Totengeld - Kathy Reichs - E-Book

Totengeld E-Book

Kathy Reichs

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Beschreibung

Ein getötetes Mädchen im Straßengraben, ein Schmugglerring, der keine Gnade kennt: ein neuer Fall für Tempe Brennan

Der Tod einer jungen Frau, deren Leiche an einem einsamen Highway im Straßengraben deponiert wurde, bereitet Forensikerin Tempe Brennan schlaflose Nächte. Der Teenager könnte ohne Papiere ins Land gereist sein, eine Spur, die Tempe zu dem Geschäftsmann John-Henry Story führt. Doch ihr Hauptverdächtiger starb Monate zuvor bei einem mysteriösen Brand. Und dann ist da noch der Fall eines Schmugglers, der kuriose mumifizierte Artefakte in die USA schleust. Könnte eine Verbindung zwischen dem toten Mädchen und dem lukrativen illegalen Handel bestehen? An Tempes neustem Fall ist nichts so, wie es zunächst scheint. Nur auf eines kann die Todesermittlerin sich verlassen: Die Knochen kennen die Wahrheit.

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Seitenzahl: 464

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Von Kathy Reichs erschienen:

Aus der Temperance-Brennan-ReiheKnochenjagdFahr zur HölleBlut vergisst nichtDas Grab ist erst der AnfangDer Tod kommt wie gerufenKnochen zu AscheHals über KopfTotgeglaubte leben längerTotenmontagMit Haut und HaarKnochenleseDurch Mark und BeinLasst Knochen sprechenKnochenarbeitTote lügen nichtAus der Virals-Reihe mit Brendan Reichs

Jeder Tote hütet ein GeheimnisNur die Tote kennt die WahrheitTote können nicht mehr reden

Kathy Reichs

Totengeld

Roman

Aus dem Amerikanischen von Klaus Berr

Karl BlessingVerlag

Titel der Originalausgabe: Bones of the LostOriginalverlag: Scribner, New York

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2013 by Temperance Brennan, L. P.

Published by arrangement with the original publisher,

Scribner, an imprint of Simon & Schuster, Inc.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013

by Karl Blessing Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, Zürich

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-09333-4www.blessing-verlag.de

GEWIDMETSusan MoldowWeise Lektorin, Katzenliebhaberinund hoch geschätzte Freundin

PROLOG

Mit hämmerndem Herzen kroch ich auf den Ziegel zu, der aus dem oberen Rand der Nische ragte. Streckte den Kopf hinaus.

Wieder Schritte. Dann tauchten schwere Stiefel oben auf derTreppe auf, daneben ein paar kleine Füße, einer nackt, der andere in einem hochhackigen Schuh.

Die Füße stiegen herunter, die kleinen wackelig, als wäre ihre Besitzerin irgendwie beeinträchtigt. Die Unterschenkel waren merkwürdig ausgestellt, was darauf hindeutete, dass die Knie wenig Gewicht trugen.

DieWut brannte mir in der Brust. Die Frau stand unter Drogen. Der Mistkerl schleifte sie mit sich.

Vier Stufen weiter unten durchquerten der Mann und die Frau einen Streifen Mondlicht. Keine Frau, ein Mädchen. Die Haare waren lang, dieArme und Beine klapperdürr. Unter dem Kinn des Mannes sah ich ein Dreieck aus weißem T-Shirt-Stoff. Einen Pistolengriff, der aus seinem Hosenbund ragte.

Das Paar tauchte wieder in die Dunkelheit. Die eng aneinandergepressten Körper bildeten eine zweiköpfige Silhouette.

Nach dem letzten Schritt von der untersten Stufe packte der Mann das Mädchen mit einer Hand im Nacken und schob sie brutal auf dieTür zur Laderampe zu. Sie stolperte. Er riss sie wieder hoch. Ihr Kopf schwankte hin und her wie der einesWackeldackels.

Die junge Frau machte noch ein paar taumelnde Schritte. Dann hob sie das Kinn, und ihr Körper sackte zusammen. Ein Schrei zerriss die Stille.

DerArm des Mannes schoss hervor. Die Silhouette verschmolz wieder. Ich hörte einen Schmerzensschrei, dann kippte das Mädchen nach vorne auf den Beton.

Der Mann stützte sich auf ein Knie. Sein Ellbogen pumpte, als er auf den leblosen, kleinen Körper einschlug.

»Willst du gegen mich kämpfen, du kleine Schlampe?«

Der Mann schlug und schlug, bis seinAtem abgehackt ging.

MeineWut loderte jetzt weißglühend in meinem Hirn und vertrieb jeden Gedanken an meine eigene Sicherheit.

Ich kroch nach hinten und schnappte mir dieWaffe. Kontrollierte die Sicherung und war in diesemAugenblick dankbar für dasTraining auf dem Schießplatz.

Froh um dieWaffe, griff ich nach meinem Handy. Es war nicht in derTasche bei derTaschenlampe.

Ich suchte in der anderenTasche. Kein Handy.

Hatte ich es fallen gelassen? Hatte ich es bei meinem überstürztenAufbruch zu Hause vergessen?

Die Panik war fast überwältigend. Ich konnte niemanden erreichen.Was sollte ich tun?

Eine winzige Stimme riet mir zurVorsicht. Bleib in deinemVersteck.Warte. Slidell weiß, wo du bist.

»Du bist ja so was von tot.« Die Stimme dröhnte, grausam und böswillig.

Ich wirbelte herum.

Der Mann zerrte das Mädchen an den Haaren hoch.

Die Beretta in beiden Händen, stürmte ich aus der Nische. Der Mann erstarrte, als er die Bewegung hörte. Fünf Meter von ihm entfernt blieb ich stehen. Eine Säule als Deckung nutzend, spreizte ich die Füße und richtete dieWaffe auf ihn.

»Lassen Sie sie gehen.« Mein Schrei wurde von Ziegeln und Beton zurückgeworfen.

