König der vier Weltgegenden - Band 2 - Ari Tur - E-Book

König der vier Weltgegenden - Band 2 E-Book

Ari Tur

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Beschreibung

Der Hurriter Senni gerät als Schuldknecht in die Fänge des rücksichtslosen Pferdezüchters Kikkuli aus dem Volk der Mitanni. Sein Dienstherr erklärt Senni zu seinem Ziehsohn und bildet ihn zu einem Pferdekundigen aus. Von der Brutalität seines Pflegevaters angewidert, flieht Senni gemeinsam mit zwei Freunden vom Gestüt und gerät dabei in die Kriegswirren zwischen Assyrern und Mitanni. Der elamische Bogenschütze Banu steht ihm bei, doch kann er Senni auch vor den dämonischen Kräften seines Ziehvaters bewahren?

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In memoriam

Dr. Johannes Boese

(1939 – 2012)

Vater des Tafelhauses

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Die vier Weltgegenden

Hurriter oder Mitanni?

Der Schuldknecht

Der assyrische Tuchhändler

Der Sklave ersi

Das Gestüt des Kikkuli

Das Wundermittel

Der Pferdedämon

Kikkulis Geheimnis

Der Sohn des Tafelhauses

Pferdeweisheiten

Fluch dem Totengeist!

Salmanassars Vermächtnis

Die Tafel der Schande

Die Insignien der Macht

Die Qadiltu.

Die Heilige Hochzeit

Das Mahl der Götter

Tod den Hethitern!

Der Schrecken der Berge

Die Vision des Königs

Der Kuss der Jungfrau

Herrscher über Katmuu

Der König der Welt

Kriegsrat

Der Bote des Mitanni-Königs

Ašdus List

Flucht

Beunruhigende Nachrichten

Der Pferdemann

Der Wettstreit der Bogenschützen

Der göttliche Bogen

Audienz beim Tartānu.

Der geheimnisvolle Auftrag

Die Späher

Die Finte

Kampf um anigalbat

Der Prahlhans

Der Wettlauf der Kuriere

Der hinterlistige Königsbote

Das geflügelte Pferd

Die Rückkehr

Chronologie

Lesen altorientalischer Namen

Abbildungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Tukulti-Ninurta I. (1233 – 1197 v. Chr.) – König der vier Weltgegenden Zeichnung von Vlad Hnatovskiy

1. Vorwort

Der archäologische Roman ›König der vier Weltgegenden‹ schildert in Band 1 (›Der Blaue Fuchs‹) die Entdeckung eines assyrischen Tontafelarchivs in der syrischen Wüste durch ein Forscherteam der Universität des Saarlandes in Saarbrücken. Die nachfolgenden Bände 2 bis 4 – Bd. 2 (›Der Pferdedämon), Bd. 3 (›Die Elamische Schlange‹) und Bd. 4 (›Das Omen der Finsternis‹ – erscheint voraussichtlich im Jahr 2020) – sind der altassyrischen Geschichte gewidmet und basieren auf Keilschrifttexten, die zumeist an das Ende des 13. Jahrhunderts vor Christus datieren.

Der Autor selbst stieß im Jahr 1992 während einer archäologischen Expedition in Tell Chuēra in Nordost-Syrien, in einer antiken Stadtruine namens arbe auf ein assyrisches Tontafelarchiv.1 Diese Keilschrifttafeln ermöglichen einen Einblick in die Welt der damaligen Bewohner der Stadt. Ari TUR liegt es am Herzen, die uralten Kulturen, ihre Traditionen und vor allem die Lebensumstānde der damaligen Menschen ein wenig näher zu beleuchten. Ari TUR hat dafür den ›archäologischen Roman‹ als neue Stilform des historischen Romans gewählt. Fünf Jahre lang hat er Keilschrifttexte aus der Zeit des assyrischen Königs Tukulti-Ninurta I. (1233 – 1197 v. Chr.) für ein Geschichtsbuch der anderen Art zusammengetragen. Ziel war es, die Epoche dieses schillernden Herrschers in einen Roman zu gießen, der auf den neuesten Erkenntnissen der Vorderasiatischen Archäologie und der Altorientalistik basiert. Dennoch weist der Autor darauf hin, dass das vorliegende Buch keine wissenschaftliche Publikation ist, sondern ein Roman mit fiktionalen Elementen, in dem auch nicht belegbare Theorien Eingang gefunden haben. Die verwendeten Keilschrifttexte, vor allem derjenigen aus Dūr-Katlimmu (Tell Sheikh Hamad) und arbe (Tell Chuēra) in Syrien, aber auch diejenigen aus den assyrischen Metropolen Assur und Ninive im heutigen Irak, entführen den Leser in das Reich des assyrischen Herrschers, der am Ende des 13. Jahrhunderts vor Christus nur ein Ziel kannte: Herr über die damalige Welt zu werden, um sich fortan ›König der vier Weltgegenden‹ nennen zu dürfen.

Die sensationellen Ergebnisse, die der Altorientalist Stefan Jakob / Universität Heidelberg bei der Entzifferung der uralten Schriftzeugnisse aus Tell Chuēra erzielte2, animierten den Autor das antike Leben von arbe, einer Festungsstadt im Grenzland der assyrischen Provinz anigalbat, in den Mittelpunkt des Romans zu rücken. Alle Hauptpersonen, auch die geschichtlichen Ereignisse und Begebenheiten, sind aus assyrischen Texten bekannt. Bis auf wenige Ausnahmen haben alle im Roman auftauchenden Charaktere also tatsächlich gelebt. Es oblag dem Verfasser, den handelnden Personen literarisches Leben einzuhauchen. Der Autor dankt seinem verehrten Lehrer Prof. (emer.) Dr. Gernot Wilhelm für die Deutung des hurritischen Namens der Hauptperson Puasenni, sowie seinem Freund und Kollegen Dr. Stefan Jakob / Universität Heidelberg für den regen Austausch über neueste Erkenntnisse wissenschaftlicher Untersuchungen zur sog. ›Mittelassyrischen Zeit‹ in der zweiten Hälfte des 2. Jahrtausends vor Christus.

Im Januar 2020

ARI TUR

1 Harald Klein, Die Grabung in der mittelassyrischen Siedlung; in: Winfried Orthmann et al., Ausgrabungen in Tell Chuēra in Nordost-Syrien I. Vorbericht über die Grabungskampagnen 1986 bis 1992. Vorderasiatische Forschungen der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung Band 2 (Saarbrücken 1995), Seite 185-201.

2 Stefan Jakob, Die mittelassyrischen Texte aus Tell Chuēra in Nordost-Syrien mit einem Beitrag von Daniela I. Janisch-Jakob. Vorderasiatische Forschungen der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung. Herausgegeben von Wolfgang Röllig. Band 2, Ausgrabungen in Tell Chuēra in Nordost-Syrien Teil III. Wiesbaden 2009.

2. Die vier Weltgegenden

Mesopotamien – das Land zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris – gilt als Ursprungsland früher Hochkulturen. Viertausend Jahre Kulturgeschichte, angefangen von den Sumerern, über die Babylonier bis zu den Assyrern werden in Schulbüchern zumeist auf zwei Seiten abgehandelt. Völker wie die Hethiter oder die Mitanni werden dabei nur beiläufig erwähnt. Von Elamiern und anderen großen Volksgruppen, wie den Hurritern, erfahren wir meist gar nichts! Dabei haben wir diesen Völkern zahlreiche Errungenschaften zu verdanken, die bis heute unser Leben beeinflussen. Die Erfindung des Rades und der Schrift, die ersten Staaten und Staatsgebilde mit bürokratischer Ordnung und Gesetzen, verbunden mit religiösen Vorstellungen, die noch heute nachwirken, haben wir dem Geist der Völker des Alten Orients zu verdanken!

Abb. 1: Karte von Syrien mit archäologischen Fundstätten

Von den alten Ägyptern haben wir eine bessere Kenntnis, weil deren Kultur besser greifbar ist. Beschriftete Monumente aus Stein, die Pyramiden, das Bild mumifizierter Königinnen und Könige mit prächtigen Grabbeigaben haben wir sofort vor Augen, denken wir an altägyptische Geschichte. Wir können uns ein ›Bild‹ davon machen, wie die alten Ägypter gelebt haben, vor allem über das Leben der Pharaonen. Selbst der Tagesablauf eines einfachen Bauern wurde hinreichend in Filmen dargestellt oder in Büchern beschrieben. Wir haben eine gewisse Vorstellung von der ägyptischen Hochkultur. Hand aufs Herz: Was wissen Sie über Babylonier oder Assyrer? Wie hat die Bevölkerung im Zweistromland zweitausend Jahre vor Christus gelebt? Wie sahen sie aus? Woran haben diese Menschen geglaubt, was haben sie gedacht, wie haben sie ihr Leben gefristet? Wenn überhaupt, haben wir nur eine vage Vorstellung von dem Leben im Alten Orient.

Begeben wir uns auf eine Reise in das Land zwischen den beiden Flüssen Euphrat und Tigris, den Lebensadern uralter Hochkulturen. Das Zweistromland war für die damaligen Könige das Zentrum ihrer Welt. Ihre Herrschaftsgebiete endeten in den vier Himmelsrichtungen an natürlichen Grenzen, die sie als die ›vier Weltgegenden‹ bezeichneten. Wie die Menschen des Mittelalters glaubten sie, auf einer Erdscheibe zu leben. Über ihnen das Firmament mit den himmlischen Göttern, unter ihnen der Süßwasserozean mit den Unterweltgottheiten. Das Ende der zivilisierten Weltgegenden bildeten zwei Meere: Das ›Obere Meer‹, das wir heute als Mittelmeer kennen, und das ›Untere Meer‹, der Arabisch-Persische Golf, wurden als die Grenzen zweier Weltgegenden verstanden. Schroffe Gebirgszüge, die sich vom Norden (dem Taurus-Gebirge in der heutigen Südtürkei) bis zum Osten (dem Zagros-Gebirge im Iran) erstreckten und von unzivilisierten ›Bergvölkern‹ – Barbaren – bewohnt wurden, umsäumten die dritte Weltgegend. Dahinter gab es für die alten Mesopotamier keine bewohnbare Welt. Gleiches galt für die glutheiße Wüstenregion, die wir heute Arabische Wüste nennen – bei den Völkern des Alten Orients das Ende der vierten Weltgegend.

