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Die Philosophen des deutschen Idealismus – Kant, Fichte, Schelling und Hegel – haben jeweils Auffassungen entwickelt, die als Vorstufen einer Theorie des Beobachters gelten können. Sie gipfeln vor allem bei Fichte in der Vorstellung eines leeren Ichs, das sich genau deswegen auf eine Welt verwiesen sieht. In dieser Welt kommen die theoretische Erkenntnis und das praktische Handeln nie zur Deckung, so dass auch die Beobachtung und der Beobachter nur als Differenz, als Komplexität zu formulieren sind. Für die Kulturtheorie ist das ein Glücksfall, denn sie lebt davon, den Beobachter nicht nur zu anderen Beobachtern, sondern auch zu dem, was er beobachtet, ins Verhältnis zu setzen. Dirk Baecker zeigt mit Hilfe des Formkalküls von George Spencer-Brown, dass dies ein belastbarer Ausgangspunkt ist, um eine Theorie des Beobachters zu formulieren. Aufbauend auf einer originellen Relektüre der Philosophie- und Theoriegeschichte, lässt sich so Kultur als die Anerkennung der Position eines Beobachters unter dem Gesichtspunkt der Kontingenz dieser Position begreifen. Baecker leistet mit diesem Werk nicht weniger als die beeindruckende formale Grundlegung einer soziologischen Theorie der Kultur.
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Seitenzahl: 473
Die Philosophen des deutschen Idealismus – Kant, Fichte, Schelling und Hegel – haben jeweils Auffassungen entwickelt, die als Vorstufen einer Theorie des Beobachters gelten können. Sie gipfeln vor allem bei Fichte in der Vorstellung eines leeren Ichs, das sich genau deswegen auf eine Welt verwiesen sieht. In dieser Welt kommen die theoretische Erkenntnis und das praktische Handeln nie zur Deckung, so dass auch die Beobachtung und der Beobachter nur als Differenz, als Komplexität zu formulieren sind. Für die Kulturtheorie ist das ein Glücksfall, denn sie lebt davon, den Beobachter nicht nur zu anderen Beobachtern, sondern auch zu dem, was er beobachtet, ins Verhältnis zu setzen.
Dirk Baecker zeigt mit Hilfe des Formkalküls von George Spencer-Brown, dass dies ein belastbarer Ausgangspunkt ist, um eine Theorie des Beobachters zu formulieren. Aufbauend auf einer originellen Relektüre der Philosophie- und Theoriegeschichte, lässt sich so Kultur als die Anerkennung der Position eines Beobachters unter dem Gesichtspunkt der Kontingenz dieser Position begreifen. Baecker leistet mit diesem Werk nicht weniger als die beeindruckende formale Grundlegung einer soziologischen Theorie der Kultur.
Dirk Baecker, geboren 1955, studierte Soziologie in Köln, Paris und Bielefeld, u. a. bei Niklas Luhmann. Nach Forschungsaufenthalten an der Stanford University, der Johns Hopkins University und der London School of Economics and Political Sciences war er Professor an der Universität Witten/Herdecke. Seit 2007 ist Dirk Baecker Professor für Kulturtheorie und Kulturanalyse an der Zeppelin University in Friedrichshafen.
Zuletzt erschienen: Organisation und Störung. Aufsätze (stw 2012), Studien zur nächsten Gesellschaft (stw 1856),
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Textgrundlage dieses eBooks ist die 1. Auflage der gedruckten Version gleichnamigen Titels.
