Kriegsheim - Medra Yawa - E-Book

Kriegsheim E-Book

Medra Yawa

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Beschreibung

"Dein Leben gehört mir. Ich will sehen, was du daraus machst. Ich will sehen, wie du lebst. Ich ... Ich will sehen, was euch zu diesen Monstern macht." Wenn sich ein bloßes Experiment in eine unerschütterliche Freundschaft verwandelt, kann man nicht mehr reinen Gewissens gegen die "Monster" der Gegenseite vorgehen. Man würde sich eher selber als Monster sehen. Man würde lieber vor dem Schicksal fliehen. Man würde lieber die Verantwortung abschütteln wollen ...

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Kapitelübersicht

Prolog: Todeswunsch

Kapitel 1: Im Fluge der Zeit

Kapitel 2: Auf engem Raum zu oft gesehen

Kapitel 3: Verschwommen, nicht vergessen

Kapitel 4: Rechtfertigungen der Einsamkeit

Kapitel 5: Anpassungen an Änderungen

Kapitel 6: Auf den Fersen

Kapitel 7: Hinter Blättern verborgen

Kapitel 8: Zur Interaktion gezwungen

Kapitel 9: Die Risse in der Kontrolle

Kapitel 10: Feste Seiten, schwankende Grenzen

Kapitel 11: Das Echo der Abmachung

Kapitel 12: Eine Verabredung im Gruselhaus

Kapitel 13: Grenzüberschreitungen

Kapitel 14: Konsequenzen

Kapitel 15: Eisige Wahrheiten

Kapitel 16: Das Leid aus nächster Nähe

Kapitel 17: Über Trümmer gehend

Kapitel 18: Im Fluss der Zeit

Kapitel 19: Alle lose Fäden in einem Knoten

Epilog: Von Anfang an …

Mini-Glossar: Die Magie von Hushen und Macian

Danksagung

Weiteres von der Autorin

Prolog: Todeswunsch

Der Regen fiel schwerfällig aus dem hellblauen Himmel. Nicht eine Wolke war zu sehen. Dennoch fanden die Tropfen kein Ende. Unentwegt rieselten sie herab und fluteten den Pfad mit schlammigen Pfützen.

Pfützen, die fast schwarz aussahen.

Nein. Nicht ganz. Eher … dunkler-

Bevor das Mädchen ihren Gedanken beenden konnte, stürzte sie. Eine Schlammschicht bedeckte ihr Kleid. Am liebsten wäre sie liegen geblieben. Warum war sie überhaupt gerannt? Sie wusste ja gar nicht, was sie zuerst durchnässt hatte. Der Regen oder ihr eigener Schweiß?

»Wo bist du? Steffen?«, schluchzte sie leise.

Die Kopfschmerzen durchfuhren sie wie ein Peitschenhieb. Da war eine riesige Tatze. Schreie. Blut!

Jemand war verletzt. Wer? Und wo? Was machte sie hier? Sollte sie Hilfe holen? War sie deswegen gerannt? Aber wohin?

Und wer war sie?

Wir haben keine Zeit! Wir müssen weiter! Weiter!, rief eine Stimme in ihrem Kopf.

Eilig gehorchte sie. Es fühlte sich richtig an. Es fühlte sich als Einziges richtig an!

Dennoch …

Wen hatte sie finden wollen? Warum hatte sie den Namen schon wieder vergessen? Sie hatte ihn ja gerade ausgesprochen! Fühlten sich so die Namenlosen? Die Grabwächter, die kein Tageslicht sahen? Diese-

Wer waren die Namenlosen?

Ängstlich blieb das Mädchen stehen. Sie traute sich nicht mehr weiter. Es war, als ob jeder Schritt ihr eine Erinnerung raubte. Als ob sie sich selbst verlor und-

Bleib nicht stehen. Bitte! Sonst sind wir verdammt, meldete sich die Stimme erneut.

Jemand stöhnte. Nur befand sich niemand neben ihr. Es war auch nur eine Stimme. Nein. Keine bloße Stimme. Das waren Seelen! Das waren ihre anderen Seelen. Sie waren alle drei in diesem Körper gefangen. Sie waren eins.

