Kommunikation - Dirk Baecker - E-Book

Kommunikation E-Book

Dirk Baecker

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Beschreibung

Wie ist Kommunikation möglich, wenn die Gedanken eines jeden Menschen in seiner Brust verschlossen sind, fragt die europäische Philosophie seit John Locke. Nur deswegen, weil das so ist, ist Kommunikation möglich, antwortet die moderne Soziologie. Das Buch entwickelt ein Modell, mit dem das Navigieren in einer komplexen Gesellschaft vielleicht etwas einfacher wird. Text aus der Reihe "Grundwissen Philosophie" mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe.

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Seitenzahl: 147

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Grundwissen Philosophie

Kommunikation

von Dirk Baecker

Philipp Reclam jun. Stuttgart

Wissenschaftlicher Beirat der Reihe Grundwissen Philosophie:Prof. Dr. Hartmut BöhmeProf. Dr. Detlef HorsterPD Dr. Geert KeilProf. Dr. Ekkehard MartensProf. Dr. Barbara NaumannProf. Dr. Herbert SchnädelbachProf. Dr. Ralf SchnellProf. Dr. Franco Volpi

Alle Rechte vorbehalten© 2005, 2012 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., StuttgartReihengestaltung Grundwissen Philosophie: Gabriele BurdeGesamtherstellung: Reclam, DitzingenMade in Germany 2012ISBN 978-3-15-960103-8ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020119-0

www.reclam.de

Inhalt

Der Verdacht

Die ästhetische Fragestellung

Das Geschmacksurteil

Wie ist eine Mitteilung möglich?

Die Sprache

Theologie und Rhetorik

Das Individuum

Schrift und Buchdruck

Paradox der Inkommunikabilität

Die Erfahrung eines Widerstands

Die soziale Dimension

Der Kontext der Kommunikation

Kommunikation als Selektion

Kommunikation als Form

Kommunikation als Differenz

Therapie im System

Medien der Kommunikation

Attribution und Codierung

Zusammenfassung und Ausblick

Anmerkungen

Kommentierte Bibliografie

Schlüsselbegriffe

Zeittafel

Dank

[7]Der Verdacht

Es ist nicht selbstverständlich, im Rahmen einer philosophischen Einführung das Thema Kommunikation zu behandeln. Auf den ersten Blick ist der Begriff der Kommunikation kein philosophischer Begriff. Schaut man auf die klassische Einteilung der Philosophie in Ontologie und Metaphysik, Logik und Erkenntnistheorie sowie Ethik und Ästhetik, wird man vergeblich nach einer Seinslehre, einer Erkenntnislehre oder einer Lehre vom Guten und Schönen der Kommunikation Ausschau halten. Betrachtet man die aristotelische Unterscheidung von theoretischer, praktischer und poetischer Philosophie, gilt für alle drei Felder des Seienden (Mathematik, Physik, Metaphysik), der Veränderung (Ethik, Politik) und des Hervorbringens (Poetik, Ökonomik), dass von Kommunikation in den großen alten Texten der Philosophie keine Rede ist. Oder doch?

Warum das so ist, ist auch ziemlich deutlich. Platons Höhlengleichnis im Dialog Politeia hat auch dies auf den Punkt gebracht: Einsicht in das Wahre, Gute und Schöne kann nur derjenige gewinnen, der sich aus dem Schattenspiel der menschlichen Meinungen befreit und das Licht der göttlichen Erkenntnis gesehen hat. Er stammelt, wenn er, zurückgekehrt unter die Menschen, von seiner Einsicht berichtet. Und findet er schließlich wieder zu Worten, versteht man ihn nicht.

Die alteuropäische Tradition lässt es bei diesem Verdacht bewenden und spricht von Wort und Sache der Kommunikation nur als von einer zwar unerlässlichen, aber höchst unzuverlässigen Bedingung der menschlichen Verständigung darüber, als was diese Welt sich darstellt, wie man sich in ihr verhalten soll und wie man sich daran beteiligen kann, in ihr das Neue ebenso wie das Notwendige immer wieder neu entstehen zu lassen. Das alteuropäische Denken hat ein ontologisches Bias, eine ontologische Schlagseite, die sich letztlich lieber an die Sache und zur Not an die Zeit, das Werden und Vergehen, hält, wenn es darum geht, etwas über die Welt herauszufinden und zu sagen. Das Sagen und Reden selbst gilt als Mittel zum Zweck. Es muss unter Kontrolle gehalten werden, wenn es für diesen Zweck brauchbar sein soll.

Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass das, worauf sich hier der Verdacht richtet, tatsächlich ins Zentrum des Geschehens gehört. Wie soll man Theorie, Praxis und Poetik begreifen, wie soll man verstehen, worauf sie jeweils zielen und was sie dabei auslassen, wenn man nicht berücksichtigt, dass unsere Erkenntnis der Sache sprachlich verfasst ist, dass unsere Politik und Ethik auf eine Form des Streits und der Verständigung zielen, die irgendeine Art des Gesprächs voraussetzen, [9] und dass das ökonomisch oder poetisch Machbare als solches nur überzeugen kann, wenn es Gegenstand unserer Verhandlung sein kann? Wann hätte man je erlebt, dass das Schweigen fruchtbar ist – es sei denn in der Form des Schweigens innerhalb der Kommunikation?

Die Philosophie des 20. Jahrhunderts hat bedeutende Korrekturen an der alteuropäischen Tradition vorgenommen, die nicht zuletzt darauf hinauslaufen, der Sprache einen zentralen Status in jeder Lehre der Erkenntnis einzuräumen. Man weist der Sprache, dem Reden, dem Streit und der Verständigung nach wie vor einen medialen Stellenwert zu, aber man will jetzt wissen, was man von und über dieses Medium selbst wissen kann. Mit Ludwig Wittgenstein (1889–1951) wird die Philosophie Sprachphilosophie, was freilich keine Vereinfachung bedeutet, sondern die Situation schwieriger macht. Denn jetzt muss die Philosophie bei jedem Erkenntnisakt in Rechnung stellen, dass sie in der Sprache zuerst über die Sprache und dann über alles andere nachdenken muss und dass sie dabei voraussetzen muss, was sie herausfinden möchte. Zum Unglück der Philosophen muss man schon reden, schreiben und lesen können, wenn man sich schließlich darauf einlässt, herauszufinden, was das eigentlich ist, was man da schon kann.

Auch deswegen wurde mit Jean Piaget (1896–1980) die entwicklungspsychologische Kindheitsforschung so wichtig. Denn man konnte den Kindern dabei zuschauen, wie wir lernen, was wir schon können. Leider stellte dies keine wirkliche Lösung des Dilemmas dar, weil man in dieser Kindheitsforschung letztlich nur entdeckte, dass wir weder Ahnung davon haben, was im Gehirn der Kinder vorgeht, wenn ihre Mütter und Väter sich über sie beugen und sie schwatzend in die Gesellschaft einführen, noch davon, was Mütter und Väter an sozialen Leistungen voraussetzen müssen, um dies tun zu können. Mit anderen Worten, wenn man beginnt, Kommunikation zu beobachten, stößt man nicht auf einen präzise umrissenen Sachverhalt, sondern auf zwei Endloshorizonte, die [10] Psyche der beteiligten Individuen auf der einen Seite und die Gesellschaft der beteiligten Individuen auf der anderen Seite. Was geht hier vor? Und wie funktioniert, was hier funktioniert?

Wenn man sich die Philosophie des 20. Jahrhunderts zu dieser Frage genauer anschaut, entdeckt man zwei in unserem Zusammenhang interessante Tendenzen. Die eine besteht in einer immer genaueren Durchdringung der Vorläufigkeit aller menschlichen Erkenntnis, aber darüber hinaus auch allen menschlichen Handelns und Sollens. Es ist, als würde man die traditionellen Versuche der Philosophie, die Sache der Welt dingfest zu machen, aufgeben und sich auf die Einsicht einlassen, dass es immer das nächste Wort, der nächste Satz, die nächste Geste ist, die zum einen gegenwärtig noch offen und unbekannt sind, zum anderen jedoch einen Ort, eine Klarheit, einen Ausgangspunkt schaffen werden. Die Philosophien von Jacques Derrida (1930–2004) (etwa: Politik der Freundschaft) oder Stanley Cavell (*1926) (etwa: This New Yet Unapproachable America: Lectures after Emerson after Wittgenstein oder Nach der Philosophie) sind dafür gute Beispiele. Es ist, als würde man die alten Versuche, irgendetwas zu entdecken – einen Gott, eine Natur, ein Schicksal, das uns immer schon bestimmt und dem wir, mehr oder minder unterstützt durch irgendeine Form der Offenbarung, nur noch auf die Spur kommen müssen –, aufgeben und sich stattdessen mit dem Versuch anfreunden, die Welt als eine zu begreifen, in der wir laufend neu und immer wieder im Rückgriff auf uns selbst herauszufinden versuchen, welche unserer Bestimmungen sich bewähren und welche nicht.

