König der vier Weltgegenden - Band 1 - Ari Tur - E-Book

König der vier Weltgegenden - Band 1 E-Book

Ari Tur

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Beschreibung

Band 1 der Romanserie König der vier Weltgegenden mit dem Untertitel Der Blaue Fuchs basiert zu großen Teilen auf den Erlebnissen des Autors Ari TUR, der viele Jahre lang als Archäologe in der syrischen Wüste arbeitete. Während einer Rundreise durch Syrien im Jahr 2010 trifft er in Damaskus unverhofft auf seinen alten Widersacher, einen Grabräuber, der als Der Blaue Fuchs bekannt ist. Seine Mitreisenden drängen Ari mehr über seine erste Begegnung mit dem rücksichtslosen Ganoven und dem Leben unter Beduinen zu erzählen. Ari berichtet von der Entdeckung eines assyrischen Palastes aus dem 13. Jahrhundert vor Christus, in dem die Archäologen auf ein Tontafelarchiv stoßen. Doch auch der Blaue Fuchs erhält Kenntnis von dem sensationellen Fund. Ari macht sich daran, gemeinsam mit seinem Freund Abdallah die unersetzlichen Keilschrifttafeln zu verteidigen. Bei der Entzifferung der uralten Texte, stoßen die Wissenschaftler auf Nachrichten aus dem längst untergegangenen Assyrer-Reich, dessen Herrscher nur ein Gedanke beseelt: Er möchte noch zu Lebzeiten den altorientalischen Ehrentitel König der vier Weltgegenden erlangen. Doch der Blaue Fuchs lauert auf seine Chance, um in den Besitz der uralten Schriftzeugnisse zu kommen.

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Abdallah, dem Wächter von Tell Chuēra, zugeeignet.

Mögest du und die Deinen bald wieder in Frieden leben!

Inhaltsverzeichnis

Vorrede

Rückkehr ins Paradies

Der Duft des Orients

Die Spur des Apostels

Der Blaue Fuchs

Rückkehr nach Mesopotamien

An den Ufern des Euphrats

Der Wächter

White Christmas

Vater der Scherben

Das sündige Klo

Nagelbriefe.

Post aus Assyrien

Grabräuber und Raubgräber

Die Stunde des Werwolfs

Mein Haus ist dein Haus!

Im Souk von Aleppo

Der Brief des Wüstensohns

Der ›König der vier Weltgegenden‹

Anleitung beim Lesen arabischer Umschrift

Arabische Wörter und Begriffe.

Abbildungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Stichwortverzeichnis

Tukulti-Ninurta I. (1233 – 1197 v. Chr.) – König der vier Weltgegenden Zeichnung von Vlad Hnatovskiy

1. Vorrede

Im Mai 2010 besuchte ich zum letzten Mal den Vorderen Orient. In Begleitung von Freunden und meiner Familie unternahm ich eine Rundreise durch Syrien und den Libanon. Für mich persönlich war es die Heimkehr an meine frühere Wirkungsstätte, denn in Syrien hatte ich zuvor viele Jahre lang als Archäologe gearbeitet. Diese Zeit hat mich mit dem Land, vor allem aber mit den Menschen, die in der Jezirah, der Wüstensteppe zwischen Euphrat und Tigris im Nordosten Syriens leben, aufs engste verbunden. Als ich meinen Reisegefährten von den zuweilen skurrilen Erlebnissen unter Beduinen berichtete, bestärkten sie mich, diese Geschichten niederzuschreiben. Ein halbes Jahr nach unserer Rückkehr brach in Syrien der Bürgerkrieg aus. Das Land, in dem die großen Religionen und zahlreiche Ethnien friedlich nebeneinander existierten, wurde innerhalb kürzester Zeit in ein unmenschliches Chaos gestürzt. Hilflos musste ich zusehen, wie meine zweite Heimat Syrien in einem Meer von Blut und Gewalt versank. An diesem Punkt der Machtlosigkeit reifte der Entschluss, dem Land und seinen wunderbaren Menschen ein literarisches Andenken zu widmen.

Der archäologische Roman ›König der vier Weltgegenden‹ besteht aus mehreren Teilen. Band 1 – ›Der Blaue Fuchs‹ – spielt im modernen Syrien und verwebt Fiktives mit Begebenheiten, die ich als Archäologe tatsächlich erlebt habe. Beim Schreiben wurden plötzlich aus Freunden, mit denen ich über mehrere Jahre hinweg in der syrischen Wüste gearbeitet hatte, Romanhelden. Die Figuren an tatsächlich lebende Menschen anzulehnen, war eine ganz besondere Herausforderung. Die Namen der handelnden Personen wurden teilweise abgeändert.

Ab Band 2 entführe ich die Leserschaft in die Zeit der Assyrer des ausgehenden 13. Jahrhunderts vor Christus. Die Story basiert auf Keilschrifttafeln, die ich selbst mit meinem Team in einem assyrischen Palast ausgegraben habe. Die Texte wurden von meinem Freund und Studienkollegen Dr. Stefan Jakob aus Heidelberg vorzüglich bearbeitet und bilden den Grundstock der Erzählung um den assyrischen Herrscher Tukulti-Ninurta I. (1233 – 1197 v. Chr.), der sich zum König der Welt erhob und dabei das damalige Syrien seinem Großreich einverleibte.

Den Mitgliedern der ›Autorengruppe Schreiberberg‹ in Saarbrücken danke ich für die kritische Auseinandersetzung mit dem Stoff des vorliegenden Romans. Besonderer Dank gebührt Barbara Würtz, Marita Krächan, Barbara Ninnemann und Camelo Di Martino, Lothar Schwarz und Ingrid Kampschulte, die das Manuskript von Band 1 aufmerksam gelesen und mit ihren Anmerkungen versehen haben. Der Autor ist natürlich für den Inhalt des Buches alleine verantwortlich.

Besonderes Lob gebührt denjenigen, die die Zeichnungen der Romanfiguren beisteuerten. Die syrische Künstlerin Fatima Hamido porträtierte u.a. den ›Blauen Fuchs‹, Vlad Hnatovskiy, Spezialist für ›Digital Art‹, fertigte nicht nur zahlreiche Skizzen nach Fotos an, sondern entwarf und kolorierte auch die Cover der Romanserie.

Ohne meine Familie, vor allem aber ohne meine Frau Karin, die dem Orient genau so verfallen ist wie ich selbst, wäre dieser Roman niemals zustande gekommen. Sie ist die Triebfeder meines Lebens, die mich immer wieder ermutigt, die Romanserie zu vollenden.

Das letzte Wort sollte denjenigen gewidmet sein, die durch die schrecklichen Ereignisse in Syrien ihre Heimat verloren haben. Meine Gedanken sind bei den Einwohnern des Ortes Tell Chuēra in Nordost-Syrien, die schutzlos der Willkür brutaler Mächte ausgesetzt sind. Möge bald wieder Friede mit euch sein!

Im Januar 2020

2. Rückkehr ins Paradies

Die schmale Straße windet sich den Berg hinauf und mündet in sanftem Anstieg am Eingangsportal zu Schloss Halberg. Hoch über der Stadt Saarbrücken erhebt sich das majestätische Bauwerk, als ob es auf die Ankunft des Fürsten von Nassau-Saarbrücken warten würde. Es könnte ihm heute nur noch verkünden, dass das von ihm erbaute Renaissance-Palais schon längst zerstört unter den Mauern des heutigen Schlosses begraben liegt. Vor dem Haupthaus im neugotischen Stil breitet sich ein ausladendes Torgebäude aus rötlichem Sandstein aus, dessen Portal den Besucher wie ein weit aufgerissenes Maul empfängt. Abwehrend, fast drohend öffnet sich dieser Schlund. Darüber das Dach aus schwarzen Schieferschindeln, das wie ein dunkler Schatten auf dem Gebäude lastet. Doch heute legt sich der Schimmer der frühen Morgensonne auf das Gemäuer und verjagt die Düsternis, die neugotische Bauwerke auszustrahlen pflegen.

