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Der Kampf um die englische Krone geht weiter
England, 1462. Über ein Jahr liegt die Schlacht von Towton zurück, bei der 20.000 Yorkisten und Lancastrianer starben. So auch Thomas, Bogenschütze und Weggefährte von Katherine, die ihn schmerzlich vermisst. Doch als Katherine zu Unrecht des Mordes angeklagt wird und flüchtet, passiert das Unglaubliche: Sie trifft auf den Totgeglaubten! Thomas leidet unter Gedächtnisverlust, erkennt Katherine aber wieder. Gemeinsam machen sie sich auf den gefährlichen Weg nach Cornford Castle, wo sie sich Hilfe erhoffen. Was beide noch nicht wissen: In ihrem Besitz befindet sich ein Gegenstand, der die Rosenkriege ein für alle Mal beenden könnte ...
Der zweite Teil des englischen Bestseller-Epos - ideal für Leser von Rebecca Gablé und Bernard Cornwell
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Seitenzahl: 795
Cover
Über den Autor
Titel
Impressum
Widmung
Karte
VORBEMERKUNG ZU DEN STAMMBÄUMEN
DRAMATIS PERSONAE
Prolog
Teil 1
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
Teil 2
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
Teil 3
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
Teil 4
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
Teil 5
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
Anmerkungen des Verfassers
Danksagung
Toby Clements ist Autor und Buchkritiker. Schon als Grundschüler spürte er eine ungeheure Faszination für die englischen Rosenkriege, die lange, blutige Auseinandersetzung zwischen den Adelshäusern Lancaster und York. Seitdem hat er so gut wie jedes Buch gelesen, das es zu diesem Thema gibt. Mit der Veröffentlichung von KRIEGDER ROSEN: WINTERPILGER, dem ersten Teil seiner Saga um die Rosenkriege, ging für Toby Clements daher ein Kindheitstraum in Erfüllung. Er lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern in London.
Toby Clements
KÖNIGSBLUT
HISTORISCHER ROMAN
Aus dem Englischen von Holger Hanowell
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:Copyright © 2015 by Toby ClementsTitel der englischen Originalausgabe: »Kingmaker: Broken Faith«
Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, KölnLektorat: Judith MandtTextredaktion: Monika Hofko, MünchenStammbäume: Reinhard BornerKarte: Copyright © Darren BennettIllustration Karte: Markus Weber, Agentur Guter Punkt, MünchenTitelillustration: © getty-images/Piccell; © Darren BennettUmschlaggestaltung: Hafen Werbeagentur, Hamburg
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-2961-2
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für Alex, Isabel, Justin undMatt (1967 und 1968–1989),die immer noch bei uns sind jeden Tag,
Der Anspruch des Hauses Lancaster auf den Thron über die Linie des dritten Sohnes von König Edward III. (John, 1. Duke of Lancaster, geb. 1340) stützt sich auf bestimmte Besitztümer (Kronlande) und auf die Überzeugung, die Krone könne nicht in weiblicher Linie vererbt werden (konkret: über Philippa Mortimer, Tochter von Lionel, 1. Duke of Clarence). Folglich kommt aus Sicht des Hauses Lancaster der nächste Verwandte in männlicher Linie zum Zuge, also die Linie von John, 1. Duke of Lancaster.
Der Anspruch des Hauses York hingegen stützt sich auf die Nachfahren des zweiten Sohnes von König Edward III. (Lionel, 1. Duke of Clarence, geb. 1338). Die Anhänger Yorks waren sehr wohl der Überzeugung, dass die Krone über die weibliche Linie, also über Philippa Mortimer, vererbt werden könne.
Das Haus Tudor wiederum setzt sich über die Frage einer weiblichen Erbfolge – über Lady Margaret Beaufort – ebenso hinweg wie über den Umstand, dass John Beaufort, der 1. Earl of Somerset, illegitim geboren wurde.
Die Auflistung bietet einen Überblick über die wichtigsten Romanfiguren, wobei die historischen Personen jeweils mit * gekennzeichnet sind.
Politische Lager während der Rosenkriege
Wichtigste Anführer des Hauses York (der weißen Rose zuzuordnen)
*Richard Plantagenet, 3. Duke of York, ältester Thronanwärter des Hauses York (starb 1460 in der Schlacht von Wakefield).
*Edward Plantagenet, Earl of March, Sohn des Duke of York, ab 1460 4. Duke of York (später König Edward IV.).
*Edmund Plantagenet, Earl of Rutland, zweiter Sohn des Duke of York (starb 1460 in der Schlacht von Wakefield).
*Richard Neville, 5. Earl of Salisbury – mächtiger Magnat (hingerichtet nach der Schlacht von Wakefield).
*Richard Neville, 16. Earl of Warwick – Sohn des Earl of Salisbury, Captain von Calais, später bekannt unter dem Namen »Warwick der Königsmacher«, da er Edward IV. auf den Thron bringt.
*John Neville, 1. Marquess of Montagu, Bruder des »Königsmachers«.
*William Neville, 1. Earl of Kent, Baron Fauconberg, Bruder des Earl of Salisbury, klein, reizbar, guter Soldat.
*William Lord Hastings, 1. Baron Hastings, Freund des Earl of March.
Wichtigste Anführer des Hauses Lancaster (spätestens ab 1485 der roten Rose zuzuordnen)
*König Henry VI., Sohn Henrys V., hat einen schwachen Willen und gilt nach Ende des Hundertjährigen Krieges als geistig umnachtet.
*Margaret von Anjou (Marguerite d’Anjou), willensstarke Gemahlin König Henrys VI.
*Henry Beaufort, 3. Duke of Somerset, Günstling Margaretes, guter Soldat, berüchtigt.
*Sir Ralph Grey of Heaton, Kastellan von Castle Alnwick.
*William Tailboys, Knight of the Shire für Lincolnshire.
*Sir Humphrey Neville of Brancepeth, Cousin des Königsmachers.
Des Weiteren standen die meisten der Magnaten des Landes auf der Seite des Hauses Lancaster, darunter etwa Humphrey Stafford (1. Duke of Buckingham), Henry Holland (3. Duke of Exeter), John Talbot (2. Earl of Shrewsbury), James Butler (5. Earl of Ormond), Henry Percy (3. Earl of Northumberland), Sir Ralph Percy, Edmund Grey (Ruthyn, 1. Earl of Kent) sowie Thomas de Scales (7. Baron Scales), Thomas de Roos (9. Baron de Ros of Helmsley), Robert Hungerford (3. Baron Hungerford) und John Clifford (9. Baron de Clifford).
Master Payne, Leibarzt von König Henry.
Thomas Everingham, ehemals Mönch des Ordens des heiligen Gilbert of Sempringham
Katherine, ehemals Nonne des Ordens des heiligen Gilbert of Sempringham
John, Bruder von Thomas Everingham
Elizabeth, seine Frau
Adam und William, Söhne von John und Elizabeth
Sir John Fakenham aus Marton Hall, Lincolnshire
Isabella, seine Gemahlin
Richard Fakenham, Sir Johns Sohn
Mayhew, früher Helfer des Baders, jetzt Wundarzt im Lager des Earl of Warwick
Little John Willingham
Robert, ein Mönch
Pater Barnaby
Bruder Blethyn
Eelby, Vogt von Cornford Castle
Agnes, seine Frau
Die Witwe Beaufoy, Wehfrau aus Lincoln
Harrington, ihr Diener
Sir Giles Riven, Ritter aus Lincolnshire
Edmund Riven, Sohn von Sir Giles
Jack, ein Junge in Diensten von Sir Ralph Grey
Horner, Hauptmann von Alnwick Castle
Devon John, ein junger, zunächst schwer verwundeter Soldat
Wichtige Schlachten der Rosenkriege (mit militärischen Befehlshabern)
Erste Schlacht von St. Albans (First Battle of St Albans) nördlich von London, 22. Mai 1455: Richard Plantagenet, 3. Duke of York (Haus York), und Edmund Beaufort, 2. Duke of Somerset (Haus Lancaster, starb in der Schlacht); Sieg des Hauses York.
Schlacht von Ludlow (Battle of Ludford Bridge) in Shropshire, 12. Oktober 1459: Margaret of Anjou (Lancaster) und Richard, Duke of York (York); Sieg des Hauses Lancaster.
Schlacht von Northampton (Battle of Northampton), 10. Juli 1460: Richard Neville, 16. Earl of Warwick (York) und Henry VI. und andere Adlige (Lancaster); Sieg des Hauses York.
Schlacht von Wakefield und Sandal Castle (Battle of Wakefield), 30. Dezember 1460: Richard of York und Richard Neville, Earl of Salisbury (York, beide sterben), und Henry Beaufort, Duke of Somerset, Henry Percy, Earl of Northumberland, und John Clifford (Lancaster); bedeutender Sieg des Hauses Lancaster.
Schlacht von Mortimer’s Crossin der Nähe von Wigmore, Herefordshire (Battle of Mortimer’s Cross), 2. Februar 1461: Edward, Earl of March (York), und Sir Owen Tudor (hingerichtet) und Jasper Tudor, Earl of Pembroke (Lancaster); bedeutender Sieg des Hauses York.
