eine Plastikschüssel auf dem Linoleum neben dem Kühlschrank enthielt eine kleine Menge Wasser. Ich dachte kurz an ein Haustier.

Die gesamte Wohnung hatte nur gut siebzig Quadratmeter. Ein widerlicher Geruch war allgegenwärtig, faulig und säuerlich, wie eine verschimmelnde Grapefruit. Der Großteil des Gestanks kam von dem verschütteten Unrat vor dem Küchenmülleimer. Ein anderer Teil kam aus dem Bad.

Ein Uniformierter bewachte die einzige Tür der Wohnung, die jetzt offen stand, orangefarbenes Absperrband mit dem SQ-Logo und der Beschriftung Accès interdit-Sûreté du Quebec. Info-Crime klebte kreuz und quer im Rahmen. Auf dem Namensschild des Beamten stand Tirone.

Tirone war Anfang dreißig, ein fett gewordener, muskulöser Kerl mit strohblonden Haaren, eisengrauen Augen und einer offensichtlich sehr empfindlichen Nase. Auf seiner Oberlippe glänzte Wick VapoRub.

LaManche stand neben dem Erkerfenster und unterhielt sich mit Gilles Pomier, einem Autopsietechniker des LSJML. Beide machten ein finsteres Gesicht und sprachen gedämpft.

Ich brauchte die Unterhaltung gar nicht zu hören. Als forensische Anthropologin hatte ich schon mehr Todesschauplätze bearbeitet, als mir lieb war. Mein Spezialgebiet sind die Verwesten, die Verbrannten, die Mumifizierten, die Verstümmelten und skelettierte menschliche Überreste.

Ich wusste, wer alles mit Höchstgeschwindigkeit zu uns unterwegs war. Service de l’identité judiciaire, Division des scènes de crime, Quebecs Version von CSI. Bald würde die Wohnung wimmeln vor Spezialisten, die nichts anderes im Sinn hatten, als jeden Fingerabdruck, jede Hautzelle, jeden Blutspritzer und jede Wimper in dieser schmuddeligen, kleinen Wohnung zu finden und einzusammeln.

Mein Blick wanderte wieder zu dem Toilettentisch. Wieder zog sich mein Magen zusammen.

Ich wusste, was diesem Baby bevorstand. Der Angriff auf seine Person hatte eben erst begonnen. Die Kleine würde zu einer Fallnummer werden, man würde an ihr materielle Indizien sichern und bewerten. Ihr zarter Körper würde gewogen und vermessen werden. Man würde ihr Brust und Schädel öffnen, ihr Hirn und Organe entnehmen, sie in Scheiben schneiden und unter dem Mikroskop untersuchen. Man würde ihr Knochenproben für eine DNS-Untersuchung entnehmen. Man würde ihr Blut und Glaskörperflüssigkeit für eine toxikologische Untersuchung abzapfen.

Die Toten sind machtlos, aber diejenigen, die möglicherweise durch die Untaten anderer sterben, erleiden noch weitere Würdelosigkeiten. Ihr Tod wird zur Schau gestellt als Beweismittel, das von Labor zu Labor, von Schreibtisch zu Schreibtisch wandert. Spurensicherungstechniker, forensische Experten, Polizisten, Anwälte, Richter, Juroren. Ich weiß, dass solche Verletzungen der persönlichen Würde notwendig sind für die Rechtsprechung. Dennoch hasse ich sie. Auch wenn ich ein Teil davon bin.

Diesem Opfer würde man wenigstens die Grausamkeiten ersparen, die die Strafverfolgungsmaschinerie für erwachsene Opfer vorsieht – die öffentliche Zurschaustellung ihres Lebens. Wie viel trank sie? Was trug sie? Wen hasste sie? Hier würde das nicht passieren. Dieses kleine Mädchen hatte noch kein Leben gehabt, das man unters Mikroskop legen konnte. Für sie würde es nie einen ersten Zahn, nie einen Schulabschlussball, nie einen fragwürdigen BH geben.

Mit wütendem Finger blätterte ich in meinem Notizbuch eine neue Seite auf.

Ruhe sanft, meine Kleine. Ich werde dich behüten.

Ich notierte mir eben etwas, als eine unerwartete Stimme an mein Ohr drang. Ich drehte mich um. Durch die schiefe Schlafzimmertür sah ich eine vertraute Gestalt.

Schlank und langbeinig. Kräftige Kinnpartie. Sandblonde Haare. Sie wissen schon, was ich meine.

Für mich ist das ein Bild mit einer langen Geschichte.

Lieutenant-détective Andrew Ryan, Section des crimes contre la personne, Sûreté du Québec.

Ryan ist Beamter des Morddezernats. Im Verlauf der Jahre habe ich viel Zeit mit ihm verbracht. Inner- und außerhalb des Labors.