Wie gewöhnlich nimmt Ari den Fußweg durch das rechte Seitentor, das den Haupteingang flankiert. An der Pforte fällt sein Blick auf ein Rinnsal, das sich zur Straße schlängelt. Im Kreuzgratgewölbe des Torbaus hat sich über Nacht der Tau gesammelt. Dieser rinnt nun in feinen Tropfen wie an einer unsichtbaren Perlenschnur zu Boden. In der Pfütze spiegelt sich die Morgensonne. Ari steigt darüber, bedacht, das Zusammenspiel von Natur und Mauerwerk nicht zu stören. Er hastet vorbei an der massiven Holztür zu seiner Rechten, deren verschnörkelte Eisenbeschläge in lilienförmigen Ranken enden. Dahinter liegt ein winziger Raum, gerade groß genug, um einem Wächter Unterschlupf zu gewähren. Von dort aus kann man durch ein vergittertes Fensterchen jeden beobachten, der das Tor passieren möchte. Heute ist diese Tür verschlossen. Niemand späht mehr aus dem Guckloch.

Auf dem Weg zur Arbeit folgt Ari dem Fußweg durch das Eingangsportal. In den letzten zwanzig Jahren ist ihm der Blick auf die Schönheit, die ihn umgibt, verloren gegangen. Wie ein Roboter steuert er auf den Vorplatz von Schloss Halberg zu. Dann stockt sein Schritt, und er hält für einen kurzen Augenblick inne. Irgendetwas liegt in der Luft. Ari fühlt sich plötzlich von seiner Umgebung magisch angezogen wie beim ersten Besuch – damals im März 1994. Schloss Halberg lag vor ihm wie eine Sphinx. Majestätisch dahingebettet in die Grünanlagen des Parks, umgeben von Bäumen so hoch wie Riesen. Eine mystische Märchenlandschaft, eine Traumwelt, verborgen hinter dem Torgebäude. In jedem Augenblick konnte eine Märchengestalt an einem der hohen Fenster erscheinen. Wenn Bram Stoker heute hier zu Besuch käme, würde ihn der morbide Charme dieses Anwesens mit Sicherheit dazu verleiten, eine Fortsetzung seiner Vampirgeschichte ›Dracula‹ zu entwerfen! Schloss Halberg umgibt eine rätselhafte Aura. Vor allem im Spätherbst, wenn die mächtigen Bäume des Schlossparks ihre meterlangen, unbelaubten Äste wie dürre Arme nach dem Bauwerk ausstrecken. Aber an diesem Oktobermorgen ist alles anders! Die Sonne hat sich gerade erhoben und begrüßt Ari mit einem hellen Bündel wärmender Strahlen. Vom gleißenden Schein geblendet, kneift er die Augen zusammen. In schrägem Winkel fällt das Sonnenlicht auf die Fassade des Schlosses. Die gelblichen Kalksteinquader der Außenfassade reichen bis zu den Zinnen der beiden Türme, die den Südflügel begrenzen. Dort, unter Dächern, die an die spitzen Hüte von Zauberern erinnern, liegt Aris Büro. Er lenkt seine Schritte zum Haupteingang, den eine Balustrade überdacht, die von zwei dorisch anmutenden Säulen gestützt wird. »Dornröschenschloss!«, denkt Ari beim Griff nach der klobigen Türklinke. Das schwere Tor quietscht in den Angeln. Am Ende der Eingangshalle windet sich eine breite Steintreppe hinauf zum zweiten Stock. Als er sein Büro betritt, strömt ihm ein eigenartiger Duft entgegen. Das Fenster steht nur einen Spalt weit offen. Ein betörendes Aroma hat sich den Weg ins Innere gebahnt. Über die süß-herbe Mischung aus Blumen und Blüten hat ein modriger Geruch sein unsichtbares Netz geworfen. Er entströmt den feuchten Efeuranken, die an Aris Bürofenster entlang bis zur Dachrinne wuchern. Fernab der umtriebigen Innenstadt Saarbrückens gedeiht rund um Schloss Halberg ein wahrer Feengarten.

Ari atmet noch einmal tief ein, bevor er sich der Arbeit zuwendet. Der Computer startet. Zunächst müssen E-Mails beantwortet werden, die sich über Nacht aufgestaut haben. Kaum ist die erste Antwort versendet, klingelt das Telefon. Bevor Ari den Hörer abnimmt, fällt sein Blick wie gewohnt auf das Display des digitalen Telefonapparats. Neben dem Datum, ›Montag, 19. Oktober 2009‹,wird in schmalen Lettern der Name des Anrufers angezeigt: ›Kudy / HF-Nachrichten‹. Er wundert sich, dass sein Kollege aus der Zentrale der Hörfunk-Nachrichten des Saarländischen Rundfunks sich schon so früh bei ihm meldet. Mit Michel Kudy verbindet ihn eine jahrelange Freundschaft. Ihre große Leidenschaft ist der Orient, vor allem das Land Syrien hat es ihnen angetan. Ari hat dort sechzehn Jahre lang als Archäologe gearbeitet, bevor er zum Rundfunk wechselte. Michel studierte an der Universität in Damaskus und lernte dort auch seine Frau Yassma kennen. Kein Wunder also, dass das Thema ›Syrien‹ immer im Mittelpunkt ihrer Unterhaltung steht.

»Guten Morgen Michel, schon lange nichts mehr von dir gehört!«, begrüßt Ari seinen Freund.

»Hallo Ari – gut, dass ich dich erreiche!« Michel klingt aufgeregt, weshalb Ari gleich nachhakt:

»Was ist denn los? Ist etwas passiert? Habt ihr schlimme Nachrichten bei euch im Newsroom? Hoffentlich keine Hiobsbotschaft aus Syrien!«

Michel wiegelt sofort ab: »Nein, nein! Ganz im Gegenteil! Der Orient lebt auf. Junge Araber – vor allem aus Nordafrika – setzen sich verstärkt für Demokratie in ihren Heimatländern ein. Wir beobachten in der Nachrichtenzentrale eine deutliche Zunahme von zum Teil sehr kritischen Beiträgen auf den sozialen Plattformen im Internet. Das wäre noch vor einem Jahr unmöglich gewesen! Nur in unserem Syrien ist davon weit und breit nichts zu spüren.«

Ari seufzt: »Ach – unser Syrien! Ich war schon eine kleine Ewigkeit nicht mehr dort!«

Bevor er weitersprechen kann, poltert Michel los: »Genau deshalb rufe ich an, Ari. Wir wollen im kommenden Frühjahr nach Syrien. Wir reisen ganz privat zusammen mit Freunden und guten Bekannten. Wir organisieren alles selbst. Und dich hätte ich gerne dabei. Du könntest als Archäologe die Führung durch die antiken Stätten übernehmen. Schließlich kennst du das Land wie deine Westentasche! Was sagst du? Lust, mitzukommen?«

Noch bevor Ari antworten kann, redet Michel weiter. Seine sonst so ruhige Stimme scheint sich vor Begeisterung zu überschlagen. Als er die wichtigsten Stationen der Reise auflistet, kreisen Aris Gedanken schon über dem Orient:

»Wir fliegen von Frankfurt nach Damaskus. Von dort aus geht es ins südliche Syrien nach Bosra mit seinem römischen Amphitheater aus schwarzem Basalt. Wir werden die ältesten christlichen Kirchen besuchen – natürlich auch die Ananias-Kapelle in der Altstadt von Damaskus.