Der erste Herrscher, der es schaffte, dieses Gebiet vom ›Oberen Meer‹ bis zum ›Unteren Meer‹, von den Bergländern bis zur Wüste, zu erobern, war Sargon von Akkad (2292 bis 2236 v. Chr.), der sich daraufhin ›König der vier Weltgegenden‹ nannte. Als Eroberer wurde Sargon legendär, sein Titel als erstrebenswerte Ehrenbezeichnung gerühmt. Nur derjenige Herrscher, dem es gelang, die vier Weltgegenden zu unterwerfen, durfte sich fortan ›König der vier Weltgegenden‹ nennen.

Abb. 2: Die vier Weltgegenden

In der Mitte des 13. Jahrhunderts vor Christus stritten mächtige Königreiche um die Vorherrschaft. Die Assyrer, die sich zu jener Zeit unter ihrem König Salmanassar I. (1263 – 1234 v. Chr.; eigentlich: Šulmānu-ašarād – übersetzt: Šulmānu ist der oberste Gott) zu einer militärischen Macht entwickelten, waren zwischen den Großmächten der damaligen Zeit eingekeilt. Im Süden beherrschte die Dynastie der Kassiten das Land Babylonien bis zum ›Unteren Meer‹. Im Norden hatten die kriegerischen Hethiter ihr Staatsgebiet von der heutigen Türkei über West-Syrien bis an die Grenzen Palästinas ausgebreitet, wo sie auf das Herrschaftsgebiet des ägyptischen Pharaos stießen. Im heutigen Nordost-Syrien hatten die Mitanni, indoeuropäische Einwanderer, die ortsansässigen Hurriter unterworfen und ein mächtiges Reich gegründet.

Umzingelt von Großmächten, versuchte sich das aufstrebende Assyrien dadurch zu behaupten, dass es Gebiete benachbarter Kleinkönige unterwarf, um auf diese Weise sein Herrschaftsgebiet nach und nach auszuweiten. Schon Salmanassars Vater Adad-nārārī I. (1295 – 1264 v. Chr.) hatte damit begonnen, diese Taktik anzuwenden. Salmanassar wagte es, die hochüberlegenen Mitanni anzugreifen.

Hier beginnt unsere Geschichte: König Salmanassar herrscht nun bereits fünfundzwanzig Jahre lang über die Assyrer. Seine Nachbarn zollen ihm Respekt, wenngleich sie ihn nicht als ebenbürtig anerkennen. Geduldig wartet er auf seine Chance. Die bietet sich ihm, als innere Streitigkeiten das Königshaus der Mitanni erschüttern. Er überfällt das Nachbarland und verleibt sich im Handstreich ein Drittel ihres Reiches ein. Die Hilferufe des Mitanni-Königs an die verbündeten Hethiter verhallen ungehört. Über Nacht wird aus dem ehemaligen Vasallenstaat Assyrien ein ernstzunehmender Gegner. Gelänge es ihm die Mitanni endgültig zu verjagen und deren gesamtes Reich zu erobern, würde der assyrische König zu den Großmächten seiner Zeit aufschließen. Dann wäre auch Salmanassar ein Großkönig wie der Kassit auf dem babylonischen Thron, der Herrscher der Hethiter im bergigen Norden oder der Pharao im weit entfernten Ägypten.

Um seine Macht zu vergrößern, benötigt Salmanassar Rohstoffe, vor allem Metalle, die es in den benachbarten Bergländern, nicht aber in seiner Heimat Assyrien gibt. Neben Kupfer und Silber hat vor allem Bronze als Werkstoff über viele Jahrhunderte das Leben der Menschen beeinflusst. Diese Metalle, in kleine Barren gegossen, waren aber nicht nur Rohstoffe und Handelsgüter, sondern gleichzeitig auch Zahlungsmittel. Mit der Eroberung des östlichen Mitanni-Reichs sind die Metallminen der hethitischen Verbündeten im nördlichen Bergland in greifbare Nähe gerückt.

Wagen wir also einen Blick in das Grenzland der Mitanni und Assyrer im heutigen Nord-Syrien. Gleiten wir hinab in die vier Weltgegenden am Ende der Spätbronzezeit, in das Jahr 1239 vor Christus ...

Abb. 2: Karte mit den wichtigsten Orten der Handlung

Jahr 1239 vor Christus:

25. Regierungsjahr von Salmanassar I.

3. Hurriter oder Mitanni?

Tagsüber ist es sehr heiß im Nordosten des Landes anigalbat3. Eigentlich wie immer im Monat Ša-šarrāte.4 Hier, einen halben Tagesritt südlich der Stadt Kulišinaš5, scheint sich in den Sommermonaten die Vegetation vor der unerbittlichen Sonne zu verstecken. Wenn im Frühling der erste Regen fällt, erkennt man das Land nicht wieder. Üppiges Grün bedeckt die flache Ebene bis hin zu den hohen Bergen weit im Norden, deren Gipfel man bei klarer Sicht erkennen kann. Jetzt aber, im Hochsommer, legt sich flirrende Hitze über das Land. Mensch und Tier suchen Schutz vor den glühenden Pfeilen, die Sonnengott Šamaš vom Himmel schießt. Heißen Nadeln gleich, sengen die Stiche die Haut. Erst gegen Abend, wenn der einsetzende Wind eine kühle Brise von den Bergen schickt, wird es erträglicher. Dann öffnen die Menschen die Luken und Türen ihrer aus Lehmziegeln errichteten Hütten, atmen die frische Luft. In diesem Landstrich gibt es nur wenige größere Ansiedlungen. Freiwillig möchte hier niemand wohnen. Hier und da stößt man auf ein paar bescheidene Flecken. Die meisten Bewohner hausen in weit verstreuten Einzelgehöften, die mehr eine Notgemeinschaft als eine Gemeinde bilden.

Einer dieser Höfe wird von unnu bewirtschaftet. Etwa vierzig Winter hat er überstanden, der Witterung getrotzt, um seiner Familie einen bescheidenen Lebensunterhalt zu bieten. unnu hat sich draußen im Hof im Schneidersitz an der kleinen Feuerstelle niedergelassen, die im Windschatten der Hofmauer und der niedrigen Lehmhütte in den Boden eingegraben ist. Lustlos rührt er mit einem Holzlöffel die dünne Suppe um, die in einem tönernen Topf über der Herdstelle köchelt.

»Jeden Tag das gleiche Essen!«, nörgelt sein halbwüchsiger Sohn, der sich zu ihm gesellt hat. »Ich wünschte, Mutter wäre hier. Dann gäbe es endlich einmal wieder etwas Richtiges zu essen!«

unnu seufzt: »Ach, Senni, an dem Tag, als deine Mutter starb, waren die Götter nicht mit uns. Leider kann ich nicht besser kochen. Hier, nehmt und esst!« Der Vater nimmt den dampfenden Kochtopf vom Feuer und stellt ihn auf die blanke Erde. Anschließend reißt er ein Fladenbrot in etwa drei gleichgroße Stücke. Einen Teil erhält der zehnjährige Senni, ein zweites reicht er seinem jüngsten Sohn. Auch wenn die Suppe dünn ist, und nur ein paar Zwiebeln im Sud schwimmen, machen sich die Kinder mit Heißhunger über die Brühe her. Wortlos löffeln die drei den Topf bis zum Grund aus. Nachdem sie mit dem Fladenbrot die letzten Tropfen ihres kärglichen Mahls aus dem Gefäß getunkt haben, wendet sich Senni an seinen Vater:

»Du warst heute fast den ganzen Tag in Kulišinaš. Was gibt es Neues in der Stadt? Was erzählt man sich auf dem Markt?« unnu greift sich an den Bart und schaut seinen Sohn mit ernster Miene an:

»Ein Kaufmann, der mit seinen Kamelen über die östliche Handelsstraße gekommen ist, berichtete, dass die Assyrer die Grenze überschritten haben. Angeblich sollen sie von Süden her in unser Heimatland anigalbat einmarschiert sein.«

Senni blickt seinen Vater fragend an: »Kämpfen wir nun gegen die Assyrer? Gibt es Krieg?«

unnu beruhigt ihn: »Keine Angst, mein Kind, wir sind Hurriter. Das Kämpfen übernehmen die Mitanni, unsere edlen Herren aus der Oberschicht. Einer auf dem Markt will gesehen haben, dass Hunderte von Marijanni auf dem Weg zur Grenze sind.«

Der Jüngling wird hellhörig: »Wer sind diese Marijanni?«

unnu lächelt seinen Sohn an: »Hatte ganz vergessen, dass du noch nie in deinem Leben einen Marijannu zu Gesicht bekommen hast. Die Marijanni sind gefüchtete Krieger. Die besten Kämpfer der Mitanni«, erklärt der Alte, »sie stehen immer zu zweit auf einem Streitwagen. Einer lenkt die Pferde in rasender Geschwindigkeit auf die Feinde zu. Der andere schießt mit Pfeil und Bogen auf die Gegner. Bevor diese einen Gegenangriff starten können, sind die Marijanni schon wieder außer Reichweite. Nach jedem Angriff sammeln sie sich und starten die nächste Attacke.«

Senni zieht die Augenbrauen nach oben: »Und warum verfolgen die Feinde diese Marijanni nicht?«

Abb. 3: Assyrische Götterprozession

unnu muss schon wieder lachen: »Mein Sohn, weil die Feinde meist nur Fußsoldaten besitzen. Die Assyrer haben keine guten Streitwagen! Zumindest berichten das die Kaufleute, die schon einmal in Assur, der Hauptstadt der Assyrer waren. Meine Freunde haben mir erzählt, dass die assyrischen Kampfwagen so schwerfällig wie Fuhrwerke seien, die wir zum Transportieren von Lasten benutzen. Aber sie besäßen prächtig geschmückte Prozessionswagen, auf denen sie ihre Götter durch die Straßen fahren. Ein seltsames Volk, diese Assyrer! Ihr höchster Gott heißt Aššur. Nach ihm haben sie alles benannt: Ihr Land, ihre Hauptstadt und sich selbst benennen sie nach ihrem Hauptgott!6 An hohen Festtag tragen sie ihren Weltenlenker aus dem Tempel und stellen ihn auf einen Wagen, der aussieht wie ein Schiff. Dann schaukeln sie ihn durch die Gassen, wo ihm die Menschenmengen zujubeln. Stell dir das einmal vor!«

Senni und sein Brüderchen kugeln sich vor Lachen. Nein, vor Feinden, die ihre Götter aus den Tempeln holen, brauchen sie sich wahrhaftig nicht zu fürchten, da sind sich die Kinder nun ganz sicher.