Der Mann hielt weiter die Haare des Mädchens fest umklammert. Er stand mit dem Rücken zu mir.

»Hände hoch.«

Endlich ließ der Mann das Mädchen los und richtete sich auf. Seine Hände hoben sich bis zur Höhe seiner Ohren.

»Umdrehen.«

Als der Mann sich umdrehte, traf ihn wieder ein Lichtstreifen. EinenAugenblick lang sah ich sein Gesicht in völliger Klarheit.

BeimAnblick seinerWidersacherin ließ er die Hände leicht herabsinken. Da ich spürte, dass er mich besser sehen konnte als ich ihn, drückte ich mich weiter hinter die Säule.

»Die verdammte Schlampe lebt.«

Du stirbst auch, du verdammte Schlampe.

»Man braucht Mut, um Droh-Mails zu schicken!« Meine Stimme klang viel selbstbewusster, als ich mich fühlte. »Um hilflose kleine Mädchen herumzuschubsen.«

»Schulden eintreiben? Sie kennen die Regeln.«

»Für dich ist Schluss mit Schuldeneintreiben, du krankerWiderling.«

»Sagt wer?«

»Sagt ein Dutzend Polizisten, das jedenAugenblick hier sein wird.«

Der Mann hielt sich eine Hand ans Ohr. »Ich höre keine Sirenen.«

»Gehen Sie von dem Mädchen weg!«, befahl ich.

Er machte einen rein symbolischen Schritt.

»Los«, knurrte ich. DieArroganz des Kerls machte mich so wütend, dass ich ihm am liebsten die Beretta über den Kopf gezogen hätte.

»Sonst was? Erschießen Sie mich?«

»Ja.« Kalt wie Stahl. »Ich erschieße Sie.«

Würde ich es tun? Ich hatte noch nie auf einen Menschen geschossen.

Wo zumTeufel war Slidell? Ich wusste, dass mein Bluff genährt war von Koffein undAdrenalin. Und dass beides irgendwann nachlassen würde.

Das Mädchen stöhnte.

In diesem Sekundenbruchteil verlor ich denVorteil, der dem Mann vielleicht das Leben gerettet hätte.

Ich schaute nach unten.

Er machte einen Satz auf mich zu.

FrischesAdrenalin schoss durch meinen Körper.

Ich hob dieWaffe.

Er kam näher.

Ich zielte auf das weiße Dreieck.

Schoss.

Die Explosion war brutal laut. Der Rückstoß riss mir die Hände nach oben, aber ich blieb sicher stehen.

Der Mann sackte zu Boden.

Im Dämmerlicht sah ich das Dreieck dunkel werden.Wusste, dass Rot sich darüber ausbreitete. Ein perfekterTreffer. Das Dreieck desTodes.

Stille bis auf mein eigenes, heiseresAtmen.

Dann übernahm meinVerstand die Kontrolle über das Stammhirn.

Ich hatte einen Mann getötet.

Meine Hände zitterten. Galle stieg mir in die Kehle.

Ich schluckte. Richtete dieWaffe wieder aus und ging langsam vorwärts.

Das Mädchen lag reglos da. Ich kauerte mich hin und drückte ihr zitternde Finger an die Kehle. Spürte einen Puls, schwach, aber regelmäßig.

Ich drehte mich um. Schaute in die stummen, böswilligenAugen des Mannes.

Plötzlich fühlte ich mich erschöpft. Und war entsetzt von dem, was ich eben getan hatte.

Ich überlegte. Konnte ich in meinem Zustand gute Entscheidungen treffen? Sie auch umsetzen? Mein Handy lag zu Hause.

Ich wollte mich hinsetzen, den Kopf in die Hände stützen und denTränen freien Lauf lassen.

Stattdessen atmete ich ein paarmal tief durch, stand auf und ging durch Dunkelheit, die mir wie tausend Meilen vorkam, zurTreppe. Mit Beinen weich wie Gummi stieg ich hinauf.

VomTreppenabsatz bog ein Gang nach rechts ab. Ich folgte ihm zu der einzigen geschlossenenTür.

DieWaffe fest in einer feuchten Hand, streckte ich die andere aus und drehte den Knauf.

DieTür schwang nach innen.

Ich starrte in nacktes Grauen.

ERSTER TEIL

1

Man hat mich schon öfter gefangen gehalten. In einem Keller, im Kühlraum einer Leichenhalle, in einer Gruft unter der Erde. Es ist immer furchterregend und intensiv.Aber diese Gefangenschaft übertraf alles, was ich je an körperlichem Schmerz erlebt hatte.

Der Jurorenbereich im Gerichtsgebäude des Mecklenburg County ist so gut, wie solche Einrichtungen eben sein können –WLAN, Computer, Billardtische, Popcorn. Ich hätte eine Freistellung beantragen können. Habe ich aber nicht. Die Justiz rief, und ich kam. Brennan, die gute Staatsbürgerin.Außerdem wusste ich, dass man mich aufgrund meinesArbeitsbereichs sowieso ausschließen würde.Als ich den heutigenTag plante, hatte ich sechzig, maximal neunzig Minuten eingerechnet, in denen ich mir wahrscheinlich Plattfüße holen würde.

Von wegen Plattfüße. Beachten Sie meinen Gedankensprung. Zu meiner aufregenden beruflichen Fußbekleidung gehören atmungsaktive Goretex-Wanderschuhe und vielleicht Gummistiefel, damit man nicht im Matsch landet. Dass ich jemals mörderische High Heels kaufe, geschweige denn trage, ist so wahrscheinlich wie die Entdeckung von Gigantosaurus-Knochen hinter einem Bad Daddy’s Burger.

Meine Schwester Harry hatte mich zu zehn Zentimeter hohen Pumps von Christian Louboutin überredet. Harry ausTexas, dem Land der großen Frisuren und meilenhohen Stilettos. Damit du professionell aussiehst, hatte sie gesagt. In verantwortlicher Position.Außerdem sind sie sechzig Prozent reduziert.