Zweite Schlacht von St. Albans(Second Battle of St Albans), Hertfordshire, 17. Februar 1461: Margaret of Anjou (Lancaster) und Richard Neville, Earl of Warwick (York); Sieg des Hauses Lancaster.
Schlacht bei Ferrybridge (Battle of Ferrybridge), Yorkshire, 28. März 1461: Richard Neville, Earl of Warwick (York), und John Clifford und John Neville (Lancaster); unentschieden, gilt als kleines Scharmützel vor der großen Schlacht von Towton.
Schlacht von Towton (Battle of Towton), Yorkshire, 29. März 1461: Edward IV. (York) und Henry Beaufort, 3. Duke of Somerset (Lancaster); entscheidender Sieg des Hauses York.
Schlacht von Hedgeley Moor (Battle of Hedgeley Moor), Northumberland, 25. April 1464: John Neville, Marquess of Montagu (York), und Henry Beaufort, 3. Duke of Somerset u.a. (Lancaster); Sieg des Hauses York.
Schlacht von Hexham (Battle of Hexham), Northumberland, 15. Mai 1464: John Neville, Marquess of Montagu (York), und Henry Beaufort, 3. Duke of Somerset (Lancaster; stirbt in dieser Schlacht); Sieg des Hauses York.
In der Schlacht von Towton, die am Ostersonntag des Jahres 1461 bei heftigem Schneetreiben stattfand, ließen etwa 20000 Engländer ihr Leben – an nur einem Tag waren mehr Tote zu beklagen als an allen Tagen davor oder danach. Obwohl Edward of York den Sieg davontrug und später als Edward IV. gekrönt wurde, war dieser Sieg äußerst knapp. Und er bedeutete noch nicht das Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen.
Der alte König, Henry VI. aus dem Hause Lancaster, und dessen unbezähmbare, aus Frankreich stammende Gemahlin Margaret konnten nach Norden fliehen, nach Schottland, wo sie versuchten, die Schotten und die Franzosen dazu zu bringen, das arg geschwächte England des frisch gekrönten Königs Edward anzugreifen. Zwar stellten zunächst sowohl die Schotten als auch die Franzosen Hilfe in Aussicht, doch letzten Endes wollte sich keine Seite in den Konflikt hineinziehen lassen, und nach zwei Jahren waren vom Einflussgebiet des entthronten Henry nur noch ein paar Burgen in Northumberland übrig geblieben. Nichts weiter als Brückenköpfe innerhalb seines dahingeschwundenen Königreichs.
Diese Burgen jedoch – Dunstanburgh, Bamburgh und Alnwick – wurden zu einem Leuchtfeuer der Hoffnung und zogen die Entrechteten und Vertriebenen an, die weiterhin treu zum alten König aus dem Hause Lancaster standen und sich nicht von den neuen Herren von der Fraktion der Yorkisten durch die Aussicht auf Titel und Besitztümer blenden ließen. Unter diesen Männern waren Henry Beaufort (der Duke of Somerset), Henry Holland (der Duke of Exeter) sowie Robert Hungerford (3. Baron Hungerford) undThomas de Roos (9. Baron de Ros of Helmsley). Von diesen Burgen aus hielten sie die letzte Flamme der Hoffnung des Hauses Lancaster am Brennen.
Aber das Leben in den mächtigen Burgen unweit der düsteren Nordsee ist alles andere als behaglich. Und inzwischen marschiert der Earl of Warwick, König Edwards mächtigster Verbündeter, mit genügend Ausrüstung, Waffen und Munition nach Norden. Mit seinen Geschützen ist er in der Lage, die dicksten Mauern niederzureißen. Das Heer, das er um sich gesammelt hat, ist größer als die Truppen, die bei Towton in die Schlacht zogen. Während also manche Menschen beten, die Kapitulation der Burgen möge dieses traurige Kapitel der Geschichte der englischen Nation beenden, hoffen andere, dass ein Wunder das Unheil noch abwenden wird und der alte König überlebt und erstarkt zurückkehrt, um die Fehler der zurückliegenden Jahre wiedergutzumachen …
CORNFORD CASTLE, CORNFORD,COUNTYOF LINCOLN, ENGLAND, NACHDEMSANKT-MICHAELS-TAGIM JAHR 1462
Kurz vor der Mittagsstunde am zweiten Tag nach Sankt Lukas spät im Oktober, als das graue Licht schräg durch die Küchentür der Burg fällt, betrachtet Katherine den kleinen gehäuteten Körper eines Tieres, der vor ihr auf dem geschrubbten Eichentisch liegt. Das Tier ist ausgeweidet, ohne Kopf und ohne Beine.
»Ist ein Kaninchen, Mylady«, erklärt ihr Eelbys Frau. »Hat mein Mann heute Morgen gefangen. Bei der Cold Half-Hundred Drain.«
Katherine kennt die Cold Half-Hundred Drain, und sie kennt Eelby, der ihr am Tisch den breiten Rücken zukehrt und schmatzend sein Brot kaut. Er sagt nichts, gibt nicht einmal ein zustimmendes Brummen von sich, aber seine massigen Schultern sind gestrafft, als warte Eelby auf etwas. Daher öffnet Katherine den schmalen Brustkorb des Tieres und beginnt zu zählen. Sie kommt auf dreizehn Rippenpaare.
»Das ist kein Kaninchen«, sagt sie. »Das ist eine Katze.«
Eelby hört auf zu kauen. Seine Frau begegnet kurz Katherines Blick, dann starrt sie auf die Binsen am Boden und streicht sich über den prallrunden Bauch. Es müsste bald so weit sein, überlegt Katherine, und wahrscheinlich hat die Frau Angst vor dem, was auf sie zukommt. Ihr Mann schluckt seinen Bissen Brot hinunter.
»Ist’n Karnickel«, meint er, ohne sich zu Katherine umzudrehen. Faltige Streifen hellerer Haut ziehen sich über seinen schmutzigen Stiernacken. »Wie meine Frau sagt. Hab’s selber erlegt.«
Katherine weiß, dass sie immer noch seltsam wirkt auf diese Leute – ein Eindringling in einer fremden Welt. Sie trägt ein gutes Kleid, ist klein und dünn und hat den Hut tief ins Gesicht gezogen, damit man die Kerbe an ihrem Ohr nicht sehen kann. Katherines ohnehin schon scharf geschnittene Gesichtszüge treten durch Kummer und Entbehrung noch deutlicher hervor – aber so ist es immer gewesen, seit sie vor über einem Jahr auf Cornford Castle ankam. Damals führte sie das Pferd, auf dem Richard Fakenham saß, über die zwei Brücken und durch das Torhaus, um die Burg jenes Mannes rechtmäßig in Besitz zu nehmen, der angeblich ihr Vater war.
Vor einem Jahr waren ihr die Ringmauern höher vorgekommen. Grob behauener grauer Stein, der selbst während der Sommermonate feucht blieb. Unkraut wucherte aus jeder Ritze, und überall in der Burg war es schmutzig. Katherine weiß noch, wie Eelbys Frau damals auf der nicht gefegten Stufe zur Küche stand, den Wäschebeutel in der Hand, während hungrige Kettenhunde knurrten und der Gestank von Unrat in der Luft hing.
»Was ist das?«, hatte Richard wissen wollen und die Nase gerümpft. Eelbys Frau starrte auf Richards verbundene Augen, dann wandte sie den Blick ab, bekreuzigte sich und murmelte ein Gebet.
»Nehmen wir es als Willkommen«, sagte Katherine zu ihm. »Gewissermaßen.«
»Aber wo sind sie denn alle?«, fragte er weiter.
»Tot«, lautete die Antwort. Die kam von Eelby, dem Burgvogt, der aus der Tür am Torhaus trat, nachdem er von weiter oben beobachtet hatte, wie Katherine und Richard über das Marschland gekommen waren. Katherine hatte den grobschlächtigen Mann vom ersten Augenblick an nicht gemocht. Breit und gedrungen, mit fleischigen Ohren und kleinen, gemeinen Augen. Und auch er mochte Katherine nicht.
»Tot?«, wiederholte sie.
»Aye«, bestätigte Eelby. »Alle außer mir sind mit Sir Giles Riven nach Norden, und inzwischen glaubt kaum noch jemand, dass sie zurückkommen werden.«
Eelby hatte dies in einem Ton gesagt, als wäre es ihre Schuld, als wäre sie, Katherine, dafür verantwortlich, dass die Burgbewohner tot waren. Doch sie beachtete den Vogt nicht, sondern schaute sich stattdessen einen Moment lang im Burghof um. Überall Dreck und Unrat, das Mauerwerk bröckelte an vielen Stellen, und das Holz war verfault. Im Dachstuhl nisteten Dohlen, und aus einer Ritze zwischen den Zinnen war ein Busch gewachsen. Bis auf das neue steinerne Zeichen im Mauerwerk über dem Torhaus, das Rivens Raben zeigte und das alte Wappen der Cornfords ersetzt hatte, war die ganze Burg allmählich dem Verfall preisgegeben. Es war eigenartig, wie wenig Wertschätzung Riven der Burg entgegenbrachte, wo Sir John Fakenham und dessen Sohn Richard doch so viel Zeit, Kraft und Blut darauf verwendet hatten, Cornford Castle rechtmäßig in Besitz zu nehmen.