Ob sie es wollten oder nicht.

»Aber warum?«, fragte das Mädchen leise, »Ich … Sollte ich nicht lieber sterben? Ich …«

Sie stockte. Wieder war da dieser stechende Schmerz in ihrem Kopf. Schwarze Punkte tanzten hinter ihren Augen. Sie wusste nicht, wann sie stürzte. Auf einmal kniete sie im Matsch. Verloren. Allein.

Weiter! Ehe-

»Keine Bewegung, Macian!«, befahl eine fremde Stimme neben ihrem Ohr. Das letzte Wort triefte vor Verachtung. Vor Hass.

Vor Zorn.

Erleichtert schloss sie die Augen. Diese Gefühle, so negativ sie auch waren, fühlten sich echt an. Gerechtfertigt. Erwünscht. Ihr Tod … Ja. Ihr Tod würde dieses ganze Drama beenden. Sie wollte nicht mehr leben. Sie wollte nicht mehr umherirren. Ihre Hände … Ihre Hände sollten besser erkalten!

Das kann nicht dein Ernst sein?!

Warum nicht? Ich weiß ja nicht einmal, wer ich bin. Ich … ich fühle mich nur schuldig, dachte sie stur.

Dann ist der Tod erst recht keine Lösung!

Hm … Mag sein. Aber zumindest fühlt er sich richtig an.

Endlich schien die dritte Seele wieder zu Sinnen zu kommen: Was fühlt sich richtig an?

Entschlossen atmete das Mädchen durch. Es war ihr egal, was die anderen Facetten ihres Ichs wollten. Das hier, das war das einzig Richtige. Sie hatte es verdient.

»Willst du es nicht endlich beenden?«, fragte sie sachte.

Der Fremde antwortete nicht.

Stattdessen füllte sich ihr Kopf mit ungehörten Worten. Die erste Seele schimpfte den Himmel unter die Erde. Die zweite blieb jedoch ruhiger. Kindlicher. Als könnte sie ihre Situation noch nicht ganz begreifen.

Das war ihr zu viel! Sie konnte nicht mehr. Sie wollte einfach alles enden lassen. Diese Pein, die sich über den Wald gelegt hatte, sie sollte-

Welche Pein?

Erschöpft wandte sich das Mädchen dem Fremden zu. Diesem dunkelhaarigen Jungen. Er konnte nicht viel älter als sie sein. Er war vielleicht einen Finger größer. Schmales Gesicht. Buschige Augenbrauen. Eingerückte Nase. Dünner Mund.

Oder kniff er ihn nur so zusammen?

»Na mach‘ schon. Ich bin eh nur eine Platzverschwendung«, murmelte sie und umarmte sich selbst.

Verwunderung huschte über seine Züge. Er runzelte die Stirn. Blickte hinter ihr in den Wald. Blickte diesen schlammigen Pfad entlang.

»Was … Was ist passiert?«

Die Worte rissen sie zurück: Ein Lächeln. Schmerz. Geschrei. Blut. So viel Blut!

Ihre Finger krallten sich in ihren Kopf. Er brannte von innen. Glühte! Da waren Namen. Immer und immer wieder dieselben Namen. Sie wurden gerufen. Geschrien. Geweint und-

Ich … wir haben doch auch Namen, erkannte sie keuchend.

»Hey … Ehm … Alles gut? Ich meine …«, der Junge riss sie wieder in die Realität. Er wirkte nun so unschlüssig. Warum? Was hielt ihn zurück?

Blinzelnd starrte sie ihn an.

»Du solltest mich lieber töten. Das ist einfacher für uns alle«, erklärte sie ihm stur.

Nickend erhob er seine Klinge. Jedoch schien sein Zorn verflogen. Stattdessen zappelte sein linker Fuß unruhig.