»Aber Vater, unsere Mutter war doch eine Assyrerin. Und sie war ganz normal!« Senni blickt den Vater fragend an.

»Das ist wohl wahr. Eure Mutter war eine gebürtige Assyrerin, aber sie hat von ihrer alten Heimat nicht sehr viel mitbekommen. Ihre Eltern haben sich schon kurz nach ihrer Geburt in unserer Nachbarschaft als Händler niedergelassen. Eure Mutter ist also hier bei uns auf dem Lande aufgewachsen. Die Verrücktheiten der Assyrer in den großen Städten hat sie zeit ihres Lebens nicht miterlebt.«

Durch die Schilderungen seines Vaters ist Sennis Neugier erst richtig geweckt: »Welche Völker gibt es noch in unserer Nachbarschaft? Und wie groß ist unser Land anigalbat eigentlich?«, erkundigt er sich.

»Ziemlich groß, mein Sohn«, antwortet unnu. »Weit im Westen reicht es bis zum Fluss Purattu7. Man soll von hier aus fast zehn Tage benötigen, um dorthin zu gelangen. Wenn man diesen Fluss überquert, gelangt man in das Herrschaftsgebiet der Ägypter. Ihren König nennen sie Pharao und glauben, dass er ein Gott sei.«

Die Kinder kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus. »Was? Die Ägypter halten ihren König für einen Gott?«

unnu bemerkt das Leuchten in den Augen seines Ältesten, der an seinen Lippen hängt: »Erzähle weiter, Vater, welche Völker gibt es noch?« Senni kann es kaum erwarten, noch mehr über die Welt zu erfahren, die so weit von ihnen entfernt liegt.

Sein Vater nimmt ein Schluck Wasser aus einer Tonschale und setzt seinen Bericht fort: »Im Norden bilden die Kašiari-Berge8 die Grenze. Bei klarer Sicht kannst du von unserem Haus aus den Gebirgszug weit hinten am Horizont erkennen. Dahinter liegt das Land der Hethiter, einem Bergvolk, deren Sprache wie das Grunzen von Schweinen klingt. Kaum jemand kann deren Kauderwelsch verstehen.«

Die Kinder sind nicht mehr zu halten. Außer Rand und Band kriechen sie auf allen vieren auf dem Boden herum und ahmen das Grunzen von Schweinen nach. »Reden die Hethiter etwa so?«

unnu grinst: »Ja, so ähnlich muss ihre Sprache klingen. Das behaupten auf jeden Fall hurritische Kaufleute, die mit Hethitern Handel betreiben.«

Sennis Wissbegier kennt keine Grenzen: »Welches Volk lebt flussabwärts?«, bohrt er nach.

»Die Babylonier, mein Junge. Sehr gebildete Menschen mit Tempeln, die in den Himmel ragen. Ihr König ist einer der mächtigsten Männer der Welt, aber er soll sich die Augen und die Lippen schminken.«

Senni schüttelt ungläubig den Kopf: »Ein König, der sich wie eine Frau schminkt? Vater, erzählst du uns nun Märchen?«

unnu antwortet amüsiert: »Nein, Senni, das hat der fahrende Händler versichert, der letztes Jahr hier vorübergezogen ist. Der erzählte auch, dass sich der ägyptische Pharao ebenfalls Farbe auf Augen und Mund aufträgt.«

Die beiden Jungen stehen mit offenen Mündern vor ihrem Vater. Kaum zu glauben, was sie da hören. Senni erinnert sich dunkel daran, dass ihre Mutter sich einmal ihre Augen mit schwarzer Paste und die Lippen mit irgendetwas Rotem angemalt hatte, als sie zur Hochzeit auf dem Nachbargehöft eingeladen waren. Mutter sah damals fantastisch aus. Wie er fand, war seine Mutter die Schönste aller Frauen. Auch viel schöner als die Braut, die er allerdings nur kurz gesehen hatte. Zudem war die Heiratskandidatin von Kopf bis Fuß verschleiert. Nur ihre Augen konnte er für einen Moment lang sehen. Auf diesem Fest hatte er so viele Frauen kennengelernt wie noch nie zuvor in seinem Leben. Und die meisten hatten sich zurechtgemacht. Aber Männer, die sich schminken? So etwas hatte er noch nie gehört. Kein Hurriter würde das tun. Welcher Mann wollte schon aussehen wie ein Weib?

»Vater, hast du schon einmal einen geschminkten Babylonier gesehen?«

unnu schüttelt sich vor Lachen: »Senni, das nächste Mal kommst du mit in die Stadt. Dann kannst du im Basar selbst nach einem geschminkten Babylonier Ausschau halten.«

Der Junge lächelt höchst zufrieden: »Du hast uns nun von vielen Völkern erzählt. Von den Ägyptern im Westen, die ihren König als Gott verehren, den grunzenden Hethitern im Norden, den geschminkten Babyloniern im Süden. Wo genau wohnen die Assyrer, die ihren Gott auf einem Wagen durch die Straßen karren?«

unnu streicht sich erneut über den Bart, bevor er antwortet: »Im Osten endet unser Land anigalbat am Flusslauf des Idiglat9. Das jenseitige Ufer gehört schon zum Herrschaftsgebiet der Assyrer. Ein Kaufmann hat mir einmal den Weg nach Assur, der Hauptstadt der Assyrer, beschrieben. Von Kulišinaš aus sei man mit einem Fuhrwerk ungefähr vier bis fünf Tage unterwegs, bis man die Grenze Assyriens erreicht. Man müsse der nördlichen Karawanenstraße Richtung Südosten folgen, dann käme man geradewegs dorthin. Wo unser Land im Osten genau endet, vermag ich nicht zu sagen. Wer weiß das schon?«

Sennis Augen werden immer größer: »Nach deiner Beschreibung scheint anigalbat ganz schön groß zu sein«, bemerkt er erstaunt.

»Das kann man wohl sagen,« bestätigt sein Vater, »aber hinter all diesen Grenzen lauern die mächtigen Feinde, die ich aufgezählt habe. Aber bislang haben die Mitanni, unsere Herren, alle Angriffe erfolgreich abgewehrt. Sollten sie einmal Schwäche zeigen, dann werden die anderen Völker wie Schakale über uns herfallen, denn unser Land ist reich.«

Senni starrt ihn etwas ungläubig an: »Aber Vater, wir sind doch gar nicht reich«, wendet der Junge ein.

unnu winkt ab: »Du hast recht, mein Junge, wir selbst sind arm. Aber die Mitanni, die sich hier als Oberherren aufspielen, sind wohlhabend, weil sie uns Hurriter seit Jahrhunderten auspressen. Nachdem sie vor vielen Jahren in unser Land eingedrungen sind, haben sie die besten Ländereien für sich vorbehalten, um dort ihre Pferde zu züchten. Uns Einheimischen haben sie nur die kargen Landstriche überlassen. Wenn wir Hurriter nur stark genug wären, dann würden wir das Joch der Mitanni abwerfen. Wenn man den Händlern auf den Basaren glauben darf, scheint die Macht der Mitanni langsam zu bröckeln.«

Welche Neuigkeiten! Senni muss mehr wissen und hakt nach: »Wegen des Einmarschs der Assyrer?«

Sein Vater zuckt mit den Schultern: »Ich vermute es, aber niemand traut es laut auszusprechen. Hinter vorgehaltener Hand munkelt man, dass die Assyrer auf dem Vormarsch nach Westen seien. Aber etwas Genaues kann keiner sagen.«

Abb. 4: Assyrische Handelsrouten

unnu erhebt sich und klatscht in die Hände: »Kinder, Zeit zu schlafen! Marsch ins Haus!« Er löscht das Herdfeuer und folgt den Kindern ins Innere der strohbedeckten Hütte, die aus einem einzigen, langrechteckigen Raum besteht. In einer Ecke streut unnu ein wenig Stroh auf den Boden und breitet eine verschlissene Decke darüber. »Leider kann ich euch keine bessere Bettstatt mehr bieten. Ich musste heute alle Tücher und auch die mit Schafswolle gefüllten Decken auf dem Markt verkaufen. Wir müssen nun mit diesem unbequemen Lager vorliebnehmen.«

Die beiden Kinder legen sich nieder. unnu streichelt seinen Söhnen liebevoll über die Köpfe, bevor sie alle nebeneinander einschlummern.