Das Außerhalb war vorbei. Was aber nicht hieß, dass der Kerl nicht immer noch verdammt heiß war.

Ryan hatte sich zu LaManche und Pomier gestellt.

Ich klemmte meinen Kuli in die Spiralbindung, klappte das Buch zu und ging ins Wohnzimmer.

Pomier begrüßte mich. LaManche hob seinen Hundeblick, sagte aber nichts.

»Dr. Brennan.« Ryan war rein geschäftsmäßig. So hatten wir das auch in unseren guten Zeiten immer gehalten. Vor allem in den guten Zeiten.

»Detective.« Ich zog meine Handschuhe aus.

»Also, Temperance.« La Manche ist der einzige Mensch auf Erden, der die formelle Version meines Namens benutzt. In seinem steifen, korrekten Französisch klingt es so, dass es sich mit »La France« reimt. »Wie lange ist dieser kleine Mensch schon tot?«

LaManche ist seit über vierzig Jahren forensischer Pathologe und hat keinen Grund, mich nach meiner Meinung zum postmortalen Intervall zu fragen. Es ist eine Taktik, die er benutzt, um Kollegen das Gefühl zu geben, sie seien ihm ebenbürtig. Nur wenige sind es allerdings tatsächlich.

»Die ersten Fliegen kamen wahrscheinlich zwischen einer und drei Stunden nach dem Todeseintritt an und legten ihre Eier ab. Das Schlüpfen könnte also bereits zwölf Stunden nach der Eiablage begonnen haben.«

»In diesem Bad ist es ziemlich warm«, sagte Pomier.

»Neunundzwanzig Grad Celsius. In der Nacht war es wahrscheinlich kühler.«

»Also deuten die Maden in Augen, Nase und Mund auf ein minimales PMI zwischen dreizehn und fünfzehn Stunden hin …«

»Ja«, sagte ich. »Allerdings sind einige Fliegenspezies nach Einbruch der Dunkelheit inaktiv. Ein Entomologe sollte bestimmen, welche Arten präsent sind und in welchem Entwicklungsstadium sie sich befinden.«

Durchs offene Fenster hörte ich in der Ferne eine Sirene jaulen.

»Die Leichenstarre ist maximal ausgeprägt«, fügte ich hinzu, hauptsächlich Ryan zuliebe. Die beiden anderen wussten das. »Das passt also zum vermuteten Intervall.«

Als Leichenstarre bezeichnet man die Versteifung in der Muskulatur eines Leichnams aufgrund chemischer Veränderungen. Der Zustand ist vorübergehend, er beginnt ungefähr drei Stunden nach Eintritt des Todes, erreicht nach ungefähr zwölf Stunden seinen Höhepunkt und verschwindet etwa siebenundzwanzig Stunden nach dem Tod wieder völlig.

LaManche nickte bedrückt. »Womit wir auf einen möglichen Todeszeitpunkt irgendwo zwischen sechs und neun gestern Abend kommen.«

»Die Mutter kam gestern Morgen ungefähr um zwei Uhr vierzig ins Krankenhaus«, sagte Ryan.

Einen Augenblick lang sagte niemand etwas. Die Implikation war zu traurig. Es konnte sein, dass das Baby noch bis zu fünfzehn Stunden nach seiner Geburt gelebt hatte.

Abgelegt in der Kommode? Ohne wenigstens eine Decke oder ein Handtuch? Erneut schob ich den Zorn beiseite.

»Ich bin fertig«, sagte ich zu Pomier. »Sie können die Leiche einpacken.«

Er nickte, rührte sich aber nicht.

»Wo ist die Mutter?«, fragte ich Ryan.

»Wie’s aussieht, hat sie sich aus dem Staub gemacht. Bédard sucht gerade den Hausbesitzer und befragt dann die Nachbarn.«

Draußen wurde die Sirene lauter.

»Der Wandschrank und die Wäschekommode sind leer«, sagte ich. »Im Bad sind noch ein paar persönliche Sachen. Keine Zahnbürste oder Zahnpasta, kein Deo.«

»Sie nehmen also an, dass diese herzlose Schlampe durchaus auf Körperhygiene geachtet hat.«

Ich schaute Pomier an, weil mich seine Verbitterung überraschte. Dann fiel es mir wieder ein. Pomier und seine Frau hatten versucht, eine Familie zu gründen. Vor vier Monaten hatte sie zum zweiten Mal eine Fehlgeburt erlitten.

Die Sirene verkündete ihre Ankunft in der Straße und ging dann aus. Türen krachten. Stimmen riefen auf Französisch. Andere antworteten. Stiefel klapperten auf der Eisentreppe, die vom Bürgersteig in den ersten Stock führte.