Abb. 1: Karte von Syrien mit archäologischen Fundstätten

Geplant ist auch ein Abstecher in den Libanon in das legendäre Byblos. Von dort aus geht es ins syrische Bergdorf Maalula, deren Einwohner heute noch Aramäisch sprechen wie zu Lebzeiten von Jesus Christus. Natürlich werden wir einen Ausflug in die Oasenstadt Palmyra inmitten der syrischen Wüste machen. Stell dir vor: Es kommt sogar ein Spezialist für mittelalterliche Burgen aus Kaiserslautern mit. Er wird uns durch die Festungsanlagen der Kreuzritterzeit führen: Krak des Chevaliers im Antilibanon und die Saladinsburg! Ich selbst präsentiere den Mitreisenden die Kirchen und Moscheen – da kenne ich mich bestens aus. Und du könntest die antiken Stätten aus der Frühzeit der Menschheitsgeschichte übernehmen. Orientalische Altertumskunde ist das doch dein Spezialgebiet! Wir wollen die Ausgrabungsstätten in Qatna und Ebla besuchen. Und auch das alte Ugarit am Mittelmeer steht auf dem Programm. Du selbst hast mir einmal erzählt, dass diese Hafenstadt in der Antike die Bedeutung hatte wie heutzutage Rotterdam. Als Fachmann könntest du etwas über die Historie dieser antiken Städte erzählen. Sei kein Frosch und begleite uns auf der Reise!«

»Das ist ja ein richtiger Überfall, Michel!«, antwortet Ari sichtlich überrascht. Noch während Michel am anderen Ende der Leitung von den weiteren Reiseplanungen schwärmt, bauen sich vor Ari die vertrauten Bilder des Orients auf. Wie eine Fata Morgana quellen die Bilder aus seinem Gedächtnis hervor. Im Jahr 1977, er war gerade Anfang zwanzig, brach er zum ersten Mal als Mitglied einer archäologischen Expedition nach Syrien auf. Schon bei der Ankunft war es Liebe auf den ersten Blick! Er fühlte sich nicht fremd, sondern wie zu Hause. Hier gehörte er hin! Syrien wurde zur zweiten Heimat. Erinnerungen keimen auf: der erste Besuch in der Umayyaden-Moschee in Damaskus. Von der hektischen Hauptstraße war er in die Stille des Gotteshauses eingetaucht. Die unvorstellbare Pracht der goldschimmernden Fassaden! Das faszinierende Gewimmel von Menschen aller Hautfarben in den engen Gassen des Basars von Aleppo. Und dann schossen ihm die Namen der Beduinen durch den Kopf, mit denen er so lange zusammen gelebt und gearbeitet hatte. Abu Abud, der Dorfälteste aus dem Örtchen Tell Chuēra in Nordost-Syrien, und Abdallah, der Wächter, der ihm seinen Spitznamen ›Ari‹ verliehen hatte. »Deinen Vornamen kann kein Beduine richtig aussprechen!« Sie hatten es sogar mit der englischen Kurzform Harry versucht. Vergeblich! »Viel zu kompliziert für arabische Zungen!«, hatte Abdallah lapidar festgestellt, »Ari ist doch perfekt! Kurz, kann jeder Arbeiter aussprechen und sich merken.«

Der Name bürgerte sich in Windeseile ein. Selbst die deutschen Teilnehmer der Ausgrabungen nannten ihn so. Und noch heute haftet ihm der Kosename, den ihm einst syrische Beduinen verliehen haben, an. Im Freundeskreis nennt ihn jeder Ari. Er selbst hat sich längst daran gewöhnt, auch wenn er schmunzeln muss, wenn er daran denkt, wie es zu diesem Namen gekommen ist. Michels Worte, seine Einladung, seine Beschreibungen der Reiseziele stürzen auf Ari ein wie ein Wasserfall. Bilder und fast vergessene Namen quellen aus seinem Unterbewusstsein. Viel zu lange hatte Ari seine Erinnerungen an seine Zeit als Archäologe verbannt. Zu schmerzhaft war der Verlust seines Traumberufs Mitte der 90er Jahre gewesen. Archäologe: Das war sein Berufswunsch – zum Entsetzen seines Vaters! Sein alter Herr hatte eigentlich ganz andere Pläne mit ihm: Ari sollte Zahnmedizin studieren und die väterliche Praxis in Köln übernehmen. Aber er entschied sich anders: Er wurde Vorderasiatischer Archäologe und meldete sich schon im zweiten Semester als Teilnehmer einer Ausgrabungsexpedition nach Syrien. Genauer gesagt, in die sog. ›Jezirah‹ – die Wüstensteppe zwischen Euphrat und Tigris im Norden des Landes. Um die mesopotamischen Kulturen besser verstehen zu können, erlernte er die Sprachen altorientalischer Völker: Sumerisch, Altbabylonisch und Assyrisch. Aris Karriere nahm einen rasanten Aufschwung. Er promovierte und arbeitete zehn Jahre lang als Keilschriftforscher und Archäologe im Dienst der Deutschen Forschungsgemeinschaft an der Universität des Saarlandes. Doch dann der Schock: Der Institutsleiter folgte einem Ruf an eine Universität in Ostdeutschland, und die Fachrichtung in Saarbrücken wurde geschlossen. Ari stand mit seinen Kolleginnen und Kollegen vor dem Nichts! Arbeitslos! Er schulte um, wurde Journalist und landete auf einigen Umwegen beim Saarländischen Rundfunk.

»Heh Ari – bist du noch dran?« Michels Stimme reißt ihn aus seinen Gedanken. »Hat es dir die Sprache verschlagen?«

Noch immer rasen die Bilder längst vergangener Tage an Aris innerem Auge vorbei. »Nein, Michel, ganz und gar nicht! Dein Angebot kommt nur sehr überraschend! Lass mich eine Nacht lang darüber schlafen – ich sage dir morgen Bescheid, ob ich mitkomme. Einverstanden?«

Michels Stimme klingt sofort gelöster: »Klar doch! Du kannst es dir in aller Ruhe überlegen. Wir fliegen ja erst im Mai 2010 nach Syrien. Aber eines solltest du wissen, alter Freund: Meine Frau Yassma und ich hätten dich gerne dabei. Bis spätestens zum Jahresende musst du dich entscheiden, denn wir müssen Vorbereitungen für die Reisegruppe treffen. Schließlich sind Visa für mehr als zwanzig Personen anzumelden und die Hotelzimmer zu reservieren. Du wolltest doch schon seit langem wieder nach Syrien. Jetzt hast du die Chance, die Reiseziele selbst mitzubestimmen. Worauf wartest du also? Auf nach Syrien! Bis bald. Ich erwarte deinen Rückruf.«

Ein leichtes Klicken. Der Ton des Freizeichens piept aufgeregt. Michel hat aufgelegt.

Ari geht die Einladung nicht mehr aus dem Kopf: »Welch eine verlockende Idee! Eine Reise nach Syrien – das wäre für mich die Rückkehr ins Paradies!«, murmelt er in sich hinein.