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
© Suhrkamp Verlag Berlin 2013
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Satz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn
Vorwort
Das Wissen der Beobachter
Die Form
Arithmetik
Algebra
Wiedereintritt
Kalküle
Eine Frage der Form
Die Idee
Die Skepsis
Das Subjekt
Das System
Schwierigkeiten mit der Negation
Die Implikation
Der Widerstreit
Die Handlung
Die Ungewissheit
Die Technik
Eine Archäologie der Medien
Ökologien
Symbole
Medien
Dies ist ein Buch über nichts. Es handelt von keinem bestimmten Gegenstand, versucht seinem Leser keine besonderen Meinungen nahezulegen und enthält keine Einladung, sein Leben zu ändern. Stattdessen ist es eine Übung. Es ist eine Übung in Kulturtheorie, wenn Kulturtheorie heißen darf, den Blick dafür zu öffnen, dass unsere Beobachtung der Welt nicht unbeeinflusst von anderen Beobachtern ist, die die Welt anders beobachten. Das gilt unter Menschen, die gelernt haben, mit kultureller Diversität zu rechnen. Und es gilt im Verhältnis zu Körpern, Gehirnen, Bewusstsein, sozialen Systemen und künstlich intelligenten Maschinen und Algorithmen, deren Eigensinn zu respektieren jede Kulturtheorie fordert und jede Kulturkritik nicht bedingungslos akzeptiert. Wie wir Menschen die Welt beobachten, ist durch dieses Verhältnis zu anderen Menschen und weiteren Beobachtern bereits vielfach konditioniert, bevor wir beginnen, darauf aufmerksam zu werden, dass wir Beobachter sind und die Wahl haben, mithilfe welcher Unterscheidungen wir die Welt und uns beobachten.
Wie sich herausstellen wird, sind Beobachtungen von Beobachtern nur kulturell angemessen zu berücksichtigen, wenn man lernt, ihre und unsere Negationen positiv in Rechnung zu stellen. Das heißt nicht, dass wir jede Negation begrüßen müssen, aber es heißt, dass wir die Beweglichkeit begrüßen können, die wir mithilfe von Negationen gewinnen.
Die Übung dieses Buches benennt, zählt und ordnet weder uns noch die Beobachter, mit denen wir es zu tun haben. Stattdessen entwirft sie eine Theorie des Beobachters, die die Bedingungen nennt, unter denen er oder sie oder es sich an den Spielen und Intrigen der Welt beteiligen kann. Diese Theorie hat Heinz von Foerster gefordert, um in der Lage zu sein, die Konsequenzen aus den Entdeckungen der Ideologiekritik, der Relativitätstheorie, der Quantenphysik, den Philosophien des Bewusstseins und der Spra10che, der Psychoanalyse und der gödelschen Mathematik ziehen zu können. Und das Formkalkül von George Spencer-Brown ist der gegenwärtig am weitesten entwickelte Ansatz, dieser Forderung nachzukommen. Doch in der Luft liegt diese Theorie spätestens seit Kant seine Kritik der Vernunft als eine Erkenntniskritik zur Überwindung der ontologischen Wahrheitsprämissen der alteuropäischen Metaphysik geschrieben hat und Fichte und Hegel daraus eine Philosophie der leeren Selbstreferenz und der unendlichen Rekursion der Form abgeleitet haben.
Unsere Übung versucht nicht, eine Geschichte der Theorie des Beobachters zu erzählen. Dazu hätte ich weiter ausholen und ausführlicher kontextualisieren müssen. Stattdessen versuche ich, so nah wie möglich an einem qualitativen Verständnis von Mathematik zu bleiben und die Theoreme zu sammeln, die sich für eine Theorie des Beobachters als hilfreich erweisen. Das Stichwort der Übung ist insofern ernst zu nehmen, als es sich bei diesem Buch um ein Arbeitsbuch handelt. Es lädt zu Anwendungen ein, die es selbst nicht versucht. Es lädt zur Ergänzung weiterer Theoreme, auch zu Hinweisen zum besseren Verständnis der ausgewählten Theoreme und nicht zuletzt zu einer schärferen Umsetzung dieser Theoreme in mögliche Modelle und Formalismen ein, die es selbst noch nicht leistet. Für mich persönlich markiert das Buch eine Schwelle, jenseits derer nur noch die Anwendung weiterführt.
Überraschend ist für mich, wie nahtlos sich Spencer-Browns Kalkül in die Tradition der Philosophie des deutschen Idealismus einfügen lässt, ohne sich dieser an irgendeinem Punkt unterwerfen zu müssen. Überraschend ist für mich auch, wie leicht es fällt, das Verhältnis von Kulturtheorie und Gesellschaftstheorie neu und zugleich im Einklang mit wichtigen Motiven der Tradition zu bestimmen, wenn man sich auf einen Begriff der Negation einlässt, der die Negativität nicht zweiwertig in ihrer Bewegung stoppt, sondern reflexiv in ihre Bewegung entfaltet. Mithilfe von Gotthard Günthers Beiträge(n) zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik (so der Titel einer dreibändigen Sammlung seiner Aufsätze) ist es überdies möglich, den von Aristoteles bis Hegel eher 11unklaren Begriff der Bewegung durch ein Verständnis der Vernetzung und Verschaltung von Unterscheidungen innerhalb einer Form zu ersetzen. Von Günther stammt auch der nur selten aufgegriffene Hinweis auf die Möglichkeit, sich neben Positivsprachen auch Negativsprachen vorzustellen, die den Akzent nicht auf Ontologien, sondern auf Reflexionen legen.
