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Der assyrische Herrscher Tukulti-Ninurta I. kennt nur ein Ziel: Er will die gesamte Welt beherrschen, um den legendären Ehrentitel "König der vier Weltgegenden" zu erlangen. Doch die Babylonier stehen ihm im Weg. Er schickt Senni, den Pferdekundigen, und dessen Freund Banu, einen elamischen Bogenschützen, auf eine gefährliche Mission in Feindesland. Unterwegs offenbart sich Senni das wohlgehütete Geheimnis der Elamier. Zum Schweigen verdammt, verbindet fortan die "Elamische Schlange" das Schicksal der beiden Männer - und koste es ihr Leben!
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Seitenzahl: 567
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Für Blacky
In alter Freundschaft
Vorwort
Unerwarteter Besuch
Die Gruft des Großwesirs
Streitwagen für den König
Brautschau
Lügenbock und Lästermaul
Der lüsterne Eunuch
Die neue Hohepriesterin
Starkbier für die Göttin
Die Tempelweihe
Die Flammenbraut
Gebrochenes Herz
Die Wasserfee
Der Ring des Kastraten
Tochter des Sonnengottes
Sesam für Ninive
Der Betrug
Der Karawanenführer
Das geheimnisvolle Weghaus
Manza, der Vogler
In den Fängen des Flussgotts
Eine Stadt – groß wie ein Berg!
Am Tor des Wettergotts
Nach Recht und Gesetz
König der Tuche
Am Silberbaum
Heimlichkeiten
Die Elamische Schlange
Der heimtückische Ratgeber
Elamische Suppe
Die neue Heimat
Seltsame Namen
Der Stich des Bier-Skorpions
Im Schlamm der fremden Götter
Der allwissende Barbier.
Chronologie
Lesen altorientalischer Namen
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Stichwortverzeichnis
Der archäologische Roman ›König der vier Weltgegenden‹ schildert in Band 1 (›Der Blaue Fuchs‹) die Entdeckung eines assyrischen Tontafelarchivs in der syrischen Wüste durch ein Forscherteam der Universität des Saarlandes in Saarbrücken. Mit Band 2 (›Der Pferdedämon‹) begibt sich der Leser auf die Fährte des jungen Hurriters Senni, der zunächst als Schuldknecht, später als Ziehsohn des brutalen Pferdezüchters Kikkuli zu einem Pferdekundigen ausgebildet wird. Auf seiner Flucht vom Gestüt gerät Senni in die Kriegswirren zwischen Assyrern und Mitanni. In Gefangenschaft trifft er auf den elamischen Bogenschützen Banū. Zwischen den beiden Männern entwickelt sich eine tiefe Freundschaft. Diese steht im Mittelpunkt des 3. Bandes (›Die Elamische Schlange‹). Der Roman basiert zu großen Teilen auf assyrischen Tontafeln des 13. Jahrhunderts vor Christus, auf die der Autor im Jahr 1992 während einer archäologischen Expedition in Tell Chuēra in Nordost-Syrien stieß.1 Diese Keilschrifttafeln ermöglichen einen Einblick in die Welt der damaligen Bewohner der Stadt. Ari TUR liegt es am Herzen, die gewonnenen Erkenntnisse nicht nur Fachleuten zugänglich zu machen. Hierfür wählte er den ›archäologischen Roman‹ als neue Stilform des historischen Romans. Die Keilschrifttexte aus der Zeit des assyrischen Königs Tukulti-Ninurta I. (1233 – 1197 v. Chr.) erlauben dem Leser einen Blick in ein Geschichten- und Geschichtsbuch der anderen Art. Dennoch sei noch einmal darauf hingewiesen, dass der vorliegende Roman keine rein wissenschaftliche Publikation ist, sondern zahlreiche fiktionale Elemente enthält.
Der Autor dankt dem Altorientalisten Stefan Jakob / Universität Heidelberg, der die assyrischen Tontafeln aus Teil Chuēra, dem antiken <arbe, entzifferte2, für die anregenden Diskussionen und zahlreichen Hinweise zur Alltagswelt der Assyrer. Alle Hauptpersonen, auch die geschichtlichen Ereignisse und Begebenheiten sind aus assyrischen Texten bekannt. Bis auf wenige Ausnahmen haben alle im Roman auftauchenden Charaktere also tatsächlich gelebt. Es oblag dem Verfasser, den handelnden Personen literarisches Leben einzuhauchen.
Wertvolle Hinweise während der Entstehungsphase des Romans, erhielt der Autor von den Mitgliedern der ›Autorengruppe Schreiberberg‹ aus Saarbrücken. Barbara Ninnemann, Dieter Germann und Lothar Schwarz übernahmen dankenswerterweise die Durchsicht des Manuskripts. Die syrische Künstlerin Fatima Hamido hat zahlreiche Porträtzeichnungen und den Entwurf für das Cover angefertigt, der von dem Grafikdesigner Vlad Hnatovskiy gestaltet und koloriert, der zudem in liebevoller Kleinarbeit viele Zeichnungen und einige Übersichtskarten nach Vorgaben des Autors beisteuerte.
Seiner Familie, allen voran seiner Frau Karin, dankt der Autor für die Geduld und die aufmunternden Worte, die ihn darin bestärken, dieses ›Geschichtsbuch der anderen Art‹ zu vollenden.
Im Januar 2020
1 Harald Klein, Die Grabung in der mittelassyrischen Siedlung; in: Winfried Orthmann et al., Ausgrabungen in Teil Chuēra in Nordost-Syrien I. Vorbericht über die Grabungskampagnen 1986 bis 1992. Vorderasiatische Forschungen der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung Band 2 (Saarbrücken 1995), Seite 185 – 201.
2 Stefan Jakob, Die mittelassyrischen Texte aus Teil Chuēra in Nordost-Syrien mit einem Beitrag von Daniela I. Janisch-Jakob. Vorderasiatische Forschungen der Max Freiherr von Oppenheim-Stiftung. Herausgegeben von Wolfgang Röllig. Band 2, Ausgrabungen in Teil Chuēra in Nordost-Syrien Teil III. Wiesbaden 2009.
Bei der vielen Arbeit vergehen die Tage wie im Flug. Nach zwei Jahren unter Sennis Führung ist das Gestüt wieder zu neuem Leben erblüht. Unermüdlich treibt er seine Untergebenen an, aber nicht wie sein Ziehvater Kikkuli mit Peitschenhieben, sondern mit der Überzeugungskraft seiner Worte. Wo er gebraucht wird, packt Senni auch selbst mit an. Er, der ehemalige Schuldknecht, ist sich für keine Arbeit zu schade. Auch wenn er inzwischen im Herrenhaus nächtigt, so nimmt er seine Mahlzeiten im Kreis des Gesindes ein. Nach getaner Arbeit, kurz vor Sonnenuntergang, versammeln sich alle Bediensteten auf dem Vorhof zur Küche. Die Köche haben alle Hände voll zu tun, um die hungrigen Mäuler zu stopfen.
An einem dieser Abende wird das Mahl von den lauten Rufen der Wachen am Haupttor zum Gestüt unterbrochen. Senni und einige andere Männer springen auf und greifen zu ihren Waffen. Die Entfernung ist zu weit, sodass sie nicht verstehen können, was die Wachen zu ihnen herüberrufen. Sie sehen aber, dass ein einzelner Planwagen durch die Einfahrt rollt und langsam in Richtung des Herrenhauses hinaufrumpelt. Senni eilt mit einigen Begleitern dem Gefährt entgegen. Der Kutscher hat sein Kopftuch tief über die Stirn gezogen. Mit einem Schal, der seinen Mund vollständig verdeckt, schützt er sich gegen den von den Zugtieren aufgewirbelten Staub. Zwei hellwache Augen fixieren Senni, als dieser sich mit gezücktem Schwert nähert.
»Begrüßt man so einen alten Freund?«, ereifert sich der Mann, der vom Kutschbock springt und sich den Staub aus seinem weiten Mantel klopft. Senni geht ein paar Schritte auf den Unbekannten zu, und versucht zu ergründen, wer unter dem Umhang steckt.
»Schon lange her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, junger Freund!«
Der Wagenlenker klopft noch einmal kräftig seine Kleidung aus und verschwindet dabei in einer Staubwolke. Hustend zerrt er den Schal vom Mund und spuckt auf den Boden. Senni mustert den Mann noch immer argwöhnisch von Kopf bis Fuß. Erst als der Mann das Kopftuch vom Schopf windet und die silbergrauen Haare zum Vorschein kommen, erkennt Senni sein Gegenüber:
»Labnānu! Ihr Götter, es ist Labnānu, mein guter alter Freund!«
Senni fällt dem Alten um den Hals und drückt ihn so fest an sich, dass dieser schnauft:
»Langsam, langsam! Nicht so ungestüm, Puašenni, du brichst mir ja die alten Knochen!«
Senni lockert seinen Griff und legt seinen Arm um die Schultern des Ankömmlings:
»Männer«, ruft er seinen Gefährten zu, »dies ist Labnānu, Tuchhändler aus Ninive, und einer meiner besten Freunde. Leider haben wir uns schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen!«
Senni drückt den Grauhaarigen noch einmal an sich: »Setz dich zu uns und teile mit uns das Abendmahl.«
»Zu gerne«, erwidert der Alte, »aber zuerst muss ich mich um mein Gefolge kümmern. Sie warten noch am Eingangstor. Deine Wachen haben nur mir erlaubt, in das Gehöft einzufahren.«
Senni entschuldigt das Verhalten seiner Wachmannschaft, doch sei es in dieser unsicheren Zeit umsichtiger, Vorsicht vor Fremden walten zu lassen. Schnell erteilt er den Befehl, die Begleiter des Tuchhändlers einzulassen, sie ebenfalls zu bewirten und deren Tiere mit Futter zu versorgen. Nach dem Essen versammeln sich alle um die Feuerstelle im Hof. Zur Feier des Tages lässt Senni Bier ausschenken. Seine Freude, den Mann wiederzusehen, der ihm vor vielen Jahren in einer Herberge sein erstes Paar Schuhe schenkte, ist überschwänglich.