Kurz darauf duckten sich zwei Männer unter dem Absperrband hindurch. Ich kannte sie beide: Alex Gioretti und Jacques Demers.

Hinter Gioretti und Demers folgte ein SQ Corporal, von dem ich annahm, dass es Bédard war. Seine Augen waren klein und dunkel hinter einer Drahtgestellbrille. Sein Gesicht war fleckig vor Aufregung. Oder Erschöpfung. Ich schätzte ihn auf Mitte vierzig.

LaManche, Pomier und ich sahen zu, wie Ryan zu den Neuankömmlingen ging. Worte wurden gewechselt, dann öffneten Gioretti und Demers ihre Ausrüstungs- und Kamerakoffer.

Mit angespanntem Gesicht schob LaManche eine Manschette hoch und schaute auf seine Uhr.

»Stressiger Tag?«, fragte ich.

»Fünf Autopsien. Dr. Ayers ist nicht da.«

»Wenn Sie lieber ins Labor zurückwollen, dann bleibe ich sehr gerne.«

»Vielleicht ist es das Beste.«

Für den Fall, dass noch mehr Leichen gefunden werden. Das brauchte ich nicht zu sagen.

Aus Erfahrung wusste ich, dass es ein langer Vormittag werden würde. Als LaManche gegangen war, schaute ich mich nach einer Sitzgelegenheit um.

Zwei Tage zuvor hatte ich einen Artikel über den Artenreichtum der Fauna gelesen, die Sofas bevölkerte. Kopfläuse. Bettwanzen. Flöhe. Milben. Das zerlumpte Sofa und sein Ungeziefer machten mich nicht an. Ich entschied mich für die Fensterbank.

Zwanzig Minuten später hatte ich meine Aufzeichnungen abgeschlossen. Als ich den Kopf hob, pinselte Demers eben Fingerabdruckpulver auf den Küchenherd. Ein regelmäßiges Aufblitzen verriet mir, das Gioretti im Bad Fotos schoss. Ryan und Bédard waren nirgends zu sehen.

Ich schaute zum Fenster hinaus. Pomier lehnte rauchend an einem Baum. Ryans Jeep stand neben meinem Mazda und dem Spurensicherungstransporter am Bordstein. Zwei Limousinen ebenfalls. Eine hatte das CTV-Logo auf der Fahrerseite. Auf der anderen stand Le Courrier de Saint-Hyacinthe.

Die Medien hatten Blut gewittert.

Als ich mich wieder umdrehte, wackelte das Brett unter meinem Hintern leicht. Ich senkte den Kopf und entdeckte parallel zur Fensterwand einen Spalt.

Diente der Mittelteil der Bank als Stauraum? Ich stand auf und kauerte mich hin, um unter der Sitzfläche nachzuschauen.

Die Sitzfläche ragte leicht über den Kasten darunter hinaus. Mit meinem Stift drückte ich von unten dagegen. Die Sitzfläche hob sich und klappte gegen das Fensterbrett.

Der Geruch von Staub und Schimmel stieg aus der dunklen Höhlung auf.

Ich spähte in die Schatten.

Und sah, was ich befürchtet hatte.

2

Das zweite Baby war in ein Handtuch gewickelt. Blut oder Verwesungsflüssigkeit hatte braune Blüten auf dem gelben Frottee ausgebreitet.

Der verhüllte, kleine Leichnam lag in einer hinteren Ecke des Sitzkastens, umgeben von einem rissigen und von der Sonne ausgebleichten Baseballhandschuh, einem kaputten Tennisschläger, einem luftlosen Basketball und mehreren Paaren abgetragener Turnschuhe. Staub und tote Insekten vervollständigten das Bild.

Das Schädeldach des winzigen Kopfs war an einem Ende des Bündels sichtbar, die verschlungenen Nähte weit, wie bei einem Neugeborenen zu erwarten. Der membrandünne Knochen war mit einem feinen Flaum wie bestäubt.

Ich schloss die Augen. Sah noch ein Babygesicht. Dunkles Fleisch, das erstaunlich blaue Augen umgab. Eingesunkene Pausbäckchen, die jetzt zarte Knochen straff umspannten.

»O nein«, sagte irgendjemand.

Ich öffnete die Lider und schaute auf die Straße hinaus. Ein Leichenwagen stand jetzt bei den Fahrzeugen am Bordstein. Die Reporter standen vor ihren Autos und unterhielten sich.

Ein Windhauch durch das Fliegengitter fühlte sich warm auf meinem Gesicht an. Vielleicht war es aber auch das adrenalinsatte Blut, das meine Wangen rötete.

»Avez-vous quelque chose?« Haben Sie etwas?