Senni schläft sehr unruhig in dieser Nacht. Im Traum erscheint ihm ein Hethiter, der ihn wie ein Schwein angrunzt. Neben ihm sitzt der ägyptische Pharao auf einem goldenen Thron und befiehlt Senni, ihn als Gott anzubeten. Ein Babylonier kommt hinzu und fordert ihn auf, sich zu schminken. Zu guter Letzt kommt ein wild aussehender Assyrer auf ihn zugerannt, der drohend eine Keule über dem Kopf schwingt. Plötzlich nähert sich Hufgetrappel. Alle stieben schreiend auseinander. Ein Mitanni, da kommt ein Mitanni auf einem Streitwagen! Flieht! Flieht! In rasendem Tempo jagt der Streitwagen auf Senni zu. Er kann seine Beine nicht bewegen und bleibt wie angewurzelt stehen. Gerade als die schnaubenden Pferde ihn zu zermalmen drohen, bremst der Wagenlenker ab und bleibt vor Senni stehen.

»Bist du Mitanni oder Hurriter?«, fragt er den Jungen.

»Hurriter,« gibt dieser zur Antwort, »ich bin ein Hurriter!« Senni erwacht schweißgebadet aus seinem Traum.

3anigalbat war ein antiker Staat zwischen Euphrat und Tigris im heutigen Nord-Syrien.

4 Der Monat Ša-šarrāte entspricht dem Monat Juli in der modernen Zeitrechnung; s. Stefan Jakob, Rezension zu Helmut Freydank und Barbara Feller, Mittelassyrische Rechtsurkunden und Verwaltungstexte IX. Orientalische Literaturzeitung (OLZ) 110 (3) 2015, Seite 205 – 216.

5 Das heutige Tell Amuda in Nordost-Syrien, nahe der türkisch-syrischen Grenze.

6 Im Folgenden wird zwischen der Stadt ›Assur‹ und dem Gott ›Aššur‹ (ausgesprochen: Asch-schur) unterschieden. Das Reich der Assyrer, das sie selbst māt dAššur - Land des Gottes Aššur - nannten, wird im Text als ›Assyrien‹ bezeichnet. Zur Aussprache der Namen s. auch Kap. 46.

7 Der Euphrat.

8 Der Tur-Abdin, ein Gebirgszug in Nordost-Syrien an der syrisch-türkischen Grenze.

9 Der Tigris.

4. Der Schuldknecht

Senni lehnt an der halbverfallenen Umfassungsmauer des väterlichen Gehöfts. Sein Blick schweift in die Ferne über die verdörrten Stoppeln eines abgeernteten Getreidefelds. Der heiße Wind biegt die Halme sanft zur Seite, die die Schnitter am Rande des Feldes übersehen haben. Von Weitem nähert sich der Hufschlag von Pferden. Neugierig steckt der Junge den Kopf zum Hoftor heraus und späht den Weg hinunter. Das Hufgetrappel kommt stetig näher aus Richtung der Kleinstadt Kulišhinaš die nur eine Doppelstunde von hier entfernt liegt. Er kann nicht genau ausmachen, um wie viele Tiere es sich handelt. Es müssen aber mindestens zwei Pferde sein, so viel steht fest. Jetzt müssen die Gäule in Rufweite sein, aber es ist noch immer nichts Genaues zu erkennen, da die herannahenden Tiere in eine riesige Staubwolke gehüllt sind. Erst im letzten Augenblick macht der Junge ein Gespann aus, das von zwei Pferden gezogen wird. Der Wagenlenker scheint nicht daran zu denken, den Lauf der Tiere zu bremsen, sondern biegt in rasender Fahrt vom Hauptweg ab und kommt direkt auf das Tor zu. Der Junge muss einen Sprung zur Seite machen, um von dem vorbeipreschenden Streitwagen nicht mitgerissen zu werden. In vollem Galopp hält der Wagen auf das Haus seines Vaters zu und kommt erst dicht vor dem Eingang zum Stehen. Der Wagenlenker, ein hochgewachsener Mann mit leichtem Bartwuchs, trägt einen hohen Bronzehelm auf dem Kopf.

Mit einem Riesensatz springt er von seinem Gefährt, ohne die Zügel der Pferde fallen zu lassen. Misstrauisch schaut er sich nach allen Seiten um. Als er niemanden außer den Jungen erblickt, winkt er diesen herbei. Der Knabe zögert einen Augenblick, was den Wagenlenker in Wallung bringt:

»Ist unnu zu Hause?«, schreit der Mann dem Halbwüchsigen unwirsch entgegen.

Der Junge schrickt zusammen. Die Stimme des Wagenlenkers klingt ungewöhnlich tief und laut.

»Ich habe dich etwas gefragt, oder soll ich deinen Mund mit der Peitsche öffnen?«

Der Mann umklammert bei diesen Worten den bronzebeschlagenen Griff seiner Reitpeitsche, die an seinem Gürtel hängt, so als ob er sie gleich gebrauchen möchte. Die Knoten der langen Lederriemen tänzeln bei seinen Worten über dem Boden, als ob sie augenblicklich den Befehl ihres Herrn ausführen möchten. Nach dieser Drohung setzt der Knabe seine Füße zwar etwas schneller voreinander, aber laufen? Nein, jetzt erst recht nicht, sagt er zu sich selbst.

Beim Näherkommen mustert er den Fremden etwas genauer. Der Mann trägt einen schwarzen Schurzrock, der über den Knien in einem bunt bestickten Saum endet. Quer über den Oberkörper hat er nach hurritischer Sitte einen Umhang geschwungen, dessen Ränder so bunt sind wie die Federn der Singvögel, die gerade von den Bäumen zwitschern: Das Schalgewand vornehmer Herren! Sein blank polierter Bronzehelm, der am unteren Rand durch ein silberfarbenes Metallband verstärkt ist, glänzt in der Mittagssonne.

Abb. 5: Siegelabrollung: In der Mitte ein Mann mit hohem Helm im hurritischen Schalgewand

Noch bevor der Junge antworten kann, biegt ein älterer Mann in einem ziemlich verschlissenen Gewand um die Ecke des Hauses und bleibt sichtlich erschrocken stehen.

»Da bist du ja, unnu! Du hast wohl nicht geglaubt, dass ich persönlich bei dir vorbeikomme.« Die Augen des Wagenlenkers funkeln gefährlich, als er ein paar Schritte auf den Alten zugeht. »Rein ins Haus, ich habe mit dir zu reden!« Mit der flachen Hand gibt er unnu einen so derben Schlag auf den Rücken, dass dieser durch die Tür ins Innere stolpert. Bevor der Fremde ihm folgt, wendet er sich noch einmal dem Jungen zu: »Gib den Gäulen Wasser, du hurritischer Balg! Wehe du versorgst meine Lieblinge schlecht!« Bei diesen Worten klopft er mit der Hand auf den Griff seiner Reitpeitsche und drückt dem Jüngling die Zügel in die Hände.

»Wenn ich die Pferde getränkt und gefüttert habe, soll ich ihnen dann auch die Hufe balsamieren?«, erkundigt sich der Knabe keck.

Verblüfft bleibt der Wagenlenker in der Türe stehen und betrachtet den Jungen von oben bis unten: »Verstehst du etwas von Pferden, du Knirps?«

Der Kleine antwortet selbstbewusst: »Natürlich! Vater hat mir alles beigebracht, was man über Pferde wissen muss. Schließlich ist er der beste Pferdezüchter weit und breit! Die Hufe deiner Pferde, vor allem aber die Vorderfessel des Rappen benötigen dringend eine Behandlung, sonst beginnt er schon bald zu lahmen.«

Der Wagenlenker zieht die Augenbrauen nach oben: »Nachher, wenn ich mit deinem Vater fertig bin, werde ich deine Arbeit genauestens in Augenschein nehmen. Dann werden wir sehen, was er dich gelehrt hat.«

Der Fremde verschwindet im Haus und zieht die Türe so fest hinter sich zu, dass sie krachend gegen die hölzerne Laibung prallt.

Während der Junge sich an die Versorgung der Pferde macht, gesellt sich sein jüngerer Bruder zu ihm:

»Wer ist der Fremde, Šenni?«, will der Kleine von dem Älteren wissen.

»Keine Ahnung. Habe den Mann noch nie im Leben gesehen«, gibt der Junge mürrisch zur Antwort, »und nenne mich nicht immer ›Šenni‹. Schon gar nicht vor fremden Leuten! ›Šenni‹ nennen mich nur die Mitanni. Wir sind Hurriter und in unserer Sprache wird mein Name ›Senni‹ ausgesprochen. Merke dir das ein für alle Mal!«

Der Kleine blickt ihn fragend an: »Aber du bist doch mein Šenni, mein Bruder. Alle nennen dich so. Sogar unsere Mutter hat dich so gerufen!«

Dem Älteren wird es zu bunt: »Halt die Klappe, du Zwerg. Hilf mir lieber, die Pferde des Fremden zu versorgen! Lauf hinüber zur Scheune und bring den Krug mit Vaters Pferdesalbe.«

Der Kleine entfernt sich, lustig vor sich hin pfeifend, in Richtung eines baufälligen Anbaus, dessen zerzaustes Strohdach fast bis zum Boden herabhängt.