3. Der Duft des Orients

Die untergehende Sonne schickt ihre letzten Strahlen hinunter in die Häuserschluchten, durch die sich der imposante Reisebus quält. Im allabendlichen Gewirr des Straßenverkehrs kommt das Gefährt nur langsam voran. Kurz vor einer ausgedehnten Kreuzung drosselt es seine Geschwindigkeit und kommt fast zum Stehen. Im Schritttempo wagt sich der Bus über die weiße Doppellinie, die in der Mitte die beiden Spuren der Prachtstraße von Damaskus trennt. Sein Signalhorn schmettert der schier endlosen Schlange entgegenkommender Fahrzeuge ein ohrenbetäubendes Geräusch entgegen. Die Trompeten vor Jericho können nicht lauter geklungen haben! Die heranbrausenden Autos werden genötigt, abzubremsen. Die Ersten verzögern ihre Fahrt noch zaghaft und versuchen, mit Hilfe der Lichthupe das monströse Gefährt zu verscheuchen. Die nachfolgenden Autofahrer müssen schon wesentlich heftiger in die Bremsen treten. Der eben noch fließende Verkehr kommt ins Stocken. Die Kraftwagen bäumen sich gegen den ungebetenen Gast auf, der ungefragt ihre Bahnen kreuzt. Langsam, fast behäbig schiebt sich der Bus Zentimeter um Zentimeter in die Gegenfahrbahn. Einige seiner Kontrahenten versuchen, noch mit einem schnellen Zwischenspurt die Stoßstange des Riesen zu umkurven. Zu spät! Nun steht der Bus quer zur Fahrbahn. Ein infernalisches Hupkonzert ist die Antwort. Völlig unbeeindruckt pflügt sich der mächtige Leib des Busses durch die chromblinkenden Massen der sich immer dichter zusammendrängenden Stoßstangen. Noch einmal erschallt das Signalhorn des Reisebusses, dessen Klang die warme Nachtluft vibrieren lässt. Hunderte von Autohupen antworten wie kläffende Schoßhündchen. Den Bus lässt das kalt! Keine Regung ist hinter den abgetönten Scheiben zu erkennen. Wie von Geisterhand bewegt, setzt das Ungetüm seinen Weg fort. Unbeirrbar! Einem Eisbrecher gleich, bahnt er sich seinen Weg durch die wild hupende Meute. Der Gegenverkehr kollabiert. Aus den Seitenfenstern dringen Flüche und Verwünschungen, die sich gegen den unsichtbaren Fahrer hinter den verspiegelten Fenstern des Reisebusses richten. Beide Fahrspuren sind nun komplett blockiert. Die Autos stauen sich in einer nicht enden wollenden Kolonne im Zentrum der syrischen Hauptstadt. In kurzer Zeit sind auch die Seitenstraßen gänzlich mit Fahrzeugen verstopft. Das Hupen schwillt zu einem unüberhörbaren Dauerton an, der als greller Klangbrei durch die Hauptstraße der orientalischen Metropole dringt. In den engen Häuserschluchten der Seitengassen scheinen sich die Signale zu verdoppeln, um sich dann als vielstimmiges Echo von den Hausfassaden in die engen Fahrrinnen zu stürzen. Das ganze Stadtzentrum von Damaskus scheint in einem einzigen Verkehrschaos zu versinken – begleitet von einem höllischen Hupkonzert!

Als ob es ihn nichts anginge, holt der Reisebus zu einem neuerlichen Schlag aus: Ein halbkreisförmiges Wendemanöver! Das mächtige Bus-Horn bläst zur Attacke und verscheucht den letzten Fahrer vor der Frontscheibe. Um Haaresbreite gleitet der mächtige Stoßfänger des Busses am vorderen Kotflügel eines grellgelb-lackierten Taxis amerikanischer Bauart vorbei. Dessen Fahrer hält es nicht mehr auf seinem Sitz. Er reißt die Fahrertür auf und stürmt wildgestikulierend auf den Bus zu. Seine Augen sind weit aufgerissen und er schreit immer wieder die gleichen Worte. Die Hände des Taxifahrers signalisieren unmissverständlich, dass nur noch Millimeter zwischen seinem Fahrzeug und der enormen Stoßstange des Busses liegen. Das Geschrei des Mannes geht im aufheulenden Hupkonzert der ungeduldigen Blechmeute unter. Der Reisebus steuert unbeirrt und zielsicher auf eine verbreiterte Fläche zu, die sich am rechten Fahrbahnrand zu einem kleinen Vorplatz erweitert. Auf einem stark verwitterten Metallschild ist ein arabischer Schriftzug zu sehen - darunter prangen die Lettern: ›Taxi‹. Der Bus beendet seine Kurvenfahrt und gibt die doppelspurige Straße mit einem Schlag frei. Wie auf ein Fanal ebbt das Hupkonzert ab und die Blechlawine setzt die wilde Hatz in Richtung City fort. Der Reisebus rollt unterdessen noch ein wenig über den kleinen Platz und bleibt dann mit einem Ruck stehen. Bremsen quietschen. Reifen krallen sich in den von der Tageshitze aufgewärmten Asphalt. Fast zeitgleich öffnet sich mit lautem Zischen die zweigliedrige Schiebetür an der Längsseite des Fahrzeugs. Wie von Geisterhand bewegt, schiebt sich auch die vordere Blechtür mit kratzendem Geräusch zur Seite. Busfahrer Adnan, ein Mittvierziger mit Halbglatze, blickt noch kurz in den übergroßen Außenspiegel, bevor sein breites Grinsen den Businsassen signalisiert: Endstation. Alle aussteigen! Seine markante Sonnenbrille mit den tiefschwarz getönten Gläsern verleiht ihm etwas Überlegenes, Unnahbares.

Kaum sind die Türen geöffnet, entweicht die durch die Klimaanlage gekühlte Luft aus dem Fahrzeuginneren. Ein Gemisch aus warmer Sommerluft und beißenden Abgasen kriecht in den Fahrgastraum. Der einzigartige Duft orientalischer Städte: Eine Mixtur aus lauem Sommerwind, der sich über die Auspuffgase vorbeiknatternder Fahrzeuge legt und sich mit köstlich riechenden Speisen verbündet. Kleine Garküchen und Imbissstände entzünden in den Abendstunden ein Feuerwerk von Aromen. Zwischen all diesen Wohlgerüchen huschen zahllose Menschen von der einen zur anderen Straßenseite. Mit ihnen fliegen andere Düfte vorbei: Aufdringliche Herrenparfüms konkurrieren mit schwitzenden Leibern. Vorbeihuschende Frauen verströmen Nuancen süßlicher Essenzen wie von exotischen Blüten. Dazu die lärmende Geräuschkulisse einer orientalischen Großstadt. Heisere Männerstimmen preisen lautstark Waren an, die auf zweirädrigen Holzkarren feilgeboten werden. Ein Junge, vielleicht dreizehn Jahre alt, steht neben einem Stapel frisch gedruckter Zeitungen und schreit, die jüngste Ausgabe wild über den Kopf schwenkend, den Passanten die neuesten Nachrichten entgegen. Stimmen über Stimmen, vermischt mit den Düften des Orients, dringen durch die gerade geöffnete Bustüre.