Sie hätte nicht gedacht, dass sie den Ort in diesem Zustand vorfinden würde. Ebenso wenig wie Richard.
Sie waren von London zusammen mit einigen von William Hastings’ Leuten gekommen, zehn insgesamt. Die Männer boten ihnen unterwegs Schutz und begleiteten den Karren, der beladen war mit Hochzeitsgeschenken, die sie bekommen hatten, zumeist von Hastings selbst, der sich inzwischen Lord nennen durfte: zwei Federkopfkissen, ein Polster, eine Stehtruhe für Kleider, zwei kleinere Eichentruhen, hundert Ringe zum Teppichknüpfen, drei Pfund Draht sowie einen Hanfsack mit Schuhnägeln. Dann waren da noch zwei grüne, grob gesponnene Gewänder aus Kendal, eins aus Damastleinen, ein Ballen rotbrauner Stoff und Strümpfe. Für Richard gab es eine Jacke aus Samt und ein Wams, Zaumzeug für ein Pferd und ein Schwert mit kurzer Klinge. Nicht viel, wie Hastings zugegeben hatte, aber was konnte man einem blinden Mann schon schenken?
Sie hatten dieselbe Straße genommen, auf der sie den Sommer im Jahr zuvor mit Sir John und den anderen unterwegs gewesen waren. Um sich ein wenig über den Verlust jener Begleiter hinwegzutrösten, die ihnen lieb und teuer gewesen waren, hatten sie versucht sich vorzustellen, was sie in Cornford erwarten mochte: eine Burg mit festen Mauern, mit Schieferschindeln auf den Dächern und mit drei Glasfenstern im Söller. Sie stellten sich vor, wie der Vogt unterwegs war, um die fälligen Abgaben einzutreiben. Katherine malte sich Bienenstöcke aus, Obstwiesen voller Gänse und Hühner, fette Tauben in den Taubenschlägen, ein Mühlrad, das sich behäbig im sanft fließenden Bachlauf drehte, eine Grube zum Sägen von Baumstämmen vielleicht. Und einen Priester, der in der Tür seiner Kirche wartete. Ein ländliches Idyll mit Brauhaus, einem Bäcker, einem Schmied und einer Schänke, mit Landarbeitern, die Ochsen und Pflugschar lenkten und die Schafe schoren. Jungen liefen in den Wald und sammelten Holz, während die Mädchen die Ziegen hüteten. Frauen in wollenen Kleidern wiegten kleine Kinder im Arm, und in den kühlen Kellerräumen reifte das Ale in den Fässern.
Aber nichts war so, wie sie es sich vorgestellt hatten. Stattdessen sahen sie nur Witwen und verwaiste Kinder. Das Mühlrad war gebrochen, der Priester hatte keinen Lohn mehr erhalten und war fort. Und das, was die Männer ausgesät hatten, bevor sie alle in Richtung Norden aufgebrochen waren, verrottete nun auf den feuchten Feldern. Damals hatte Katherine gedacht, dass Richard sich glücklich schätzen konnte, dieses ganze Elend nicht sehen zu müssen.
Jetzt, ein Jahr später, steht sie in der Küche und hält eine tote Katze in der Hand, und von den paar Zweigen, die im Kamin für das Feuer sorgen sollen, steigt nur ein dünner Rauchfaden auf. Sie betrachtet den kleinen Körper des Tieres und überlegt, ob sie Eelby fragen soll, wo der Kopf ist, wo das Fell und die Pfoten sind, aber in letzter Zeit hat sie sich vor Eelby zu oft erniedrigt und sich auf seine Stufe herabgelassen. Später bat sie ihn meist, ihre Entschuldigung anzunehmen, damit auch weiterhin etwas zu essen für Richard auf dem Tisch stand. Sie hat sich geschworen, es nicht noch einmal zu tun, und daher belässt sie es dabei. Außerdem, was ist schon dabei, wenn man Katzenfleisch isst?
Sie legt das tote Tier wieder auf den Tisch, lässt Eelby und seine Frau allein in der Küche zurück und schließt die Tür hinter sich. Draußen ist es kalt. Der Winter kündigt sich schon an. In ihren Ohren beginnt es zu pochen, als sie zum Bergfried eilt und die Stufen zum Söller hinaufsteigt. Dort sitzt Richard noch fast genau so da, wie sie ihn zurückgelassen hat, auf einer Bank neben der erkalteten Asche der Feuerstelle. Nur selten verlässt er den Söller. In diesen Tagen wagt er sich nur ungern hinaus, aus Angst vor dem Unbekannten, aber nachdem er sein Augenlicht verloren hat, haben sich seine anderen Sinne geschärft.
»Hat er sich schon wieder einen neuen Schwindel ausgedacht?«, fragt er.
»Woher weißt du das?«
»Ich merke es an deinem Gang. Du gehst so, als wärst du aufgebracht.«
Sie lacht leise und geht über den binsenbedeckten Boden, um Richard die Hand auf die Schulter zu legen. Er wendet ihr das Gesicht zu, lächelt ausdruckslos und hält ihr die Hand hin.
»Margaret«, sagt er.
Katherine weiß, dass sie seine Hand nehmen muss. Sie tut es und betrachtet ihren Ehemann. Am liebsten möchte sie ihm sagen, dass er seine Kleidung wechseln muss. Das Leinen ist schmutzig, und überall dort, wo er es angefasst hat, sind rußige Flecken, da er versucht hat, in dem Feuer herumzustochern. Er zieht sie an sich, legt ihr den Arm um die Taille. Es ist immer so. Er kann nicht einfach nur so dasitzen. Er muss sie an sich ziehen, sie anfassen. Auch jetzt streicht er ihr mit der Hand über die Hüfte, doch Katherine versteift sich unter der Berührung. Richard spürt das, und sein ohnehin schon dünnes Lächeln schwindet. Er lässt die Hand sinken. Er ist wie ein geprügelter Hund.
Im Laufe des letzten Jahres hat er körperlich stark abgebaut. Die kräftigen Muskeln, die er bei den ständigen Waffenübungen und den langen Jagdausflügen mit den Hunden oder den Falken entwickelt hatte, haben sich zurückgebildet. In den ersten Monaten setzte er zunächst Fett an, aber nun ist auch das Fettgewebe verschwunden, und die Haut hängt schlaff herunter. Es ist niemand da, der ihn rasiert oder ihm die Haare kämmt, daher hat Katherine es gelernt.
»Sollen wir ein bisschen spazieren gehen?«, fragt sie.
Er seufzt.
»Ja«, sagt er dann. »Führ mich irgendwo hoch hinauf, damit ich ausrutsche und in den Tod stürze.«
»Na, komm«, meint sie. Sie stützt ihn, als er mühsam aufsteht.
Sie hört auf ihn, führt ihn langsam aus dem Söller und über die gewundene Steintreppe hinauf auf den Turm. Auf dem Weg nach oben kommen sie an einer engen, zugigen Schießscharte vorbei, durch die Katherine die einzige verbliebene Verzierung auf der Burg sehen kann: einen Wasserspeier in Form eines Löwenkopfes, durch den Wasser in den Innenhof hinuntertröpfelt. Alles andere von Wert ist weg, gestohlen oder verkauft. Sie nimmt an, dass der Wasserspeier nur deshalb noch da ist, weil niemand an ihn herankommt. Es ist nicht klar, ob es Rivens Leute waren, die alles fortgeschafft haben, bevor man nach Norden aufbrach, oder ob Eelby und dessen Frau nach und nach alles verkauft haben.
Als sie den Wehrgang oben auf dem Turm erreichen, führt Katherine Richard über die rutschigen Steinplatten zu den Zinnen, wo ihnen der steife Ostwind ins Gesicht weht. Katherine glaubt das Salz der See zu schmecken, die hinter dem Horizont liegt. Es ist so kalt, dass ihr die Augen tränen, doch nicht bei Richard. Der steht da, umfasst eine steinerne Zinne mit beiden Händen und wiegt sich vor und zurück, vor und zurück. Er ist wie ein einfältiger Tölpel in seinem Elend.
Sie wendet den Blick von ihm und schaut weit hinaus über das Land, das sich am Fuß der Burg erstreckt. Von hier oben sieht man noch viel klarer, was alles in Angriff genommen werden müsste: Der Burggraben ist verschlammt, die Äcker stehen unter Wasser. Zäune sind gebrochen und hängen durch, die Obstbäume müssten beschnitten und die Haselsträucher gestutzt werden. Jemand müsste sich die Mühe machen, die Weiden zu köpfen. Unweit der Burg, auf der anderen Seite der ersten Brücke, ist das Dach des Viehstalls und des Heubodens eingefallen, und dahinter klemmt das Rad der Wassermühle, während das Wasser ungehindert durch den gebrochenen Deich sickert. In der Nähe des Damms stehen ein paar Häuser, von denen einige bewohnt sind. Man sieht es an dem blassen Rauch, der um die Dachfirste wabert. Andere Behausungen stehen leer und haben keinen First mehr, da die Nachbarn die Balken aus dem Dachstuhl genommen haben, um genug Brennholz zu haben.