Endlich alleine, beginnt Senni über die Ankunft des fremden Rüpels nachzugrübeln. Der Kerl spricht zwar die gleiche Sprache wie er und sein Vater, aber ein Hurriter ist er nicht, da ist Senni sich ganz sicher. Der Mann betont manche Silben völlig anders als sie. Auch das ›s‹ spricht er zuweilen wie ein ›sch‹ aus. Dadurch klingt seine Aussprache nicht wie die ihrige, sondern eher wie die eines Ausländers – irgendwie fremdartig. Hierher, auf das kleine Gehöft vor den Toren der Kleinstadt Kulišhinaš verirren sich nur hier und da ein paar fahrende Händler, die mit ihren quietschenden Karren über Land ziehen, um ihre Waren feilzubieten. Im letzten Jahr war ein kassitischer Kaufmann aus Babylonien unter ihnen, der Hurritisch mit einem besonderen Akzent sprach. Der Junge erinnert sich noch, wie er und sein Bruder die falschen Ausdrücke des Händlers nachgeäfft haben, bis sie ihr Vater zur Ordnung rief. Sie sollten sich nicht über Fremde lustig machen, die sich Mühe geben, mit ihnen in ihrer Muttersprache zu reden, hatte er sie ermahnt. Der Wagenlenker beherrscht ihre Sprache auf jeden Fall wesentlich besser als die ausländischen Händler. Vielleicht ist der Fremde einer von diesen Hochgeborenen, von denen sein Vater ihnen gerade noch gestern Abend erzählt hat. Könnte dieser Kerl sogar ein vornehmer Mitanni sein, deren Vorfahren vor vielen hundert Jahren in ihr Land eingefallen sind? Wie oft hatte sein Vater ihm vom heldenhaften Kampf der Hurriter, ihrer Ahnen, gegen die fremden Eindringlinge aus dem Norden berichtet. Aber sie hätten keine Chance gegen die Mitanni gehabt, die damals eine Wunderwaffe zum Einsatz gebracht hätten: Zweirädrige Kampfwagen, die kaum Gewicht besäßen. Man könne ein solches Gefährt mit einer Hand anheben. Und im Kampf seien sie unschlagbar, weil sie pfeilschnell heranjagen. Und nun steht so ein Wunderwagen auf ihrem Hof. Vielleicht ist dieser Mann sogar ein Marijannu. Vaters gestrige Beschreibung würde auf ihn passen! Je länger er darüber nachdenkt, umso plausibler scheint ihm diese Erklärung: Der fremde Wagenlenker muss ein Marijannu, einer dieser gefürchteten Garde-Krieger der Mitanni sein!

Abb. 6: Neuassyrisches Relief mit der Darstellung eines Streitwagens

Mit großen Augen streicht der Junge um den Streitwagen, um jede Einzelheit zu bestaunen. So ein Gefährt hat er noch nie in seinem Leben gesehen. Was für Räder! Sie sind dünn und besitzen sechs Speichen. Ganz anders als diejenigen, die er von den Karren vorbeiziehender Händler kennt. Diese werden von massiven Holzscheiben getragen, die bei jeder Umdrehung quietschen, dass einem die Ohren sausen. Vorsichtig inspiziert er den Wagenkasten und setzt dabei seinen rechten Fuß auf den Wagenboden. Dieser besteht zu seiner Überraschung nicht aus Holzplanken, sondern aus eng miteinander verflochtenen Lederstreifen. Sich mit beiden daraufzustellen wagt er nicht. Der Fremde würde ihn mit Sicherheit züchtigen, wenn er ihn erwischen würde. Als er sich ein wenig vom Boden abdrückt, gibt der Wagenboden unter seinem Gewicht nach, federt leicht nach unten, um im nächsten Augenblick wieder nach oben zu schnellen. Der Junge pfeift anerkennend durch die Zähne, um sich gleich darauf noch einmal abzudrücken. Nun aber etwas fester. Der Wagen senkt sich wiederum ein wenig und kehrt wie von Zauberhand in seine Ausgangsposition zurück. Nun verliert der Junge jegliche Hemmungen und wippt auf der Plattform des Wagens mit beiden Beinen hoch und runter. Ein herrliches Spielzeug dieses Gefährt! Dann fällt sein Blick nach vorne auf den halbrunden Wagenkasten. Auf der Innenseite hängt ein Köcher an ledernen Riemen, in dem zahlreiche Pfeile stecken. Daneben ein prächtiger Bogen in einer Halterung, die eigens dafür konstruiert wurde. Wie gerne hätte er diese Waffe einmal ausprobiert, aber er wagt es nicht, sie anzufassen. Und diese Pferde! Beide von erlesener Schönheit! Der Junge springt vom Wagen, geht langsam auf die Tiere zu. Als die Pferde zu scheuen beginnen, spricht er mit leiser Stimme auf sie ein und tätschelt ihre Hälse. Nur einen Moment später beruhigen sie sich, schnauben noch einmal durch ihre geblähten Nüstern und lassen sich an den Zügeln zum Wassertrog führen, der unter dem geöffneten Fenster des Hauses steht.

Von drinnen dringen Gesprächsfetzen nach draußen. Deutlich hört der Junge die flehende Stimme seines Vaters, während der Fremde mit lauter Stimme lospoltert. Der ungebührliche Ton, den der Wagenlenker gegenüber seinem Vater anschlägt, passt zu der Beschreibung, die ihm sein alter Herr gegeben hat: Die Mitanni würden sich als Herrenmenschen gebaren und sie, die Hurriter, als Menschen zweiter Klasse behandeln. Aber eines müsse man neidlos anerkennen, hatte sein Vater gesagt: Es gäbe auf der Welt keine besseren Pferdeausbilder als diese Mitanni. Was haben die beiden bloß so Wichtiges miteinander zu bereden, dass dieser vornehme Wagenlenker persönlich zu ihnen nach Hause kommt, fragt sich der Junge. Vater hat nicht erwähnt, dass er einen Gast erwartet. Und wie respektlos sich der Fremde seinem Familienoberhaupt gegenüber benimmt! Er muss unbedingt herausfinden, was im Haus vor sich geht, ohne dass die beiden Erwachsenen etwas bemerken. Sein Vater würde ihm nie verzeihen, wenn er ihr Gespräch belauscht. Der Junge fasst einen Entschluss: Er wird die Hufpflege vor dem geöffneten Fenster ausführen. Bestimmt kann er dann das ein oder andere Wort ›zufällig‹ aufschnappen – das wäre ja kein bewusstes Lauschen, beruhigt er sich selbst. Vorsichtig zieht er die Pferde samt Gespann in Richtung der Fensteröffnung und streut den Tieren etwas Hafer auf den Boden. Während die Pferde sich über das Futter hermachen, kniet er sich vor den Wasserbottich und beginnt die Hufe hinauf bis zu den Fesseln mit Wasser abzuwaschen. Als sein jüngerer Bruder mit dem Tonkrug zurückkehrt, entfernt er behutsam das Tuch über der Öffnung des bauchigen Gefäßes, immer darauf bedacht, dass die darin enthaltene, zähflüssige Paste nicht verschmutzt wird. Schließlich hat sein Vater die Salbe nach einer speziellen Rezeptur hergestellt. Die Ingredienzen, die in tagelanger Arbeit mit Lorbeersaft und Sesamöl vermengt werden, kennen nur sein Vater und er. Das Zeug hilft Pferden bei allen möglichen Verletzungen, kann aber auch auf die Hufe aufgetragen werden, um diese vor Austrocknung bei einem Ritt im heißen Wüstensand zu schützen. Nachdem er seine Finger in die Paste getaucht hat, beginnt er den Tieren die Vorderhufe einzufetten. Die Konzentration des Knaben ist aber dabei nicht so sehr auf seine Tätigkeit ausgerichtet, vielmehr versucht er, Gesprächsfetzen im Haus zu erhaschen. Je länger er vor dem Fenster kauert und hineinlauscht, umso mehr beginnt er, den Inhalt der Unterhaltung zwischen seinem Vater und dem Fremden zu verstehen.

»Herr, ich kann dir die Schulden im nächsten Jahr zurückzahlen, bestimmt. Bitte, gib mir noch ein Jahr Zeit«, hört er seinen Vater flehen.

»Nichts da, unnu, um Aufschub hast du mich schon im letzten Jahr gebeten. Nun ist Schluss! Wenn du mir das Silber, das ich dir geliehen habe, nicht augenblicklich mit den vereinbarten Zinsen zurückzahlen kannst, dann musst du den Weg in die Schuldknechtschaft antreten, so will es das Gesetz.« Die dunkle Stimme des Wagenlenkers schallt unerbittlich durch das Haus.

»Herr, das Unglück ist über mich und meine Familie hereingebrochen. Erst ist meine Frau verstorben und hat mich mit zwei kleinen Kindern zurückgelassen. Zu allem Elend ist nun auch noch die Stute bei der Geburt ihres Fohlens verendet. Vom Erlös dieser Tiere wollte ich meine Schulden begleichen. Mir sind nur noch meine beiden Söhne und der Zuchthengst draußen auf der Koppel geblieben. Wenn ich euch in die Schuldknechtschaft folge, wer soll sich dann um meine Kinder kümmern?«

Die Stimme des Fremden wird immer lauter: »Das ist alleine deine Angelegenheit. Ich will mein Silber zurück oder du kommst mit mir auf mein Gestüt und arbeitest dort so lange als Knecht, bis die Schuld getilgt ist. Hast du mich verstanden? Schließlich hast du diesem Vertrag unter Zeugen zugestimmt!«

Nun wagt es der Junge, einen Blick durch das Fenster zu werfen. Er sieht seinen Vater mit zitternden Händen vor dem Wagenlenker stehen, der ihm eine Tontafel unter die Nase hält.