Ich muss zugeben, das glänzende Leder und die schicken Ziernähte sahen an meinen Füßen toll aus.Aber fühlte ich mich auch toll? Nicht nach drei StundenWarten.Als der Gerichtsdiener unsere Gruppe schließlich aufrief, torkelte ich fast in den Gerichtssaal, und dann, als meine Nummer aufgerufen wurde, in den Zeugenstand.

»Bitte nennen Sie Ihren vollen Namen.« Chelsea Jett, gefühlte sechs Minuten nach ihrem Juradiplom, 400-Dollar-Kostüm, teure Perlenhalskette und Stilettos, die meine alt aussehen ließen. Die frischgebackene Staatsanwältin Jett versteckte ihre Nervosität hinter einem barschenAuftreten.

»Temperance Daessee Brennan.« Mach’s für uns beide leichter. Lass mich ruck, zuck wieder gehen.

»Bitten nennen Sie IhreAdresse.«

Ich tat es. »Das ist auf Sharon Hall«, fügte ich leutselig hinzu. Ein Herrenhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert, roter Backstein, weiße Säulen, Magnolien. Mein Häuschen ist derAnbau zur Remise, derAnnex. MehrOld South geht nicht. Doch das sagte ich alles nicht.

»Wie lange wohnen Sie schon in Charlotte?«

»Seit meinem achten Lebensjahr.«

»Wohnt unter dieserAdresse jemand bei Ihnen?«

»Manchmal meine erwachseneTochter, aber nicht imAugenblick.« DasArmband, das Katy mir geschenkt hatte, hing lose an meinem Handgelenk, ein zartes Silberband mit der Gravur Mom rocks.

»Ihr Familienstand?«

»Getrennt.« Kompliziert.Auch das sagte ich nicht.

»Sind Sie in einem festenArbeitsverhältnis?«

»Ja.«

»Bitte nennen Sie IhrenArbeitgeber.«

»Der Staat North Carolina.« Immer schön kurz und bündig.

»Ihr Beruf?«

»ForensischeAnthropologin.«

»WelcheAusbildung verlangt der Beruf?« Steif.

»Ich habe einen Doktortitel und eine Zulassung durch dasAmerican Board ofForensicAnthropology.«

»Dann führen Sie alsoAutopsien durch?«

»Sie denken, ich bin forensische Pathologin. Ein häufiger Fehler.«

Jett wurde noch steifer.

Ich schenkte ihr ein Lächeln. Das die Staatsanwältin nicht erwiderte.

»ForensischeAnthropologen arbeiten mitToten, bei denenAutopsien unmöglich sind, also mit Skelettierten, Mumifizierten,Verwesten, Zerstückelten,Verbrannten oderVerstümmelten.Wir werden hinsichtlich vieler Fragen konsultiert, die alle mittels einer Untersuchung der Knochen beantwortet werden. Zum Beispiel, ob die fraglichen Überreste menschlich oder tierisch sind.«

»Dazu ist ein Experte nötig?« Kaum beherrschte Skepsis.

»Einige menschliche und tierische Knochen sind sich täuschend ähnlich.« Ich dachte an die mumifizierten Exemplare, die mich im MCME erwarteten. »Vor allem fragmentierte Überreste sind sehr schwer zu beurteilen. Stammen Sie von einem Individuum, von mehreren, von Menschen,Tieren oder beidem?« Die Bündel, die ich gerade nicht untersuchte, weil ich, mit Füßen so aufgedunsen wieWasserleichen, hier festhing.

Jett bedeutete mir mit einer ungeduldigen Geste ihrer manikürten Hand weiterzureden.

»Wenn die Überreste menschlich sind, suche ich nach Indikatoren aufAlter, Geschlecht,Abstammung, Größe, Krankheiten, Missbildungen oderAnomalien – nach allem, was zur Identifikation von Nutzen sein kann. Ich untersucheVerletzungen, um dieTodesart zu bestimmen. Ich schätze, wie lange das Opfer schon tot ist. Ich betrachte etwaige postmortale Leichenbehandlung.«

Jett hob fragend eineAugenbraue.

»Köpfen, zerstückeln, eingraben, insWasser werfen.«

»Ich denke, das genügt.«

Jett schaute auf die Liste ihrer Fragen. Eine sehr lange Liste.

Mein Blick wanderte zu meiner Uhr, dann zu den Unglücklichen, die noch auf ihre Befragung warteten. Ich hatte mich angezogen, um respektvoll auszusehen, dem Bild zu entsprechen, das man von einerVertreterin des Mecklenburg County Medical Examiner’s Office erwartete. Hellbrauner Hosenanzug, seidenes Rollkragenoberteil. Das traf nicht auf alle meine Mitgefangenen zu. Mein Favorit war das junge Mädchen in engem, ärmellosem Oberteil, Jeans und Sandalen.

Keine Haute Couture, aber ich vermutete, dass ihre Füße sich besser anfühlten als meine. Ich versuchte, in meinen Mörderpumps die Zehen zu bewegen. Keine Chance.

Ms. Jett atmete einmal tief durch.Worauf wollte sie hinaus? Ich zögerte nicht lange, es herauszufinden.

»Als forensischeAnthropologin für den Staat stehe ich sowohl bei der UNC Charlotte – ich unterrichte dort ein Hauptseminar –, beim Office of the Chief Medical Examiner in Chapel Hill und beim Mecklenburg County Medical Examiner hier in Charlotte unterVertrag.Außerdem bin ich konsultierende Expertin für das Laboratoire de sciences judiciaires et de médecine légale in Montreal.« Soll heißen: Ich habe sehr viel zu tun. Ich berate Polizeieinheiten, das FBI, das Militär, Coroner und Leichenbeschauer. Sie wissen genau, dass derVerteidiger mich entlassen wird, wenn Sie es nicht tun.