Nachdem Senni dem Alten berichtet hat, wie es ihm ergangen ist, drängt er den Tuchhändler, von seinen Erlebnissen auf den Karawanenstraßen zwischen dem Oberen Meer und seiner Heimatstadt Ninive zu erzählen. Die Geschäfte seien schlecht gelaufen in den letzten Jahren, schildert der Kaufmann, aber seit Tukulti-Ninurta König sei, ginge es endlich wieder aufwärts. Die Straßen seien wieder sicherer und man könne sich nun, ohne um sein Leben fürchten zu müssen, auf den weiten Weg zum Oberen Meer machen. »Weißt du, Senni, assyrische Tuche findest du in der Hauptstadt auf jedem Markt. Ich aber lebe vom Verkauf fremdländischer Stoffe. Dafür muss ich den beschwerlichen, zum Teil sehr gefährlichen Weg quer durch anigalbat auf mich nehmen, den Purattu überqueren, um zum Oberen Meer zu gelangen. Dort, in der Hafenstadt Ugarit, finde ich alles, was mein Herz begehrt. Hauchdünne Stoffe aus Alasia, goldbestickte Ware aus Ägypten und bunte Decken aus fester Wolle, die bei den umherziehenden Viehzüchtern so begehrt sind.«
Senni schmunzelt: »Und blaue Mäntel aus Alasia mit kunstvoll gestalteten Borten. Du erinnerst dich, als Kikkuli mit dir in Streit geriet wegen des Preises für einen solchen Umhang?«,
»Erinnern?« Labnānu greift sich an die Wange: »Die Narbe seines Peitschenhiebes trage ich noch heute im Gesicht!« Senni betrachtet die Stelle, auf die der Alte mit dem Finger zeigt. Trotz seines Bartflaums ist noch immer ein heller Streifen auf der gebräunten Haut des Tuchhändlers erkennbar.
»Verflucht sei dieser Mitanni! Lebt dein Ziehvater noch?«, erkundigt sich der Alte.
Senni nimmt einen Schluck aus dem Becher, bevor er antwortet: »Dieser Dämon ist aus meinem Leben verschwunden – so schnell wie er in mein Leben eingetreten ist. Als die Assyrer hier aufgetaucht sind, soll er sich ins Land der Hethiter geflüchtet haben. Genaues weiß niemand.«
Bis tief in die Nacht tauschen sie Neuigkeiten aus. Das Gesinde hat sich schon längst zur Nachtruhe zurückgezogen, als der Tuchhändler in seine Tasche greift und einen bunten Schal herauszieht:
»Dies soll ich dir überreichen, junger Freund. Das Geschenk einer Freundin. Sie sagte, du wüsstest schon, von wem diese Gabe stammt.«
Senni nimmt das bunte Stück Stoff in die Hand und lässt die zarte Textilie durch seine Finger gleiten. Ein betörender Wohlgeruch umgibt ihn urplötzlich. Er führt das Tuch zu seiner Nase, atmet ein und saugt den Duft, der dem Gewebe entströmt, tief in sich hinein.
»Ašdu!«
Wie ein Blitz durchfährt ihn die Erinnerung an die junge Frau, für die Kikkulis Gehöft die Hölle auf Erden war.
»Das ist Ašdus Duftöl! Keine andere Frau duftet so wie sie!«, entfährt es Senni, der den neben ihm kauernden Labnānu am Arm packt: »Sag schon, hat dir Ašdu dieses Tuch gegeben?«
Erwartungsvoll schaut er seinem Gegenüber in die Augen.
»Mhh, ob die Schöne, die mir das Tuch überreicht hat, Ašdu heißt, vermag ich nicht genau zu sagen«. Der Tuchhändler schmunzelt und gibt sich geheimnisvoll: »Sie sagte nur, du wüsstest, von wem das Geschenk sei.«
Senni wird immer aufgeregter. Er kniet nun vor dem Alten und schüttelt ihn an den Schultern: »Spann mich nicht auf die Folter, Labnānu! Wie sieht die Frau aus, die dir das gegeben hat? Wo hast du sie getroffen? Ist ihr Bruder ersi bei ihr? Wie geht es den beiden? Wo kann ich sie finden? Sag schon – heißt sie Ašdu?«
Der Alte lacht: »Beruhige dich, Senni, du überschüttest mich ja mit Fragen! Setz dich und schenke uns noch einmal ein! Ich verrate dir dann alles, was ich weiß.«
Senni ist wie im Fieberwahn. Mit zittrigen Händen gießt er Bier aus einem Krug in ihre Becher. Seine erwartungsvollen Augen heften an Labnānus Lippen, als dieser mit ruhiger Stimme zu reden beginnt:
»Auf meinem Rückweg habe ich vor einigen Tagen in arbe Station gemacht. Kennst du das Städtchen? Nur drei oder vier Tagesmärsche von hier, wenn man mit einer Karawane unterwegs ist. Mit einem schnellen Pferdewagen dürfte man die Strecke in zwei Tagen schaffen.«
»Ich war schon zusammen mit Kikkuli in arbe. Ich kenne auch den Weg dorthin«, wirft Senni ungeduldig ein, »aber was hat arbe mit Ašdu zu tun? Ist sie etwa dort?«
Labnānu lächelt süffisant: »Täusche ich mich oder wird das Herz meines jungen Freundes von der Liebesgöttin Ištar umgarnt? Das holde Wesen hat dir wohl den Kopf verdreht!«
Senni winkt ab: »Ach was, sie ist nur eine gute Freundin. Eher so etwas wie eine Schwester. Nun erzähl schon weiter! Wie geht es ihr? Wo hält sie sich auf?«
Der assyrische Tuchhändler schüttelt sich vor Lachen: »Deine sogenannte Schwester lebt tatsächlich in arbe, also gar nicht weit von hier. Ich habe ihr über Neuigkeiten aus dem assyrischen Reich und über die Taten unseres Königs Tukulti-Ninurta berichtet. Sie reagierte plötzlich völlig aufgeregt, als ich erwähnte, dass ein junger Hurriter namens Puasenni vom König den Auftrag erhalten habe, das Gestüt des Kikkuli wieder aufzubauen. Ich musste ihr versprechen, den Umweg hierher zu machen, um dir das Tüchlein zu übergeben. Ich soll dir ausrichten, dass sie auf dich wartet.«
Sennis Kopf läuft rot an. Es wird ihm heiß. Nervös fingert er an seinem Becher herum.
»Was macht Ašdu in arbe? Wovon lebt sie?« Senni versucht, seine Worte eher teilnahmslos klingen zu lassen, doch sein kurzer Atem zeigt deutlich, wie aufgeregt er im Augenblick ist.