»Schau her, unnu, dieser Vertrag, den ich hier in den Händen halte, ist mit deinem Rollsiegel gezeichnet. Die Rückzahlung der Summe sollte nach einem Jahr erfolgen. Ich warte nun aber schon seit zwei Jahren auf mein Silber.«

Senni hört seinen Vater betteln: »Herr, ich bitte dich nur noch um sechs weitere Monate Aufschub, dann habe ich das Silber erwirtschaftet und zahle alles zurück.«

Die barsche Stimme erwidert: »Nichts da, du elender Hurriter, meinst du, ich habe die weite Reise aus der Hauptstadt Waššukanni10 bis hierher zum Spaß gemacht? Seit vier Tagen bin ich unterwegs und treibe von meinen säumigen Schuldnern die Rückzahlungen ein. Du bist der Vorletzte auf meiner Liste. Glaubst du, du könntest einen Mitanni betrügen? Ausgerechnet du, ein Hurriter? Her mit dem Silber oder dein Schicksal ist von nun an die Schuldknechtschaft auf meinem Landgut!«

unnu sucht verzweifelt nach einem Ausweg und blickt hilfesuchend um sich. Wutschnaubend packt ihn der Wagenlenker am Arm und zerrt ihn hinaus vor die Tür, wo er ihn vor den Augen seiner Kinder zu Boden stößt.

»Einen schönen Vater habt ihr. Ein Dieb und Betrüger ist er. Ich werde ihn nun mit zu meinem Gehöft mitnehmen. Dort kann er so lange als Sklave arbeiten, bis seine Schuld getilgt ist. Es sei denn, einer von euch tritt an eures Vaters Stelle.«

Der jüngste der beiden Brüder beginnt zu weinen: »Vater, was will der fremde Mann von dir? Warum will er dich mitnehmen?«

Senni legt seinem Brüderchen tröstend die Hand auf die Schulter. Innerlich bebt er vor Wut, doch was kann ein Halbwüchsiger gegen solch einen Hünen wie den Wagenlenker ausrichten? Trotzdem fasst er all seinen Mut zusammen und tritt breitbeinig vor den Fremden:

»Lass ab von meinem Vater! Ich werde seinen Platz einnehmen. Nimm mich mit und lass ihn hier in unserem Haus. Ich bin jünger als er und kann kräftig zupacken. Außerdem kann ich deine Pferde genauso gut versorgen wie er. Schau her!« Voller Stolz weist er auf die Hufe der beiden Pferde, die nach der Behandlung mit der ölhaltigen Paste in der Sonne glänzen.

Verdutzt lässt der Mitanni von dem Alten ab und inspiziert eingehend die Läufe seiner Pferde. »Nicht übel, Kleiner, du scheinst in der Tat ein brauchbarer Pferdeknecht zu sein. Ich nehme dein Angebot an. Du folgst mir zu meinem Gestüt in der Nähe der Hauptstadt Waššukanni. Pack dein Bündel und steig in den Wagen!«

Als unnu dies hört, springt er auf die Beine und stellt sich schützend vor seinen Sohn: »Herr, lass mir meinen Sohn – ich bitte dich, nimm mir nicht meinen Senni! Er ist doch erst zehn Jahre alt.«

Der Wagenlenker bricht in schallendes Gelächter aus und verpasst dem zeternden Vater einen so kräftigen Fußtritt, dass dieser erneut im Staub landet.

»Vater, lass gut sein!«, beschwichtigt sein Ältester, als er ihm auf die Beine hilft, »bleibe du hier und versorge mein Brüderchen. Er braucht dich mehr als mich.«

Viel gibt es nicht, was Senni mitnehmen könnte. Fast alles, was er besitzt, trägt er am Leib. Er hat eigentlich nur noch ein zweites Gewand, aus dem er fast schon herausgewachsen ist und ein kleines Fläschchen aus Ton, sein wertvollster Besitz. Vor Tagen hat er zum ersten Mal nach Vaters Geheimrezeptur die Pferdesalbe hergestellt und in das Gefäß abgefüllt. Das tönerne Behältnis wickelt er nun in das alte Gewand und verschnürt das Bündel mit Lederriemen. Als er zur Tür hinaustritt, umarmt Senni noch einmal seinen Vater, dem die Tränen die Wangen herunterrinnen. Seinem Brüderchen drückt er zum Abschied einen Kuss auf die Stirn und klettert zu dem wartenden Mitanni in den Wagenkasten. Der schreit dem um Fassung ringenden Vater entgegen:

»Deine Schuld ist hiermit getilgt, unnu. Ich werde deinen Ältesten zum besten Pferdeknecht der Region ausbilden, darauf kannst du dich verlassen!«

unnu fällt auf die Knie und fleht inständig, ihm den Sohn zu belassen. Er bietet ihm sogar seinen Zuchthengst an. Vergebens.

»Pferde habe ich genug! Und wesentlich edlere Tiere als deine hurritische Mähre!«

Im nächsten Moment schwingt der Wagenlenker seine Peitsche mit lautem Knall über die Köpfe der Pferde. Nach einem kurzem Ruck fallen die beiden Gäule in Galopp und fegen mit dem Streitwagen im Schlepptau zum Tor hinaus. Senni klammert sich mit allen Kräften am Rand des Wagenkastens fest und wirft noch einmal einen wehmütigen Blick zurück. Er sieht noch, wie sein Vater mit dem Brüderchen an der Hand ein Stück hinter ihnen herläuft. Dann verschwinden beide sehr schnell aus seinem Blickfeld. Ob er die beiden jemals wiedersehen wird?

10 Tell Fecherije in Nordost-Syrien. Ehemalige Hauptstadt des Mitanni-Reichs.

5. Der assyrische Tuchhändler

Seit vier Tagen sind sie nun unterwegs. Senni steckt noch der Schock in den Gliedern, nachdem er gestern Zeuge wurde, mit welcher Brutalität der Wagenlenker einen weiteren Schuldner dazu zwang, ihm zehn Kupferbarren auszuhändigen. Er schnappte sich einfach das jüngste Mädchen der Familie, zog das junge Ding an den Haaren zum Streitwagen und drohte, das schreiende Gör auf dem Markt als Sklavin zu verkaufen. Es dauerte nicht lange und der Vater kehrte mit den Metallbarren und einem Gewand aus feinem Stoff zurück, um seine Tochter auszulösen.

»Säumigen Schuldnern musst du mit Bestimmtheit gegenübertreten«, belehrt ihn der Mitanni, nachdem sie sich wieder auf den Weg gemacht haben. »Du darfst niemals Schwäche zeigen, sonst tanzen sie dir auf der Nase herum. Merke dir das, Kleiner! Selbst der geringste Tagelöhner hat noch irgendwo Wertgegenstände versteckt. Du musst die Leute mit allen Mitteln dazu bringen, dir ihre letzten Ersparnisse auszuhändigen. Wenn du das nicht tust, wirst du niemals zu Wohlstand kommen, hast du verstanden?«

Senni nickt verlegen, kann sich aber nicht im Traum vorstellen, jemals im Leben seine Mitmenschen so zu behandeln wie dieser Mann.

Sie durchqueren Steppengebiete mit spärlichem Grasbewuchs, passieren die karge Gebirgslandschaft des Kašiari-Gebirges.11 Die Pferde schnauben vor Anstrengung beim Anstieg auf die Hochebene. Senni prägt sich während der Reise besondere Landmarken ein, denn er glaubt fest daran, eines Tages wieder zu seinem Vater unnu zurückzukehren. Die Passstraße ist eng und nun von dichten Wäldern umsäumt. Der Wind pfeift zum Abend hin so kalt durch die Wipfel, dass der Junge befürchtet, zu erfrieren. Als es endlich bergab geht, sind seine Finger vom eisigen Fahrtwind so klamm, dass er sich kaum mehr am Wagenkasten festhalten kann. In seiner Not versucht er, sich sogar an den wärmenden Körper des Wagenlenkers anzulehnen. In dem Augenblick, in dem seine Wange das Oberhemd des Wagenlenkers berührt, schreckt er zurück. Der Kerl riecht widerlich nach Schweiß und Pferd. Doch die Kälte ist schlimmer als die extreme Körperausdünstung seines neuen Herrn. Senni überwindet seine Abneigung gegen den abscheulichen Geruch und schiebt seinen Rücken näher an den Wagenlenker heran. Selbst die schwitzenden Pferde vor ihnen riechen besser als dieser Mann, davon ist der Junge überzeugt. Das unaufhörliche Hufgetrappel hämmert wie Keulenschläge auf sein Trommelfell. Nach der tagelangen Fahrt brummt es in seinem Schädel wie in einem Nest voller Wespen. Dem Mitanni scheint dies alles nichts auszumachen. Er steht wie eine Säule auf dem Wagen und treibt die Tiere an. Der Junge indes, der das lange Stehen auf dem wackligen Wagen nicht gewohnt ist, überkommt eine bleierne Müdigkeit. Langsam kriecht sie an ihm hoch, lässt seine Glieder so schwer werden, dass er sich kaum mehr auf den Beinen halten kann. Schläfrig beugt er sich über den Wagenrand, bis sein Oberkörper schlaff wie ein Mehlsack über dem Wagenkasten hängt. Als ein Wagenrad auf der holprigen Piste über einen Stein hüpft, macht das Gefährt einen so großen Satz nach oben, dass der Junge hoch in die Luft geschleudert wird. Geistesgegenwärtig packt ihn der Mitanni am Bein und zieht ihn zurück in den Wagen.

»Ausdauer muss ich dir noch beibringen. Ihr Hurriter seid verweichlicht und keine Strapazen gewohnt«, wird Senni von seinem Herrn verspottet, »wir Mitanni trotzen der Unbill jeglichen Wetters – Hauptsache, unsere Pferde lahmen nicht und die Räder unserer Streitwagen nehmen keinen Schaden! Aber sei sicher, wenn du eine Zeitlang unter mir gedient hast, wirst du so hart sein wie der Bronzeknauf meiner Peitsche.«

Nach dem Vorfall steuert der Wagenlenker die nächste Herberge an. Das Anwesen liegt unmittelbar am Wegesrand an einem abschüssigen Gebirgshang. Im Gegensatz zu den Lehmziegelhäusern in Sennis Heimat, ist das gesamte Gebäude, einschließlich der mannshohen Umfassungsmauern, vollständig aus Kalksteinen errichtet. Das Gasthaus macht einen verwahrlosten Eindruck, aber das ist dem Jungen vollkommen gleichgültig: Hauptsache ein Schlaflager und ein wärmendes Feuer! Der Mitanni befiehlt ihm, die Pferde auszuspannen. Er werde derweilen Futter für die Tiere besorgen. Nur kurz nachdem der Wagenlenker in der Taverne verschwunden ist, ertönt von drinnen lautes Geschrei. Senni hört deutlich die tiefe Stimme seines neuen Herrn aus dem Gebrüll heraus. Hurtig bindet er die beiden Rösser an und steckt neugierig seinen Kopf durch den Türspalt. Im Halbdunkel des Schankraums erkennt er, wie der hünenhafte Mitanni einen wesentlich schmächtigeren Mann mit langem Spitzbart am Kragen gepackt hält, um diesen im nächsten Augenblick in weitem Bogen von sich zu stoßen. Der Unglückselige landet mit Wucht auf dem Fußboden.