»Aber der einfachste Weg … ist nicht immer der beste, oder?«

Seine Unschlüssigkeit steckte sie an. Sie spürte Zustimmung von den anderen Seelen in ihr. Die beiden wollten kämpfen! Sie wollten leben! Sie wollten … wollten …

Was wollten sie? Nur den heutigen Tag überstehen? Oder die gesamte Woche? Wie sollte ihr Leben aussehen? Wo sollten sie hin? Sie …

Sie wollte nie wieder den Krieg sehen.

»Ich …«, sie stockte, »Ich … weiß ni…«, Tränen rannen aus ihren Augen. Sturzbäche, die sich nicht mehr bändigen ließen. Wasserfälle, die dem Regen Konkurrenz machten.

Was wusste sie schon?!

»Ich weiß auch nicht, ob mein Weg der richtige ist. Aber ich will nicht den der anderen gehen«, gestand der Junge plötzlich und senkte sein Messer, sodass sie nun ein Zeichen auf der Klinge erkennen konnte – ein Stern in einem Kreis, »Was hältst du also von einem Handel?«

Das Mädchen zog die Stirn in Falten.

Ein Handel? Was für einen Handel? Was könnte sie ihm schon bieten? Hätte er sie nicht lieber umbringen können? Oder war das selbst im Krieg zu viel verlangt? Warum wollte er nun seine Zeit mit ihr verschwenden? Sie war … Sie war doch…

Was war sie?

Geh nicht darauf ein! Das ist eine Falle. Wir müssen hier weg. Weg!, meldete sich wieder die erste Stimme.

Nur ließen sie genau diese Worte innehalten. Eine Falle? Eine Falle, um sie zu töten? Aber das wollte sie doch!

»Was willst du?«

Er klopfte mit der Klinge gegen sein Bein. Es wirkte wie ein Zeichen. Oder eine nachdenkliche Geste? Wusste er überhaupt, was er wollte? Oder zog er es sich nur an den Haaren herbei?

»Dein Leben gehört mir. Ich will sehen, was du daraus machst. Ich will sehen, wie du lebst. Ich … Ich will sehen, was euch zu diesen Monstern macht.«

Nichts davon ergab irgendeinen Sinn. Es wirkte so dumm auf sie. Als ob das Unvermeidbare nur aufgeschoben wurde und die Guillotine morgen ihren Namen tragen würde.

»Wenn es dir so besser geht«, murmelte sie.

DAS KANN NICHT DEIN ERNST-

Noch während sich die andere Seele aufregte, tauchte der Junge plötzlich vor ihnen auf. Er holte mit seiner Klinge aus. Riss sie nach vorn. Ein beißender Schmerz fuhr durch ihren linken Unterarm.

Sie keuchte.

NEIN! TÖTE IHN! TÖTE IHN!!!

Sie zuckte zusammen.

»Nur eine kleine Versicherung. Du verstehst?«, fragte er mit grimmiger Miene, ehe er sein Messer einsteckte, als wäre nichts geschehen, »Ich heiße TJ. Du?«

Unaufgefordert tanzten ihre Finger durch die kühle Luft und sofort spannte er sich an. Denn wie von Geisterhand schwebten glitzernden Wassertropfen auf die Wunde. Dort linderten sie den Schmerz. Der Blutfluss stoppte. Die Flüssigkeit versiegelte die angekratzte Haut.

Zurück blieb eine dünne Narbe.

»Maggie und Valerie …«, stellte sie sich und die schimpfende Stimme vor. Die Namen kamen ungefragt zurück. Als wären sie nie fort gewesen! Als wären sie-

Sie dachte an die kindliche Seele und atmete durch.

»Und Alice.«

Er hielt inne. Starrte sie ungläubig an. Ob er die Abmachung bereits überdachte? Ja. Bestimmt. Drei Seelen in einem Körper widersprach gewiss den Regeln der Natur. Sie musste-

In der Ferne erklang ein qualvoller Schrei.

Ein schwarzes Wesen sprang aus dem Unterholz. Die roten Augen huschten zwischen ihnen hin und her. Dann schmierte es seinen Kopf gegen TJ’s Bein.

Abrupt wandte er sich ab.