Die zweite Tendenz, die man vor dem Hintergrund eines Interesses am Begriff und am Phänomen der Kommunikation entdeckt, hat mit dieser ersten Tendenz viel zu tun, steht aber bislang mehr oder minder unverbunden neben ihr. Sie besteht in der Entwicklung eines sich selbst als »konstruktivistisch« beschreibenden Denkens, in dem neurophysiologische, biologische, kybernetische und epistemologische Überlegungen [11] zusammentreffen, um dieselben Einsichten, die die Philosophie im Ausgang von der Sprachphilosophie beschäftigen, auf eine eher naturwissenschaftliche und mehr und mehr kognitionswissenschaftliche Art und Weise zu behandeln. Hierfür stehen Autoren wie Heinz von Foerster (1913–2002) (vor allem Understanding Understanding: Essays on Cybernetics and Cognition; Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke), Ernst von Glasersfeld (*1917) (Radical Constructivism: A Way of Knowing and Learning) oder Francisco J. Varela (1946–2001) (Ethical Know-How: Action, Wisdom, and Cognition), denen es in den vergangenen Jahrzehnten gelungen ist, die Selbstüberschätzung des Menschen als (neben den Göttern, die man jedoch nur erfunden hat, um sie imitieren und mit ihnen rivalisieren zu können) einziges Subjekt der Welterkenntnis zu korrigieren und mit einem mehr oder minder strengen Blick auf den Begriff der Kommunikation auch Zellen, Organismen, Gehirne, Bewusstseine, Kulturen, Gesellschaften und eventuell intelligente Maschinen als Konstrukteure ihrer Welt zu begreifen, die in einem offenen, also immer wieder neu bestimmbaren, Verhältnis zueinander stehen und sich auf dieses Verhältnis verlassen müssen, wenn sie sich reproduzieren wollen. Der Kommunikationsbegriff1 erhält hier einen vorsichtigen Grundlagenstatus, noch bevor er in der Wissenschaftsphilosophie (Michel Serres, *1931), in der Soziologie (Niklas Luhmann, 1927–1998) und in der Sozialphilosophie (Jürgen Habermas, *1929) zum Grundbegriff wird. Darauf werden wir zurückkommen.

In gewisser Weise kehrt man mit diesen konstruktivistischen Überlegungen zu Positionen der Philosophie der Stoa zurück, die Wert darauf gelegt hat, zwischen Können (téchne, aréte) auf der einen Seite und Wissen (sophía) auf der anderen Seite zu unterscheiden, um im Zweifel für ein Können zu plädieren, auch wenn dies nicht durch ein Wissen gedeckt ist.2 Der Konstruktivismus optiert ähnlich. Gerade weil wir nicht wissen, in welchen physischen, psychischen und sozialen Konstruktionen wir bereits stecken, wenn wir anfangen, über unsere [12] Bedingungen nachzudenken und die eine oder andere Beobachtung zu machen, die uns über diese aufzuklären beginnt, können wir nur dort anknüpfen, wo wir schon etwas können, ohne deswegen zu wissen, was das ist, was wir können. Sprache und Kommunikation sind dafür ein gutes Beispiel. Die erste Entdeckung, die man macht, wenn man danach fragt, was das »ist«, die Sprache oder die Kommunikation, ist, dass man sie offensichtlich beherrscht. Wir sprechen und kommunizieren ja bereits. Wir können Bücher wie dieses nicht nur schreiben, sondern auch lesen, und weder Autor noch Leser verlieren dabei je die Möglichkeit aus den Augen, dass man einen Text jederzeit beiseite legen und sich anderen Dingen zuwenden kann, anderen Kommunikationen, aber auch dem bloßen Leben, dem Träumen, der Beobachtung des Regens.