Ich drehte mich um. Demers schaute, den Pinsel mit dem schwarzen Pulver erhoben, in meine Richtung. Ich begriff, dass das »O nein« von meinen eigenen Lippen gekommen war.

Ich nickte nur, weil meine Stimme versagte.

Demers rief Gioretti und kam dann zu mir. Nachdem er das Baby sehr lange angestarrt hatte, zog er sein Handy vom Gürtel und tippte eine Nummer. »Mal sehen, ob wir einen Hund bekommen.«

Kurz darauf kam Gioretti zu uns. Sein Blick fiel auf die offene Fensterbank. »Tabernouche.«

Nachdem er einen Fallmarker aufgestellt hatte, fing Gioretti an, Fotos aus verschiedenen Winkeln und Entfernungen zu schießen.

Ich ging ein paar Schritte weg, um LaManche anzurufen. Er gab die Anweisungen, die ich erwartet hatte. Die Überreste so wenig wie möglich bewegen. Die Augen offen halten.

Zwanzig Minuten später war Gioretti mit den Foto- und Videoaufnahmen fertig. Demers hatte den Sitzkasten und seinen Inhalt bestäubt.

Während ich mir Latexhandschuhe überstreifte, breitete Demers einen Leichensack neben den auf dem Boden abgelegten Schuhen und Sportgeräten aus. Sein Unterkiefer verkrampfte sich, als er den Reißverschluss aufzog.

Ich streckte beide Hände in den Kasten und hob unser zweites, kleines Opfer behutsam heraus. Anhand des Gewichts und des Fehlens von Geruch nahm ich an, dass die Überreste mumifiziert waren.

Mit beiden Händen legte ich das Bündel in den Leichensack. Wie das Baby aus dem Toilettentisch, das jetzt neben dem Sofa lag, sah es in dem Erwachsenensack mitleiderregend winzig aus.

Während Demers mir mit einer Stablampe leuchtete, fischte ich mit einer Pinzette ein halbes Dutzend Knochen aus dem Sitzkasten. Jeder war kleiner als ein Daumennagel. Drei Fingerknochen. Zwei Mittelhandknochen. Ein Wirbelkörper.

Nachdem ich die einzelnen Knochen in einem Plastikröhrchen verstaut hatte, schrieb ich Fallnummer, Datum und meine Initialen mit einem Filzstift darauf. Dann steckte ich den Behälter unter eine Ecke des fleckigen, gelben Bündels.

Demers und ich sahen schweigend zu, wie Gioretti letzte Aufnahmen machte. Draußen auf der Straße knallte eine Autotür, dann noch eine. Auf der Treppe waren Schritte zu hören.

Gioretti schaute mich fragend an. Ich nickte.

Gioretti hatte eben den Reißverschluss des Sacks zugezogen, die Ecken umgeschlagen und festgezurrt, als Pomier wieder auftauchte. Bei ihm war eine Frau mit einem Border-Collie. Die Frau hieß Madeleine Caron. Den Collie nannte man Pepper.

Leichenhunde sind auf den Geruch von verfaulendem, menschlichem Fleisch abgerichtet, und deshalb finden sie versteckte Leichen, wie Infrarotsysteme Wärmequellen ausmachen können. Ein wirklich guter Schnüffler findet den ehemaligen Liegeplatz einer Leiche auch noch lange, nachdem sie entfernt wurde. Aber diese Hunde des Todes sind so unterschiedlich wie ihre Führer. Manche sind gut, andere miserabel, und wieder andere völlige Reinfälle.

Ich freute mich sehr, dieses Paar zu sehen. Beide spielten in der Oberklasse.

Die latexumhüllten Hände vom Körper abgestreckt, ging ich zu Caron. Pepper beobachtete mich mit großen Karamellaugen.

»Nette Wohnung«, sagte Caron.

»Ein Palast. Hat Pomier Sie ins Bild gesetzt?«

Caron nickte.

»Bis jetzt haben wir zwei. Eine aus dem Bad, eine aus dem Sitzkasten im Fenster.« Ich deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Ich werde sie gleich für den Transport freigeben. Wenn die Leichensäcke weg sind, können Sie sofort mit Pepper rumgehen und sehen, ob irgendwas seine Neugier weckt.«

»Okay.«

»In der Küche ist Müll.«

»Wenn das Zeug nicht menschlich ist, interessiert es sie auch nicht.«

Zuerst führte Caron Pepper zu den Stellen, wo die Babys versteckt worden waren. Manche Hunde sind so trainiert, dass sie durch Bellen Alarm schlagen, andere, indem sie sich setzen oder auf den Boden legen. Pepper war ein Sitzer. An beiden Stellen hockte er sich auf die Hinterläufe und jaulte. Jedes Mal kraulte Caron die Ohren des Hundes und sagte: »Braves Mädchen.« Dann griff sie an sein Halsband und löste die Leine.