»Bald ist Winter«, sagt Richard.
Sie fragt sich, was in Gottes Namen sie dann tun sollen.
»Wie sieht es aus von hier oben?«, fragt er.
»Traurig.«
Er versucht, ihr ein wenig Mut zu machen.
»Wir haben einfach keine Leute, die für uns arbeiten«, meint er. »Und Eelby – hätte ich meine Augen noch, ich schwöre dir, ich würde ihn auf der Stelle umbringen.«
»Dann wären wir noch einer weniger«, seufzt sie, »und alles wäre noch schlimmer.«
Sie erinnert sich wieder, was für Hoffnungen er sich gemacht hat, als sie hierherkamen. Richard hatte sie gefragt, was sie auf der Burg erwartete, denn die echte Lady Margaret hatte ihre Kindheit ja in Cornford Castle verbracht. Doch Katherine erzählte ihm, sie könne sich an so gut wie nichts mehr erinnern.
»Es ist eben eine Burg«, hatte sie gesagt.
»Ja, schon, aber Windsor ist auch eine Burg. Der Tower ist eine Burg. Wie sieht Cornford Castle aus? Mein Vater meint, die Burg liegt günstig, aber kalt soll es da sein. Und gibt es nicht zwei Burggräben?«
»Ja, es gibt Gräben«, stimmte sie zu. »Genau, zwei Burggräben.«
Doch schon damals fragte sie sich, warum es gleich zwei geben sollte.
»Und wer wird dort sein?«, hatte er wissen wollen. »Der Verwalter und der Vogt, nehme ich an, aber kannst du dich an die beiden Männer erinnern? Wahrscheinlich ist das zu lange her.«
Wieder hatte sie ihm zugestimmt.
»In der Zwischenzeit kann alles Mögliche mit der Burg passiert sein«, hatte sie zu bedenken gegeben. »Oder mit den Bewohnern.«
In Wahrheit hatte sie keine Ahnung, wie sie empfangen werden würden. In den ersten Tagen nachdem sie angekommen waren, hatte sie im Dorf nach Leuten Ausschau gehalten, die sich vom Alter her an die kleine Margaret Cornford hätten erinnern können. Aber es gab niemanden, der infrage gekommen wäre. Je länger sie blieb, desto selbstsicherer wurde sie.
Und so nimmt sie Richard bei der Hand und führt ihn zu den Zinnen, die nach Norden zeigen. Eine Weile sagt keiner etwas. Sie schaut hinüber zum Fluss, der sich als graues Band durch das Schilf schlängelt. Das Wasser scheint zu stehen und sieht genauso verkommen aus wie alles andere.
»Vermisst du Marton Hall?«, fragt sie.
Er neigt den Kopf leicht zur Seite und spitzt die Ohren; das ist seine Art, ihr einen Blick zuzuwerfen.
»Marton Hall?«, wiederholt er. »Nein. Eigentlich nicht. Ich vermisse – die Leute dort vermisse ich, das schon. Meinen Vater natürlich. Und Geoffrey Popham, unseren Verwalter dort, und seine Frau. Sie waren … na ja. Und dann war da noch Thomas. Du hast ihn ja kennengelernt, und all die anderen. Erinnerst du dich noch an Walter? Ein grober Kerl, was? Aber beim Allmächtigen, er war … wie dem auch sei … und natürlich Kit. Ich denke oft an ihn. Weiß schon gar nicht mehr, wo der herkam. Ich glaube, das erste Mal habe ich ihn an Bord eines Schiffes gesehen, kannst du dir das vorstellen? Und weißt du eigentlich, dass er meinen Vater von dieser schlimmen Fistel befreit hat? Kit war noch ein junger Bursche damals, aber er hat den Schnitt ausgeführt wie ein richtiger Arzt. Und wir standen im Zimmer um das Bett herum und ahnten, dass alles gut werden würde. Bei allen Heiligen, wenn ich jetzt an diese Zeit denke. An den Sommer damals. Alles war voller Leben.«
Auch sie denkt zurück an Marton Hall, erinnert sich an den langen Sommer, den sie dort verbrachte, wo sie sich als junger Bursche ausgab, der auf den Namen Kit hörte. Niemand – weder Richard noch Sir John noch einer von den anderen – hatte je durchschaut, dass sie gar nicht der Junge war, der zu sein sie behauptete. Wie hätten sie auch darauf kommen sollen? Und als es später notwendig wurde, schlüpfte sie wieder in eine andere Rolle, diesmal in die der Lady Margaret Cornford. Ja, sie denkt gern zurück an jenen Sommer, hauptsächlich natürlich an Thomas. Doch der Winter, der dann folgte, machte alle schönen Erinnerungen zunichte. Seitdem hat Katherine gelernt, nicht zu schluchzen, wenn die Tränen kommen. Seitdem weint sie still und leise in sich hinein.
»Aber«, fährt Richard rasch fort, als wüsste er, was sie gerade empfindet, »sie sind alle fort. Und überhaupt, warum sich mit einem Herrenhaus begnügen, wenn man eine Burg haben kann?«
Er sagt es halb im Spaß. Dann hebt er die Arme vage in eine Richtung und weiß dabei nicht, dass er auf einen geschundenen und verheerten Landstrich blickt. Gedankenverloren dreht sie den Ring an ihrem Zeigefinger, und gemeinsam gehen sie weiter über den Wehrgang des Turms, bis sie stehen bleibt und nach Westen schaut, über die Fens hinweg zu der Ansammlung von grauen Steingebäuden, die in der Ferne nur zu erahnen sind.
Dort liegt die Priorei St. Mary unweit von Haverhurst. Seit sie in Cornford ist, hat sie nie den befestigten Weg entlang des Flusslaufs genommen, der zu den Toren der Priorei führt. Und auch nie die Burg in diese Richtung verlassen. Sie kann sich allenfalls einmal am Tag dazu durchringen, auf die grauen Gebäude zu schauen, und immer wenn sie die Umrisse der Priorei sieht, durchfährt sie ein heißer Schreck. Als sie jetzt dorthin blickt, merkt sie, dass der Ort im Grunde nichts Erschreckendes an sich hat – eine Kirche, ein paar niedrige Gebäude, eingefasst von einer Mauer. Und es kommt ihr geradezu widersinnig vor, dass die Priorei die meiste Zeit ihres Lebens ihre ganze Welt war. Sie fragt sich, was die Schwestern dort im Augenblick tun, und weiß instinktiv, dass es Non ist und die Schwestern sich zum Stundengebet versammeln.
Sie ist erleichtert, als vom Hof Hundegebell heraufdringt und sie den Blick von der Landschaft wenden kann. Eelbys Frau steht dort unten und wirft den Hunden weiß Gott was hin. Den Kopf der Katze vielleicht.
»Eelbys Frau«, sagt sie zu Richard. Der gibt einen unwirschen Laut von sich. Wieder fragt sich Katherine, wie lange es wohl noch dauert bis zur Niederkunft. Einmal hat sie Eelby gefragt, wann seine Frau in die Wochen kommen mag, aber der Vogt hat ihr nur ins Gesicht gelacht und gemeint, Frauen wie seine kommen nicht in die Wochen. Dann meinte er, es geht ihn ohnehin nichts an. Schließlich seien, so fuhr er fort, durch seine Hilfe Kühe von Kälbern und Schafe von Lämmern entbunden worden, und daher sei es nichts Besonderes, einer Frau bei der Entbindung zu helfen.
Daraufhin versuchte Katherine, mit Eelbys Frau unter vier Augen zu sprechen, aber die Frau hatte Angst und blieb verschlossen. Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie nichts hören von Katherines Fragen, und Katherine überlegte, ob die Frau Angst vor der Niederkunft an sich hatte oder doch eher vor ihrem Mann. Katherine wollte wissen, ob es unten im Dorf eine Frau gab, die bei der Geburt helfen könnte.
»Es gab mal eine«, sagte Eelbys Frau, »aber die liegt seit dem St.-Agnes-Tag auf dem Kirchhof neben ihrer Tochter. Deswegen ist niemand mehr da.«
Von den Zinnen aus beobachtet Katherine Eelbys Frau, und sie fragt sich, wie die in diesem Zustand überhaupt weiterarbeiten kann. Sie müsste eigentlich jeden Tag niederkommen. Vielleicht ist sie sogar schon über die Zeit. Katherine versucht, sich die Angst der Frau auszumalen. Wie fühlt es sich an, wenn man nicht genau weiß, was auf einen zukommt? Katherine hat in die Mienen der Männer geschaut, die in die Schlacht zogen – der grimmige Zug um den Mund, der leere Blick, die Gesichter so bleich wie Gänsefett. Gegen das Zittern der Hände half nur Wein oder Ale. Aber wie ist es bei Frauen, die vor dem Gebären stehen? Nicht selten sterben auch sie, und furchtbare Schmerzen sind gewiss.
»Wir müssen etwas für Eelbys Frau tun«, sagt sie zu Richard. »Und zwar bald.«
Wieder stößt Richard ein Knurren aus.
»Sollten wir nicht vielleicht nach der Infirmaria in der Priorei schicken?«, fragt sie.