Nicht ganz so überraschend ist, dass die soziologische Theorie in dieser Übung vor allem dort zu ihrem Recht kommt, wo sie explizit diagrammatisch vorgeht, wie im Fall von Talcott Parsons, explizit mit Unterscheidungen und deren Formen rechnet, wie im Fall von Niklas Luhmann, und explizit mit der Ungewissheit rechnet, die sich aus dem freien Spiel mit dem Wechsel und der Reinterpretation von Unterscheidungen im Netzwerk der Unterscheidungen ergibt, wie im Fall von Harrison C. White.
Ursprünglich hatte ich dieses Buch geplant, um in einem quasi-mathematischen Modus zu beweisen, dass das Soziale, wo auch immer es auftritt, seine Form ausschließlich im Medium einer selbst geschaffenen Kontingenz gewinnt. Und ich hatte angenommen, dass für den Gewinn der Form und die Produktion der Kontingenz ein einziger Mechanismus ausreicht, nämlich die Einführung des Beobachters als Beobachter. Denn Beobachter sind immer nur doppelt und damit uneindeutig zu bestimmen: objektiv durch die Beobachtungen, mit denen sie aufwarten, und subjektiv durch die Setzungen der Unterscheidungen, denen sie ihre Beobachtungen verdanken. Nimmt man hinzu, dass Beobachter nur durch Beobachtungen identifiziert werden können, die auf die Unterscheidungen des Beobachters zurückgerechnet werden können, der sie vornimmt, liegt auf der Hand, dass der Beweis damit schon fast vollbracht ist. Denn damit werden die objektiven Beobachtungen ihrerseits subjektiviert und wird das Subjekt, auf das man zurechnen will, ungreifbar.
Das Buch enthält einige Spuren der Absicht dieses Beweises, aber es erfüllt sie nicht. Ich will sie jedoch nicht verheimlichen, denn möglicherweise fällt der Zugang zur Übung etwas leichter, wenn man um sie weiß. Vielleicht ist auch der hier nicht gelungene Beweis zugleich ein Beleg dessen, was bewiesen werden sollte. 12Jedenfalls fasziniert mich die Idee, einen Unmöglichkeitsbeweis sozialer Eindeutigkeit vorlegen zu können, weil dieser Beweis meines Erachtens den Umgang mit der Komplexität der Gesellschaft von irreführenden Erwartungen entlasten würde. Ich vermute jetzt, nach Abschluss des Buches, dass der von mir gewünschte Beweis ausgerechnet von jener Kultur tagtäglich und überaus praktisch erbracht wird, die man so gerne zu den freiwilligen Leistungen einer Gesellschaft rechnet.
Auch deswegen ist dies eine Übung zur und in Kulturtheorie. Sie erlaubt es mir, dank der in jede Kulturtheorie spätestens seit Pufendorf, Vico, Rousseau und Herder eingebauten Multireferentialität auf Zustände des Bewusstseins, des Körpers und der Gesellschaft (die sich wechselseitig glücklich und unglücklich machen können, wie man seit Rousseau formulieren kann) einen gleichsam ökologischen Ansatz zu einer Formtheorie zu verfolgen, die auf keine sachlichen, zeitlichen oder sozialen Präferenzen und Prioritäten vorab festgelegt ist. Expliziert man diese Kulturtheorie überdies im Rahmen einer Theorie des Beobachters, kann man sehen, dass der Kulturbegriff in den vergangenen Jahrzehnten auch deswegen so diffus geworden ist, weil er sich nicht etwa mit der Zurechnung auf eine Diversität menschlicher Kulturen überfordert, sondern mit der Verweigerung der Entfaltung seiner ökologischen Multireferentialität unterfordert hat. Kultur lässt sich nicht im Unterschied zu Natur, Technik oder Gesellschaft bestimmen, und dies schon gar nicht, um dann in diesen Unterschied den mit sich befriedeten und zu seiner wahren Bildung berufenen Menschen einzuhängen. Sondern Kultur ist der Umgang mit Natur, Technik und Gesellschaft im Widerstreit zu deren jeweils allzu positiven Bestimmungen. Sie ist selber Natur, Technik und Gesellschaft, jedoch als deren Negativität und damit immer in einer begrenzten Reichweite. Kennzeichen des kultivierten Menschen ist nicht dessen Einklang mit sich selbst, sondern dessen reflexive, um nicht zu sagen rebellische Unruhe.