Nachdem sie sich durch Küche und Wohnzimmer geschnüffelt hatte, tapste Pepper ins Schlafzimmer. Caron und ich folgten mit höflichem Abstand.

Nichts bei der Kommode. Beim Bett ein leichtes Zögern. Dann erstarrte der Hund. Machte noch einen Schritt. Blieb stehen, eine Vorderpfote zehn Zentimeter über dem Boden.

»Braves Mädchen«, sagte Caron leise.

Die Schnauze von einer Seite zur anderen bewegend, kroch Pepper durchs Zimmer. An der offenen Schranktür hob sie die Schnauze und blähte die Nüstern.

Nach fünf Sekunden des Witterns setzte sich Pepper, drehte den Kopf in unsere Richtung und jaulte.

»Braves Mädchen«, sagte Caron. »Platz.«

Den Blick starr auf die Führerin gerichtet, ließ Pepper sich auf den Bauch sinken.

»Scheiße«, sagte Caron.

»Was ist?«

Caron und ich drehten uns um. Keiner hatte gehört, dass Ryan hinter uns getreten war.

»Sie hat was gefunden«, sagte Caron.

»Wie oft liegt sie richtig?«

»Oft.«

»Hat sie sonst irgendwo angeschlagen?«

Caron und ich schüttelten den Kopf.

»Hat sie je danebengelegen?«

»Bis jetzt nicht.« Carons Stimme klang angespannt. »Ich führe sie hier drinnen noch einmal rum und bringe sie dann raus.«

»Bitte sagen Sie dem Leichenwagenfahrer, dass er warten soll«, sagte ich. »Und sagen Sie Pomier Bescheid. Er wird die Überreste in die Leichenhalle begleiten.«

»Okay.«

Während Caron Pepper hinausführte, gingen Ryan und ich zum Wandschrank.

Der Hohlraum maß nicht mehr als einen mal eineinhalb Meter. Ich zog an einer Kette, um die nackte Birne oben an der Nischendecke anzuschalten.

Auf einer Eisenstange hingen Kleiderbügel von der soliden, jahrzehntealten Machart. Sie waren auf eine Seite geschoben worden, von Demers, wie ich annahm.

Über der Stange verlief ein Regalbrett über die gesamte Schrankbreite. Eine Ansammlung von Magazinen war auf den Schlafzimmerboden geräumt worden. Wie das Regalbrett, die Stange und der Türknauf waren sie bedeckt mit Demers’ Fingerabdruckpulver.

Ryan und ich entdeckten den Lüftungsschacht gleichzeitig. Er war an der Decke, ungefähr in der Mitte des Schranks. Als unsere Blicke sich trafen, erschien Gioretti in der Tür.

»Haben Sie hier drinnen schon fotografiert?«, fragte ich.

Gioretti nickte.

»Wir brauchen eine Leiter und eine Schlangenhalskamera.«

Während wir warteten, berichtete Ryan mir, was er über den Vermieter in Erfahrung gebracht hatte. »Stephan Paxton.« Er wechselte ins Englische. »Der Kerl wird sich wohl schwertun mit einem Harvard-Abschluss.«

»Soll heißen?«

»Er hat das Hirnschmalz einer Motte. Keine Ahnung, wie er sich drei Gebäude unter den Nagel reißen konnte.« Ryan schüttelte den Kopf. »Die Mieterin hier ist Alma Rogers. Paxton sagt, sie zahlt bar, normalerweise drei oder vier Monate im Voraus. Und das seit mindestens drei Jahren.«

»Rogers hat im Krankenhaus also einen Decknamen verwendet?«

»Oder hier. Aber es ist dasselbe Mädchen. Paxtons Personenbeschreibung entspricht der des Notarztes.«

»Hat sie ihre tatsächliche Adresse angegeben?«

»Anscheinend.«

Ich fand das merkwürdig, ging aber nicht weiter darauf ein. »Gibt es einen Mietvertrag?«

»Rogers zog mit einem Kerl namens Smith hier ein. Paxton glaubt, dass Smith am Anfang etwas unterschrieben haben könnte, aber er hat’s nicht so mit der Buchhaltung. Sagt, dass die Barzahlung im Voraus für ihn Mietvertrag genug war.«

»Arbeitet Rogers?«

»Paxton hat keine Ahnung.«

»Smith?«

Ryan zuckte die Achseln.

»Was ist mit den Nachbarn?«

»Bédard ist immer noch auf Tour.«

In diesem Augenblick traf die Ausrüstung ein. Während Demers die Leiter aufstellte, verband Gioretti ein Gerät, das ein bisschen aussah wie eine Rohrreinigungsspirale, mit einem tragbaren Festplattenrekorder. Er drückte auf einen Knopf, und der Monitor sprang an.