»Verstehe ich das richtig? Sie arbeiten regelmäßig in zwei Ländern?«

»Das ist nicht so merkwürdig, wie es klingt. In den meisten Rechtssystemen fungieren forensischeAnthropologen als spezialisierte Berater.Wie bereits gesagt, werden meine Kollegen und ich nur zu Fällen gerufen, bei denen nicht genügend Fleisch für eineAutopsie vorhanden ist oder die Überreste –«

»Richtig.«

Jett fuhr die endlose Liste auf ihrem gelben Block mit dem Finger ab.

Ich streckte meine unglücklichen Zehen – oder versuchte es zumindest.

»ImVerlauf IhrerArbeit für den Medical Examiner, kommen Sie da in Kontakt mit Polizeibeamten?«

Endlich.Vielen Dank.

»Ja. Sehr oft.«

»Mit Staatsanwälten oder Strafverteidigern?«

»Mit beiden.Außerdem ist mein ExgatteAnwalt.« EineArt Ex.

»Kennen Sie persönlich jemanden, der mit diesemVerfahren zu tun hat, denAngeklagten, seine Familie, die Polizeiermittler, dieAnwälte, den Richter?«

»Ja.«

Und damit war ich entlassen.

Ohne Rücksicht auf meine protestierenden Zehen stürzte ich humpelnd aus dem Gerichtssaal, durch die Lobby und zu den Doppelglastüren hinaus. Mein Mazda stand am hintersten Ende des Parkdecks. Da ich erst um zehn nach acht, der in derVorladung genannten Zeit, eingetroffen war, hatte ich die erste Lücke genommen, die ich fand, und die lag etwa auf dem halbenWeg nach Kansas.

Nach einem schnellen Humpeln über die Fahrspur ging ich an einer Reihe von Fahrzeugen entlang und fand meinen Mazda, dicht flankiert von einem riesigen, blauen SUV auf der Fahrerseite und noch stärker bedrängt auf der Beifahrerseite. Schwitzend drückte ich mich zwischen den beidenTürgriffen und dem Außenspiegel hindurch und streifte dabei mit Brust und Hintern die schmuddeligenTüren und Seitenbleche, die meinen Oberkörper einklemmten. Danach sah mein toller, hellbrauner Leinenanzug aus, als hätte ich mich im Dreck gewälzt.

Als ich dieTür aufzog und mich hinters Lenkrad klemmte, klimperte etwas zu meinen Füßen. Ein vernünftiger Staatsbürger – also ein Staatsbürger in vernünftigem Schuhwerk – hätte sich gebückt, um nachzusehen, welcher bewegliche Schmuck sich da gelöst hatte. Doch ich konzentrierte mich auf meine Flucht und tastete mit den Fingern nach dem Schlüssel im Reißverschlussfach meiner Handtasche.

Mit brennenden Füßen rammte ich den Schlüssel in die Zündung und bückte mich seitlich, um an meinem rechten Schuh zu zerren. Das Ding klebte so fest, als wäre es mir aufs Fleisch verpflanzt.

Ich zerrte noch fester.

Mein Fuß explodierte aus seiner Umhüllung. Mit vielVerbiegen undVerdrehen wiederholte ich die Prozedur am linken.

Ich drückte mich in die Lehne und betrachtete zwei spektakuläre Blasen. Dann die verhassten Louboutins in meiner Hand.

Meine Hand.

Mein Handgelenk.

Mein nacktes Handgelenk.

Katy.

Ich spürte einen vertrauten Stich derAngst in meiner Brust.

Ich verdrängte ihn.

Konzentrier dich. DasArmband war im Jurorenzimmer und im Zeugenstand an Ort und Stelle gewesen.

Das Klimpern.Anscheinend hatte sich das zarte Silberarmband an irgendetwas verfangen, als ich mich an dem SUV vorbeigedrückt hatte.

Fluchend zwängte ich mich wieder hinaus und warf dieAutotür zu.

Das menschliche Hirn ist eine Schaltstation, die auf zwei Ebenen funktioniert.Während ein Reflexbefehl noch an meine Hand ging, kam es in meinem Kleinhirn bereits zu einer neuralenVerbindung. Bevor dieTür ins Schloss fiel, wusste ich, dass ich in der Patsche saß. Ich riss am Griff, obwohl es nichts brachte, und kontrollierte dann die Stellung aller vier Schließknöpfe.

Noch bildhafter fluchend, griff ich nach meiner Handtasche. Die auf dem Beifahrersitz lag.

Scheiße.

Und der Schlüssel? Steckte in der Zündung.

EinenAugenblick stand ich nur da, die Hosenbeine fielen mir über die nackten Füße, der Hosenanzug war schmutzig, dieAchseln schweißnass. Und überlegte.

Konnte dieserTag noch schlimmer werden?

Eine gedämpfte Stimme drang aus demAuto.Andy Grammer,der mit Keep Your Head Up einenAnruf auf meinem iPhone ankündigte. Fast hätte ich gelacht. Nur fast.

Meinem Chef Tim Larabee hatte ich gesagt, dass ich noch vor Mittag im Institut sein würde.Vom Jurorenzimmer aus hatte ich angerufen, um meine geschätzteAnkunftszeit auf 13 Uhr nachzudatieren.Auf meiner Uhr war es jetzt 14 Uhr. Larabee machte sich sicher Gedanken über die mumifizierten Überreste, die auf meine Untersuchung warteten.

Vielleicht war es gar nicht Larabee.

Ach, was soll’s. Dass ich barfuß und aus meinemAuto ausgesperrt auf einem Parkdeck stand, wollte ich sowieso niemandem erzählen.

But you gotta keep your head up …

Genau.

Ich schaute mich auf dem Parkdeck um. ÜberallAutos. Nirgends Leute.