Kaum hat sie das Wort ausgesprochen, da spürt sie dieses Flattern in der Brust. Ihr Atem geht schneller, und ihr ist ein bisschen taumelig.
Aber Richards Haltung ist ablehnend.
»St. Mary ist eine Priorei des heiligen Gilbert, schon vergessen?«, erklärt er ihr. »Ein geschlossener Orden. Die Frauen dort dürfen die Welt draußen nur durch eine Öffnung sehen, die nicht breiter ist als ein Daumen. Weißt du das denn nicht? Und diese Öffnung ist mit Messing eingefasst. Damit die Schwestern sie nicht nach und nach größer machen. Ihre Infirmaria wird die Priorei also nicht verlassen, selbst wenn es sich lohnen würde, und überhaupt, wieso sollte die Schwester Erfahrung mit Geburten haben? Sie lebt unter lauter Frauen, die noch nie einen Mann zu Gesicht bekommen haben.«
Sie merkt, dass Richard wenig über die Nonnen in der Priorei weiß, aber im Grunde geht es ihm gar nicht um die Ordensschwestern. Er denkt vielmehr an sich und an sie, und wieder einmal steht das Thema ihres nicht vorhandenen Nachwuchses düster und schwer zwischen ihnen. Dabei haben sie es durchaus versucht. Sie hatten einen Monat nach König Edwards Krönung geheiratet, als sie Thomas Everingham für tot erklärt hatte. Und seitdem haben sie gelegentlich als Mann und Frau beieinandergelegen. Sie denkt nicht gern an die ersten zögerlichen, umständlichen Begegnungen zurück, aber seitdem haben sie es einfach irgendwie getan.
Aber noch immer haben sie kein Kind, und Katherine hat nicht das Gefühl, als würde sie eins unter dem Herzen tragen, daher fragt sie sich, ob das, was sie tun, überhaupt richtig ist. Oder ob auf einer Vereinigung, die in stillem Kummer geschmiedet ist, je ein Segen liegen kann.
Eelbys Frau hat die Hunde gefüttert und schlurft zurück zur Küche.
»Ich könnte mich nach einer geeigneten Frau umschauen«, schlägt Katherine vor. »Dann ist sie vielleicht noch rechtzeitig hier, wenn das Kind kommt.«
»Gibt es eine unten im Dorf?«, fragt Richard.
»Nein. Aber vielleicht in einem der anderen Dörfer. Ich könnte bis nach Boston reiten. Ich könnte die Reste von dem roten Stoff verkaufen. Willst du nicht mitkommen?«
Richard nickt, doch sie wissen beide, dass er nicht mitkommen wird.
Am nächsten Morgen wartet Eelby allein im Regen mit zwei Pferden auf der anderen Seite der Brücke. Dazu muss Katherine erst durch den Innenhof gehen, vorbei an den Hunden, die sich über irgendwelche Knochen hermachen, und sieht durch die offene Küchentür, dass Eelbys Frau an der Wand lehnt. Katherine erschrickt, als sie die Frau sieht. Deren Gesichtshaut ist gespannt, ihre Augen quellen fast grotesk hervor. Sie atmet laut, fast keuchend, und als sie die Hand hebt, sieht Katherine, dass die furchtbar geschwollen ist.
»Einen guten Tag Euch, Goodwife Eelby«, grüßt Katherine. »Wir sind bald wieder zurück. Ruht Euch derweil aus. Überanstrengt Euch nicht, hört Ihr?«
Eelbys Frau sagt kein Wort, sondern nickt nur steif, als könnte sie den Kopf nicht richtig bewegen wegen ihres geschwollenen Nackens. Sie sieht verängstigt aus, denkt Katherine, und sie hastet durch das Torhaus und über die erste Brücke, wo Eelby auf sie wartet. Er sieht unglücklich aus mit seinem nassen Strohhut.
»Eure Frau …«, beginnt Katherine.
»Das wird schon wieder«, unterbricht er sie.
Ihr Entschluss steht fest. Sie wird in Boston nach einer Frau suchen. Ohne Hilfe zieht sie sich in den Sattel und rutscht ein paar Mal hin und her. Dann reiten sie über die zweite Brücke auf den Damm durch die Fens.
»Müsste mal ausgebessert werden«, sagt sie.
Schweigen.
»Wird schwer, eine Brücke auszubessern, wenn man kein Holz hat«, sagt er. »Und keine Nägel. Oder einen Hammer. Oder jemanden, der mit Hammer und Nägeln umgehen kann.«
»Gibt es denn wirklich niemanden?«
Er nimmt die Hände von den Zügeln und deutet auf die Häuser entlang des Weges vor ihnen. Fünf oder sechs sind es, niedrig und düster. Der Lehmverputz ist grünlich verfärbt, und ein paar Schritte weiter vorn versucht ein Junge – der älteste im Weiler, aber noch ohne Bartwuchs – ein Schwein in einen Pferch zu zerren, während seine Schwestern zusehen. Die Kinder stehen bis zu den Knöcheln in den Resten von Binsenflechten. Geflochtene Körbe und Matratzen hängen über dem Zaun. Der Junge verpasst dem Schwein einen Schlag mit einem Stock, und wenn das Tier sich jetzt auf ihn stürzt, gibt es im Dorf ein Kind weniger.
»Helft ihm, Eelby«, ruft Katherine.
Eelby rutscht aus dem Sattel und geht zu dem Jungen. Gemeinsam treiben sie das Schwein unter Stockhieben und Tritten zurück in den Pferch.
»Danke, Mylady«, sagt der Junge. Er ist ganz außer Atem. Dann bedankt er sich bei Eelby, aber in dem Tonfall liegt etwas. Wie Katherine bemerkt.
Eelby sitzt wieder auf, und Katherine verabschiedet sich von den Kindern. Ein Stückchen weiter sitzt eine hager aussehende Frau – die Mutter der Kinder? – in der offenen Tür ihrer Hütte, ein kahlköpfiges Neugeborenes auf dem Schoß. Die Frau starrt Eelby und Katherine stumm an, als die vorbeireiten. Katherine lächelt ihr zu, doch die Miene der Frau bleibt unbewegt. Katherine fragt sich, wer bei der Niederkunft geholfen haben mag.
»Meine Frau war bei ihr«, sagt Eelby, als sie außer Hörweite sind.
Eelby reitet mit gesenktem Kopf, geduckt unter seinen Hut, und überlässt es dem Pferd, dem Weg zu folgen. Katherine kann sich gut vorstellen, dass der Vogt oft an die vielen Männer denkt, die früher in dem Weiler lebten und arbeiteten und dafür sorgten, dass Leben in der Gegend war. Auch diese Männer werden in der Schlacht auf den Feldern von Towton dabei gewesen sein. Katherine will nicht an den Tag zurückdenken wegen der Erinnerungen daran, doch auch hier stürmen die Bilder wieder auf sie ein und drohen sie zu erdrücken.
Sie weiß noch, wie sie an dem Tag in Begleitung von Richard und dem Gehilfen des Feldschers, dessen Namen sie vergessen hat, auf die Anhöhe ging, nachdem sie erfahren hatte, Thomas sei dort zuletzt gesehen worden. Sie erinnert sich, wie Plünderer über das Schlachtfeld stapften und dass man im unsteten Schein von deren Fackeln das mit Leichen übersäte Tal erahnen konnte; es waren so viele Tote, dass der Fluss verstopft war und das Wasser durch den Damm aus Leichen sprudelte. Sie erinnert sich an die Berge von Toten, vier, fünf, sechs Mann hoch. Der Schnee war fast schon geschmolzen, und der Boden war glitschig von Blut und Exkrementen. Katherine hat immer noch den Gestank von damals in der Nase und erinnert sich an die Schreie der Verwundeten, die sich nicht mehr aus eigener Kraft von dem Gewicht der Toten befreien konnten. Und selbst in der Nacht, als die Schlacht eigentlich schon längst geschlagen war, wurden noch Männer getötet, als hätte es noch nicht genug Tote gegeben. Die Schreie der Verwundeten brachen jäh ab, wenn wieder ein Soldat mit dem Kriegshammer zuschlug. Alle hatten Todesangst, auch die Männer mit dem Kriegshammer. Es war der Abend des Tages, an dem Gott und seine Heiligen geschlafen hatten.
Sie erinnert sich an den Moment, als sie glaubte, sie habe Thomas endlich gefunden. Doch es war ein anderer Mann, ein Waliser, der auch Thomas hieß und der auf ihr Rufen geantwortet hatte. Er hatte gedacht, seine Frau rufe nach ihm. Da liefen ihr die Tränen über die Wangen, und die Trauer grub sich tief in ihren Magen, schwer wie ein Stein. Und selbst jetzt noch, viele Monate später, fühlt sie sich dem Schmerz schutzlos ausgeliefert. Sie ist froh, dass es regnet, da so niemand ihre Tränen sehen kann. Sie sitzt leicht vorgebeugt im Sattel und zittert am ganzen Leib vor Kummer.