»Nun, mein Junge«, erwidert Labnānu belustigt, »die junge Dame treibt sich in einer Taverne herum. Dem ›Roten Haus‹ in der Unterstadt. Dort geht sie der Schankwirtin Siduri zur Hand. Wie Ašdu mir erzählte, hat ihr ein Freund empfohlen, dort Unterschlupf zu suchen. Ich bin vor fünf Tagen rein zufällig auf das hübsche Ding gestoßen, nach der sich alle Männer die Hälse verrenken. Ein bezauberndes Mädchen – und wie sie duftet! Verführerisch wie die Göttin Ištar selbst!«
Senni hält es nicht mehr auf seinem Sitzplatz. Wütend springt er auf und stampft mit den Füßen auf den Boden: »Ist sie etwa zur Hure geworden? Gibt sie sich dort Freiern hin?«
Labnānu schüttelt den Kopf: »Senni, Senni! Hast du denn kein Vertrauen zu dieser Frau? Hast nicht du ihr empfohlen, sich an die Schankwirtin Siduri zu wenden? Das Mädchen ist keine Hure, auch wenn Kikkuli sie eine Zeit lang zu der seinen gemacht hat. Außerdem lässt ihr Bruder sie keinen Augenblick lang aus den Augen. Keiner der Zecher darf sie berühren, noch ihr unziemliche Anträge stellen. Er behütet seine Schwester wie ein Wachhund. Und wenn nun doch einer der Gäste zu übermütig wird, ist da noch die resolute Siduri. Habe vor Jahren erlebt, wie sie einen Betrunkenen eigenhändig hinausgeworfen hat. Die fackelt nicht lang, diese alte Vettel! Man sagt, sie sei eine Hexe. Keiner wagt es, ihr zu widersprechen oder gar die Hand gegen sie zu erheben. Vor Siduri fürchten sich sogar die heißblütigen Krieger der Sutū.«
»Sutū in der Taverne der Siduri? Sind sie dir dort schon mal begegnet?«, will Senni wissen. »Vor denen hatte sogar der grässliche Kikkuli höchsten Respekt. Er bezeichnete sie immer als Halsabschneider und Tagediebe. Er lebte in ständiger Furcht, dass ihm diese Halunken seine wertvollen Pferde stehlen. Gesehen habe ich leider noch keinen.«
»Dann kannst du dich glücklich schätzen«, antwortet Labnānu, »es ist kein Vergnügen, auf diese Strolche zu treffen. Wenn es möglich ist, vermeide ich jegliche Zusammenkunft. Die Kerle sind unberechenbar! Sie wohnen nicht in festen Häusern, sondern hausen in Zelten. Mit ihren Herden ziehen sie von Weideplatz zu Weideplatz und wenn es ihnen gerade danach ist, rauben sie vorbeikommende Reisende aus. Als wir vor zwei Monaten auf dem Weg zum Oberen Meer waren, haben sie uns kurz vor Karkamiš aufgelauert. Ihr Häuptling hat uns erst dann passieren lassen, als ich ihm zwei randvolle Krüge mit Sesamöl und einen Weinschlauch ausgehändigt habe. Mit diesen Wanderhirten ist nicht zu spaßen. Sie kennen keine Ordnung, sondern nur das Recht des Stärkeren. Doch vor Siduri, der Hexe von arbe, haben sie Angst. Das hat sie mir selbst erzählt.«
»Und die Sutū wagen sich in die Stadt arbe?«, wundert sich Senni, »verriegeln die Wachen denn nicht die Tore, wenn sie auftauchen?«
»Genau diese Frage habe ich Šumija, dem Bürgermeister von arbe, auch gestellt. Seine knappe Antwort: Es ist besser, den Häuptling der Sutū und seine Kumpane mit Starkbier abzufüllen, als einen blutigen Krieg mit seinem Stamm anzuzetteln. Solange sie die assyrische Besatzung der Stadt nicht angreifen und auch nicht mordend und plündernd durchs Land ziehen, lässt der Großwesir diese Nomaden gewähren.«
»Nun sag schon: Verkehren diese Wilden auch in Siduris Schenke? Haben sie etwa Ašdu etwas zu Leide getan?«
Der Tuchhändler lächelt amüsiert: »Du bist ja unglaublich an dem Schicksal deiner kleinen Freundin interessiert! Also höre! Als ich vor ein paar Tagen die hübsche Ašdu traf, war das Gasthaus voll von Sutūs. Und ihr Anführer hätte nur allzu gerne seine stinkigen Finger nach dem Mädchen ausgestreckt. Aber Siduri ist wie eine Furie dazwischen gefahren und hat ihn zurechtgewiesen. Ich bin mir sicher, wäre Siduri ein Mann gewesen, dann hätte der Häuptling ihm die Kehle durchgeschnitten. So behandelt zu werden, ist dieser Kerl nicht gewohnt – und schon gar nicht vor seinen eigenen Gefolgsleuten. Die aber haben sich alle, ohne Ausnahme, vor der Hexe in die hinterste Ecke verkrochen. Keiner hat sich mehr gemuckst. Ich glaube, ihrem Stammesführer schlotterten die Knie, als sie ihm androhte, ihn zu verfluchen. Sie würde ihn und seine Kindeskinder mit einem Bann belegen, hat sie lauthals geschrien. Ich muss gestehen, auch mir wurde Angst und Bang als die Alte hinter dem Tresen hervorsprang. Mit ihren zotteligen, roten Haaren und diesen fünkelnden grünen Augen gleicht sie einer Dämonin aus der Unterwelt. Und bei jeder ihrer Bewegung klappern und rasseln die magischen Steine und Amulette, die von ihrem Gürtel herabhängen. Das Schlimmste aber ist ihre schrille Stimme. Ich habe mir die Ohren zuhalten müssen, so sehr hat sie den Anführer der Sutū angebrüllt! Ich hatte Angst, mein Gehör zu verlieren. Das Geräusch einer Säge ist ein Wohlklang im Vergleich zu Siduris Stimme! Aber eines muss man dieser Hexe lassen: Sie schenkt das beste Bier weit und breit aus und das Essen ist auch nicht zu verachten.«
»Ich weiß«, bekennt Senni, »habe sie ja persönlich kennengelernt. Ist zwar schon eine Weile her, aber zu mir war sie damals sehr zuvorkommend. Als sich Kikkuli die Zeit mit einer ihrer Huren vertrieb, gesellte sie sich zu mir und bot mir ihre Hilfe an. Sie sagte, dass ich mich jederzeit an sie wenden könnte, wenn ich mit meinem Ziehvater Ärger bekommen sollte. Nur weil ich ihr vertraue, habe ich das Geschwisterpaar zu ihr geschickt. Und wie du berichtest, scheint es den beiden bei Siduri nicht schlecht zu ergehen.«
Labnānu legt die Stirn in Falten und stochert mit einem Stöckchen in der Glut des Lagerfeuers herum: »Weißt du, Senni, wenn ich mir es genau überlege, ist Siduri gar nicht verkehrt! Sie kümmert sich nicht nur rührend um deine beiden Freunde, sondern auch um die Huren, die unter ihrem Dach ihrem Gewerbe nachgehen. Sie achtet darauf, dass die Freier ihre Schuld begleichen und auch darüber, dass den Frauen kein Leid zugefügt wird.«
»Ich glaube, das würde auch niemand wagen«, antwortet Senni, »hast du den aus Bronzeblech angefertigten Kopf des Winddämons Pazuzu über der Eingangstür gesehen? Der hält jedwedes Unheil von meinem Haus ab, hat die Hexe mir verraten. Und auf dem Tresen steht diese unheimliche Figur der Dämonin Lamaštu, an deren Brüsten ein Schwein und ein Hund saugen. Man munkelt, sie könne sie mit einem Zauberspruch zum Leben erwecken. Eine grauenvolle Vorstellung, wenn urplötzlich die menschenmordende Dämonin in der Schenke stehen würde!«
Der assyrische Tuchhändler grinst: »Die Leute erzählen viel, wenn der Tag lang ist. Mir hat einer in Siduris Taverne ins Ohr geflüstert, dass sie mit einer Schlange zusammenlebt. Da sie keinen Gatten habe, teile sie ihr Bett mit einer Schlange, hat mir der Gast versichert und dabei auf alle Götter geschworen, die ihm im Suff eingefallen sind. Eines Tages wird man auch über dich seltsame Geschichten zum Besten geben, die vollkommen der Wahrheit entbehren. Aber viele werden diesen Geschichten Glauben schenken. Du musst dich vor solchem Gerede hüten, lieber Freund!«
Senni streckt seine Glieder und gähnt: »Du hast Recht, Labnānu, Schandmäuler gibt es mehr als genug! Ich weiß jetzt aber, was ich zu tun habe. Ich muss schon bald nach arbe aufbrechen, um meine Freunde aufzusuchen. Am liebsten würde ich mich schon morgen auf den Weg machen, aber wir haben in den nächsten Wochen noch einiges auf dem Hof zu erledigen. Wenn ich meinen Pflichten gegenüber dem König nachgekommen bin und die ersten Gespanne an den Königshof ausgeliefert habe, eile ich zu Ašdu und ersi. Ich kann es kaum erwarten, die beiden wiederzusehen!«
Sie löschen das Feuer und begeben sich gemeinsam zum Herrenhaus, wo Senni für Labnānu eine bequeme Bettstatt hat herrichten lassen.
»Wo ist mein Großwesir? Hat jemand Bābu-aa-iddina gesehen?« Tukulti-Ninurta schreit derart laut durch den Thronsaal, dass die Hofbediensteten ihre Köpfe einziehen und es nicht wagen, ihrem König in die Augen zu schauen.
»Wo ist mein Berater? Macht endlich das Maul auf, ihr Affen, ich möchte auf der Stelle wissen, wieso mein engster Vertrauter noch nicht vor meinem Angesicht erschienen ist! Er weiß doch, dass ich ihn zu dieser Stunde hier erwarte. Und gerade jetzt brauche ich ihn, um dringende Regierungsgeschäfte mit ihm zu besprechen! Soll ich ihn in seinem hohen Alter noch zu Stockhieben verurteilen, damit er weiß, dass man den König des Landes Assyrien nicht warten lässt?«
Erst jetzt wagt sich der Herold nach vorne. Zaghaft geht er ein paar Schritte auf das Podest zu, auf dem der Thron steht. Tukulti-Ninurta trommelt nervös mit den Fingern auf den Lehnen des Königsstuhls herum. In gebührendem Abstand zum Herrscher wirft sich der Herold zu Boden, berührt mit der Stirn den Fußboden und beginnt – ohne aufzuschauen – zu wimmern:
»Herr, Bābu-aa-iddina, der Großwesir deines Reiches, der schon deinem Vater, dem großen König Salmanassar, und auch schon dessen Vater als Berater gedient hat, ist es nicht möglich, am vereinbarten Treffen teilzunehmen. Draußen vor der Tür steht sein jüngster Sohn, der soeben die Nachricht überbringt, dass der Totengeist die Hand nach dem ehrwürdigen Bābu ausgestreckt hat. Der Beschwörungspriester weilt bereits an seinem Bett. Ob er die Dämonen durch seine magischen Kräfte vertreiben kann, vermag derzeit niemand zu sagen.«
Dem König fährt der Schreck in die Glieder.