All dies hat Ari so lange vermisst. Der Lockruf des Orients treibt ihn aus dem Reisebus, hinein in das pulsierende Leben! Tausende fremder Stimmen fressen sich in sein Gehör. Zunächst Laute, Wortfetzen, dann ganze Sätze. Wie sehr hat er diese Klänge vermisst! Er versteht nicht jedes Wort, doch schon nach kurzer Zeit gewöhnt er sich an die Wortfärbung, an den Klang der Sprache, die er so lange nicht mehr vernommen hat. Langsam, aber doch merklich kehrt die Sprache, das Arabisch, zurück. Nach und nach kriechen die Laute in ihn hinein, nehmen schleichend von ihm Besitz. Waren es eben noch Worte, so sind es jetzt bereits ganze Sätze, die er in der fremden Sprache wieder zuordnen, übersetzen kann. Vertraute Zunge eines Landes, das ihm zur zweiten Heimat geworden war - damals, vor fast dreißig Jahren. Beduinen hatten ihm die ersten Worte in Arabisch beigebracht. Er beherrscht die Sprache zwar nicht perfekt, aber doch so, dass er sich mit den Einheimischen verständigen kann. Nun ist er endlich wieder hier! Endlich wieder in Syrien!

Ari schwingt sich aus dem Bus und landet mit den Füßen auf dem groben Kopfsteinpflaster des Gehwegs. Als er den Boden unter den Sohlen seiner Schuhe verspürt, durchströmt ihn das wohlige Gefühl, nach Hause gekommen zu sein. Knapp zwanzig Jahre Orient-Abstinenz – Ari weiß in diesem Augenblick gar nicht, wie er das so lange aushalten konnte! Wie konnte er bloß ohne dieses geschäftige Treiben leben, ohne diese quirlige Lebendigkeit, die orientalischen Städten so eigen ist? Und nun steht er wieder inmitten der Altstadt von Damaskus, dem pochenden Herz dieser Großstadt. Bāb Scharqi, das geschichtsträchtige Osttor, baut sich vor ihm auf. Die hellen Steinquader des monumentalen Portals sitzen hier noch so exakt aufeinander, wie sie in der Römerzeit aufeinandergestapelt wurden. Nichts hat sich seit seinem letzten Besuch im Jahr 1992 geändert: Links bildet ein kleines Tor einen übermannshohen Durchgang. Zahllose Fußgänger drängen sich durch den Einlass der meterdicken Stadtmauer. Kaum fünf Schritte davon entfernt öffnen sich die Pforten des eigentlichen Stadttors, dessen halbrunder Bogen eine stark befahrene Straße überspannt. Die gewaltigen Ausmaße des Portals erlauben es, dass sogar kleine Lastwagen das antike Tor in Richtung Innenstadt passieren. Dabei nutzen die Fahrzeuge noch immer die Via Recta, die ›Gerade Straße‹ aus der Römerzeit, die schon Apostel Paulus beschritten hat, welcher der Legende nach hier gelebt und gewirkt hat. Aris Blick gleitet durch die große Öffnung des Osttores und trifft unmittelbar auf die weiß getünchte Stirnseite eines altertümlichen Gebäudes. Zahlreiche, dicht aneinandergereihte, hochrechteckige Fenster gliedern die Hausfassade. Ari kann sich gar nicht sattsehen an den Farben und Formen, die Damaskus bei Nacht bietet. Das geschäftige Treiben auf den Straßen zieht ihn vollkommen in seinen Bann. Jäh wird er von der kräftigen Stimme des syrischen Reiseführers Kayes aus seinen Gedanken gerissen:

»Das ist die alte Stadtmauer von Damaskus«, schreit der über die Köpfe der zwanzig Mitreisenden hinweg, die nach und nach aus dem Reisebus ausgestiegen sind. »Unser Hotel liegt gleich da vorne rechts in einer der schmalen Gassen der christlichen Altstadt. Der Zugang zum Hotel ist so eng, dass noch nicht einmal ein PKW dort hinfahren kann. Deshalb wird euer Gepäck gleich hier abgeholt. Ihr braucht euch um nichts zu kümmern!«

Kayes, ein Mann Mitte vierzig, streicht sich kurz mit der Hand durch sein volles, pechschwarzes Haar, das über den Schläfen schon grau meliert schimmert. Seine braunen Augen fliegen über die Touristengruppe. Jetzt nur niemand im Gewühl der Großstadt verlieren! Sein energischer Gesichtsausdruck lässt keinen Zweifel zu: Kayes hat die Führung der Gruppe im Handumdrehen übernommen. Seine Anweisungen kommen laut und präzise bei jedem der Fahrgäste an. Die Auslöser der Kameras klicken ununterbrochen. Jeder möchte nach der langen Anreise aus Saarbrücken, über Frankfurt nach Damaskus, seine erste Foto-Ausbeute machen. Die Motive sind überwältigend, vor allem für Reisende, die zum ersten Mal orientalischen Boden betreten. Hier lebt nicht nur der Orient, hier lebt Geschichte! Und genau an der Stelle, an der die Reisegruppe jetzt steht, spielten sich dramatische Ereignisse der frühchristlichen Geschichte ab. Mit Damaskus ist das Leben des Apostels Paulus verbunden. Noch vor fünf Minuten passierte der Bus die Stelle, wo der Heilige vor zweitausend Jahren seinen Verfolgern über die Stadtmauer entkommen konnte. Ein Wächter namens Georg soll ihn in einem Weidenkorb abgeseilt haben, hat ihnen Reiseleiter Kayes schon im Bus berichtet. Und nun stehen sie inmitten der biblischen Geschichte! In einem Land, das nicht nur durch die drei Weltreligionen Islam, Juden- und Christentum geprägt wurde, sondern auch altorientalische Geschichte geschrieben hat. Fast überall stößt man in Syrien auf geschichtsträchtige Spuren. Man muss nur genau hinsehen!

Es ist Samstag, der 1. Mai 2010, in Syrien ein gewöhnlicher Werktag. Rund um die Reisenden pulsiert das Leben. Bis kurz vor Mitternacht strömen hier noch Menschenmassen durch die Gassen. Solch eine Flut von Passanten trifft man in Deutschland allerhöchstens an verkaufsoffenen Sonntagen in der City an! In Syrien ist das normal. Das Leben spielt sich mehr in der Öffentlichkeit, auf der Straße ab. Dazu trägt natürlich auch die milde Witterung bei. Die frisch eingetroffenen Touristen genießen die laue Luft, die sie umschmeichelt. Busfahrer Adnan springt aus seinem Cockpit und öffnet mit zwei schnellen Griffen den Stauraum des Busses. Wie aus dem Nichts preschen vier kleine, dreirädrige Motor-Karren herbei, deren rückwärtige Aufbauten als Ladefläche dienen. Diese Mini-Pick-ups haben in den letzten dreißig Jahren nach und nach die Lastesel aus dem Stadtbild verdrängt, die bis dahin das wichtigste Transportmittel in den äußerst engen Straßenzügen syrischer Städte waren. Diese kleinen, wendigen Motorräder mit Kastenaufbau knattern mit lautem Getöse über die Straßen. Meist sind sie total überladen, wie eigentlich jedes Transportfahrzeug in diesem Land.

»Hört mal!«, aus Leibeskräften schreit Reiseleiter Kayes in fließendem Deutsch, aber mit deutlich vernehmbarem österreichischem Akzent.