Während Ryan die Leiter festhielt, stieg Demers hinauf und testete das Gitter mit einem Finger. Es wackelte ein wenig, Putz rieselte von der Decke.

Demers zog einen Schraubenzieher aus seinem Gürtel. Ein paar Umdrehungen, und die Schrauben fielen herunter. Noch mehr Putz rieselte uns entgegen, als er das Gitter löste und nach unten gab. Er schob sich eine Maske über den Mund und griff dann mit einer Hand in das dunkle Rechteck an der Decke. Mit offener Handfläche tastete er behutsam herum. »Da ist ein Balken.«

Ich hielt den Atem an, während sein Arm sich in alle Richtungen bewegte.

»Isoliermaterial.« Schließlich schüttelte Demers den Kopf. »Ich brauche die Kamera.«

Gioretti hielt ihm das schlangenartige Gerät hin. An der Spitze hatte es einen Glasfaser-Bildsensor mit einer Linse, deren Durchmesser weniger als vier Millimeter betrug. Die winzige Kamera würde Bilder vom Inneren der Wand aufnehmen, die wir in Echtzeit betrachten konnten.

Demers drückte auf einen Knopf, und ein heller Strahl schoss in die Dunkelheit. Nachdem Demers die Krümmung der Spirale angepasst hatte, schob er die Schlange in die Öffnung. Auf dem Monitor unten bei uns erschien ein unscharfes, graues Bild.

»Wir haben Empfang.« Gioretti drehte an einer Wählscheibe, und aus dem unscharfen, grauen Streifen wurde ein Holzbalken. Unter dem Balken war etwas, das aussah wie altmodische Wurmstein-Isolierung.

»Dürfte ein Deckenträger sein«, sagte Ryan.

Auf dem Monitor sahen wir zu, wie die Kamera nach rechts am Balken entlangwanderte.

»Versuchen Sie’s in die andere Richtung«, sagte Ryan. »Sie müssten auf einen Wandbolzen und einen Dachbalken stoßen.«

Demers änderte die Richtung.

Ryan hatte recht. Einen knappen Meter hinter dem linken Ende des Lüftungsschachts traf ein Schrägbalken auf den Deckenträger.

Im V oberhalb des Deckenträgers klemmte ein Bündel, eingewickelt in ein Handtuch.

»Scheiße«, sagte Gioretti.

Neunzig Minuten später war die Decke des Wandschranks verschwunden, und das dritte Baby lag in seinem Zwei-sechzig-mal-eins-fünfzig-Sack.

Zum Glück fanden wir auf dem kleinen Dachboden keine weiteren Babys.

Und Pepper hatte außerhalb des Gebäudes nicht angeschlagen.

Im Leichenwagen lagen jetzt nebeneinander drei Leichensäcke, jeder mit einer mitleiderregend kleinen Ausbuchtung in der Mitte.

Ein Stückchen weiter unten machten sich die Journalisten fast in die Hose. Aber sie bewahrten Abstand. Ich fragte mich, was Ryan ihnen wohl angedroht hatte, um sie in Schach zu halten.

Ich stand an der hinteren Stoßstange des Leichenwagens. Ich hatte meinen Overall ausgezogen, und die Sonne schien mir warm auf Schultern und Kopf.

Obwohl es schon nach zwei war und ich seit Tagesanbruch nichts gegessen hatte, hatte ich keinen Appetit. Ich starrte nur weiter die drei Säcke an und zerbrach mir den Kopf über die Frau, die das getan hatte. Bereute sie den Mord an ihren Neugeborenen? Oder lebte sie einfach ihr Leben weiter, ohne sich große Gedanken über die Monstrosität ihrer Verbrechen zu machen?

Immer wieder drängten sich mir Bilder aus meiner Vergangenheit auf. Ungebeten. Ungewollt.

Mein kleiner Bruder Kevin starb mit drei Jahren an Leukämie. Ich durfte damals Kevins Leiche nicht sehen. Für meinen achtjährigen Verstand wirkte sein Tod irgendwie unwirklich. An einem Tag war er noch bei uns, am nächsten nicht mehr.

Auf kindliche Art hatte ich verstanden, dass Kevin krank war, dass sein Leben bald zu Ende sein würde. Doch als es dann passierte, war ich völlig verstört. Man hätte mir erlauben müssen, mich von ihm zu verabschieden.

Ein Stückchen weiter oben an der Straße sprach Ryan mit Bédard. Schon wieder.

Bis jetzt hatte der Corporal berichtet, dass die Nachbarnbefragung nur eine Person ergeben hatte, die Alma Rogers je gesehen hatte. Die betagte Witwe Robertina Hurteau wohnte im Gebäude gegenüber und beobachtete durch ihre Wohnzimmerjalousie sehr genau, was auf der Straße vor sich ging.