»Du assyrischer Wurm willst mich, einen Mitanni, betrügen? Ich werde dir zeigen, wer die wahren Herren dieses Landes sind!«

Der Peitschenhieb des Wagenlenkers zerfetzt mit lautem Knall die Luft, landet auf der linken Wange des am Boden Liegenden und reißt ihm einen roten Streifen quer über das Gesicht. Vor Schmerz windet sich der Geschlagene auf dem Boden und winselt um Gnade. Die anderen Gäste – Senni zählt acht an der Zahl – haben sich erhoben und stehen nun gaffend im Halbkreis um die Streithähne. Keiner wagt es, für den Unterlegenen ein gutes Wort einzulegen. Alle warten teilnahmslos ab, was der Wagenlenker im nächsten Augenblick unternehmen wird. Der beugt sich über seinen niedergestreckten Gegner und schreit ihm aus nächster Nähe ins Ohr:

»Ich habe dir meinen Preis für den Umhang genannt, aber du wolltest mich übervorteilen. Merke dir, Assyrer, in meinem Land betrügt man keinen Mitanni ungestraft!« Ein Fußtritt des Wagenlenkers trifft den Gestürzten im Gesäß.

»Merke dir meinen Namen, du Hund: Kikkuli, den Pferdekundigen, nennt man mich. Ich trage den gleichen Namen wie mein Urgroßvater, dem berühmtesten Pferdekenner der Welt! Mein Urahn wird von den Marijanni, den gefürchteten mitannischen Wagenlenkern, noch heute als Held verehrt. Und nun, Assyrer, warte ich, Kikkuli, der Nachfahre dieses gefeierten Mannes, auf dein neues Angebot für das Kleidungsstück. Bevor du dich festlegst, bedenke deine Worte wohl!«

Senni starrt wie gebannt durch den Türspalt. Eine so gewalttätige Szene hat er noch nie erlebt. Sein Vater unnu ist ein vollkommen friedfertiger Mensch, der noch nicht einmal seine Kinder züchtigt. Er wäre zu einer solchen Gewalttat nie fähig! Aber dieser Mitanni ist wie ein wilder Stier, der seine Umwelt niedertrampelt, wenn es ihm gefällt. Ich muss vor ihm auf der Hut sein, sagt Senni zu sich selbst, sonst wird meine Zukunft düster sein. Als einer der Gäste sich anschickt, die Schenke zu verlassen, schließt Senni schnell die Tür und wendet sich wieder den Pferden zu. In der Herberge hat sich der schmächtige Assyrer inzwischen hochgerappelt und stützt sich, nach Atem ringend, auf einen der Holztische. Mit seiner rechten Hand betastet er seine geschwollene Wange, bevor er antwortet:

»Kikkuli, ich habe dir den Preis für den Umhang genannt, den man bei uns in Assyrien erzielen würde: 15 Minen Silber. Ein stolzer Preis, fürwahr, aber der Warenwert für Wolle ist in Assyrien immens gestiegen. Daher sind dort Gewänder aller Art wesentlich teurer als bei euch im Mitanni-Reich. Ich bin Tuchhändler und komme gerade mit frischer Ware aus der Hafenstadt Ugarit12 am Oberen Meer13. Ich habe gestern Geschäfte in eurer Hauptstadt Waššukanni gemacht und bin nun auf dem Rückweg in meine Heimatstadt Assur. Der blaue Umhang, auf den du ein Auge geworfen hast, ist ein ganz besonderes Stück: Der Mantel stammt aus Alasia14, einer Insel weit draußen im Oberen Meer. Schau den Saum des Gewandes. Dieses Wellenmuster wirst du hier bei uns nicht finden. Niemand versteht es besser, Gewandverzierungen auf diese Art herzustellen wie die Näherinnen der Inselstadt Alasia. Fühle selbst, wie fein die Wolle ist.«

Er hält dem Wagenlenker mit ausgestreckten Armen den blauen Umhang unter die Nase und lächelt gequält, wobei der Abdruck des Peitschenriemens sein Gesicht zu einer Maske verzerrt. Kikkuli greift nach dem Stoff, betastet ihn ausgiebig und nickt befriedigt:

»In der Tat gute Qualität. Auch das Muster wird meinem neuen Sohn gefallen.«

Doch wie ein Blitz aus heiterem Himmel brüllt er den assyrischen Kaufmann erneut an, dröhnend wie ein Löwe, und droht mit der Peitsche:

»Deinen letzten Preis will ich jetzt hören, nichts anderes, Assyrer!«

Der Mann schrickt zusammen und hält schützend die Hände vor sein angeschwollenes Gesicht:

»Herr, dir mache ich ein ganz besonderes Angebot. Du bekommst den Umhang für die Hälfte des normalen Preises: Acht Minen Silber.«

Kikkuli schnaubt vor Wut: »Sagtest du eben nicht, dass dir das Gewand in Assur fünfzehn Silberminen einbringen wird. Rechne nach Assyrer!«

Der Tuchhändler erkennt, dass weitere Verhandlungen zwecklos sind: »Kikkuli, gib mir sieben Minen, aber lass bitte die Peitsche sinken!«

Der Mitanni strahlt: »Das ist ein Wort! Ihr alle seid Zeugen unseres Handels.«

Die Umherstehenden nicken verlegen und verziehen sich wortlos an einen Tisch in einer Ecke der Spelunke. Kikkuli wendet sich um, blickt noch einmal über die Schulter, um zu prüfen, ob ihn jemand beobachtet. Erst als er sicher ist, dass keine Augen auf ihm ruhen, zieht er unter seinem Gürtel einen Lederbeutel hervor, aus dem er sich einige fingerlange Metallbarren angelt. Prüfend wiegt er die Metallstücke auf der flachen Hand. Einen Bronzebarren legt er dem Wirt auf den Tresen, direkt neben einen Tonteller mit Essensresten, über die sich bereits ein Heer von Kakerlaken hergemacht hat.

»Hey Schankwirt, hier deine Bezahlung für eine Übernachtung von zwei Personen. Futter und Unterkunft für meine beiden Pferde inbegriffen. Und vergiss nicht: Ich und mein Begleiter sind hungrig von der langen Reise. Aber komme nicht auf den Gedanken, uns solchen Fraß wie auf diesem Teller vorzusetzen, sonst lernst auch du meine Peitsche kennen.«

Der Wirt verschwindet, blass vor Schreck, hinter einem Vorhang, um in der dahinterliegenden Küche seinen Bediensteten Anweisungen zu erteilen. Feuer wird entfacht, Tontöpfe schlagen aneinander. Während das Küchenpersonal anfängt zu brutzeln und zu kochen, wendet sich der Wagenlenker dem Tuchhändler zu. Er wirft ihm einen kleinen Silberbarren auf den Tisch und sagt:

»Das müsste als Bezahlung genügen. Mein Sohn wartet bei den Pferden. Bitte ihn herein, damit wir ihn einkleiden.«

Der Kaufmann steckt den Barren in seinen Beutel und kommt ohne Widerrede dem Befehl nach. Draußen vor der Tür hat er zunächst einige Mühe, den Jungen ausfindig zu machen, da die Nacht bereits hereingebrochen ist. Endlich entdeckt er ihn in der Nähe des Gespanns und spricht ihn an:

»Bist du der Sohn des Mitanni?« Senni schrickt zunächst auf, als ihn der Tuchhändler so unvermittelt anspricht:

»Ich? Sein Sohn«, stottert Senni, »nein – aber eigentlich doch.«

Der Assyrer reagiert gereizt: »Was nun? Bist du der Sohn des Mitanni da drinnen? Du musst doch wissen, ob der Kerl dein Vater ist«.

Ohne den Jungen eines weiteren Blicks zu würdigen, zieht der Kaufmann ein Tüchlein aus einer Umhängetasche, taucht es in den Wassertrog und benetzt damit den blutunterlaufenen Striemen auf seiner Wange. Senni beugt sich zu dem Mann herüber und betrachtet die verletzte Stelle etwas eingehender:

»Ich habe etwas Besseres für dich.«

Er kramt ein wenig in seinem Bündel und zieht dann ein Fläschchen hervor. Nachdem er den Verschluss entfernt hat, taucht er seinen Zeigefinger in die Paste und streicht dem verblüfften Assyrer die Salbe auf die Wange.

»Verdammt, das brennt!«, beschwert sich der Kaufmann und zieht den Kopf zurück, »willst du mir den Rest geben?«

Senni zieht ihn wieder zu sich und tupft noch ein wenig mehr auf die lädierte Stelle:

»Nicht abwischen! Es muss in die Haut einziehen, erst dann entfaltet es seine Wirkung. Es ist eine spezielle Rezeptur meines leiblichen Vaters. Er heilt damit kranke Pferde.«

Der Tuchhändler schaut ihn mit großen Augen an.

»Du behandelst mich mit Pferdesalbe?«, entgegnet er entsetzt.