»Bitte, jeder von euch nimmt sein eigenes Gepäck und gibt es beim Fahrer eines der Pick-ups ab. Diese bringen eure Koffer zu unserem Hotel – yallah!« Dieses Wort wird uns die nächsten vierzehn Tage begleiten. ›Yallah‹ – ›los!‹ oder ›auf geht's!‹ ist die arabische Aufforderung, sich zu beeilen. »Yallah, yallah – schnell, schnell!«

Kayes treibt die Reisenden zur Eile an. »Beeilung! Da hinten kommt schon ein Polizist – hier ist eigentlich Halteverbot!«

Die allgegenwärtige Motorradstreife der syrischen Polizei gehört zum Straßenbild wie die dreirädrigen Karren, auf denen die Touristen, auch Ari, inzwischen ihre Koffer verstaut haben. Der Polizist lenkt sein Motorrad der Marke Suzuki direkt auf die deutsche Gruppe zu. Über dem Hinterrad thront ein schneeweißer Kofferaufbau, über dem eine halbkugelige, blutrote Signallampe ein sich ständig drehendes, grellleuchtendes Signalfeuer verbreitet. Dicht vor dem Bus bremst der Polizist ab. Der Motor der schweren Maschine heult noch einmal kräftig auf. Dann steigt der Fahrer ab. Langsam, fast in Zeitlupe kommt er aus dem Sattel – wie ein Cowboy in einem Hollywood-Western! Majestätisch schiebt er mit der Linken seine verspiegelte Motorradbrille über den vorderen Rand seines weißen Helms. In seiner schwarzen Lederjacke, die auf der rechten Brustseite mit Abzeichen übersät ist, wirkt der Mann furchteinflößend. Seine Beine stecken in einer beige-farbenen Uniformhose, die an den Oberschenkeln so weit geschnitten ist wie Reithosen. Die schwarz-glänzenden Stiefel reichen ihm bis zum Knie. Der martialisch wirkende Verkehrskrieger verzieht keine Miene, als er die Umherstehenden fixiert. Das fahle Licht der Straßenlaternen beleuchtet sein Gesicht. Markant: Der absolut perfekt rasierte, schmale Schnurrbart über den feinen Lippen. Noch im Gehen herrscht er Busfahrer Adnan an, sofort den Platz zu räumen – »Yallah!« Hier wird nicht mit der Polizei diskutiert, hier wird den Anweisungen eines Gesetzeshüters sofort Folge geleistet. Kein Widerspruch! Niemand legt sich in Syrien mit einem Polizisten an. Als Adnan den Bus startet, ruft ihm Reiseleiter Kayes noch schnell Ort und Zeitpunkt für die morgige Abfahrt hinterher. Schnell verschwindet der Bus im Gewimmel der Großstadt. Unmissverständlich befiehlt der Uniformierte, sofort den kleinen Platz zu räumen, um sich im gleichen Augenblick dem immer noch stockenden Straßenverkehr zuzuwenden. Schrill herrscht seine Trillerpfeife einen vor ihm stehenden Fahrer an, der sich sofort bemüht, dem Signal des Polizisten Folge zu leisten: Nur weg von hier!

Kayes treibt die Touristengruppe wie eine Schafherde zum riesigen Portal. Erst jetzt registriert Ari, dass sein Freund Michel Kudy neben ihm steht. »Glücklich, wieder hier zu sein?«, will dieser wissen. Ari schmunzelt: »Überglücklich!«

Sie folgen Reiseleiter Kayes durch das imposante Stadttor und biegen nach rechts in eine der schmalen Seitenstraßen. Nun sind sie mittendrin in der historischen Altstadt von Damaskus, einer der ältesten, kontinuierlich besiedelten Städte der Welt. Alles ist hier so anders als zu Hause! Die Gasse ist so eng, dass gerade zwei bis drei Personen nebeneinander gehen können. Der Lärm des Großstadtverkehrs scheint hinter ihnen zu versiegen. Die hohen Gemäuer der dicht aneinander gebauten Häuserzeilen wehren alles ab. Der Lärm, ja sogar die Gerüche der Großstadt scheinen sich nicht in diese enge Gasse zu verirren. In einer kleinen Wandnische zwischen zwei Gebäuden fällt Aris Blick auf einen Holzverschlag, hinter dem ein Marien-Altar aufgebaut ist. Im Innern des blaulackierten Kästchens glüht ein Lämpchen, das dem kleinen Marienbild im Halbdunkel der Gasse einen mystischen Lichterkranz verleiht. Ein Drahtgitter wellt sich über die Vorderfront des Schreins und legt sich zum Schutz zwischen die Figur der Heiligen und dem Betrachter. Kleine weiße Papierfetzen hängen zwischen den Sprossen des Gitters, vollgekritzelt mit Gebeten, Wünschen oder Bitten der Gläubigen. Nur einhundert Meter entfernt vom Getümmel der Großstadt trifft man auf diese Andachtsstelle inmitten des jüdisch-christlichen Viertels einer islamischen Hauptstadt! Es ist wohl einzigartig, dass Anhänger der drei großen Weltreligionen so friedlich nebeneinander existieren wie hier in der Altstadt von Damaskus!

Und wieder ertönt die heisere Stimme von Reiseführer Kayes: »Yallah, zum Hotel – nur noch ein paar Meter!« Vor einem imposanten Holztor hält er an und wartet bis alle Gruppenmitglieder aufgeschlossen haben. ›Dar Al-Yasmin‹ – ›Haus des Jasmins‹ ist auf einem Schild an der Außenfassade zu lesen. Der Zugang zum Hotel liegt in einer dieser engen Gassen. Kayes tritt an das wuchtige Holztor heran, das mit massiven Messingknäufen beschlagen ist. Das monströse Portal erinnert eher an den Zugang einer mittelalterlichen Festung, als an den Eingang eines Hotels. Quer über der Tür liegt ein schwerer Eisenriegel als zusätzliche Sicherung des Zugangs. Mit einem festen Ruck zieht Kayes den Sperrriegel aus seiner Halterung. Dumpf hallt das Geräusch des sich lösenden Schlosses durch die Nacht. Ein kräftiger Stoß öffnet die Tür. Ein junger Mann von zierlicher Gestalt, vielleicht Anfang zwanzig, kommt ihnen entgegen. Er verneigt sich leicht und bittet höflich darum, ihm zu folgen. Durch einen tunnelartigen Durchgang gelangt die Gesellschaft nach wenigen Schritten in einen Innenhof. Ari stockt der Atem. Er war ja schon in zahlreichen Hotels, aber so etwas Prächtiges hat er bislang nur im Azem-Palast gesehen, einem zu einem Museum umfunktionierten Stadthaus in Damaskus. Der von den Außenwänden abgeschirmte Innenhof des Hotels ist bis zum Dach mit Wandmalereien verziert. Uralte Zierkacheln und Wandteppiche schmücken zudem die Fassaden. Das einzig Moderne, ein Glasdach, das bei schlechtem Wetter ausgefahren werden kann, liegt verborgen unter einem Vordach. Aris Blick wandert nach oben zum Nachthimmel, dessen Sterne glitzernde Grüße herabschicken. Rund um dieses orientalische Atrium sind über zwei Stockwerke die Hotelzimmer verteilt. Zu ihnen gelangt man über ornamental verzierte Holzbalustraden. Inmitten des Hofes plätschert ein kleiner Springbrunnen. Während die anderen sich um ihre Zimmerschlüssel kümmern, nimmt Ari an einem der vier langen Holztische Platz und lässt sein Auge schweifen. Sein Blick fällt auf einen Diwan in der westlichen Ecke des Innenhofes. Diese halbrunde Sitznische ist so groß wie ein geräumiges Zimmer und zum Hof hin geöffnet. Ein Zierbogen aus schwarzen und weißen Steinen spannt sich über den Seitenraum. Der Diwan ist mit kostbaren Möbeln bestückt, die mit Intarsien ornamentiert sind. Das gesamte Ambiente verströmt den morgenländischen Wohnstil vornehmer Familien des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Wie ein Thron wirkt der größte Sessel, aus dessen Rückenlehne Einlegearbeiten aus Perlmutt schimmern.