Für uns stellt sich hier jedoch zunächst die Frage, wie wir die alte Rolle des Verdachts gegenüber dem Sachverhalt der Kommunikation und die neue vorsichtig zentrale Stellung des Kommunikationsbegriffs am Leitfaden philosophischer Überlegungen so nachvollziehen können, dass man beides versteht. Wir arbeiten im Folgenden nicht soziologisch an einer Sozialtheorie der Kommunikation, sondern philosophisch an einer Geschichte der Unruhe, in die das menschliche Nachdenken durch die Beobachtung von Kommunikation – soweit man wusste, was man da beobachtete – geriet. Insofern ist die historische Übersicht, die wir im Folgenden geben wollen, dem Buch Speaking into the Air: A History of the Idea of Communication von John Durham Peters vergleichbar, das mit anderen Akzenten und in größerer Ausführlichkeit darlegt, wie die Geschichte der Entdeckung, Beschreibung und Bewältigung des merkwürdigen Sachverhalts der Kommunikation seit den alten Griechen verlaufen ist. Im Unterschied zu Durham werden wir jedoch von der mathematischen Kommunikationstheorie und den Kognitionswissenschaften nicht absehen, sondern sie als die großen Herausforderungen an einen auch philosophisch nachvollziehbaren Begriff der Kommunikation begreifen.

[13] Wenn man sich an den Dialog Sophistes von Platon erinnert, kommen im Wesentlichen zwei Vorgehensweisen infrage, um sich dem Begriff und Phänomen der Kommunikation anzunähern. Die eine Vorgehensweise macht den Verdacht gegenüber der »bloßen Rede« stark und konzentriert sich auf eine Moral oder Ethik der Philosophie, die andere unterstreicht die Bewunderung, die wir der überzeugenden Rede zollen, und konzentriert sich auf eine Ästhetik der Kommunikation. Diese Einführung legt den Schwerpunkt eher auf die letztere Vorgehensweise, ohne jedoch den Verdacht ganz aus den Augen zu verlieren. Gefragt wird danach, was da gelingt, wenn Kommunikation gelingt, während Versuche der Kontrolle, der Eingrenzung, ja sogar des Schweigegebots (Carl Schmitt) hier nur insofern interessieren, als sie ja ihrerseits gelingen, also überzeugen müssen, wenn sie erfolgreich sein wollen.

Mein soziologischer und insofern empirischer Ausgangspunkt besteht darin, dass man ja allerorten, in der Familie, im Freundeskreis, beim Einkaufen, am Arbeitsplatz, in Politik und Wirtschaft, im Theater und in der Kirche, vor Gericht und im Krieg, beobachten kann, dass Kommunikation vorkommt, gelingt und erfolgreich ist. Empirisch besteht daran kein Zweifel, wie Platon in seinem Lehrgespräch Politeia anlässlich seiner Beobachtung des Lebens der Polis, der Stadt, ja ebenfalls und höchst beunruhigt feststellt: Während die einen darüber nachdenken, worin eine »vernünftige« Ordnung der Gesellschaft bestehen könnte, handeln die anderen im doppelten Sinne des Wortes, das heißt, sie reden und machen Geschäfte miteinander. Und niemand weiß (und jeder befürchtet), ob sie dabei nicht schon wieder durchkreuzen, was die anderen sich gerade erst überlegen. Diese Gleichzeitigkeit eines unübersichtlichen Geschehens ist es ja auch, worauf der Kommunikationsbegriff erst aufmerksam macht. Insofern sieht man mit einem lachenden und einem weinenden Auge, wie sich im Laufe der Geschichte immer wieder neue Schweigebefehle – man denke etwa an den Verfassungslehrer Carl Schmitt (1888–1985) und sein Werk Ex Captivitate Salus: Erfahrungen der [14] Zeit 1945/47 – durchgesetzt haben, mit denen zuerst die Theologen den Zauberern, dann die Juristen den Theologen und schließlich die Ingenieure den Juristen mehr oder minder erfolgreich das Wort verboten haben, damit man wenigstens weiß, wer bei all dem Gerede das letzte Wort hat. Die Kommunikation ist ein so radikal symmetrischer Sachverhalt, dass nahezu jede Asymmetrie willkommen ist, die hier eine gewisse Ordnung herstellt, nicht zuletzt, damit man weiß, an welche Adressen der eigene Widerstand zu richten ist.