»Wieso erfahre ich das erst jetzt?« Tukulti-Ninurtas Stimme überschlägt sich. Wie immer, wenn er sich erregt, scheint sein Blut wie ein Lavastrom in seinen Kopf zu schießen und lässt die Adern an den Schläfen wie dunkelblaue Stränge hervorquillen. Mit einem Riesensatz springt er vom Thronpodest, stürmt am immer noch knieenden Herold vorbei zur Eingangstür, wo er auf den Sohn des Großwesirs trifft. Bevor dieser ihn gemäß der Hofetikette begrüßen kann, zerrt er den jungen Mann am Arm hinter sich her. »Zu deinem Vater! Schnell!«
Sie eilen den breiten Flur hinunter, gefolgt von der Leibgarde, die den König niemals aus den Augen verlieren darf. Zehn Leibgardisten, angeführt von ihrem Hauptmann, hasten den beiden durch das Labyrinth der Gänge hinterher. Beim Laufen schlagen die Rüstungsteile der Soldaten scheppernd aneinander. Über den Vorplatz hetzen sie hinüber in Richtung des Nabü-Tempels. Fast in Sichtweite liegt Bābus Haus. Völlig außer Atem gibt der Offizier den Befehl, die Eingangstür zu sichern, bevor er in Begleitung von vier seiner Männer dem Herrscher ins Haus des Großwesirs folgt. Dem König, der noch immer den jüngsten Sohn des Großwesirs an der Hand führt, eilt ein bärtiger Mann aus einem der rückwärtigen Zimmer entgegen. Es ist Putanu, der älteste Sohn des Großwesirs. Dieser verneigt sich tief und schluchzt:
»Herr und König, du kommst zu spät. Der Totengeist hat meinen Vater bereits mit auf die Reise in die Unterwelt genommen. Aber nicht nur ihn. Auch meine Mutter wurde von den Dämonen in das Reich der Toten hinweggeführt.«
Der jüngere Bruder reißt sich von der Hand Tukulti-Ninurtas los und heult laut auf:
»Was sagst du, unsere Eltern sind beide tot?«
Sein Bruder nickt: »Ja, beide sind auf dem Weg ins Schattenreich.«
Der König legt den beiden tröstend seine Hände auf die Schultern:
»Ihr müsst nun stark sein! Zur gleichen Stunde beide Elternteile zu verlieren, ist ein hartes Los. Aber ihr seid Assyrer aus hohem Haus. Bewahrt Haltung bewahren und erweist den Verstorbenen die letzte Ehre. Kommt, führt mich zum Totenbett meines engsten Beraters!«
Als der König das Schlafgemach von Bābu-aa-iddina betritt, verstummen die Rufe der versammelten Klageweiber. Der Beschwörer in seinem Fischkostüm verneigt sich nur kurz vor dem König und verschwindet mitsamt seinem Gefolge durch einen Seiteneingang. Flankiert von den beiden Söhnen steht Tukulti-Ninurta nun alleine vor dem Leichnam des betagten Großwesirs. Behutsam greift er nach der Hand des Verstorbenen und legt sie in seine Linke. Mit seiner Rechten streichelt er fast zärtlich über den Handrücken des Großwesirs:
»Ehrwürdiger Bābu, du warst der treue Berater von drei assyrischen Königen. Du warst unserer Familie ein verlässlicher Freund. Mir aber warst du mehr als das: Du warst mein väterlicher Ratgeber. Doch nun liegt deine kalte Hand in der meinigen und ich werde niemals wieder einen Ratschlag aus deinem Munde hören.«
»Nicht ganz, mein Herr und König«, wirft der Ältere der beiden Brüder ein, »mit seinen letzten Atemzügen hat mein Vater mir aufgetragen, dir eine letzte Nachricht zukommen zu lassen.«
Ungläubig zieht der König die Augenbrauen nach oben: »Mein Großwesir hat im Angesicht des Todes noch eine Nachricht für mich hinterlassen? Spanne mich nicht auf die Folter, Putanu, heraus mit der Sprache!«
Dem fordernden Blick des Königs ausweichend, beginnt der Bärtige unter Tränen zu stammeln:
»Mein Vater Bābu-aa-iddina trug mir auf, dir, dem Großkönig des assyrischen Reiches, seine letzten beiden Empfehlungen zu übermitteln. Er lässt dir ausrichten, dass du unbedingt mit den Hethitern Frieden schließen sollst, bevor du deinen Blick nach Süden auf das Land der Babylonier richtest. Du wüsstest, was zu tun sei, großer Tukulti-Ninurta.«
Der König nickt: »Noch im Angesicht des Todes steht er mir als weiser Ratgeber zur Seite.« Der junge Regent drückt sichtlich bewegt noch einmal die Hand des Toten.
»So höre denn die letzten Worte meines Vaters. Sie galten seiner eigenen Nachfolge. Wähle Qibi-Aššur zum neuen Großwesir des assyrischen Reiches!«
Tukulti-Ninurta küsst die Hand des Verstorbenen und ruft aus: »Ehrwürdiger, diesen Rat werde ich gerne befolgen. Ich selbst habe General Qibi schon lange als deinen Nachfolger auserkoren. Er wird sich mit Sicherheit als würdiger Nachfolger des großen Bābu-aa-iddina erweisen!«
Putanu wendet sich erneut an den König: »Dies war nicht der letzte Ratschlag meines Vaters. Bevor er seinen letzten Odem aushauchte, sprach er folgendermaßen: Qibis ältesten Sohn, namens Aššur-iddin, mache zum Wesir und König des Landes anigalbat. Das waren die allerletzten Worte meines Vaters.«
Tukulti-Ninurta schaut den Bärtigen mit offenem Mund ins Gesicht: »Qibis Sohn Aššur-iddin soll ich zum Wesir und König des Landes anigalbat berufen? Einen Mann ohne jegliche Erfahrung? Bist du dir sicher, dass du dich nicht verhört hast, Putanu? Die letzten Worte eines Sterbenden können zuweilen missverstanden werden.«
Der ältere der beiden Brüder blickt verlegen zu Boden: »Nein Herr, es gibt keinen Zweifel. So lauteten seine letzten Worte.« Tränen kullern seine Wangen hinunter.
Tukulti-Ninurta legt die Hand des Toten zurück auf dessen Brust:
»Ehrwürdiger Bābu, General Qibi als deinen Nachfolger zu berufen, ist ein Vorschlag, den ich all zu gerne befolge. Er ist die beste Wahl für dieses Amt. Gerade jetzt, bevor ich mich aufmache, die Länder bis zum Unteren Meer zu erobern. Aššur-iddin, seinen Sohn, zum König von anigalbat zu ernennen, wäre mir im Traum nicht eingefallen. Sei es drum! Deinen letzten Wunsch, großer Bābu-aa-iddina, werde ich an deinem Totenbett nicht verweigern. Qibi wird dein Nachfolger in der Hauptstadt Assur, dessen Sohn Aššur-iddin – trotz seiner Jugend und Unerfahrenheit – der König und Wesir des neu eroberten Landes anigalbat! Noch heute werden die Befehle ergehen.«
Putanus Gesichtszüge drücken höchste Zufriedenheit aus. Als der König sich zum Aufbruch wendet, zwinkert der Bärtige seinem jüngeren Bruder mit einem hämischen Grinsen auf den Lippen zu. Kaum hat Tukulti-Ninurta das Gemach verlassen, poltert Putanu lachend heraus:
»Er hat tatsächlich alles geglaubt, was ich ihm gesagt habe. Nun wenden sich die Dinge für uns zum Besten! Wenn der Alte erst einmal begraben und die Trauerzeit verstrichen ist, werden wir endlich unseren Reichtum ungehindert genießen können. Wir werden Feste feiern, die hübschesten Weiber in unser Haus bitten und die schnellsten Pferde anschaffen. Brüderchen, du wirst sehen, wenn mein bester Freund Aššur-iddin erst auf dem Thron von anigalbat sitzt, wird er uns sehr großzügig dafür entlohnen, dass wir den mächtigen Tukulti-Ninurta dazu gebracht haben, ihn als Nachfolger seines Vaters einzusetzen! Unsere Schatzkammer wird überlaufen an Geschmeide, Gold, Silber und Kupfer. Warte ab!«
Der Jüngere steht noch wie versteinert vor der Leiche seines Vaters, unfähig auch nur ein Wort zu sprechen. Putanu zieht ihn zu sich heran:
»Mein Bruder, wir beide werden das Werk unseres Vaters noch übertreffen. Er hat Handel mit den Hethitern, den Ägyptern und den Kanaanitern betrieben. Selbst mit den verhassten Babyloniern hat er sich eingelassen. Wir beide werden das ändern. Wir werden nicht mehr mit Tüchern und Metall handeln, sondern in ein viel gewinnbringenderes Geschäft einsteigen. Ich habe schon alles mit meinem Freund Aššur-iddin besprochen. Sobald er König von anigalbat ist, wird er mir den Handel mit Holz aus dem neu eroberten Bergland übertragen. Von seinem Vater Qibi-Aššur hat er erfahren, dass Tukulti-Ninurta eine neue Residenzstadt bauen möchte. Dazu benötigt der König Holz in rauen Mengen. Und wir beide werden ihn mit diesem Rohstoff beliefern. Und noch etwas werden wir neu einführen. Ab sofort wird unser Haus auch mit Sklaven handeln!«
Der Jüngere wird aschfahl im Gesicht: »Wie kannst du so etwas am Totenbett unseres Vaters sagen? Du weißt, dass er den Sklavenhandel zutiefst verabscheut hat. Dies sei unseres Hauses nicht würdig, hat er uns immer gesagt.«
Putanu winkt ab: »Und doch hat er Sklaven in seinem eigenen Haus gehalten.«
»Diese wurden von ihm aber stets gut behandelt«, erwidert der Jüngere voller Empörung.
»Mag sein.« Putanu lächelt mitleidig: »Die Zeiten haben sich geändert. Tukulti-Ninurta plant große Eroberungszüge. Da werden mit Sicherheit zahlreiche Kriegsgefangene erbeutet und als Sklaven nach Assyrien verkauft. Das ist das künftige Geschäft, an dem wir mitverdienen werden.«
»Aber ...«
»Keine Widerrede!«, ereifert sich sein Bruder, »ich bin der Älteste von Bābuaa-iddinas Nachkommen und damit der Haupterbe und damit von dieser Stunde an Herr über unser Haus. Ich bestimme, was wir tun oder lassen und du wirst dich meinen Anordnungen fügen, kleiner Bruder! Hast du mich verstanden?«
Die harschen Worte verfehlen nicht ihr Ziel. Der Jüngere senkt seinen Blick zu Boden. Mit seiner Rechten streichelt er noch einmal liebvoll über den Arm des Verstorbenen.
»Vater war alt und gebrechlich. Aber wieso ist unsere Mutter nun auch noch gestorben?«
»Sie hat fast ihr ganzes Leben mit unserem Vater verbracht. Die Götter haben wohl auch ihren Tod beschlossen.« Putanus Worte klingen kalt und herzlos. »Geh und heul dich aus am Bett deiner Mutter! Ich habe sie im Frauenhaus aufbahren lassen.«
Der Jüngere rennt mit verquollenen Augen zur Tür hinaus, vorbei an den Klageweibern hinüber zu den Gemächern der Frauen.