»Keine Angst, was Pferden hilft, hilft auch Menschen – das hat mein Vater immer gesagt«, erwidert der Junge in bestem Assyrisch.

»Du sprichst Assyrisch?«, wundert sich der Kaufmann, noch immer sein vor Schmerzen brennendes Gesicht reibend, »was hast du dann mit dem Mitanni in der Schenke zu schaffen, Junge?«

Senni antwortet mit niedergeschlagener Stimme: »Meine verstorbene Mutter war Assyrerin. Sie hat mir eure Sprache beigebracht. Mein Vater ist Hurriter. Er hat Schulden bei dem Mitanni. Hohe Schulden! Und er konnte diese nicht zur gegebenen Zeit zurückzahlen. Kikkuli wollte ihn in Schuldknechtschaft nehmen. Deshalb habe ich mich angeboten, an seiner statt auf dem Hof zu arbeiten, bis die Schuld getilgt ist. Aus welchem Grund auch immer scheint er auf der Reise Gefallen an mir gefunden zu haben. Vielleicht weil ich etwas von Pferden verstehe. Auf jeden Fall stellt er mich seit zwei Tagen überall als seinen Ziehsohn vor.«

Der Assyrer schüttelt ungläubig den Kopf: »Wie auch immer! Ich soll dich nach drinnen rufen, hat mir dein neuer Herr aufgetragen. Lass uns hineingehen, bevor er mich ein zweites Mal schlägt. Ich soll dich daran erinnern, seinen Bogen und den Köcher mit Pfeilen nicht zu vergessen. Übrigens: Ich heiße Labnānu – Tuchhändler aus der Stadt Ninive.«

Abb. 7:Labnānu

Als die beiden die Schenke betreten, sitzt Kikkuli bereits an einem der hölzernen Tische und winkt sie herbei.

»Seht her, der Wirt hat bereits die Speisen aufgetragen. Setzt euch zu mir und langt kräftig zu.«

Zögerlich geht der Tuchhändler auf ihn zu: »Ich bin nicht hungrig, Herr«, lehnt er zaghaft ab.

»Nichts da, Assyrer, du hast mir einen guten Preis gemacht. Zum Dank lade ich dich nun zum Essen ein. Setz dich! Ich dulde keine Widerrede!«

Der Mann wagt es nicht, dem Mitanni zu widersprechen, und nimmt Platz. Nachdem die drei ausgiebig gegessen und getrunken haben, erhebt sich der Wagenlenker von seinem Schemel, klopft dem Kaufmann so heftig auf den Rücken, dass diesem der letzte Bissen aus dem Munde fällt und posaunt mit seiner lauten Stimme in den Schankraum hinein:

»Hört alle her. Ich brauche euch als meine Zeugen!«

Die Köpfe der Gäste fliegen herum. Manch einer starrt ängstlich hinüber zu dem Hünen, der nun inmitten der Gaststätte steht und alle Blicke auf sich zieht:

»Vor zwei Jahren ist mein leiblicher Sohn bei einem Reitunfall ums Leben gekommen. Seit dieser Zeit ist mein Leben leer. Deshalb habe ich mich auf die Suche nach einem Ersatz für meinen Sohn gemacht. Nun endlich habe ich ihn gefunden!«

Mit seiner Rechten zerrt er Senni vom Stuhl und stellt ihn neben sich.

»Seht diesen Jungen hier! Er wurde mir als rechtmäßiger Schuldknecht überantwortet. Ich, Kikkuli, der Pferdekundige aus Waššukanni, verkünde hiermit, dass ich diesen Jüngling nunmehr als meinen Sohn annehme. Ihr alle seid nun meine Zeugen, dass dieser Knabe durch diese Adoption an die Stelle meines verstorbenen Sohnes tritt. Dadurch werden beide zu Brüdern.«

Dann beugt sich der Wagenlenker zu dem Jungen hinunter.

»Du bist von dieser Stunde an mein Sohn und wirst fortan den Namen Puašenni – ›Ersatz für den Bruder‹15 – tragen. Wie meinen leiblichen Sohn werde ich dich künftig behandeln. Das schwöre ich hier vor allen Zeugen.«

Senni schaut dem Wagenlenker entsetzt ins Gesicht, traut sich aber nicht, ihm zu widersprechen. Die anwesenden Gäste beginnen untereinander zu tuscheln. Selbst das Küchenpersonal hat während der Ansprache neugierig hinter dem Vorhang herausgelugt, um nichts von dem Geschehen zu verpassen. Erst als das Essen in den Töpfen und Pfannen anzubrennen droht, kehren sie an den Herd zurück und diskutieren beim Kochen über die Vor- und Nachteile für den Jungen. Draußen im Schankraum tönt der Mitanni weiter: »Zum Zeichen meines Wohlwollens schenke ich nun meinem neuen Sohn Puašenni einen wertvollen Alasia-Umhang. Das einzigartige Muster dieses Gewandes soll das weithin sichtbare Zeichen dafür sein, dass er von Stund an der Sohn von Kikkuli, dem Pferdekundigen aus Waššukanni, ist.«

Nach dieser Rede legt er dem noch immer sprachlos dastehenden Jungen den blauen Umhang mit der auffälligen Zickzack-Borte um die Schultern und lacht ihm aufmunternd zu:

»Nun bist du mein Sohn, Šenni. Sei folgsam und hüte dich vor Widerreden gegen deinen neuen Vater. Aus dir werde ich den besten Pferdekenner des Mitanni-Reiches machen. Von mir wirst du die hohe Kunst der Pferdeausbildung erlernen. Wir beide werden gemeinsam die besten Streitwagenpferde der vier Weltgegenden züchten, so wahr ich Kikkuli heiße!«

Der Junge steht noch immer mit offenem Mund vor seinem neuen Gebieter. Welch eine Wendung in seinem Leben: vom Schuldsklaven zum Ziehsohn eines Mitanni. Soll er sich nun glücklich schätzen? Vorsichtig betastet er den Stoff des wollenen Umhangs. Noch nie in seinem Leben hat er so ein feines Kleidungsstück besessen. Voller Stolz schaut er an sich hinunter. Er findet, dass ihn der blaue Mantel wie ein Hofbeamter kleidet. Er hat zwar noch nie einen gesehen, aber sein Vater hat ihm von Männern erzählt, die im Palast des Königs in prächtigen Gewändern umherstolzieren.

»Bring mehr Bier zum Tisch meiner Zeugen«, fordert Kikkuli den Wirt auf, nachdem er sich zu diesen gesellt hat.

Während die Männer zu zechen beginnen, zieht der assyrische Tuchhändler den Jungen zur Seite und flüstert ihm zu:

»Du bist ein guter Mensch, Senni. Dein leiblicher Vater hat dich wohl erzogen. Hüte dich, deinen neuen Ziehvater zu erzürnen. Er hat ein wankelhaftes Gemüt, ist jähzornig und gewalttätig. Er wird nicht davor zurückschrecken, auch auf dir seine Peitsche tanzen zu lassen. Auf der anderen Seite hast du nun die Gelegenheit, vom berühmtesten Pferdekenner des Landes ausgebildet zu werden. Ich habe auf meinen weiten Reisen viel über diesen Mann gehört. Schon sein Urahn gleichen Namens war an allen Herrscherhäusern aufgrund seiner Pferdekenntnisse hochgerühmt. Niemand kam ihm gleich. Kein anderer Pferdezüchter versteht sich mehr auf die Ausbildung von Streitwagenpferden wie die Familie dieses Kikkuli. Sein Urahn hat seine Kenntnisse über die Ausbildung von Pferden sogar auf Tontafeln niederschreiben lassen, damit die nachfolgenden Generationen seiner Sippe dieses Wissen nicht verlieren. Er verfügte, dass diese Schriften nur innerhalb der Familie weitergegeben werden dürfen. Angeblich werden die Tafeln im Haus der Kikkulis gehütet wie ein Schatz.«

Senni brennt vor Neugier: »Woher weißt du das alles so genau?«, will er wissen.

Der Tuchhändler greift in seinen Spitzbart und lächelt verschmitzt: »Ich habe vor zehn Tagen einen Mann kennengelernt. Drüben in Karkamiš16, der Stadt an der Grenze des Hethiterreichs. Dieser Mann kannte alle Einzelheiten dieser Geschichte. Es sei einem Schreiber vor einiger Zeit gelungen, heimlich eine Abschrift der Tafeln anzufertigen. Als Kikkuli Wind davon bekam, musste der Schriftgelehrte um sein Leben bangen und soll mitsamt den Kopien über die nördlichen Berge an den Hof des hethitischen Königs geflohen sein.«

Senni kann gar nicht genug von der Geschichte bekommen: »Und woher hat dein Informant all sein Wissen?«, hakt er nach.

»Ganz einfach: Der Kerl, der mir in Karkamiš diesen Vorfall geschildert hat, war kein anderer als jener Schreiber höchstpersönlich. Kikkuli würde mit Bestimmtheit alles darum geben, zu erfahren, wo sich sein ehemaliger Schreiber aufhält.«

Der Junge folgt mit Spannung den Erzählungen des Tuchhändlers, von dem er auch erfährt, dass Tiere aus dem Gestüt der Kikkulis zu Höchstpreisen gehandelt werden. Von einem befreundeten Kupferhändler habe er erfahren, dass dessen Pferde sogar per Schiff nach Ägypten gebracht werden. Sein Gewährsmann habe ihm versichert, dass der Streitwagen des mächtigen Pharao von Pferden aus dem Gestüt der Kikkulis gezogen wird. Der Knabe schaut den Tuchhändler mit traurigen Augen an:

»Dennoch wäre ich lieber bei meinem leiblichen Vater und meinem Brüderchen auf unserem armseligen Hof.« Senni muss sich anstrengen, damit ihm nicht die Tränen kommen.