»Hier kann man es aushalten!«, flüstert Michel seinem Freund Ari begeistert zu! Der nickt. Ari ist sich sicher, noch nie in einem schöneren Hotel übernachtet zu haben! Ihm wird ein Zimmer im oberen Stockwerk zugewiesen. Auf seinem Weg dorthin durchquert er einen weiteren, kleineren Hof, in dem eine prächtige Sitzgruppe unter einem kleinen Baum zum Verweilen einlädt. In der Mitte ein zweiter Zierbrunnen, auf dessen Umrandung zahlreiche Tontöpfe stehen, aus denen bunte Blumen sprießen. Es duftet wunderbar nach Jasmin! Die Holzstufen knarren, als er die Treppe hinaufsteigt. Oben angekommen, genießt er den Blick in den weitläufigen Innenhof. Von der Galerie aus kommt der Diwan in seiner vollen Pracht erst richtig zur Geltung! Ari wendet sich seiner Zimmertür zu. Der Schlüssel klickt kurz, und vor ihm öffnet sich ein riesiges Gemach. In der Mitte ein Doppelbett mit einem baldachinartigen Überbau. Durch zwei Fenster schimmert das Licht des Innenhofes in sein Zimmer. Schwere Damast-Vorhänge fallen von vergoldeten Metallstangen herab. Die Decke des Raums ist mit feinster Schnitzarbeit versiegelt. Bunte Hölzer und arabische Ornamente breiten sich wie ein künstlicher Himmel über Ari aus. In einem Nebenraum ist das Badezimmer mit Wanne und Toilette untergebracht. Zeitgemäß und zweckmäßig, wie Touristen es wünschen. Der einzige Ort in diesem Haus, der an die Moderne erinnert!

Ari lässt sich auf das Bett fallen. Die Wärme der Abendluft, die der Innenhof des Anwesens gefangen hält, steigt stetig nach oben. Langsam, fast zaghaft dringt der betörende Hauch von Jasmin-Blüten durch die geöffneten Fenster und erfüllt den ganzen Raum. ›Dar Al-Yasmin‹ – Haus des Jasmins. Das Hotel trägt diesen Namen zu Recht! Von weitem sind noch Geräusche zu hören, die nur hier im Orient so klingen. Fremdartig und doch so vertraut wie die Gerüche, wie die Düfte um ihn herum. Ari ist wieder in Syrien und fühlt sich wie zu Hause! Entspannt und unendlich glücklich fallen ihm die Augen zu, umnebelt vom Duft des Orients.

4. Die Spur des Apostels

›Gong!‹ – der sonore, wenn auch kurze Schlag einer Glocke reißt Ari aus dem Tiefschlaf. Es ist noch stockfinster. Der durchdringende Ton kommt direkt von nebenan. Er ist so nah, dass Ari glaubt, die Zimmerwände würden leicht erzittern. Schlaftrunken überlegt Ari, ob er sich verhört hat. Aber er ist sich ganz sicher: Er hat eine Glocke läuten hören! In Deutschland wäre das an einem Sonntagmorgen nichts Besonderes – aber hier in Damaskus? Es ist mucksmäuschenstill! Verrückt! Normalerweise erwartet man hier den Ruf eines Muezzins vom Minarett einer Moschee, aber kein Glockengebimmel! Dann dröhnt der zweite Glockenschlag in sein Schlafgemach und vibriert noch heftiger in seinem Ohr. Kein Zweifel! Das klingt nicht nur so – das ist eine Kirchenglocke! Ari richtet seinen Oberkörper im Bett auf und lauscht gespannt in die Dunkelheit. Nach kurzer Pause erneut ein Schlag. Nun gibt es keinen Zweifel: Das ist keine kleine Schelle, sondern eine große Kirchenglocke! Das hört man an dem kräftigen Klang, der zu ihm ins Zimmer dringt. Nach dem sechsten Schlag kein Geräusch mehr! Ari schaut auf das Zifferblatt seines Reiseweckers: sechs Uhr. Noch fast eine Stunde Zeit bis zum Aufstehen! Himmlische Ruhe umfängt ihn. Sein Kopf fällt zurück ins weiche Kissen. Aus der Ferne erschallt der Gesang eines Muezzins, der seine Glaubensbrüder noch vor Sonnenaufgang zum Gebet ruft. Die kehlige Stimme des Ausrufers dröhnt, durch zahlreiche Lautsprecher verstärkt, von einem Minarett, das ganz in der Nähe liegen muss. Einer der Boxen muss unter Aris Bett versteckt sein – zumindest empfindet er die Lautstärke so. Erst christliches Glockengeläut, jetzt der islamische Gebetsruf! Wundersamer Orient. Niemand scheint das hier stören. Es ist noch früher Morgen und Damaskus noch im Dämmerzustand. Um so lauter scheint der Gesang zu sein, der sich in Aris Ohr vergräbt. Nicht unangenehm, aber dennoch störend, da es ihm nach Schlaf gelüstet. Endlich ebbt das Rufen ab. Ari übermannt eine bleierne Müdigkeit.

Er hat das Gefühl, gerade erst eingeschlafen zu sein, als Ari erneut jäh aus Morpheus Armen gerissen wird. Wieder diese Glocke! Wieder wie ein Paukenschlag aus dem Nebenraum! Schlag zwei, ... drei, ... vier – beim fünften Gong explodiert neben ihm auf dem Nachttisch der kleine Reisewecker, dessen Weck-Zeit er auf sieben Uhr eingestellt hatte. Glocke und Wecker liefern sich ein heftiges Duell. Das ist zu viel! Mit einem Schlag auf den Signalschalter bringt Ari den Wecker zum Schweigen. Die Glocke aber hält durch: Sieben laute Schläge lang. Ari war ja schon sehr oft in Syrien, aber so etwas hat er noch nie erlebt! Glockengeläut am Sonntagmorgen, wie zu Hause in Deutschland, und das in Damaskus, der Hauptstadt eines moslemisch geprägten Landes! Der Verlierer des Duells Reisewecker gegen Kirchenglocke steht eindeutig fest: Ari! Jetzt hilft nur noch die morgendliche Dusche, die nicht nur seine Lebensgeister weckt, sondern auch seine Unternehmungslust. Bevor es losgeht: Frühstück! Ari läuft das Wasser im Munde zusammen, wenn er an die Frühstücksorgien der früheren Tage in Syrien zurückdenkt. Damals in Aleppo. Im altehrwürdigen Hotel Baron, wo man ihn als ganz besonderen Gast behandelte und ihm häufig die Luxussuite zur Verfügung stellte. Wer kann schon behaupten, im gleichen Zimmer genächtigt zu haben wie Lawrence of Arabia oder Agatha Christie? Was hatte der Service des Hotels Baron nicht alles zum Frühstück aufgefahren: Frischgebackenes Brot, nach Kardamom duftenden Kaffee und die goldgelbe Aprikosenmarmelade, die man hier ›Muschmusch‹ nennt. Also nichts wie hinunter an den Frühstückstisch, denn um neun Uhr steht schon der erste Besichtigungspunkt der Reise auf dem Programm!