Zwei Tage nach seinem Tod hat sich eine unübersehbare Menschenmenge vor dem Haus des verstorbenen Großwesirs Bābu-aa-iddina versammelt. Seine beiden Söhne erwarten die Trauergäste, allen voran König Tukulti-Ninurta, am Eingangsportal. Putanu und sein jüngerer Bruder verneigen sich vor dem Herrscher, während die Leibgardisten des Königs ihre Posten einnehmen. Jeder, der dem König auch nur einen Schritt zu nahe kommt, wird argwöhnisch gemustert. Der Hauptmann der Garde verweist Schaulustige, die sich zu weit nach vorne wagen, in die hinteren Reihen. Der gesamte Hofstaat hat sich um den König geschart. Alle haben ihre prächtigsten Gewänder angelegt und erwarten die Ankunft des Hohepriesters, der die Bestattungszeremonie vollziehen wird. Während der Wartezeit tauschen die Trauergäste Geschichten über persönliche Begegnungen mit dem Verstorbenen aus. Es wird geflüstert, wild gestikuliert und leise gelacht. Fast jeder der Anwesenden hat eine Anekdote über den alten Großwesir zu erzählen. Das Getuschel verstummt abrupt, als sich eine Prozession vom nahegelegenen Ištar-Tempel nähert. Dumpfe Paukenschläge begleiten den Gleichschritt der Priesterschaft, an deren Spitze sich Budadu, der Oberpriester des Gottes Aššur, gesetzt hat. In seiner Rechten hält er den langen Hirtenstab, den er bei jedem seiner Schritte fest auf den Boden aufstößt. Mit regloser Miene zieht er am König vorbei, den er keines Blickes würdigt. An der Tür angekommen, pocht er sieben Mal mit dem gekrümmten Ende seines Stabes gegen die hölzerne Türlaibung.
»Öffnet diese Tür! Lasst den Totengeist ein, damit er die Verstorbenen ins Jenseits geleitet!«
Die beiden Söhne Bābu-aa-iddinas nehmen rechts und links vom Eingang Aufstellung und ziehen die beiden Flügel der Tür auseinander. Das Knarren der Scharniere tönt über den Platz. Eine gespenstische Stille breitet sich aus. Alle starren nur noch auf die Türöffnung, die sich vor ihnen wie ein gähnendes, schwarzes Loch auftut. Als die Pauken erneut angeschlagen werden, treten fast alle einen Schritt zurück. Der Hohepriester breitet seine Arme aus und ruft:
»Bābu-aa-iddina, Großwesir des assyrischen Reiches, wir rufen dich und deine Gemahlin herbei. Zeige dich, Herr dieses Hauses!«
Die Paukenschläger wirbeln die Trommelstöcke. Der Lärm ist ohrenbetäubend. In der Türöffnung erscheint wie aus dem Nichts der Oberbeschwörer im Fischgewand. Er hält beide Hände zum Himmel gereckt und tritt auf die Stufen des Eingangs. Der Gesang aus seinem Mund klingt befremdlich. Er rezitiert uralte Weisen, deren Sinn niemand recht versteht. Langsam schreitet er die Stufen hinunter, bis er dicht vor dem König steht. Die Menge weicht vor dem unheimlichen Mann in seiner Zeremonienkleidung zurück. Kinder in den hinteren Reihen beginnen zu weinen und werden vergebens von ihren Müttern getröstet. Die Furcht der Erwachsenen vor dem Mann im Fischkostüm überträgt sich auf die Kleinen. Mit dem Beschwörer, der den Totengeist herbeirufen kann, will keiner freiwillig etwas zu schaffen haben. Als der Mann seine Hände noch höher nach oben reißt, halten alle die Luft an:
»Totengeist, ich beschwöre dich. Totengeist, ich befehle dir, die beiden Verstorbenen zu uns kommen zu lassen!«
Der Aufschrei einer jungen Frau, die am Rande der Versammlung steht, durchschneidet die Stille wie ein Messer. Mit ausgestrecktem Arm zeigt sie auf die Tür, nicht mehr fähig auch nur ein Wort zu sagen. Sechs Männer mit nackten Oberkörpern, die in einen Umhang gehüllt sind, der aus Fischschuppen zu bestehen scheint, haben eine Bahre geschultert. Lang ausgestreckt liegt die Leiche des Großwesirs auf der Trage. Seine Haut glänzt vom Öl, mit dem man seinen ganzen Körper eingerieben hat. Seine Lippen sind mit roter Farbe geschminkt und der Körper mit einem goldbestickten Mantel bedeckt. Neben seiner Rechten liegt sein Gehstock aus Elfenbein.
»Er sieht so lebendig aus«, flüstert einer der Höflinge seinem Nachbarn zu, »als ob er schlafen würde.« Der vorwurfsvolle Blick des Fischpriesters lässt ihn augenblicklich verstummen. Die Träger rücken mit der Totenbahre etwas zur Seite, denn dicht hinter ihnen folgen sechs weitere, die die aufgebettete Leiche von Bābu-aa-iddinas Ehefrau zur Tür hinaustragen. Auf ein Zeichen des Fischpriesters gehen die beiden vorderen Träger in die Knie, die hinteren neigen die Trage schräg zum Publikum, damit alle Anwesenden die aufgebahrten Leichen betrachten können. Bis auf den König, den Beschwörer im Fischgewand und den Hohepriester des Gottes Aššur fallen alle auf die Knie und verneigen sich ein letztes Mal vor dem Großwesir.
Der Beschwörer zieht Tukulti-Ninurta am Ärmel und bedeutet ihm, ins Haus zu gehen. Nachdem die drei im Gebäude verschwunden sind, folgen ihnen die Träger mit den Bahren, dann ein Teil der Priesterschaft und die Trommler. Kaum ist der Letzte über die Schwelle getreten, verriegeln die beiden Söhne des Großwesirs die Tür von innen. Schnell haben sich die Trauergäste draußen vor der Tür verstreut, während im Inneren des Hauses die eigentliche Grablegung vorbereitet wird.
»Offnet die Gruft!«, fordert der Fischpriester die Bediensteten auf, die schon am Vortag den Zugang zur Grabkammer im Vorzimmer zum Schlafgemach des Großwesirs freigelegt haben. Vier Sklaven eilen herbei, um noch einmal den Eingang zum tiefen Schacht mit Reisigbesen freizukehren.
»Sind die Gaben für die Unterweltgöttin gerichtet?« Fragende Augen richten sich auf Putanu, den ältesten Sohn des Großwesirs.
Putanu tritt zuerst an die Bahre seiner Mutter heran: »Seht her! Der Hals meiner Mutter ist geschmückt mit Perlenketten aus Onyx, Bergkristall, Karneol, hellgrünem Jaspis, Lapislazuli, Kalkstein, Marmor, Muschelschalen, vielfarbigem Serpentin, Fritte und Glas in unterschiedlichen Größen. An den Ketten wurden auch die für das Ritual notwendigen Perlen befestigt. Solche in Form von Alabasterkrügen, andere, die aussehen wie Fliegen, Enten und andere Vögel, sowie die Nachbildung eines Stierkalbes und einer Kröte.«
Der Fischpriester nickt zufrieden. Seine Augen gleiten über den Leichnam der alten Frau. Im Schein der Fackeln, die gerade entzündet werden, schimmern die goldenen Ohrringe, die einem Halbmond ähneln.
»Wo ist das Schneckenhaus mit der goldenen Kappe, die goldene Mondsichel, die Axt aus Onyx, das Hämmerchen aus Lapislazuli, die Rosette und das gleicharmige Kreuz. Ich hoffe, das hast du nicht vergessen!«
»Nein, ehrwürdiger Beschwörer, alles ist gemäß der Tradition unserer Ahnen hergerichtet«, säuselt Putanu in unterwürfigem Ton, »meinem Vater haben wir die Ohrringe für die Unterweltgottheit auf eine Kette aufgefädelt, damit er sie bei seiner Ankunft gleich zur Hand hat.« Kaum hat er ausgesprochen, greift er sich einen Kamm aus Elfenbein, der neben dem Haupt seiner toten Mutter liegt.
Abb. 1: Elfenbeinkamm aus Gruft 45 in Assur
»Schaut diesen prächtigen Kamm!« Er hält den weißlich polierten Striegel ins Licht einer Fackel. »Ein Elfenbeinschnitzer aus Byblos hat dieses Stück angefertigt und auf meinen Wunsch hin eine kultische Zeremonie eingeritzt. Kannst du die beiden Musikanten links von der Dattelpalme erkennen? Rechts davon nähert sich die Göttin, der man Blumen opfert.«
Der Mann im Fischkostüm streckt seinen Kopf zu Putanu, um den Kamm ausgiebig zu beäugen.
»Fürwahr ein Meisterwerk!«, bestätigt der Beschwörer anerkennend.
»Aus der gleichen Werkstatt stammt auch dieses Döschen, das der Meister aus einem Elefantenzahn angefertigt hat. Auf jeder Seite stehen zwei Ziegen und auf der Dattelpalme hockt ein kleiner Vogel.3 Wir haben diese Pyxis mit stark duftenden Blüten gefüllt, damit der Wohlgeruch der Erde die Herrin des Schattenreichs umschmeichelt.«
»Du hast in der Tat an alle Beigaben gedacht, Putanu. Deine Ahnen werden mit dir zufrieden sein.«
Putanu verneigt sich mit ausladender Geste vor dem Beschwörer, der daraufhin drei Mal in die Hände klatscht: »Lasst uns die Geister der Toten rufen, um sie zu ihrer letzten Ruhestatt zu geleiten!«
Begleitet von zwei seiner Helfer, hebt der Mann im Fischornat einen Gesang an, der mit seiner dunklen Bassstimme bedrohlich wirkt. Wenn er das Lied unterbricht, singen seine Begleiter weiter. Er skandiert zwischendurch immer wieder Beschwörungsformeln in sumerischer Sprache, um den Ec>immu, den Totengeist, zu beschwören. Die aufgebahrten Leichen werden in regelmäßigen Abständen mit wohlriechenden Ölen besprengt. In kniehohen Gefäßen, deren Seitenwände dreieckige Öffnungen aufweisen, wird allerlei Räucherwerk entzündet. Weißer Qualm strömt dort heraus und erfüllt im Nu den gesamten Raum mit dem Duft aromatischer Kräuter.