Aber der Grund, warum ich mich im Folgenden an die Ästhetik und nicht an die Ethik halten möchte, reicht über das Interesse an Empirie hinaus und betrifft eine Fragestellung, die ich als zutiefst philosophisch wahrnehme. Mit dem Sachverhalt der Kommunikation, so mein Eindruck, den ich mit dieser historischen Skizze belegen möchte, war immer schon eine Differenz zwischen dem Individuum und seinem einsamen Bewusstsein auf der einen Seite und der Gesellschaft und ihrem geselligen Betrieb auf der anderen Seite mitgemeint, die im Konzept der »aisthesis«, der Ästhetik, schon in der Antike auf den Punkt gebracht, aber erst in der Moderne systematisch ausbuchstabiert wird. Die Ästhetik, die Lehre vom sinnlichen Erleben und Empfinden des Individuums und von der Übersetzung des Erlebten und Empfundenen in Wort, Sprache und Mitteilung, entdeckt, dass dieses Erleben und Empfinden eines und ihre Übersetzung etwas ganz anderes ist. Was ein Individuum hört, sieht, riecht, schmeckt, tastet und fühlt, bezeichnet die Welt der Sinneseindrücke. Aber man nehme dieses Individuum und lasse es sich mit anderen über das Wahrgenommene austauschen, und etwas ganz anderes kommt dabei herum. Wie soll ich sagen, aufschreiben oder bebildern, was ich gehört, gesehen, gerochen, geschmeckt, ertastet oder gefühlt habe, ohne dafür Worte, Bilder und Gesten zu finden, die sich ganz anders anfühlen als das, was ich »zum Ausdruck« bringen möchte? Die Lehre von der Ästhetik kommt dem Individuum an dieser Stelle zu Hilfe, indem sie ihm eine Sprache des Schönen und Hässlichen, eine Sprache des [15] Geschmacks zur Verfügung stellt, in der es anderen mitteilen kann, was es erlebt und empfindet, und dabei in Rechnung stellen kann, dass die Mitteilung etwas anderes ist als das Erleben und Empfinden.

John Locke (1632–1704), darauf kommen wir gleich zurück, war der Erste, der diese Einsicht der individuellen Verschlossenheit des Erlebens und Empfindens in aller Deutlichkeit formuliert hat; und Immanuel Kant (1724–1804), auch auf ihn kommen wir gleich zurück, hat daraus die bis heute maßgebende Aufforderung abgeleitet, die Humaniora, die Lehre vom Menschen, im Wesentlichen als eine Lehre, ja sogar als eine Methodenlehre, des Geschmacks zu entwerfen. Das ist nicht nur philosophisch, sondern auch soziologisch interessant, wie Pierre Bourdieu (1930–2002) in seinem Buch Die feinen Unterschiede gezeigt hat. Nirgendwo bestimmen wir uns auch in unserem geselligen, nach Streit und Versöhnung, nach Distanz und Nähe suchenden Verhalten genauer als in dem Geschmack, mit dem wir aufeinander reagieren und dem wir dann sprachlich, gestisch und bildlich einen mehr oder minder deutlichen oder verbrämten Ausdruck geben.

All das bedeutet jedoch, dass uns Begriff und Phänomen der Kommunikation philosophisch vor allem mit Blick auf jene Differenz interessieren, um festzuhalten, dass das körperliche und psychische Erleben des Individuums zwar die Voraussetzung und je nach den Umständen auch das Thema der Kommunikation ist, aber nicht ihr Inhalt. »Wenn du etwas zu sagen hast, tanze es«, lautete die Einladung von Alexis Sorbas in Nikos Kazantzakis’ (1883–1957) gleichnamigem Roman an seinen intellektuellen Freund, womit der Sachverhalt der Differenz auf den Punkt gebracht wird. Dank unseres konstruktivistischen und kognitionswissenschaftlichen Ausgangspunktes können und müssen wir diese Differenz heute ernst nehmen. Wir wissen seit der Neurophysiologie von Johannes Peter Müller (1801–1858), dass das Gehirn ein geschlossen operierendes System ist; wir können uns seit der Bewusstseinsphilosophie von Edmund Husserl (1859–1938) [16] vorstellen, dass das Bewusstsein nicht nur vorbegrifflich, sondern vorsprachlich und damit in der geschlossenen Welt seiner Empfindungen und Vorstellungen operiert; und wir ahnen seit der soziologischen Systemtheorie von Niklas Luhmann, dass man sich auch Familien, Organisationen oder die Gesellschaft als geschlossen operierende Systeme vorstellen kann. Das aber bedeutet, dass der Kommunikationsbegriff, der die ganze Last der Beschreibung unseres sozialen Umgangs miteinander zu tragen hat, zugleich Erklärungen und Beschreibungen liefern muss, die es verständlich und nachvollziehbar (mitteilbar und erlebbar?) machen, dass Individuen aus ihrem »einsamen Seelenleben« (Husserl) heraus dennoch und gerade deswegen genügend Motive finden können, um sich von dem angesprochen zu fühlen, was die Gesellschaft zu bieten hat, und sich an dem zu beteiligen, was die Geselligkeit von ihnen erwartet.

[17]Die ästhetische Fragestellung