Die Scheibe einschlagen?Womit? Frustriert starrte ich das Glas an. Es warf mir das Bild einer wütenden Frau mit einer wirklich üblen Frisur zurück. Clever.

Das war es tatsächlich. Mein Blick wanderte über das Glas, das oben nicht mehr bündig mit dem Rahmen abschloss. Ein abgenutzter oder abgebrochener Zahn im Hebemechanismus, hatte Jimmy, mein Mechaniker, gesagt. Gefährlich. Die Lücke war so groß, dass ein Kerl einen Draht hindurchschieben und auf halbemWeg nach Georgia sein konnte, bevor man überhaupt merkt, dass dasAuto geklaut ist.

Ernsthaft?, hatte ich gesagt. Einen zehn Jahre alten Mazda?

Ersatzteile, hatte er feierlich erwidert.

War ein Kleiderbügel zu viel verlangt? Ich ließ meinen Blick über denAbfall schweifen, der sich angesammelt hatte, wo der Betonboden des Parkdecks an die Rückwand stieß. Steinchen, Plastikverpackungen,Aluminiumdosen. Nichts, was mich in meinAuto bringen konnte.

Vorsichtig auftretend ging ich an derWand entlang. Obwohl die Blasen inzwischen aussahen wie Hackfleisch, stapfte ich, die Hosenränder über den dreckigen Beton schleifend, voran.

Im Institut mumifizierte Knochen, die minütlich älter wurden.

Bei all diesenVerzögerungen würde ich bis weit in denAbend im Institut des ME sein. Dann nach Hause zu einer gereizten Katze. Und in der Mikrowelle aufwärmen, was ich noch im Gefrierfach hatte.

But you gotta keep your …

Vergiss es.

Dann bemerkte ich zwei Meter vor mir ein Funkeln im Unrat. Hoffnungsvoll ging ich darauf zu.

Meine Beute war ein etwa sechzig Zentimeter langes Drahtstück, früher vielleicht wirklich einmalTeil eines zusammengebastelten Instruments, wie mir eins vorschwebte.

Nachdem ich schnell zum Mazda zurückgehumpelt war, bog ich das eine Ende zu einer kleinen Öse und schob den Draht durch Jimmys Lücke.

Mit beiden Händen, das Gesicht flach an die Scheibe gedrückt, versuchte ich, die Öse über den Knopf zu schieben. Jedes Mal wenn mir das Ding an der richtigen Position schien, zog ich den Draht scharf nach oben.

Ich war bei meinem zigtausendstenVersuch, als hinter mir eine Stimme dröhnte.

»Treten Sie von dem Fahrzeug zurück.«

Scheiße.

Den Draht fest mit einer Hand umklammernd, drehte ich mich um.

Ein uniformierter Parkwächter stand gut drei Meter von mir entfernt, die Füße gespreizt, die Handflächen erhoben und in meine Richtung gedreht. SeinAusdruck wirkte nervös und angespannt.

Ich zeigte ihm ein, wie ich hoffte, entwaffnendes Lächeln. Oder wenigstens ein beruhigendes.

DerWachmann erwiderte das Lächeln nicht.

»Treten Sie vom Fahrzeug zurück.« Der Kerl hatte blonde Haare und ein Gesicht, das fast so rot war wie meine Blasen. Ich schätzte ihn auf etwa achtzehn.

Jetzt hieß mein Lächeln: Ich bin ja auch zu blöd. »Ich habe mich aus meinem eigenenAuto ausgesperrt.«

»Ich muss IhrenAusweis und die Zulassung sehen.«

»Meine Handtasche ist da drin. Der Schlüssel steckt in der Zündung.«

»Treten Sie vom Fahrzeug zurück.«

»Wenn ich das Schloss aufbekomme, kann ich Ihnen alles zeigen.«

»Treten Sie vom Fahrzeug zurück.«Was für ein enormes sprachliches Repertoire.

Ich tat, was er verlangte, ließ jedoch den Draht nicht los. Blondie bedeutete mir, noch weiter zurückzutreten.

Ich verdrehte dieAugen und vergrößerte die Distanz. Ließ los. Der Draht fiel innen auf den Fahrersitz.

Ärger verdrängte meinen Entschluss, höflich zu bleiben.

»Hören Sie, das hier ist meinWagen. Ich habe eben eine Jurorenanhörung hinter mir. Meine Zulassung und der Führerschein sind da drin. Ich muss dringend zurArbeit. Ins Institut des Medical Examiner.«

Wenn ich gehofft hatte, dass der letzte Hinweis etwas bewirken würde, hatte ich mich getäuscht. Blondies Miene sagte, schmutzige, barfüßige Frau mit einem Einbruchswerkzeug. Gefährlich?

»Rufen Sie im Büro des ME an«, blaffte ich.

Ein kurzes Zögern. Dann: »Sie warten hier.«

Als würde bei mir ohne Schuhe und ohne Fahrzeug Fluchtgefahr bestehen.

Blondie eilte davon.

Wütend lehnte ich mich gegen den Mazda, trat von einem verletzten Fuß auf den anderen und blickte abwechselnd auf die Uhr und auf den Beton, in der Hoffnung, irgendwo meinArmband zu entdecken. Ich fing an, auf dem Parkdeck hin und her zu gehen. Schließlich hörte ich ein Motorengeräusch.

Sekunden später rollte ein weißer FordTaurus dieAuffahrt hoch.

Konnte dieserTag noch schlimmer werden?

Er war es soeben geworden.

2

Erskine »Skinny« Slidell bremste neben mir, nahm seine nachgemachte Ray-Ban ab, ließ sein Fenster herunter und begaffte meine flatternden Hosenbeine, die verwüsteten Füße und die zerzauste Frisur. Ein Grinsen schob einen seiner Mundwinkel nach oben. Obwohl das Dezernat für Mord und Schwerverbrechen von Charlotte-Mecklenburg mehr als zwei Dutzend Detectives hat, lande ich immer bei Skinny. Und die Begegnungen sind immer Prüfungen meiner inneren Stärke.