Sie nimmt an, dass im Laufe des Sommers allmählich die Hoffnung schwindet, dass die Männer aus den Dörfern je wiederkommen werden. So wie auch ihre Hoffnung geschwunden war, Thomas je wiederzusehen. In der ersten Zeit blieb sie immer in der Nähe von William Hastings, in der Hoffnung, Thomas würde sie im Gefolge des Lords suchen, aber ihre Stellung im Haushalt war unsicher. Es gab Gerede, die Leute tuschelten hinter vorgehaltener Hand, obwohl Katherine ihnen keinen Anlass zu der Annahme gegeben hatte, sie wäre Hastings’ Geliebte gewesen. Damals wusste sie nicht, wie sie ihren Anspruch auf Cornford Castle geltend machen sollte. Es waren Wochen voller Ungewissheit in jener fiebrigen Zeit, als sich landauf, landab Adlige zu neuen Herren enteigneter Besitztümer erklärten und neue Stellungen im Umkreis des Hofes besetzten. Die Gefolgsleute des alten Königs waren Verfemte und gingen ins Exil, und alles, was einmal ihnen gehört hatte, fiel den Männern um den neuen Herrscher in den Schoß.
In den ersten Monaten war sie vollkommen stumm gewesen vor Trauer, und als die Tage ins Land gingen, geriet sie in eine immer größere Abhängigkeit von Richard Fakenham. Schon vorher hatte sie sich verantwortlich gefühlt für ihn, nicht zuletzt wegen der Behinderung, aber auch er hatte erkennen lassen, dass er sich weiterhin um die Frau kümmern wolle, die ihm einst als Kind versprochen worden war. Als die Wochen ins Land gingen und Thomas nicht zurückkehrte, wurde es für Katherine immer klarer, dass sie Richard würde heiraten müssen. Sie wusste, dass sie an seiner Seite bleiben und ihn mitsamt dem Hausstand nach Cornford begleiten würde.
Der Regen lässt nicht nach. Am trüben Himmel treibt der Wind die Wolken vor sich her, Tauben und Möwen gleiten spielerisch in den Böen. Eine Weile später begegnen sie einem Mönch, der an einer Gabelung Schutz unter einem Baum sucht. Als sie den Geistlichen sieht, findet sie nicht gleich die passenden Worte, um ihn anzusprechen, daher sagt Eelby irgendetwas. Die erste Antwort ist ein leises, feuchtes Husten, das Katherine nicht gefällt, dann erzählt der Mönch ihnen, er sei auf dem Weg nach Lincoln und habe vor, die Nacht in der Priorei St. Mary in Haverhurst zu verbringen, falls sie ihn einlassen.
Sie wünschen ihm eine gute Reise und reiten weiter.
»Bringt Unglück, einen Mönch auf der Straße zu treffen«, sagt Eelby nach einer Weile. Sie hält das für abergläubisches Gerede und mahnt zur Eile.
Sie ist schon einmal östlich von der Burg gewesen, in Boston, aber immer wenn sie diesen Weg nimmt, muss sie daran denken, wie es sich vor zwei Jahren anfühlte, als sie zum ersten Mal in der Stadt war. Sie blickt sich um nach dem Waldstück, in dem sie und Thomas in der ersten Nacht als Apostaten Unterschlupf gefunden hatten. Im Schlamm schliefen sie neben dem Ablasshändler. Dort in der Ferne tauchen ein paar Bäume auf, die vielleicht taugen könnten, aber sonst hat sie keinerlei Anhaltspunkt, nur den Weg auf dem Damm mitten in den feuchten Riedgrasgürteln in den Fens. Sie vermutet, dass der Fluss, über den sie damals auf der Flucht trieben, ein wenig weiter nördlich liegt. Weiter vorn beugt sich ein Fischreiher über einen Tümpel, und sie weiß, dass Richard früher versucht hätte, den Vogel mit dem Pfeil zu treffen. Wahrscheinlich hätte er einen Falken losgelassen, doch Eelby ist anders, und darum bleibt der Reiher sitzen und beachtet sie kaum, als sie vorbeireiten.
Bald erreichen sie trockeneres Land, wo der Boden bestellt ist und sich tiefe Furchen durch den Acker ziehen. Dahinter liegt Boston unter einer Dunstglocke aus Kohlenstaub. Am Himmel sind die blassen Schwingen der Seemöwen zu sehen. Katherines Blick fällt auf den Baum, an dem damals die Leiche eines Diebes hing, und weiter vorn kommt die Brücke, an der der Ablasshändler gezwungen worden war, einen Extrazoll für sein Maultier zu zahlen.
Sie versucht sich zu erinnern, wie sie damals war und wie die Dinge sich seither verändert haben. Und doch hat sich irgendwie nichts verändert. Damals lief sie in Lumpen herum, eine barfüßige Abtrünnige, voller Angst vor allem um sie herum. Und heute ist sie wieder hier in der Gegend, trägt einen Mantel mit Pelzbesatz und ein grünes Gewand aus Kendal, das ihr einer der vornehmsten Lords im Land geschenkt hat. Sie reitet auf einem Pferd und weiß einen ihrer Bediensteten eine halbe Länge hinter sich. Und trotzdem verspürt sie dieselbe nagende Angst, dieselbe Furcht, jemand könnte sie wiedererkennen und sie bloßstellen. Und wo sollte sie dann hin?
Sie wappnet sich innerlich und reitet auf die Brücke. Am Ende wartet ein Wächter in seinem Unterstand, um den Zoll einzutreiben, und es könnte sogar derselbe Mann sein wie zwei Jahre zuvor. Aber eine Wache sieht ohnehin aus wie die andere. Sie fischt eine Münze aus ihrer Börse, ohne abzusteigen, und der Mann nickt nur und lässt sie passieren. Einmal schaut er zu ihr auf und mustert sie, halb bewundernd, wie sie es in letzter Zeit bei vielen Männern erlebt hat. Sie reitet durch das Torhaus in Richtung Marktplatz, gefolgt von Eelby.
Vielleicht bildet sie es sich nur ein, aber jedes Mal, wenn sie nach Boston kommt, scheint in der Stadt weniger los zu sein als beim letzten Mal. Oder es liegt daran, dass sie mittlerweile viel von der Welt gesehen hat und deshalb weniger leicht zu beeindrucken ist? Vieles kommt ihr vertraut vor, auch der bucklige Trödler, aber der Bär mit den traurigen Augen ist nirgends zu sehen. Mit dem Kirchturm sind sie in der Zwischenzeit vorangekommen, wie sie bemerkt, und das Gerüst ragt gefährlich weit über das Flussufer.
Sie überlegt, wo sie am besten eine Wehfrau findet. Die Kirche beschränkt das Wirken dieser Frauen sehr streng, wie Katherine weiß. Denn die Priester fürchten sich vor denen, die ein Wissen haben, das den Geistlichen verschlossen bleibt. So kommt es, dass diejenigen stigmatisiert werden, die sich mit Angelegenheiten beschäftigen, die die Frauen betreffen, mit Dingen also, auf die Männer keinen Einfluss haben. Sie hat schon Männer düster raunen hören, je besser die Hexe, desto besser die Wehfrau.
Sie beschließt, Eelby noch eine Chance zu geben.
»Da wir schon einmal hier sind«, sagt sie, »werde ich die Mönche fragen, ob sie wissen, wer Eurer Frau bei der Niederkunft helfen könnte.«
Er blickt sie finster an. Seine Wangen sind gerötet vom Wind und durchzogen von feinen Äderchen, seine Augen sind klein und wässrig blau.
»Sie braucht keine Hilfe«, entgegnet er. »Zumindest nicht von so einer alten Hexe.«
»Aber die Schwellungen. Habt Ihr ihre Hände gesehen? Ihr Gesicht?«
»Das kommt vor«, meint er. »Bei unserm Herrn am Kreuz, ich hätte die weise Frau fragen sollen, als sie vorbeigekommen ist. Die hat so eine Tinktur, die man einer Frau verabreichen kann. Himbeerblätter und irgendeine Wurzel, oder? Dieser Trank lässt das Kind absterben, bevor es wachsen kann, wie ein tot geborenes Lamm.«
Katherine möchte nicht über das nachdenken, was Eelby gerade gesagt hat.
Ihr wird klar, dass sie zu einer anderen Taktik übergehen muss.
»Also gut«, sagt sie. »Ich werde erst einmal den Stoff verkaufen.«
Er nickt, und jetzt, da es so aussieht, als hätte sie klein beigegeben, ist er voller Verachtung, als gäbe ihm dieses Anzeichen von Schwäche die Erlaubnis, ihre Bedenken als grundlos abzutun. Sie ist seiner überdrüssig, aber sie sagt nichts mehr und wendet sich zum Gehen. Er folgt ihr, den Ballen Stoff auf der Schulter, bis zur Auslage eines Schneiders, wo sie anfängt zu feilschen. Der Schneider hat einen wachen Blick, bedient sie an seinem Stand und genießt das Handeln genauso wie sie. Katherine erinnert sich mit Freuden an die vielen Lehrstunden im Feilschen, die Geoffrey ihr in ihrer gemeinsamen Zeit drüben in Calais erteilt hat. Der Stoff ist von guter Qualität, und der Preis ist angemessen. Eelby steht da und wartet.