Die alte Frau beschrieb die Nachbarin von gegenüber als ordinaire. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie Rogers das letzte Mal ihre Wohnung betreten oder verlassen gesehen hatte. Gelegentlich hatte sie sie mit einem Mann gesehen, aber nie mit einem Baby. Der Mann war barbu.

Was war mit einem Hund?, fragte ich mich. Oder war es eine Katze? Hat irgendjemand danach gefragt? Das verschwundene Haustier ließ mir keine Ruhe. Wo war es? Hatte Roberts/Rogers es mitgenommen? Hatte sie es ausgesetzt oder getötet, wie sie ihren eigenen Nachwuchs getötet hatte?

Drei tote Babys, und ich machte mir Gedanken über ein verschwundenes Haustier. Das muss man sich mal vorstellen.

Du bist irgendwo da draußen, dachte ich. Amy Roberts/Alma Rogers. Unbemerkt unterwegs. In einem Auto? In einem Bus oder Zug? Allein? Mit dem Vater ihrer armen, toten Kinder? Mit einem davon? Wie viele Väter gab es überhaupt?

Ich hoffte, dass Ryan neue Informationen mitbringen würde.

Demers und Gioretti packten ihre Ausrüstung zusammen. Während ich untätig zuschaute, fuhr hinter ihrem Transporter ein grüner Kia an den Bordstein. Die Fahrertür ging auf, und ein Mann wuchtete sich heraus. Er trug Jeans und ein Unterhemd, das viel zu viel Fleisch preisgab. Das Haar war glatt, das Gesicht gerötet und fleckig über einem ungepflegten Bart.

Den Arm auf die Fahrertür gestützt, schaute der Mann sich die Fahrzeuge am Straßenrand an. Dann drehte er sich um und setzte sich wieder hinters Steuer.

Mein erschöpftes Hirn spuckte eine Übersetzung aus.

Barbu.

Bärtig.

Ich wollte eben Ryan rufen.

Doch der sprintete schon den Bürgersteig hoch.

3

Ryan erreichte den Kia, als der Fahrer eben die Tür zuknallte. Er griff durchs offene Fenster und riss den Schlüssel aus der Zündung.

Aus ein paar Metern Entfernung hörte ich: »Was soll der Scheiß?«

Bédard kam dazu, als Ryan dem Kerl eben seine Marke zeigte.

»Was soll der Scheiß?«

Der Fahrer sprach Englisch. Mit einem sehr beschränkten Wortschatz.

»Bewegung!« Ryan riss am Türgriff.

»Was soll –«

»Jetzt!«

Füße in Sandalen schwangen heraus, gefolgt von einem belugawalgroßen Körper.

Während Bédard seine Glock zog, drehte Ryan Beluga um, drückte ihn gegen den Kia, trat seine Beine auseinander und durchsuchte ihn.

»Hey! Wollen Sie mir nicht erst ein paar Drinks spendieren?«

Ryan lachte nicht über Belugas Witz.

Aus der Gesäßtasche des Mannes zog Ryan eine Segeltuchbrieftasche. Nachdem er sich versichert hatte, dass der Mann unbewaffnet war, trat er einen Schritt zurück und durchsuchte die Brieftasche. Bédard stand breitbeinig da, die Waffe mit beiden Händen auf Beluga gerichtet.

»Umdrehen und die Hände oben halten.«

Beluga gehorchte sofort.

»Ralph Trees?« Ryan schaute von einer Plastikkarte hoch, von der ich annahm, dass sie der Führerschein des Mannes war.

Mürrisch schweigend stand Beluga da, die Hände immer noch über dem Kopf. Haare krochen von seinen Achselhöhlen seitlich an seinem Brustkorb entlang.

»Sind Sie Ralph Trees?«

Beluga antwortete immer noch nichts.

Ryan griff hinter sich und zog Handschellen vom Gürtel.

»Was soll der Scheiß?« Beluga spreizte seine fleischigen Finger. »Okay. Okay. Aber es heißt Rocky, nicht Ralph.«

»Was wollen Sie hier?«

»Was wollen Sie hier?«

»Sie sind ja wirklich ein witziges Kerlchen, Rocky.«

»Wie wär’s, wenn Sie Dirty Harry da drüben sagen, er soll seine Knarre runternehmen?«

Ryan nickte Bédard zu. Der Corporal ließ die Waffe sinken, steckte sie aber nicht in den Halfter.

Ryan wandte sich wieder an Trees und wedelte mit dem Führerschein. Trees murmelte etwas, das ich nicht verstand.

Ich ging auf das Trio zu. Sie achteten nicht auf mich.