»Die Geister der Toten sind nun unter uns«, verkündet der Beschwörer.
Beiden Söhnen der Verstorbenen steht der Angstschweiß auf der Stirn. Niemand nimmt Notiz von ihrer Nervosität, die sie nur mit Mühe verbergen können. In diesem Moment achten alle nur auf den Hohepriester des Gottes Aššur, der an das Fußende der Totenbahren tritt und sich mit kräftiger Stimme an den Mann im Fischkostüm wendet:
»Den, der einen Sohn zeugte, sahst du ihn?«
Der Mann im Fischornat antwortet mit wehleidiger Stimme: »Ja, ich sah: In meiner Wand ist ein Nagel, darauf weint er bitterlich.«
Es entspinnt sich ein Zwiegespräch zwischen den beiden Priestern, das zunehmend lauter wird:
»Den, der zwei Söhne zeugte, sahst du ihn?«
»Ja, ich sah: Auf zwei Ziegeln sitzt er und isst Brot.«
»Den, der drei Söhne zeugte, sahst du ihn?«
»Ja, ich sah: Aus einem Schlauch trinkt er Wasser.«
»Den, der vier Söhne zeugte, sahst du ihn?«
»Ja, ich sah: Gleich einem, der vier Esel einspannen kann,
ist sein Herz freudig.«
»Den, der fünf Söhne zeugte, sahst du ihn?«
»Ja, ich sah: Gleich einem guten Schreiber ist er arbeitsbereit,
wie es recht ist, tritt er in den Palast ein.«
»Den, der sechs Söhne zeugte, sahst du ihn?«
»Ja, ich sah: Einem Landmann gleich ist sein Herz freudig.«
»Den, der sieben Söhne zeugte, sahst du ihn?«
»Ja, ich sah: Als ein jüngerer Bruder der Götter sitzt er auf dem Stuhl
und lauscht den Glückwünschen.«
»Den, der keinen Erben hatte, sahst du ihn?«, brüllt der Hohepriester in den Raum, dass es von den Wänden widerhallt.
»Ja, ich sah«, antwortet der Beschwörer in gleichem Tonfall,
»gleich einem Bettler isst er das Brot.
Einem unerfahrenen Aufseher gleich verkriecht er sich in einen Winkel.«
»Die Frau, die nie gebar, sahst du sie?«
»Ja, ich sah: Einem Gefäß gleich ist sie gewaltsam zu Boden geworfen,
kann keinen Mann erfreuen.«
»Der getötet ist in der Schlacht, sahst du ihn?«
»Ja, ich sah: Sein Vater und seine Mutter halten sein Haupt,
sein Weib weint über ihn.«
»Dessen Leichnam man in die Steppe warf, sahst du ihn?«
»Ja, ich sah: Sein Geist ist ruhelos auf der Erde.«
»Dessen Geist keinen Pfleger hat, sahst du ihn?«
»Ja, ich sah: Ausgewischtes aus dem Topf,
auf die Straße geworfene Bissen muss er essen.«4
Der Hohepriester wendet sich um und schaut mit strenger Miene hinüber zu den beiden Söhnen der Verstorbenen:
»Putanu, du hast dich als würdiger Erbe deines ehrwürdigen Vaters erwiesen. Denke nun auch an die jährlichen Opfer, die du als neues Familienoberhaupt deinen Ahnen schuldig bist. Und bedenke, wenn diese ausbleiben und sie keinen Mundvorrat haben, kehren die Toten wieder, um sich vom Fleisch der Lebenden zu nähren. Lasse es also den Verstorbenen an nichts mangeln! Und vergiss auch nicht, die Toten bei der jährlichen Zeremonie beim Namen zu nennen! Denn nur wenn du die Namen der Verstorbenen am Opfertisch ausrufst, wirst du sie im Jenseits zufrieden stellen.«5
Putanu und sein Bruder senken die Köpfe und starren stumm vor sich hin.
»Öffnet nun die Gruft, damit die Geister der Toten einziehen können!«
Die vier Sklaven springen in den übermannshohen Schacht, dessen Füllerde sie bereits am Vortag ausgehoben haben. Mit vereinten Kräften machen sich daran, einen mühlsteinartigen Verschlussstein zur Seite zu schieben. Die Männer sind körperliche Arbeit gewohnt, dies beweisen die Schwielen an ihren Händen und ihre muskulösen Oberkörper. Dennoch ächzen die Vier unter der Last des kreisrunden Steines, der sich nur mühsam zur Seite bewegen lässt. Ein niedriger Eingang verbirgt sich dahinter. Man bringt eine hölzerne Leiter herbei, über die der Hohepriester des Aššur, begleitet von Putanu, nach unten steigt. Man reicht Putanu eine Fackel, mit der er in die Grabkammer leuchtet.
Vor ihnen breitet sich eine höhlenartige Gewölbegruft aus. Sie wurde bereits im Zuge des Hausbaus aus gebrannten Lehmziegeln unter dem Fußboden des Haupthauses angelegt. Seit vielen Jahren dringt nun zum ersten Mal wieder Licht in das Innere der Gruft. Modriger Geruch steigt in die Nasen der beiden Männer, als sie sich nacheinander durch die niedrige Eingangstür in die Kammer zwängen. Mitten im Raum steht ein aus Lehmziegeln errichteter Tisch, auf dem Reste von Skeletten liegen. Der Priester macht sich ohne Umschweife daran, die Schädel der vorangegangenen Bestattungen vom Tisch zu räumen. Sorgsam verstaut er danach auch die größeren Knochen in einer Ecke der Gruft. Die faulige Ausdünstung treibt die Männer zur Eile an.
Abb. 2: Grablegung in der Gruft
»Lasst die Körper der Verstorbenen nach unten!«, ruft der Hohepriester den Trägern entgegen, wobei er sich den Ärmel seines Gewandes vor die Nase hält. Diese haben in der Zwischenzeit die beiden Leichen mitsamt ihren Beigaben in schwere Tücher gehüllt. Gehalten von Hanfseilen gleitet der Leichnam Bābu-aaiddinas langsam in den Schacht, wo ihn die vier Sklaven entgegennehmen. Nur mit Mühe kann der Körper durch die enge Tür der Gruft geschoben werden. Der beißende Verwesungsgeruch lässt die Diener husten. Mit schnellen Griffen packen sie den Toten auf den Tisch, wenden sich zum Schacht, um auch den Leichnam von Bābus Ehefrau in Empfang zu nehmen. Sie wird ebenfalls neben ihrem Gemahl auf dem Tisch aufgebahrt.
»Die restlichen Beigaben, Putanu, schnell!«, herrscht der Priester den Bärtigen an, der einen Sack bringt, den man von oben an einem Seil herabgelassen hat. Hurtig präsentiert er dem Priester den Inhalt: Beinringe aus Kupfer, ein Schmuckband, Ringe unterschiedlichster Art und Bänder aus kleinen Perlen. Der Beschwörer reißt ihm den Sack aus der Hand, verschnürt ihn flüchtig und legt ihn hastig neben dem rechten Knie des verstorbenen Großwesirs ab. Die Sklaven haben unterdes Gefäße mit Wein, Öl und Wasser entlang der Wände deponiert und zahlreiche Schüsseln mit Brot, Fleisch und Früchten am Boden der Gruft abgestellt. Der Hohepriester schaut sich noch einmal um. Alles ist zu seiner Zufriedenheit gerichtet.
»Der Gestank der Unterweltdämonen breitet sich aus. Wir müssen zurück in die Oberwelt! Schnell noch ein letztes Gebet, damit der Geist der Toten in das Land ohne Wiederkehr übersetzen kann! Der Fährmann wird sie bereits erwarten.«
Drei Mal umkreist der Hohepriester den Tisch mit den aufgebahrten Toten. Drei Mal ruft er ihre Namen laut aus. Nachdem er noch einige magische Formeln gemurmelt hat, bittet er darum, die beiden Toten gnädig im Jenseits aufzunehmen. Vom widerlichen Geruch angetrieben, kriechen sie wieder durch die Tür zurück in den Schacht und gelangen über die Leiter nach oben. Dort angekommen, atmen alle erst einmal tief durch. Nur die Sklaven stehen noch im Schacht. Sorgsam verschließen sie den Eingang zur Gruft, legen vor dem Verschlussstein noch kleine Gefäße mit Salböl ab und beginnen damit, den Schacht wieder mit Erde zu verfüllen. Mit ihren Füßen stampfen sie immer wieder das Erdreich fest. Nachdem sie fast das Niveau des Fußbodens erreicht haben, streuen sie große Mengen Kalk in den Eingangsschacht.