Als sie die Münzen in ihrer Börse verschwinden lässt, fragt sie ihn, ob er hier irgendwelche Leute kennt. Er schüttelt den Kopf. Er war erst zweimal in Boston, meint er, dabei ist die Stadt gar nicht weit von Cornford entfernt. In diesem Moment sieht Katherine die Frau, die vom Markt kommt. Das muss die Frau eines Kaufmanns sein, vermutet sie. Denn sie hat einen guten Mantel an und feste Holzpantinen, und obwohl sie es, wie es üblich ist, nicht zur Schau trägt, dass sie in anderen Umständen ist, scheint sie überaus zufrieden zu sein mit ihrem Zustand.
»Ich werde sie fragen«, sagt Katherine.
Eelby zieht die Luft ein. Hinter der Frau trottet ein Bediensteter, der einen schweren Korb voller roter Bete schleppt. Der Bedienstete ist ein bisschen verunsichert, als Katherine seine Herrin anspricht, wartet dann jedoch verdrießlich, während die Frau Katherine die Einzelheiten über die bevorstehende Niederkunft erzählt. Eine Witwe namens Beaufoy werde ihr bei der Geburt helfen, sagt sie.
»Sie hat eine Lizenz vom Bischof von Lincoln«, sagt die Frau, »und sie kann lesen und kennt alle Worte, die es braucht, um ein Neugeborenes zu taufen. Falls es nötig sein sollte.«
Ein Anflug von Argwohn liegt in ihrem Blick, als sie dies sagt, und Katherine bedankt sich und wünscht ihr alles Gute. Sie folgt der Wegbeschreibung und erreicht zusammen mit Eelby das Haus der Witwe, das nur zwei Häuserecken entfernt am Ende einer schmalen Gasse liegt. Als sie vor der Tür stehen, klopft Katherine an, und ein Mädchen öffnet ihnen und bittet sie in einen kühlen Raum. Dort lässt sie die beiden allein und macht sich auf die Suche nach ihrer Herrin. Katherine muss daran denken, wie sie einst in Lincoln der Witwe des Ablasshändlers einen Besuch abstatteten, aber diesmal ist nicht Thomas bei ihr, sondern Eelby.
»Warum macht Ihr Euch so viel Gedanken um meine Frau und mein Kind?«, fragt Eelby.
Katherine antwortet nicht gleich. Sie hält es für ganz natürlich, dass sich einer um den anderen kümmert, aber gibt es vielleicht noch einen anderen Grund? Ja, sie vermutet, dass sich mit der Geburt eines Kindes einiges ändern würde in Cornford. Es könnte eine Art Wiedergeburt bedeuten, hofft sie, und vielleicht meint das Schicksal es dann wieder gut mit ihnen. Sie fragt sich, ob sie es übertreibt mit diesen Gedankenspielen und ob sie zu große Erwartungen an Eelbys ungeborenes Kind hat, aber er redet weiter.
»Ist es, weil Ihr selber keine Kinder habt?«, fragt er. »Weil Ihr unfruchtbar seid?«
Darauf erwidert sie nichts. Sie warten. Es ist ein schöner Raum, denkt sie, so ähnlich wie der im Haus des Ablasshändlers in Lincoln. Auch hier sind die Wände getäfelt, und durch eine Öffnung in der Decke kann der Rauch des Kaminfeuers aufsteigen und die Räume im oberen Stockwerk erwärmen. Als die Witwe Beaufoy hereinkommt, fällt Katherine auf, dass die Dame fast das gleiche Gewand anhat wie sie, ganz so, als hätte auch die Witwe es von Lord Hastings bekommen. Die Kopfbedeckung liegt in weichen Falten und ist von einem tiefen Rot. Sie ist eine gut aussehende Frau, vielleicht so um die fünfunddreißig, eine Handspanne größer als Katherine, hat markante Wangenknochen und wache, flinke Augen.
»Ihr seid Lady Margaret?«, fragt sie. »Dann seid Ihr die Tochter des verstorbenen Lord Cornford aus Cornford?«
Katherine bestätigt dies und wappnet sich innerlich gegen den forschenden Blick der Witwe. Es dauert sehr lange. Was mag diese Frau wohl sehen? Was wird sie sehen, wenn sie hinter Katherines äußere Erscheinung blickt – ihre, Katherines, Gesichtszüge sind zu scharf geschnitten, als dass man sie schön nennen könnte, wie sie weiß –, wird sie noch etwas anderes erraten? Dass Katherine nicht die Frau ist, für die sie sich ausgibt? Dass sie eine Schwindlerin ist? Dass sie eine Apostatin ist? Dass sie eine Mörderin ist? Während sie vor der Witwe Beaufoy steht, fasst Katherine sich unwillkürlich an ihr verstümmeltes Ohr, das zum Glück unter der Kopfbedeckung verborgen ist.
»Vielleicht hätten wir uns doch woanders umschauen sollen«, sagt sie schließlich und tritt einen Schritt zurück, doch die Witwe Beaufoy sammelt sich und tut Katherines Worte mit einer beschwichtigenden Geste ab.
»Nein«, sagt sie. »Nein, jetzt, da Ihr nun schon einmal hier seid. Aber die Niederkunft ist noch nicht so bald?«
Katherine erklärt die Lage, aber um die Fragen der Witwe besser beantworten zu können, muss sie sich an Eelby wenden, der etwas abseits steht und die beiden Frauen nicht anschaut, so als ob die Angelegenheit ihn kränken würde. Katherine fragt sich, ob er nicht vielleicht genauso viel Angst vor der Geburt hat wie seine Frau. Die Witwe Beaufoy erkundigt sich, wann seine Frau zuletzt ihre Monatsblutung hatte, und darauf weiß er keine Antwort. Offenbar hat sie nichts anderes erwartet von einem Mann, aber als Katherine ihr beschreibt, dass Goodwife Eelbys Hände und ihr Gesicht geschwollen sind, horcht die Witwe erschrocken auf.
»Das Gesicht, sagt Ihr? Und die Hände?«
Eelby nickt.
»Wir müssen schnell los«, sagt die Witwe. Sie trägt dem Mädchen auf, dem Pferdeknecht Bescheid zu sagen und einem Mann namens Harrington, der, wie sich herausstellt, ein Bediensteter ist.
»Hol meine Tasche, Kind«, wendet sie sich an das Mädchen, »und achte darauf, dass alles drin ist, insbesondere Knoblauch und Weißdorn.«
Sie eilen zu den Pferden. Die Witwe Beaufoy sitzt im Damensattel, genau wie Katherine, das Mädchen hinter dem Diener auf dem anderen Pferd. Gemeinsam überqueren sie den Marktplatz und nehmen die Brücke stadtauswärts. Als sie auf der Straße vor den Toren Bostons sind, treibt die Witwe ihr Pferd an.
»Wir müssen schnell machen«, sagt sie. »Sonst brauchen wir vielleicht eher einen Priester. Und einen Mann mit einem Spaten.«
Als sie zur Burg kommen, sind die Tore noch geöffnet, und die hungrigen Hunde bellen.
»Weib!«, ruft Eelby. Doch nur die Hunde antworten. Er springt als Erster vom Pferd und läuft dann zur Küche, wo die Tür offen steht. Das Feuer ist ausgegangen, und es ist dunkel.
»Weib!«
Sie finden sie hinter dem Tisch, wo sie in einer Lache ihrer Ausscheidungen liegt. Ihr Gesicht ist zu einer schrecklichen Grimasse verzerrt. Die Witwe Beaufoy ruft nach einer Kerze und weist das Mädchen an, ihr ihre Tasche zu bringen.
»Können wir sie bewegen?«
Eelby und der Bedienstete hieven Eelbys Frau auf den Tisch. Ihr Körper ist geschwollen und heiß und steif.
»Stell die Krüge dahin«, sagt die Witwe zu dem Mädchen, »dann öffne die Lade da drüben und schau nach, ob noch mehr Kerzen da sind.«
Sie wendet sich an ihren Diener und an Eelby. »Du machst das Feuer an, und Ihr holt etwas Wasser. Dann füttert die Hunde und sperrt sie vorsichtshalber ein.«
Harrington kümmert sich um das Feuer, während Eelby mit dem Kessel davoneilt. Die Witwe Beaufoy rührt in einer kleinen schwarzen Tonschale eine Mischung aus Kräutern und Wein an.
»Wie kann ich helfen?«, fragt Katherine.
»Betet für sie«, antwortet die Witwe.
»Ich habe in einem Hospital gearbeitet«, erklärt Katherine ihr. »Nach zwei Schlachten, und habe die Männer wieder zusammengeflickt.«
Die Witwe Beaufoy sieht hoch.
»Dann können wir Eure Fertigkeiten gebrauchen, wenn sie beide überleben sollen. In der Zwischenzeit rührt das hier glatt.«
Sie gibt Katherine die Schale. Der Geruch ist stark, erdig und üppig wie ein Feldweg im Hochsommer. Die Witwe Beaufoy dreht sich um und stellt sich zu Eelbys Frau, betastet deren Gesicht und deren Gliedmaßen. Sie riecht an ihr. Sie probiert selbst das, was in der Lache am Boden ist.