Aus der Nähe konnte ich sehen, dass Trees’ Augen von winzigen, roten Äderchen durchzogen waren. Ich schätzte seine Größe auf eins neunzig, sein Gewicht auf ungefähr einhundertsechzig Kilo. Zwischen seiner Unterlippe und dem oberen Rand seines Kinnbarts hatte er ein umgedrehtes Lächeln tätowiert, das nur aus Zähnen bestand. Klasse.

»Ich bin hier, um meine Lady zu besuchen. Beim letzten Mal war das noch kein Verbrechen.«

»Mord ist eins.«

»Von was zum Teufel reden Sie denn?«

»Wer ist Ihre Freundin?«

»Sie ist nicht meine Freundin.«

»Nerven Sie mich nicht, Rocky.«

»Schauen Sie, ich vögel sie, wenn ich geil bin. Das heißt aber nicht, dass ich ihr am Valentinstag Pralinen schicke.«

Ryan schaute ihn nur an.

»Alva Rodriguez.« Die blutunterlaufenen Augen flackerten von Ryan zu Bédard und wieder zurück. »Geht’s darum? Hat jemand Alva umgebracht?«

»Wann haben Sie Ms. Rodriguez zum letzten Mal gesehen oder mit ihr gesprochen?«

»Scheiße, das weiß ich nicht. Vor zwei, drei Wochen vielleicht.«

»Strengen Sie sich ein bisschen mehr an.«

»Das ist Belästigung.«

»Beschweren Sie sich.«

Trees’ Blick wanderte zu mir. »Wer ist die Tussi?«

»Konzentrieren Sie sich nur auf mich.«

»Das ist doch Blödsinn.«

»Wann hatten Sie zum letzten Mal Kontakt mit Ms. Rodriguez?«

Trees tat so, als würde er über die Frage nachdenken. Seine nervösen Augen und die Schweißperlen am Haaransatz deuteten darauf hin, dass seine Großmäuligkeit nur aufgesetzt war. »Donnerstag vor zwei Wochen. Nein, Mittwoch. Kam eben von einer Fahrt nach Calgary zurück.«

»Warum Calgary?«

»Ich übernehme manchmal Ferntransporte für meinen Schwager.«

»Wo ist Ms. Rodriguez jetzt?«

»Mann, kann ich die Arme runternehmen?«

»Nein.«

»Woher soll ich denn das wissen? Sie meldet sich nicht bei mir ab. Wie gesagt, ich komme vorbei, schieb ’ne Nummer und mach dann wieder mein eigenes Ding.«

»Bezahlen Sie für diese kleinen Treffen?«

»Ich? Das soll wohl ein Witz sein.« Sein öliges Grinsen weckte bei mir das Verlangen nach einer sehr heißen Dusche. »Ich bring der Schlampe ’ne Flasche, sie bedankt sich bei mir. Wissen Sie, was ich meine?«

»Bringen Sie ihr auch ein bisschen Koks mit?«

»Ich hab’s nicht so mit dem Zeug. Nur Schnaps.«

»Wissen Sie was, Rocky? Ich glaube, Sie lügen mich an. Wenn ich Sie mir so anschaue, sehe ich einen Kerl, der ganz gern mal ’ne Nase nimmt. Was würden Sie sagen, wenn ich mir Ihr lustiges, kleines Auto da ein bisschen genauer ansehe?«

»Das dürfen Sie nicht.«

»Was meinen Sie, Corporal Bédard?« Ryans Blick blieb auf Trees. »Meinen Sie, wir dürfen das?«

»Wir dürfen das.«

Ryan gab Bédard den Führerschein. »Überprüfen Sie doch mal unseren Romeo hier, mal sehen, ob er eine interessante Vorgeschichte hat.«

Bédard steckte seine Waffe in den Halfter und ging zu seinem Streifenwagen. Während er Trees’ Namen durchs System laufen ließ, warteten Ryan und ich schweigend. Wie die meisten Menschen unter Stress hatte Trees das Bedürfnis, diese Stille zu füllen. »Hören Sie, ich sage Ihnen alles, was ich weiß. Nämlich so gut wie gar nichts. Alva und ich haben unsere Zeit nicht mit Reden verbracht.«

»Wo arbeitet Ms. Rodriguez?«, fragte Ryan.

»Sie hören mir nicht zu.«

»Hat sie ein regelmäßiges Einkommen? Geld für die Miete?«

Trees zuckte die Achseln – so gut er das mit erhobenen Händen konnte.

»Haben Sie sie vielleicht auf den Strich geschickt, Rocky? Sie auf Koks gebracht, damit sie da ist, wenn Sie ’ne schnelle Nummer brauchen? Ist das das Ding, von dem Sie reden? Lassen Sie außer Rodriguez auch andere Frauen für sich anschaffen?«