»Dies müsste genügen, um den Geruch des Todes zu bedecken«, meint der Hohepriester, »mischt den Mörtel an und verlegt die Platten des Fußbodens sorgfältig darüber. Niemand, außer den Eingeweihten, soll wissen, wo sich der Zugang zur Familiengruft befindet!«
Es ist still geworden im Haus des verstorbenen Großwesirs. Der König, die zahlreichen Trauergäste und die Zeremonienmeister mit ihrem Gefolge haben sich bereits vor zwei Doppelstunden zurückgezogen. Das Hauspersonal ist mit dem Reinigen der Gemächer beschäftigt. Putanu und sein Bruder sitzen derweil am Herdfeuer. Der Ältere füllt seinen Becher mit Starkbier, das er aus einem Krug schöpft, der neben ihm auf dem Boden steht. Der Jüngere dagegen starrt mit glasigen Augen in die lodernden Flammen der Feuerstelle. Der Tod seiner Eltern und das Begräbnisritual haben ihn sehr betrübt. Die Brüder sitzen eine ganze Weile nebeneinander, ohne auch nur ein Wort zu verlieren.
Der Ältere bricht als Erster das Schweigen:
»Gräme dich nicht, Brüderchen«, muntert ihn Putanu auf, »du wirst schon bald über den Tod unserer Eltern hinwegkommen! Freue dich doch, dass wir den Alten endlich los sind, der wie ein Kettenhund seinen Reichtum gehütet hat. Von nun an genießen wir beide das süße Leben!«
Der Jüngere will gerade antworten, als er lautes Pochen an der Pforte vernimmt. Er hält inne und lauscht den dumpfen Schlägen, die immer heftiger werden. Ein Diener eilt zur Pforte, öffnet die Tür einen Spaltbreit und vergewissert sich, wer zu solch später Stunde noch um Einlass begehrt. Ein Mann, der sein Haupt mit einem dunklen Tuch verhüllt hat, steht vor ihm. Der Fremde schaut sich noch einmal nach allen Seiten um, bevor er den Sklaven unsanft zur Seite schiebt:
»Melde deinem Herrn Putanu, dass ein Freund ihn sprechen möchte. Schnell! Die Zeit drängt!«
Der Diener eilt hinüber zum Empfangsraum, in dem die Brüder noch immer am Feuer sitzen. Bevor der Sklave überhaupt nur einen Ton von sich geben kann, stürmt der Fremde an ihm vorbei, rennt auf Putanu zu, der erschrocken von seinem Sitz springt. Der Fremde lüftet seinen Schal und gibt sich zu erkennen:
»Aššur-iddin! Mein Freund, was verschafft uns die Ehre deines späten Besuchs?« Putanu breitet seine Arme aus und umarmt den vermeintlichen Eindringling. Ohne die Anwesenden zu grüßen, poltert dieser los:
»Stell dir vor, der König hat mich nach der Trauerfeier für deinen Vater zu sich in den Palast bestellt. Kaum war ich dort angekommen, wurde ich in den großen Audienzsaal geführt. Dort teilte er mir mit, dass mein Vater Qibi-Aššur die Nachfolge deines verstorbenen Vaters als Großwesir antreten werde. Ein Bote sei schon unterwegs zu ihm, um ihm die Nachricht zu überbringen. Eine hohe Ehre für das Familienoberhaupt unserer Sippe! Mir aber eröffnete der König im gleichen Atemzug, dass ich als Nachfolger meines Vaters auserkoren sei. Vor dir steht also der künftige König von anigalbat!«
»Gratuliere, mein Freund, das sind großartige Neuigkeiten!«, grinst Putanu und reibt sich die Hände. »Ich habe dir ja versprochen, alles so einzufädeln, dass du mit meinen Diensten mehr als zufrieden sein wirst. Wie du siehst, ist alles so gekommen, wie ich es dir prophezeit habe.« Putanu beginnt zu lachen: »Ich musste nur ein klein wenig nachhelfen und schon lief die Sache.«
»Ein wenig nachhelfen?«, empört sich der jüngere Bruder, »du hast Vater und Mutter umgebracht! Vergiftet hast du die beiden. Wehe uns, wenn die Geister der Toten wiederkehren, um sich an uns zu rächen!«
»Was hast du getan, Putanu?« Aššur-iddin ist das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. »Stimmt das? Sagt dein Bruder die Wahrheit? Du hast deine eigenen Eltern umgebracht, um mich zum König von anigalbat zu machen?«
»Pah, seid ihr Memmen oder assyrische Männer?«, schnauzt Putanu die beiden an. »Fürchtet ihr beiden euch etwa vor Geistern und Dämonen? Ich bin am Ziel meiner Träume. Von heute an bin ich der Erbe des väterlichen Besitzes und ihr beiden werdet als meine Komplizen schön das Maul halten! Hat es euch geschadet, dass ich meinen Vater, den Großwesir, beseitigt habe? Nein! Auch ihr beiden profitiert von seinem Tod. Dass meine vorwitzige Mutter vom Wein kosten musste, den ich eigentlich für ihn präpariert hatte, war ein Unglücksfall. Aber eben nicht zu vermeiden. Und nun hört mir zu ihr beiden: Ein unbedachtes Wort an falscher Stelle und wir alle sind des Todes. Merkt euch das! Wir drei bilden von Stund an bis zu unserem Lebensende eine verschwiegene Gemeinschaft. Unermesslicher Reichtum erwartet uns. Wir brauchen nur noch ein wenig Geduld. Lasst mich nur machen!«
3 Pyxis aus Gruft 45 s. Anton Moortgat, Die Kunst des Alten Mesopotamien. Die klassische Kunst Vorderasiens II. Babylon und Assur (Köln 1985), Seite 76, Abb. 34.
4 Auszug aus dem Gilgameš-Epos, Tafel XII, 97 -154; s. Das Gilgameš-Epos. Übersetzt und mit Anmerkungen von Albert Schott. Neu herausgegeben von Wolfram von Soden. Philipp Reclam jun., Stuttgart 1988., 110ff.
5 s. Karen Radner, Die Macht des Namens. Altorientalische Strategien zur Selbsterhaltung. SANTAG Arbeiten und Untersuchungen zur Keilschriftkunde, Band 8. Hrsg. Karl Hecker, Hans Neumann und Walter Sommerfeld, Wiesbaden 2005, S. 75.
Gut zwei Monate sind seit der Abreise Labnānus vergangen. Senni schwirren noch immer die Gedanken um Ašdu und ihren Bruder ersi im Kopf herum. Die Freude auf ein baldiges Wiedersehen brennt in ihm wie ein Feuer. Es ist eigentlich nur ein Katzensprung bis nach arbe, doch sein Pflichtgefühl gegenüber seinem König lässt Senni nicht ruhen. Zuerst muss die Arbeit verrichtet sein – dann kommt das Vergnügen! Er schont sich und sein Gesinde nicht. Erst kürzlich hat der Großwesir einen Boten geschickt, der sich nach dem Stand der Dinge erkundigte und ihn zur Eile mahnte. Der König warte bereits sehnsüchtig auf die bestellten Streitwagen, hatte man ihm ausgerichtet. Dabei dauert die Ausbildung eines brauchbaren Streitwagenpferdes doch mehrere Jahre! Dies sei dem König gleich, ließ man ihn wissen. Tukulti-Ninurta benötige die Gespanne so schnell wie möglich. Jede Verzögerung würde ihn missgestimmter machen.
Ohne Unterlass werden nun Körbe für Kampfwagen hergestellt, Räder auf Speichen montiert, Achsen geölt und Zaumzeug gerichtet. Aber nicht nur die Produktion von Streitwagen läuft auf Hochtouren. Entgegen der Lehrmeinung von Kikkuli wird die Ausbildung der Tiere in wesentlich verkürzter Zeit vollzogen.
»Wenn der König ruft, haben wir zu folgen!«, hat Senni den Pferdeknechten mitgeteilt. »Wir können uns keine sieben Jahre Zeit lassen, um ein Pferd zu trainieren. Jedes Tier muss spätestens in einem Jahr einsatzbereit sein, koste es, was es wolle!«
Kopfschüttelnd machen sich die Stallburschen an die Arbeit: »Früher mussten wir die Pferde baden und bei Kälte in wärmende Stuben führen. Das Futter wurde nach bestimmten Regeln verteilt. Wehe, wir hielten uns nicht an die Vorschriften des Kikkuli! Heute mästen wir die Rappen mit allem, was wir gerade bekommen können und lassen die Hengste bei Wind und Wetter im Freien grasen. Da verstehe noch einer die Welt!«
Senni und seine Leute schuften an manchen Tagen bis zur Erschöpfung. Zuweilen ist der Hurriter zu müde, um am Ende des Tages eine Mahlzeit einzunehmen. Heute ist so ein Tag, an dem Senni von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf dem Ausbildungsplatz der Pferde zugebracht hat. Als er zusammen mit den Pferdeknechten todmüde in Richtung des Herrenhauses trottet, werden sie schon von weitem mit lautstarken Rufen empfangen:
»Da seid ihr ja endlich, ihr faules Pack! Ihr habt mich lange genug warten lassen!«
Da die Sonne sich schon am Horizont gesenkt hat, kann Senni den Spötter nicht erkennen.
»Macht, dass ihr herkommt! Ich habe wichtige Nachrichten vom Großwesir!«, blökt der Kerl, der vor der Küche am Herdfeuer sitzt. Die Stimme kommt Senni bekannt vor. Der Kerl scheint zu lispeln. Im Schein des Feuers fällt es ihm wie Schuppen von den Augen:
»Du bist es, Urad-Kūbe, der Wagenlenker! Welche Nachricht bringt ein strafversetzter Königsbote zu uns?«, frotzelt Senni zurück. Bevor der Mann antworten kann, setzt Senni noch einen drauf: »Was macht deine Zahnlücke? Sind die Fausthiebe der Wegelagerer inzwischen gut verheilt? Wie ich höre, lispelst du noch immer wie ein Kleinkind, das gerade sprechen lernt.«
Der Angesprochene springt auf und greift zum Schwert: »Willst du mich beleidigen? Auf freiem Feld hätte ich dir jetzt die Waffe bis zum Schaft in den Leib gerammt!«
Im Nu haben ihn Sennis Knechte umringt und drohen nun ihrerseits mit den Waffen.