Dabei ist Skinny kein schlechter Ermittler. Ganz im Gegenteil.Aber Skinny betrachtet sich selbst als »alte Schule«. In seinerVorstellung bedeutet das Dirty Harry Callahan, Popeye Doyle und Sergeant Friday. Ich habe Skinny Zeugen befragen sehen. Man erwartet da immer: »Nur die Fakten, Ma’am.«Aber Skinny ist keiner, dem jemals ein »Sir« oder »Ma’am« über die Lippen kommt.

Vor einigen Jahren war Eddie Rinaldi, Slidells Partner, bei einer Schießerei auf einem Bürgersteig ums Leben gekommen. Kein Mensch hatte Slidell die Schuld dafür gegeben. Bis auf Slidell selbst. Da man im Dezernat der Meinung war, Slidell könnte ein bisschen mehr kulturelleAufgeschlossenheit vertragen, hatte man ihm eine hispanische Lesbe namensTheresa Madrid als Partnerin zugeteilt. Zur Überraschung aller kamen die beiden gut miteinander aus.

Erst kürzlich hatten Madrid und ihre Partnerin ein koreanisches Kleinkind adoptiert, und Madrid war in Mutterschutz gegangen.Vorübergehend arbeitete Slidell also allein.Was ihm gefiel.

»Aber holla.« DerTrottel sagte das tatsächlich.

»Detective –«

»Haben Sie jemanden sauer gemacht?«

Später kann ich vielleicht über diese Episode lachen. In diesemAugenblick sah ich nur unerfreulicheAlternativen vor mir. Mit dem Parkhaustrottel streiten. Zu einemTelefon latschen und dann auf denAutomobilclub warten. Mich mit Slidell herumschlagen.

»Woher wussten Sie, dass ich hier bin?« Cool.

»Ich war bei Doc Larabee, als er einenAnruf erhielt.« Slidell beugte sich zur Seite und öffnete die Beifahrertür. »Steigen Sie ein.«

Ich nahm noch eine Lunge voll frischer Luft, bevor ich mich auf den Sitz gleiten ließ.

»Gütiger Himmel. Doc. Ich weiß nicht, ob ich in den letzten Jahren irgendjemanden in so verlottertem Zustand gesehen habe.«

»Sie sollten mehr unter die Leute gehen.«

»Was zumTeufel haben Sie denn –«

»Schlamm-Catchen. Fahren Sie da rüber.« Ich deutete zu meinemWagen.

»Den Gegner möchte ich lieber nicht sehen.«

»Ich werd einVideo auf YouTube hochladen.« Ungeduldig deutete ich mit dem Finger auf den SUV.

Slidell fuhr in die Richtung.

»Stopp!« Ich hob die Hand. »Nein, hinter diesen Geländewagen.«

»Ich weiß, was passiert ist. Jemand hat Sie sich vorgenommen, weil Sie seinAuto aufbrechen wollten.«

»Wenn ich einAuto aufbrechen könnte, wäre ich nicht hier.« Ich stieg aus. Die Blasen sahen aus wie zwei roteAugen, die mir ins Gesicht starrten.

Wenn dasArmband nicht ein Geschenk von Katy gewesen wäre, hätte ich es als verloren abgeschrieben und mich aus dem Staub gemacht. Irgendwann werde ich es ihr wohl erzählen. Dann lachen wir.Vielleicht.

Ich zwängte mich zwischen meinAuto und das blaue Monster und suchte den Beton ab. Bingo. DasArmband lag in der Mitte unter den beiden beinahe aneinanderstoßenden Außenspiegeln, genau an der am wenigsten zugänglichen Stelle.

Ich zog den Bauch ein, drückte mich zwischen denTürgriffen nach unten und kauerte mich hin. Die Schulter so weit seitlich verdreht, wie es ging, streckte ich die Hand aus und bekam dasArmband zu fassen. Dann richtete ich mich vorsichtig, um keineAlarmanlage auszulösen, wieder auf und ging auf denTaurus zu.

Slidell beobachtete meine Darbietung kommentarlos.Anscheinend hatte ich die Grenze zwischen amüsant und bemitleidenswert überschritten.

Ich stieg ein und knallte dieTür zu.

»Wohin?«

»Ins Institut des ME.« Ich befestigte mir das Kettchen wieder am Handgelenk.

»Ich fahre aber auch gerne bei Ihnen zu Hause vorbei.«

»Mein Hausschlüssel ist in meiner Handtasche. In meinemAuto.«

»Schuhgeschäft?«

»Nein, vielen Dank.« Kurz angebunden.

»Kein Problem. Ich muss sowieso wieder dorthin zurück.«

Ich hätte fragen können, warum. Stattdessen saß ich da, starrte zum Seitenfenster hinaus und konzentrierte mich darauf, die olfaktorischen Hinterlassenschaften von SlidellsVorliebe für Frittiertes mit zu viel Fett zu ignorieren.Von Kaffee, auf dem weiße Schimmelkolonien prangten.Von verschwitztenTurnschuhen und ölfleckigen Kappen.Von schalem Zigarettenrauch.Von Skinny selbst.

Aber ich selbst war ja auch nicht gerade wohlriechend.

Slidell verließ das Parkdeck, fuhr auf die EastTrade und wechselte auf die linke Spur.

Ein paar Minuten vergingen schweigend. Dann:

»Wer hatWuschel um die Ecke gebracht, hm?«

Ich hatte keineAhnung, wovon er redete.

»Wer hat den Köter gekillt?«

Klasse. Slidell wusste also über meine Mumienbündel Bescheid. FrischesWasser auf dieWitzmühle.