Eelby kommt mit dem Kessel zurück und hängt ihn über das prasselnde Feuer. Dann scheucht die Witwe ihn und Harrington hinaus, bevor sie bei Eelbys Frau Kleid und Unterkleid hochschiebt, die schwer sind und sich wohl mit Fruchtwasser vollgesogen haben. Eelbys Frau atmet schnell, ihr Gesicht ist verzerrt, und die Muskeln um ihren Mund zucken eigenartig. Obwohl sie die Augen geöffnet hat, scheint sie nichts zu sehen.
Die Witwe benutzt ein Messer, um den Stoff der Bruche aufzuschneiden. Zusammen mit dem Mädchen schiebt sie das Kleid über den Bauch der Schwangeren, ein Bauch so groß wie der Mond, mit hochstehendem Bauchnabel. Dann blickt sie auf den Unterleib.
»Raute, Wermut, Eibisch. Reib ihr die Hände mit Lorbeeröl ein. Schnell, Mädchen!«
Das Mädchen bereitet eine Mischung aus zwei Flaschen und reicht sie der Witwe, die auf Höhe des Kopfes von Eelbys Frau steht.
»Hebt sie hoch«, sagt sie.
Katherine stellt ihre Schale zur Seite, schiebt Eelbys Frau eine Hand unter die Schulter und stützt ihren Kopf. Die Witwe hält der Schwangeren die Nase zu und träufelt ihr den Inhalt der Schale in den Mund, sodass sie trinken oder ersticken muss. Das Feuer knackt im Hintergrund und lässt Schatten an den Wänden tanzen.
»Mehr Licht«, sagt die Witwe. »Das muss noch feiner gerührt werden. Und gebt Öl dazu.«
Das Mädchen zündet eine weitere Kerze aus Ziegenfett an. Dann entkorkt sie ein Tongefäß und gibt etwas Öl zu Katherines Mischung. Diese rührt weiter, bis eine Paste entsteht. Sie fragt sich, was das ist.
»Jetzt warmen Wein.«
Ein kleiner, halb leerer Krug steht noch in der Vorratskammer. Katherine gießt den Wein in einen sauber gescheuerten Topf und stellt den in die heiße Asche.
Jetzt setzen bei Eelbys Frau die Wehen ein. Ihr Körper versteift sich, und sie biegt den Rücken durch. Ihre kräftigen Beine zittern, und die Strümpfe rutschen ihr von den Waden bis zu den Knöcheln hinunter. Ihr Gesicht ist schmerzverzerrt. Die Witwe Beaufoy beugt sich über sie, legt den Arm um sie, hält sie zärtlich und redet mit beruhigenden Worten, die Katherine nicht verstehen kann, auf sie ein. Eelbys Frau bäumt sich auf, Schaum läuft ihr aus dem Mund. Dann Blut. Und dann – lieber Gott! Und dann – verändert sich ihre Gesichtsfarbe? Katherine hält eine der blakenden Kerzen dichter an die Frau. Sie ist sich nicht sicher, aber einen Moment lang sieht es so aus, als würde die Haut von Eelbys Frau dunkler werden, als würde sie fast blau anlaufen.
Gleich darauf entspannt sich die Schwangere wieder. Die Witwe Beaufoy richtet sich auf. Dann schläft die Schwangere allmählich ein, aber es ist kein guter Schlaf. Das Mädchen hat ein Tuch in der Hand, um der Frau über das Gesicht zu wischen und Spucke und Blut zu entfernen.
»Sie hat sich auf die Zunge gebissen«, sagt sie.
Die Witwe Beaufoy nickt.
»Sie wacht bald wieder auf«, erklärt sie, »aber es wird nicht lange dauern, bis der Anfall wiederkommt.«
»Warum? Was ist los?«, fragt Katherine.
»Es hat etwas mit der Gebärmutter zu tun. Die liegt vielleicht nicht richtig.«
»Liegt nicht richtig? Was soll das heißen?«
»So steht es in den Büchern. Ich habe es selber noch nicht gesehen, aber ich habe gelernt, dass sich die Gebärmutter im Körper hochschieben kann. Sie kann aufs Herz drücken. Ich nehme an, damit haben wir es hier zu tun.«
Katherine schaut auf Eelbys Frau. Die Gebärmutter scheint sehr fest zu sitzen, ganz unten mit dem Kind darin. Aber ist es wirklich möglich, dass das Herz durch die Größe des Kindes erdrückt wird?
»Was können wir tun?«, fragt sie.
»Die Bücher schlagen vor, dass man einen bestimmten Spruch in Käse oder Butter schreibt. Haben wir so was hier? Und dann soll man damit den Bauch einreiben.«
Wie soll das helfen, fragt sich Katherine. Das klingt nach Hexenzauber.
»In den Büchern steht auch, dass die Gebärmutter in ihrer Lage gehalten wird, wenn man die Gräten von gesalzenen Fischen verbrennt oder Pferdehufe oder sogar Katzenmist, und dann lässt man den Rauch unter der Frau aufsteigen und räuchert sie damit …«
»Aber?«
»Aber nichts davon wirkt.«
»Was dann?«
»Ich habe ihr etwas gegeben. Ich habe schon einmal erlebt, dass es gewirkt hat, aber auch, dass es nicht gewirkt hat. Weißdorn. Knoblauch. Und Mohn, um sie zu beruhigen.«
Das Mädchen legt neue Scheite auf das Feuer.
Die drei stehen in der Küche und betrachten Eelbys Frau. Ihre Hände sind riesig und zu lockeren Fäusten geballt neben den gespreizten Oberschenkeln. Blut und andere Flüssigkeiten beflecken den Tisch und den Boden. Erst jetzt legen die beiden Frauen die Reitumhänge ab. Der Umhang der Witwe Beaufoy wird von einer feinen Goldbrosche gehalten. Sie legen sie über die Truhe neben der Tür.
Sie warten. Das Mädchen zündet noch eine Kerze an. Derweil bereitet die Witwe mit dem warmen Wein eine neue Salbe zu. Dann rührt sich Eelbys Frau und richtet sich auf. Die Witwe ist schnell an ihrer Seite. Die Schwangere ist verwirrt und fasst sich ins Gesicht. Dann schaut sie sich wie benommen um und fragt sich wohl, was die vielen Leute hier machen. Sie lässt sich wieder auf den Tisch zurücksinken und starrt an die niedrigen rußgeschwärzten Deckenbalken, an denen bräunliche Kräutersträuße hängen. Es sieht so aus, als wollte sie etwas sagen, doch bevor sie es schafft, stößt sie einen langen Schrei aus, und ihr Mund zuckt wieder wie bei einem Anfall.
Die Witwe Beaufoy drückt sie auf den Tisch und redet leise auf sie ein, aber die Schwangere spuckt wieder, und Schaum bildet sich vor ihrem Mund. Diesmal ist sich Katherine sicher, dass die Hände noch größer geworden sind und dass sie sich blau verfärben.
Aber es geht vorbei. Eelbys Frau entspannt sich und schläft wieder ein. Die Witwe Beaufoy richtet sich auf.
»Sag Harrington, er soll einen Priester holen.«
Das Mädchen sieht zu Katherine.
»Der Priester ist gegangen«, sagt sie. »Er müsste zum Kloster reiten. Eelby kann ihm den Weg zeigen.«
»Ihr habt keinen Priester hier?«
Katherine schüttelt den Kopf. Sie können sich keinen Priester leisten, geschweige denn einen Windhund. Die Witwe nickt, als würde sie verstehen.
»Sag Harrington, dass er sich beeilen soll.« Das Mädchen nickt und verschwindet. Eine lange Zeit vergeht. Das Feuer flackert hell auf. Eelbys Frau gibt ein kehliges Geräusch von sich. Sie fängt an zu schnarchen. Die Witwe Beaufoy legt ihr eine Hand auf den prallen Bauch.
»Kommt«, sagt sie. »Fühlt mal!«
Katherine streckt die Hand aus und berührt die Bauchdecke der Schwangeren, die gespannt ist wie eine Trommel.
»Da«, sagt die Witwe. Sie nimmt Katherines Finger und presst sie auf etwas im Bauch, das härter ist.
»Ein Knie«, erklärt sie. »Oder ein Ellenbogen.«
Sie denkt eine Weile nach. Dann kommt das Mädchen wieder.
»Er hat sich auf den Weg zum Priester gemacht«, berichtet sie.
»Hilf uns mal«, sagt die Witwe. Gemeinsam drehen sie Eelbys Frau auf dem Tisch, sodass die Beine auf der einen Seite herunterhängen. Die Witwe ist erstaunlich kräftig. Sie stellt sich hinter die Schwangere, fasst sie unter den Achseln und setzt sie auf. Für einen Moment hängt Eelbys Frau wie eine Betrunkene vornübergebeugt.
»Haltet sie fest«, sagt sie zu Katherine, und zu dem Mädchen: »Rosenöl. Überall. Und zwar kräftig.«
Katherine steht hinter Eelbys Frau und stützt sie. Sie ist kräftig gebaut, ihr Brustkorb und die Schultern sind breit, ihre Muskeln sind gut mit Fett überzogen. Die Witwe Beaufoy ist derweil mit irgendeiner Mixtur beschäftigt, während das Mädchen den Unterleib und die marmorierten Oberschenkel der Schwangeren mit dem Öl einreibt.