Die kulturelle Geste verlangt, dass man die Beobachter auf sich beruhen lässt und nur mit ihren Beobachtungen rechnet. Das er13laubt es uns, ebenfalls eher implizit als explizit jenen Humanismus zu korrigieren, der ebenso emanzipativ wie entzaubernd nur noch menschliche Beobachter zählt und Geister, Götter und Teufel aus deren Universum vertreibt. Das hatte sicherlich den Vorteil, dass Stellen frei wurden, die von der Gesellschaft und ihrer Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Erziehung (die Religion hatte das Nachsehen) sowie vom Unbewussten und Über-Ich des menschlichen Bewusstseins besetzt werden konnten, aber es hatte zugleich den Nachteil, dass außer den Menschen und ihren Verhältnissen niemand mehr vorkam. Versprechen und Drohung einer künstlichen Intelligenz zwingen uns, diese Position zu korrigieren; und wir tun es gerne, denn so kommen auch Tiere, Pflanzen und Bakterien, Institutionen, Techniken und Praktiken, Ideen, Mythen und Geschichten als mögliche Beobachter eigenen Typs in den Blick. Wie gesagt, wir werden sie in diesem Buch weder auflisten noch einkreisen noch bestimmen. Wir belassen es bei der kulturellen Geste. Wir sind sie Beobachtern schuldig, denen in der Erziehung, in der Seelsorge, in der Therapie, im Sport und in der Liebe, in der Pflanzenzucht und Viehzucht nicht immer getreu jenen Standards begegnet wird, wie sie unter Pferdeflüsterern und Küheverstehern üblich sein mögen.[1]
Diese Geste gilt im Übrigen auch gegenüber Autor und Leser dieses Buches. Auch sie sind Beobachter, die nur an ihren Beobachtungen zu fassen sind. In welchem Zustand eines träumenden Bewusstseins, einer wachen Aufmerksamkeit, eines unbestimmten Gefühls, einer vertretbaren Meinung, eines ausgearbeiteten Textes, einer politischen Entscheidung, einer religiösen Hoffnung, eines wirtschaftlichen Interesses, eines ästhetischen Stils, einer pädagogischen Absicht oder einer wissenschaftlichen Disziplin dieser Text zustande gekommen ist und gelesen wird, wer will das wissen?
An unseren Beobachtungen werden wir kenntlich. Das bedeutet für mich nicht zuletzt, dass ich mich bei einigen Adressen be14danken möchte, ohne die ich weder den Anlass noch die Geduld noch die Gelegenheit gehabt hätte, mich einigermaßen ausführlich mit Fragen der Kultur zu beschäftigen. Freunde in Berlin, vor allem Carlo Barck und Anselm Haverkamp, wiesen mich Mitte der 1990er Jahre darauf hin, dass es an der Zeit sei, die Bielefelder Aversion gegenüber jeglichem Kulturbegriff zu überwinden oder zumindest ihren Gründen auf die Spur zu kommen. Ohne diesen Anstoß hätte ich nicht entdeckt, dass die Diffusität des Kulturbegriffs sein theoretisches Potenzial ebenso sehr verdeckt wie in sich trägt. Redakteure in den Kulturredaktionen von Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehanstalten, vor allem Jochen Greven, Thomas Zenke, Aurel Schmidt, Karl Schmitz, Hanspeter Krüger, Brigitte Granzow, Axel Schnorbus, Peter Kemper, Stephan Krass, Ingo Arend, Harry Nutt, Volker Panzer, Gert Scobel, Dirk Knipphals, Uwe Justus Wenzel und Christoph Heim, betrauten mich mit Feuilletons, ohne dass ich recht gewusst hätte, welche Perspektive ich dabei jeweils einnahm. Fernsehgespräche mit Alexander Kluge und Roger de Weck brachten mir nahe, dass es auf dieses Wissen auch nicht unbedingt ankommt. Umgekehrt verdanke ich Heiner Müller, Carl Hegemann und Freunden und Bekannten am Theater die Einsicht, dass eine Betrachtung von Organisation und Management im kulturellen Gegenlicht wiederum für Künstler interessant sein kann.