»Wer hat den …«

»Ich wurde gebeten, vier eingewickelte, mumifizierte Körper zu untersuchen, um nachzuweisen, dass sie nicht menschlich sind. Sollte das der Fall sein, werdenArchäologen das Material datieren, authentifizieren und dann weiterschicken nach … irgendwohin.«

»Warum ist dieserWurf toter Chihuahuas –«

»Die Bündel kommen aus Peru, nicht Mexiko.«

»Ja, klar.Also, wie kommt’s, dass die Köter eine ME-Behandlung kriegen?«

»Zollbeamte haben sie am Flughafen beschlagnahmt. Irgendeinem Holzkopf wird vorgeworfen, sie ins Land geschmuggelt zu haben. Der illegale Import vonAntiquitäten ist einVerbrechen, müssen Sie wissen.«

»Jaja.« Und nach einerWeile beiderseitigem Schweigen: »Der alte Dom Rockett wurde vom FBI eingebuchtet.«

Obwohl ich neugierig geworden war, wartete ich, weil ich wusste, dass Slidell weiterreden würde.

»Dom Rockett, Folkore-Schnickschnack aus der ganzenWelt.«

»Aus der ganzenWelt?« Ich konnte nicht anders.

»Vorwiegend Südamerika. UnsereAmigos da unten haben genug Schnickschnack für die ganzeWelt.«

Offensichtlich hatte Slidell etwas gegen fairen Handel.

»WertloseArmbänder, Ringe und jede Menge Kram, den man sich um den Hals hängen kann.Wollschals von der Lama-Mama,Wandteppiche. Flöhe aus Übersee.«

»Sie sind ein Poet, Detective.«

»Angeblich glaubt das ICE, dass Rockett seinen Horizont erweitern, sich vielleicht auf wirklicheAntiquitäten verlegen will.« ICE hieß United States Immigration and Customs Enforcement und war die Behörde zur Durchsetzung von Einwanderungs- und Zollbestimmungen der Homeland Security, also des Heimatschutzministeriums. »Nicht angemeldeteAntiquitäten.«

Ich sagte nichts.

»Würde mich nicht überraschen. Der Kerl istAbschaum.«

»Sie kennen ihn?«

»Ich weiß einiges über ihn.Abschaum erkenntAbschaum.«

Ich fragte nicht, was er damit meinte.

»Können Sie die Frischluft höher drehen?«

»Bekommen Sie dann keine kalten Füße?« Ohne die Miene zu verziehen.

Ich warf Slidell noch einen warnenden Blick zu.Was nichts brachte, weil seine Ray-Ban auf die Straße gerichtet war.

Slidell streckte die Hand aus, legte einen Schalter um und schlug dann mit den Handballen gegen dasArmaturenbrett. Ein blaues Lämpchen sprang flackernd an, und laue Luft strömte aus den Lüftungsschlitzen.

»Wenn das stimmt, was Sie sagen, dann könnte Rockett ja mit dem Gedanken gespielt haben, die Mumienbündel an ein Museum zu verkaufen«, sagte ich. »Oder an einen privaten Sammler.«

»Ich bin mir sicher, das ICE wird sich eingehend mit seinenAmbitionen beschäftigen. Scheiße bleibt an jedem hängen, der sich mit ihm einlässt.«

Hinter der I-77 schwenkte dieWestTrade zuerst nachWesten, dann wieder nach Osten. Slidell nahm die Kurve so schnell, dass im Fond Papiertüten und Fast-Food-Kartons über den Boden schlitterten. Ich stellte mir längst verschlungene Fressalien vor. Panierte Hähnchen? Grillfleisch? ÜberfahreneTiere?

Schließlich setzte sich meine Neugier durch.

»Was hatten Sie bei Larabee zu tun?«, fragte ich.

»Heute Morgen kam ein Fahrerfluchtopfer herein.Weiblich. KeinAusweis.«

»Alter?«

»Alt genug.«

»Soll heißen?« MeinTon schärfer als beabsichtigt.

»Mittlerer bis ältererTeenager.«

»Abstammung?«

»Illegale Latina. Da können Sie Gift drauf nehmen.«

»KeinAusweis, aber Sie wissen wie aus Zauberhand, dass das Mädchen Latina ist und deshalb nicht registriert?«

»Sie war ohneAusweis und ohne Schlüssel unterwegs.« So wie ich, dachte ich, sagte es aber nicht.

Sekunden vergingen.

»Wo wurde sie gefunden?«

»An der Kreuzung Rountree und Old Pineville Road, südlich vonWoodland. Doc Larabee schätzt denTodeszeitpunkt auf irgendwann zwischen Mitternacht und Morgengrauen.«

»Was wollte sie da draußen?« Ich dachte laut.

»Was denken Sie?«

Ich dachte, dass die Old Pineville Road schon beiTag eine verlassene Gegend war, von nachts ganz zu schweigen. Es gab einige kleine Geschäfte, aber keins, das für einTeenagermädchen interessant sein könnte.

»Irgendwelche Zeugen?«

Slidell schüttelte den Kopf. »Ich werde mich ein bisschen in der Gegend umhören, sobald ich bei Doc Larabee fertig bin. Ich vermute, sie war da anschaffen.«

»Wirklich?«

Slidell hob eine fleischige Schulter.

»Eine nicht identifizierteTeenagerin, mehr wissen Sie nicht.Aber für Sie ist sie sofort eine Illegale, die auf den Strich geht. Ist das Detektivarbeit im Schnelldurchgang?«

Er murmelte irgendwas.

Ich verdrängte ihn aus meinen Gedanken. Nach all den Jahren habe ich inzwischen einige Übung darin.

Meine grauen Zellen lieferten eine Collage von Bildern. Ein junges Mädchen alleine im Dunkeln auf einer leeren zweispurigen Straße. Scheinwerfer. DerAufprall einer Stoßstange.