Als Ari aus seinem Hotelzimmer hinaus auf die Galerie tritt, ist es schon taghell. Erst jetzt bemerkt er, dass er direkt vor der Krone eines Baumes steht, durch dessen olivfarbene Blätter die ersten Sonnenstrahlen fallen. Dass sich vor seinem Zimmer der Wipfel eines Baumes ausbreitet, hatte er bei der Ankunft gar nicht registriert. Es ist ein herrlicher Morgen. In Deutschland ist die Reisegruppe gestern noch bei kühlem Regenwetter abgeflogen. Hier wärmen schon jetzt die Strahlen der Morgensonne. Die gelöste Urlaubsstimmung trägt dazu bei, dass Ari im großen Innenhof von äußerst gut gelaunten Mitreisenden empfangen wird:

»Komm, setzt dich zu uns!«, ruft ihm von weitem schon Michel zu, der bereits an einem der langen Holztische Platz genommen hat. »Hast du gut geschlafen?«, erkundigt sich seine Frau Yassma.

»Eigentlich ja – bis um sechs Uhr eine Kirchenglocke anfing zu läuten. Ist hier eine Kirche in der Nähe?«, fragt Ari.

»Klar doch – das Gebäude nebenan ist ein christliches Gotteshaus«, klärt Michel auf, »ist dir die Kirche gestern Abend nicht aufgefallen?«

Kein Wunder, dass Ari das Gefühl hatte, die Glocke würde in seinem Badezimmer hängen! Eine Kirchenglocke im Nachbarhaus – das kann ja lustig werden in den kommenden Nächten! Der junge Mann, der die Reisegruppe gestern Abend an der Hoteltür empfangen hatte, umkreist mit geschäftigen Bewegungen die ausländischen Gäste, immer bemüht, jeden Wunsch von den Augen abzulesen.

»Tea or coffee?«, fragt er höflich bei jedem Einzelnen nach. Für Ari gibt es nur eine Wahl: Kaffee! Endlich wieder den lang vermissten original-arabischen Kaffee zum Frühstück! An einer der Langwände des Innenhofs ist auf einer meterlangen Tafel das Frühstücksbuffet aufgebaut. Es gibt frischen Quark, grüne und schwarze Oliven, ja sogar Schafskäse. Seine Augen wandern weiter. Daneben grinst ihm eine knallrote Kuh von der Packung einer Käseschachtel ins Gesicht: ›La Vache qui rit‹ – Käse aus Frankreich. Ergänzt wird das Angebot durch kleine Plastik-Döschen, in die maschinell Marmeladen gepresst wurden. Eine andere trägt die Aufschrift ›Nutella‹. Auch der Honig ›Made in Europe‹ wird zu Aris Leidwesen in solchen Kunststoffbehältern serviert. Enttäuscht wandert sein suchender Blick zum Brotkorb: Weißlich schimmernde Toastscheiben liegen dort. Wo ist das leckere Fladenbrot, das bei seinen früheren Syrien-Aufenthalten zum normalen Frühstück zählte?

»Sorry Sir, your coffee«.

Mit dieser Bemerkung macht der junge Hotelbedienstete hinter Ari auf sich aufmerksam und stellt eine kleine Kanne mit heißem Wasser auf den Tisch. Daneben platziert er eine leicht zerbeulte Blechdose, deren Deckel mit der Messerspitze geöffnet werden kann. In dicken Lettern umrundet eine Aufschrift das Behältnis: Nescafé. Löslicher Schnellkaffee aus der Dose. Was für ein Faux pas im Orient! Kaffee, wohlduftend und aromatisch, wurde doch von hier aus zu uns ins Abendland gebracht! Rächen wir Europäer uns heute mit dem Reimport von schnell löslichem Kaffee aus der Dose? Nach frisch aufgebrühtem Mokka – nach arabischem Kaffee – steht Ari der Sinn und nicht nach einem gefriergetrocknetem Chemie-Konzentrat aus einem Blechgefäß!

Ari winkt den jungen Service-Mann zu sich und flüstert ihm auf Arabisch ins Ohr: »Hast du keinen arabischen Kaffee?«

Die dunklen Augen des Hotelbediensteten beginnen augenblicklich zu strahlen: »Natürlich! In der Küche. Möchtest du eine Tasse haben?«

Ari dankt ihm und bittet ihn höflich, gleich eine ganze Kanne zuzubereiten, denn schließlich sitzen noch andere Gäste am Frühstückstisch. Mit breitem Grinsen verschwindet der junge Mann durch eine nah gelegene Tür in einem Nebenraum.

»Schade, dass es hier kein Fladenbrot gibt«, nörgelt Aris Freund Michel herum. »Rosenmarmelade auf frischgebackenem Fladenbrot – das wäre unvergleichlich!«

Ari hält es nicht mehr am Tisch. Er springt auf und eilt hinüber zum kleinen Küchenraum. Die Tür steht ein Spalt weit offen. Drinnen hantiert der junge Hotelbedienstete mit einem Kaffeekännchen aus Kupfer, das er mit seiner Linken an einem überlangen Stiel gepackt hält. Sanft schwenkt er das Kännchen über der züngelnden Gasflamme eines kleinen Ofens. Hin und wieder stellt er das Gefäß auf die Flamme, um es ein paar Sekunden später wieder blitzartig vom Feuer abzuheben.

»Entschuldigung ...«, ruft Ari in den Raum hinein.

»Tritt ein, nimm Platz!«

Der Junge deutet auf zwei kleine, mit Bast überzogene Hocker. »Euer Kaffee ist gleich fertig. Nur noch einmal aufkochen!«

Er setzt die Kanne wieder auf die Gasflamme. Man hört, wie die Flüssigkeit im Innern des Gefäßes zu brodeln beginnt, dann schießt die dunkelbraune Brühe nach oben. Blitzschnell zieht er die Kanne von der Flamme und sofort senkt sich der aufgeschäumte Sud wieder nach unten ab. Die kleine Küche duftet nun bis in den letzten Winkel nach frisch aufgebrühtem Mokka. Das Kardamom-Gewürz entfaltet unter der starken Erwärmung sein volles Aroma. Ari steigt die unvergleichliche Würze des stark gebrannten Kaffees sofort in die Nase. Von einem Regal angelt der junge Mann eine winzige Mokka-Tasse und füllt diese mit dem kochend heißen Sud.

»Probiere bitte! Gut?«, fragend reicht er Ari die Tasse. Der lässt zunächst nach Kenner-Manier das Tässchen unter der Nase kreisen. Dann erst setzt er zu einem Probierschluck an. Seine Augen weiten sich. Anerkennend schnalzt er mit der Zunge:

»Sehr, sehr gut!«, lobt Ari die Kochkünste seines Gegenübers. Das erwartungsvolle Lächeln des jungen Kaffeebrauers weicht einem strahlenden Lachen. »Hast du eventuell auch Fladenbrot in deiner Küche?«, erkundigt sich Ari.

Der Hotelboy verneint. »Aber kein Problem! Ich besorge welches. Bringe euch nur geschwind den Kaffee zum Tisch – bin in fünf Minuten wieder zurück!«

Ari klopft ihm auf die Schultern: »Und wenn möglich, bring bitte auch Rosenmarmelade und Muschmusch1 mit.«

Inzwischen sind nahezu alle Plätze an den Frühstückstischen besetzt. Kaum hat Ari den anderen Mitreisenden die Tassen mit dem herrlich duftenden Mokka gefüllt, als der junge Mann schon wieder neben ihnen steht. Im Arm hat er eine Plastiktüte, die er freudestrahlend auf dem Tisch ausbreitet. Mit beiden Händen öffnet er die Tüte und zieht einen Stapel pizzaartiger Teigfladen hervor, die er genüsslich mitten auf dem Tisch ausbreitet.