Kollegen an der Universität Witten/Herdecke, vor allem Elmar Lampson, Dirk Rustemeyer, Angela Martini, Jörn Rüsen, Matthias Kettner und Ingo Reihl, gaben mir die Gelegenheit, darüber nachzudenken und es auszuprobieren, wie eine Fakultät für Kulturreflexion auszusehen hätte. Die Studierenden, die sich mit uns auf dieses Experiment eingelassen haben, haben unsere Ideen nicht nur ausgebadet, sondern mit ihrer Neugier, ihrem Einspruch und ihrer Ungeduld erheblich vorangetrieben. Schon zuvor hatten andere Kollegen an der Universität Witten/Herdecke, vor allem Michael Hutter, Birger P. Priddat und Michael Bleks, den Eindruck, dass eine soziologische Perspektive auf einem betriebswirtschaftlichen Lehrstuhl, der sich in der Kooperation mit der Bertelsmann AG mit Fragen der Unternehmenskultur beschäftigt, nicht 15schaden könne. Schon hier stellte sich in der Arbeit mit Studierenden im Unternehmen heraus, dass es schwerfällt, einem Management zu erklären, dass Maßnahmen der Unternehmenskultur wegen ihres normativen Charakters dann wirken, wenn sie nicht wirken. Mit Mathias Riepe, Athanasios Karafillidis und Studierenden konnte ich in weiteren Forschungs- und Beratungsprojekten die Einsicht vertiefen, dass Unternehmen ein mehr als gespanntes Verhältnis zur kulturellen Thematisierung ihrer Organisation unterhalten.
Mit Rudi Wimmer und Fritz B. Simon konnte ich das Management Zentrum Witten gründen, um auch in Management und Beratung die Denkfigur des Zusammenhangs des Unterschiedenen auszuprobieren. Immer wieder konnten wir feststellen, dass die Fähigkeit vieler Organisationen, Negativsprachen des Sortierens von Beobachtern und Beobachtungen zu praktizieren, nur von ihrer Fähigkeit übertroffenen wird, sich den Zugang zu dieser Praxis auf der Ebene der Reflexion zu versperren. Wolfram und Martin Burckhardt konzipierten mit mir zusammen einen Buchtitel für eine Aufsatzsammlung, Wozu Kultur?, deren Wozu auch für weitere Aufsatzsammlungen den Versuch auf den Punkt brachte, Positivsprachen und Negativsprachen ineinander zu verschränken. Bei meiner Neurodermitis bedanke ich mich nicht wirklich, aber dass sie als eine mir immer anschauliche Negativsprache auf der Ebene des Organismus zu verstehen ist, ist kaum zu bezweifeln.
Ueli Mäder gab mir an der Universität Basel die Möglichkeit, am Leitfaden des Formkalküls eine Vorlesung über die Kulturtheorie zu halten. Und Kollegen an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen, vor allem Karen van den Berg, Nico Stehr und Stephan Jansen, haben aus bis heute nicht geklärten Gründen Vertrauen in die Entscheidung, dass ein Lehrstuhl für Kulturtheorie und -analyse meine Arbeit fördern und zugleich der Universität nützen könne. Ohne dieses Vertrauen hätte ich vielleicht doch meine Zeit dazu genutzt, mich darauf einzulassen, einen Weg zu suchen, den Formkalkül in einem Computerprogramm zu implementieren. Gut möglich allerdings, dass das gar nicht 16geht.[2] Jochen Greven und Carlo Barck sind in diesem Jahr verstorben. Ich widme das Buch ihrem Andenken.
Basel, im Dezember 2012
[1] Siehe zu Letzterem Martin Ott, Kühe verstehen. Eine neue Partnerschaft beginnt, Lenzburg: Faro im Fona Verlag 2011.