»… Story?«

»Was?«

»Erinnern Sie sich an John-Henry Story?«

DerThemenwechsel verblüffte mich. »Das Flammenopfer im letztenApril?«

Vor sechs Monaten hatte ich nach einer Explosion auf einem Flohmarkt mit anschließendem Brand fragmentarische Überreste untersucht. Ich war zu dem Schluss gelangt, dass das Opfer weiß, männlich und zwischen fünfundvierzig und sechzig Jahre alt war. Das Bioprofil passte auf John-Henry Story, den Besitzer des Marktes. Story hatte Zeugen erzählt, dass er dorthin wollte, und war seitdem nicht mehr gesehen worden. Bei den Knochen wurde auch persönlicher Kram gefunden. Ein Handy? Brieftasche? Uhr? Ich konnte mich an die Details nicht mehr erinnern.

Obwohl die Identifizierung ausschließlich auf Indizien beruhte, hatte der ME entschieden, dass sie ausreichend war. Brandermittler hatten Proben genommen und untersucht, aber die Scheune war so alt und die Zerstörung so total, dass eine Brandursache nicht mehr eindeutig festgestellt werden konnte.

StorysTod hatte Schlagzeilen gemacht. Ein prominenter Geschäftsmann, verbrannt in einem Gebäude mit ungenügendemAlarm- und Sprinklersystem. Die Medien hatten sich auf dasThema öffentliche Sicherheit auf nicht genügend reglementierten Märkten undWaffenmessen gestürzt. Doch schließlich wandte sich die Presse etwas anderem zu, derAufschrei verklang, und Storys Flohmarkt wurde woanders wiedereröffnet.

»Jaja.« Slidells Lieblingsäußerung. Sie machte mich wahnsinnig.

Jahrelang war der Mecklenburg County Medical Examiner an der Ecke 10th und College untergebracht, in einem Backsteingebäude, das früher ein Sears-Gartencenter war. Jahrelang hatten die Stadtväter von einem Standortwechsel gesprochen. Jahrelang war nichts passiert. Doch dann kam, wie durch einWunder, Bewegung in dasVorhaben.

Zu Kosten von acht Millionen Dollar wurde auf einem Regierungsgrundstück in einem Industriegebiet nordwestlich des Zentrums ein Ersatzbau errichtet. Mit einer Nutzfläche von fast 1600 Quadratmetern ist das neue Gebäude viermal so groß wie das alte. Epoxy-Böden, Corian-Wände, Edelstahl, wohin man blickt.Anstatt nur zwei können die Pathologen jetzt simultan vierAutopsien durchführen. Zur neuenAusstattung gehören auch zwei Räume für Untersuchungen, bei denen aufgrund vonVerwesung oder potenzieller Kontamination eine spezielle Behandlung notwendig ist.

Die Stinker. MeineArt von Fällen.

Und das Funkelnagelneue ist konsequent ökologisch. Hochkomplexe Energieerhaltungssysteme.Topmoderne Klima- und Heizanlage mit bis zu einen Meter breiten Luftschächten. Obwohl alleArbeit im Erdgeschoss stattfindet, erhielt einTeil des Gebäudes ein Obergeschoss, um die ganzeTechnik unterzubringen.

Und doch ist dieAtmosphäre einigermaßen friedlich. Die Büros und die öffentlichen Bereiche sind in sanften Blau- und Erdtönen gehalten. Die Fenster sind groß und haben Sonnenblenden und intelligente Lichtführung, um eine maximaleTageslichtaufnahme und minimale Blendung zu gewährleisten.

Mit anderenWorten, unser neuer Laden ist der Hammer.

Ich wartete, während Slidell durch das schwarze Sicherheitstor fuhr, die Fahnenmasten umrundete und eine Parklücke gefunden hatte. Er stellte den Motor ab und legte denArm über die Rückenlehne, was eineWoge Geruch in meine Richtung schickte. Dann wandte er sich mir zu.

»John-Henry Story hat diverse Unternehmungen überall in den Countys Mecklenburg und Gaston. Story Motors. Story Storage –«

J.-H. Story –Wir haben für jeden ein sicheres Lager. Der grässliche Slogan kam mir unverlangt wieder in den Sinn. Es war eine nervtötende, aber sehr effektiveWerbekampagne gewesen.

»– John-Henry’sTavern. Die Liste ist länger als der Schwanz meines Hundes.«

»Sie haben einen Hund?«

»Wollen Sie die Geschichte hören?«

»StorysTod wurde als Unfall eingestuft.Wieso kommen Sie jetzt auf ihn?«

Slidell fixierte mich mit einem theatralischen Blick, während er in sein Sakko griff. Das senffarben und braun war. Mit einer schnellen Bewegung zog er einen Ziploc-Beutel aus der Brusttasche seines Hemds. Das einen Orangeton hatte, den man wahrscheinlich Melone nannte.

Ich verkniff es mir, dieAugen zu verdrehen, während ich mich zur Seite beugte, um mir den Inhalt des Beutels anzusehen.

Und spürte, wie meineAugenbrauen vor Überraschung in die Höhe gingen.

3

Die Sonne glitzerte auf dem Plastik zwischen Slidells Daumen und Zeigefinger.

Ich wartete auf eine Erklärung.

»Das Opfer hatte eine Handtasche. Kreischend pink, nur so groß wie ein Burger, Nuttenriemchen.«

»Ich trage auch eine Schultertasche.« Slidells Sarkasmus machte mich wie üblich reizbar.Wie auch seine vorschnelle Schlussfolgerung, das Unfallfluchtopfer sei eine Prostituierte.

»Leuchtend pink? Geformt wie eine gottverdammte Comickatze?«

»Sind Sie sicher, dass es ihre war?«

»Das Ding lag im Gestrüpp, drei Meter von der Leiche entfernt. Hatte noch nicht lange dort gelegen.Wir untersuchen sie noch nach Fingerabdrücken.Aber ja, ich bin sicher, dass es ihre war.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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