»Haltet ein, Männer!«, beschwichtigt Senni seine Getreuen. »Urad-Kūbe ist unser Gast. Und das Gastrecht schützt ihn an unserem Lagerfeuer. Lasst uns hören, welch wichtige Botschaft er uns zu übermitteln hat!«
Die Männer lassen ihre Waffe sinken. Auch Urad-Kūbe steckt sein Schwert zurück in die Scheide, zieht eine handtellergroße Tontafel unter seinem Wams hervor und überreicht sie wortlos Senni. Der lässt sich am Feuer nieder und betrachtet die Hülle von allen Seiten.
»Sie trägt das Siegel des Großwesirs, unseres Herrn«, lässt er die Umherstehenden wissen, bevor er die Tontafel aus dem Schoner zieht. »Diese Botschaft muss ja enorm wichtig sein, wenn er den Inhalt so schützt!«
Der Bote ergreift erneut das Wort: »Bevor du liest, werde ich euch die jüngsten Ereignisse verkünden: Bābu-aa-iddina, Großwesir des assyrischen Reiches, ist zu seinen Ahnen gegangen. König Tukulti-Ninurta hat Qibi-Aššur als Nachfolger bestimmt. Dessen Sohn, namens Aššur-iddin, hat die Nachfolge seines Vaters als Großwesir und König von anigalbat angetreten. Ab sofort ist also nicht mehr Qibi-Aššur, sondern sein Sohn Aššur-iddin der neue Herr über das gerade eroberte Land. Als seine Untertanen werdet ihr nun seinen Befehlen folgen!«
Zunächst herrscht Schweigen rund um das Lagerfeuer. Die Nachricht vom Tod des ehrwürdigen Großwesirs, der über so viele Jahrzehnte das Geschick des assyrischen Reiches mitbestimmt hat, betrübt sie alle. Keiner von ihnen kannte ihn persönlich, aber die Geschichten über diesen berühmten Mann, vor allem die Berichte über seinen unermesslichen Reichtum, hatten sich sogar hier in der Provinz herumgesprochen. Erst als der alte Pferdeknecht den Wunsch ausspricht, dass die Unterweltgöttin Ereškigal den Verstorbenen gnädig aufnehmen solle, weicht die bedrückte Stimmung.
»Lasst uns sehen, was unser neuer Herr von uns verlangt! Senni öffnet vorsichtig die Schutzhülle der Tontafel, legt sie auf seine flache Handfläche und hält sie näher an das Licht des Feuers. Durch das Spiel von Licht und Schatten werden die eingeritzten Keilschriftzeichen besser lesbar. Dennoch wünscht sich Senni insgeheim Tageslicht, bei dem das Entziffern der Handschrift wesentlich einfacher wäre. So benötigt er eine ganze Weile, bis er den Sinn des Textes vollständig erfasst.
»Senni, lies vor! Was steht auf der Tafel?«, will der alte Pferdeknecht wissen, »oder ist der Inhalt nicht für unsere Ohren bestimmt?«
Senni schüttelt den Kopf: »Nein, mein Guter, ihr könnt alles erfahren. Allerdings befürchte ich, dass es euch nicht behagen wird.«
Senni führt die Tontafel ganz nahe an seine Augen und beginnt, vorzulesen:
»Zu Puašenni, Sohn des unnu, sprich, folgendermaßen spricht Aššur-iddin, Sohn des Qibi-Aššur, Großwesir und König von anigalbat: Puašenni, von diesem Tag an unterstehst du mitsamt deinem Gefolge meinen Befehlen. Eintausend Streitwagen mitsamt Pferden und Besatzung wirst du in die Hauptstadt schicken. Tukulti-Ninurta, der große König, duldet keinen Aufschub!«
Senni schaut in die Runde seiner Pferdeknechte, die zunächst mit geballten Fäusten die Anweisung ihres neuen Oberherrn vernehmen. Ihre anfangliche Sprachlosigkeit schlägt sehr schnell in Empörung um. Sie sind sich einig, dass die Forderung des neuen Vizekönigs unmöglich zu erfüllen sei. Auf jeden Fall nicht in der Kürze der Zeit! Alle Augen sind auf Senni gerichtet, der sich erhebt und breitbeinig vor seinen Leuten steht:
»Haben wir nicht alle Auflagen erfüllt, die man in der Vergangenheit von uns gefordert hat?«
Die Männer stimmen lautstark zu.
»Haben wir nicht jegliches Pensum, das uns auferlegt wurde, gemeinsam bewältigt?«
Einige Stallburschen springen auf und grölen: »Alles haben wir geschafft! Alles! Aber das, was der König verlangt, ist unmöglich!«
Eine heftige Diskussion entbrennt. Einige schlagen sogar vor, die Anweisungen ihres neuen Herrn einfach zu verweigern und fordern, ihm die Stirn zu bieten. Senni atmet tief durch und hebt beide Arme in die Höhe, bevor er das Wort ergreift:
»Männer, beruhigt euch! Seid ihr von Sinnen? Wir können die Befehle des Großwesirs von anigalbat ebenso wenig übergehen wie die Forderung des assyrischen Königs! Wie ihr richtig festgestellt habt, sind wir bislang allen Verpflichtungen nachgekommen. Lasst uns gemeinsam überprüfen, wie viele Streitwagen wir im Augenblick sofort zur Verfügung stellen können!«
»Achthundert Streitwagen stehen bereit. Pferde haben wir genug, aber fertig ausgebildet sind nur eintausend Tiere. Achthundert weitere benötigen eigentlich noch mindestens ein halbes Jahr, bis sie für den Kampfeinsatz geeignet sind«, ruft der alte Pferdeknecht über die Köpfe der aufgebrachten Menschenmenge hinweg.
»Das ist mehr, als ich erwartet habe.« Sennis Gesichtsausdruck wird zunehmend entspannter. »Dann müssen nur noch zweihundert Kampfwagen zusammengebaut und vierhundert halbwegs trainierte Pferde gefunden werden, um das geforderte Pensum von eintausend Fahrzeugen zu erfüllen. Die Streitwagen haben wir spätestens in zehn Tagen fertig, wenn wir Tag und Nacht daran arbeiten. Schwieriger ist es, auf die Schnelle brauchbare Zugtiere zu finden. Wir haben keine andere Wahl: Gleich morgen früh schicke ich Boten zu den benachbarten Gestüten. Wir kaufen ihnen alle Pferde ab, die für unsere Zwecke geeignet sind. Der Preis spielt dabei keine Rolle! Hauptsache, die Tiere können einen Wagen ziehen.«
Aus dem Hintergrund meldet sich plötzlich eine lispelnde Stimme: »Was ist mit den prächtigen Rössern, die ich bei meiner Ankunft abseits von allen anderen Pferden auf einer Koppel gesehen habe? In einem Pferch standen nur Stuten, im anderen die herrlichsten Hengste weit und breit. Die solltest du deinem neuen Herrn, dem Großwesir, schicken.«
Erzürnt schreit Senni den Wagenlenker an: »Bist du des Wahnsinns, Urad-Kübe? Das sind unsere besten Stuten und Leithengste. Die sind unverkäuflich! Diese Tiere werden für die Zucht benötigt.«
Schmunzelnd erwidert dieser: »Mein Herr, der Großwesir Aššur-iddin, der auch König dieses Landes ist, wird über deine Auskunft gar nicht erfreut sein!«
Mit einem höhnischen Grinsen auf den Lippen zieht sich der Lispler zurück zu seinem Schlafplatz. Leise lacht er in sich hinein: »Nun habe ich dich Senni! Meine Rache wird furchtbar sein! Ich werde im ganzen Land verbreiten, dass du dich weigerst, die besten Pferde dem König zu überlassen. Zudem werde ich über den Aufruhr deiner Stallknechte berichten. Das kostet dich den Kopf, elender Hurriter!«
»Eunuch, wir beide haben als Palastbeamte von Dür-Katlimmu in den letzten Jahren die höchsten Ehren erlangt. Nachdem Großkönig Tukulti-Ninurta den unerfahrenen Aššur-iddin nicht nur zum Wesir, sondern auch zum König von anigalbat erhoben hat, ist es an der Zeit, dass wir beide nicht nur Ruhm ernten, sondern auch unsere Schatztruhen füllen! Lass mich nur machen! Mit dir als Oberaufseher über den Harem von Dür-Katlimmu kann das Vorhaben gelingen. Ich werde als sein Hofschreiber das Meinige dazu tun, schließlich genieße ich sein Vertrauen, denn ohne mich könnte er all die Anweisungen, die ihn per Eilboten aus der Hauptstadt erreichen, nicht erfüllen. Wir müssen die Gunst der Stunde nutzen und ihn dazu bringen, uns beide mit noch größerer Machtfülle auszustatten. Vertraue mir! Mein Plan kann nicht schiefgehen! Ich muss mich nun aber auf den Weg machen. Unser neuer König erwartet mich im Thronsaal.«
Der Schriftgelehrte eilt durch die Flure hinüber zur Halle, wo Aššur-iddin bereits auf ihn wartet:
»Endlich bist du da! Gerade eben ist schon wieder eine neue Meldung aus der Hauptstadt eingetroffen. Kaum hat man eine Weisung von Tukulti-Ninurta befolgt, steht der nächste Bote mit neuen Befehlen des Großkönigs vor der Tür. Wie soll man das alles in so kurzer Zeit bewältigen? So anstrengend habe ich mir dieses Amt nicht vorgestellt!«
Der Hofschreiber verbeugt sich artig und antwortet: »Mein König, du hast vollkommen Recht! Deshalb ist es an der Zeit, etwas zu ändern. Schließlich bietet das Leben in der Provinz nicht den Komfort und Luxus, den wir von der Hauptstadt gewöhnt sind. Du bist als Wesir der oberste Verwalter des Landes