[2] Online sind zwei Versuche zu finden, Spencer-Browns Begriff der Form in die Programmiersprache Haskell beziehungsweise in eine der Wolfram-Formen zu übersetzen, siehe sigfpe, »Laws of Form: An Opinion«, <blog.sigfpe.com/2006/06/laws-of-form-opinion.html>, June 28, 2006; und Michael Schreiber, »Computational Equivalence: Spencer-Brown Form 110«, <www.wolframscience.com/conference/2004/presentations/material/mschreiber-computational.nb> (Folie 2); Eric W. Weisstein, »Spencer Brown Form«, MathWorld. A Wolfram Web Resource
Beobachte Beobachter.
Nenne Kultur die Anerkennung der Position eines Beobachters unter dem Gesichtspunkt der Kontingenz dieser Position.
Nenne Gesellschaft den Anlass, die Art und Weise und das Ergebnis der Auseinandersetzung dieser Beobachter um ihre Position zueinander.
Nenne Wissen jeden Einsatz innerhalb dieser Auseinandersetzung. Nenne Nichtwissen das Wissen um ein Nichtwissen.
Unterscheide Beobachter anhand der Unterscheidungen, die sie treffen.
Unterscheide zwischen drei Möglichkeiten, eine Unterscheidung zu treffen. (1) Beobachter können Unterscheidungen wiederholen; Unterscheidungen werden dadurch bestätigt und dank dieser Bestätigung entweder selbstverständlich oder auffällig. (2) Beobachter können Unterscheidungen kreuzen und sich so die Möglichkeit eröffnen, eine neue Unterscheidung zu treffen. (3) Beobachter können Unterscheidungen in den Raum der Unterscheidung wieder einführen und auf ihre Form hin beobachten.
Nenne Form im Anschluss an George Spencer-Brown (a) die Innenseite einer Unterscheidung zusammen mit (b) ihrer Außenseite, (c) der Teilung zwischen den beiden Seiten und (d) dem Raum, der von der Unterscheidung hervorgerufen und in Anspruch genommen wird. Nenne Form die Einheit der Differenz von Disjunktion und Konjunktion: eine Komplexität.
Nenne Form deine Unterscheidung der Unterscheidung eines Beobachters.
Nenne die Markierungen der Innenseite, der Außenseite, der Teilung und des Raums der Unterscheidung im Hinblick auf die Möglichkeit ihrer Variation das Medium der Unterscheidung. Medien koppeln die Elemente einer Unterscheidung lose, das heißt 18als Möglichkeit, während Formen dieselben Elemente fest koppeln, zur Wirklichkeit einer Form. Medien können nur anhand von Formen beobachtet werden.
Beachte, dass auch der Beobachter nur anhand von Formen beobachtet werden kann. Nichtidentisch mit der Innenseite, der Außenseite und dem Raum der Unterscheidung, die er trifft, ist er ausschließlich mit der Teilung der beiden Seiten und damit mit der Operation, dem Vollzug der Unterscheidung zu identifizieren. Er ist mit dem, was er einschließt und ausschließt, sowie mit dem Raum, den er besetzt, auch für sich selbst verwechselbar und behält doch gegenüber all dem die Freiheit, jederzeit eine andere Unterscheidung zu treffen.
Die Beobachtung ist eine Handlung, die sich dem Zugriff auch des Beobachters entzieht. Aber er trifft mit seinen Beobachtungen Unterscheidungen; und an diese Unterscheidungen können andere Beobachter anknüpfen oder von ihnen absehen. Die Beobachtung zweiter Ordnung inklusive der Selbstbeobachtung des Beobachters tritt an die Stelle eines direkten Zugriffs auf die Welt.
Nenne Wissen eine Handlung, die eine Unterscheidung als einen Zusammenhang entfaltet.
Wissen ist Wissen von Beobachtern. Es ist das Ergebnis einer Bezeichnung im Rahmen einer Unterscheidung im Kontext einer Form. Während Beobachter erster Ordnung tun, was sie tun, beobachten Beobachter zweiter Ordnung sie im Hinblick auf ein Wissen, das abhängig von anderen Bezeichnungen im Rahmen anderer Unterscheidungen für den Beobachter zweiter Ordnung ein anderes wäre, obwohl der Beobachter erster Ordnung nach wie vor nur tut, was er tut, auch wenn er jetzt etwas anderes tut.
Wissen ist ein Wissen von der Form in der Form.
Das Formkalkül von George Spencer-Brown, entwickelt, um die Boolesche Algebra auf einen Operator zu reduzieren und zu19
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