»Wir sollten weg, ehe die nächste Welle eintrifft. Versuch, nicht zurückzufallen.«

Kapitel 1: Im Fluge der Zeit

»… und deswegen sollte die Säure erst nach dem Wasser in das Reagenzglas gefüllt werden«, endete der Vortrag.

»Gut gemacht. Niklas und Janek zu mir. Nächste Woche sind Maggie und Cindy dran. Und der Rest haut endlich ab!«, rief der Chemielehrer über den Tumult ihrer zehnköpfigen Klasse.

»Grundgütiger … Ja doch …«, Maggie bekam gerade noch ihre Tasche zu fassen, ehe ihre Sitznachbarin sie raus scheuchte, »Beeil dich schon! Ehe er seine Meinung ändert. Los!«, befahl Cindy genervt.

»Du schiebst es seit Wochen auf.«

»Ja, ja. Ich weiß. Ist halt nicht mein Fach. Außerdem lässt mich mein Vater eh nicht raus, solange es nicht unbedingt sein muss«, murrend stoppte sie im Treppenhaus, »Ich versuche, am Wochenende der Festung zu entkommen. Dann können wir das Teil endlich vorbereiten. Abgemacht?«

Maggie zuckte mit den Schultern.

Sie durfte sich nicht anmerken lassen, dass sie ihre Freundin verstand. Sie durfte sich nicht anmerken lassen, dass sie solche Festungen kannte. Sie durfte sich nicht anmerken lassen, dass sie eine Macian war und dass sie von der wahren Natur der anderen wusste …

Flüchtig umarmte sie Cindy zum Abschied und beobachtete, wie diese zu ihrer Aufpasserin eilte. Eine weitere Macian, die als Bodyguard und Benimmdame diente. Anders hätte das andere Mädchen nie eine normale Schule betreten können.

Maggies Hand fuhr über die dünne Narbe an ihrem linken Unterarm. Sie malte die Linie still nach. Das tat sie immer, wenn sie Zeit totschlagen musste. Wie lange begleitete sie diese Markierung nun schon? Bald neun Jahre?

»Irgendetwas Neues?«, fragte sie leise und schlenderte zurück zum Chemieraum.

Keiner ihrer vorbeieilenden Klassenkameraden schenkte ihr einen Blick. Aber das war auch gut so. Die Macian hatte ihre Worte nicht an sie gerichtet.

Ihr Halstuch zuckte.

»Nopes.«

»Gut … Dank-«

»Eins plus!«, rief Niklas ihr zu und hüpfte herüber, »Also: Mit einer Eins hatte ich ja gerechnet. Aber plus? Plus?«

Lachend knuddelte Maggie ihren Stiefbruder: »Du kleines, angebendes Genie!«

Er duckte sich unter ihren Armen durch und gutmütig ließ sie den Jüngeren entkommen.

Ja. Jüngeren. Und nicht nur um ein paar Monate. Niklas hatte bereits zwei Klassen übersprungen und war damit der Zwerg ihres Jahrgangs.

»Wenn du lieb bitte sagst, gebe ich dir nochmal Nachhilfe. Na?«, bot er grinsend an.

»Wir schauen mal.«

»Kommst du, Nik? Wir kriegen ‘ne halbe Stunde!«, rief Janek und sofort strahlte ihr Stiefbruder übers ganze Gesicht.

»Wir sehen uns beim Abendessen, ja?«

»Geht klar. Mach‘ keine Dummheiten.«

»Ich doch nicht!«

Damit ließ er Maggie allein zurück.

Zumindest glaubte er das.

Kurz beäugte die Macian den leeren Flur. Dann streichelte sie ihr Halstuch.

Es schnurrte.

»Dieser Hutanunterricht ist langweilig«, murmelte es.

»Entschuldige, Yuki.«

»Wenigstens konnte ich in Geografie schlafen. Ein wahrer Lichtblick am Horizont.«

»Nun übertreibst du«, lachend ging Maggie die Treppe runter. In der Ferne wurde ein Test angekündigt. Ansonsten kroch die Stille ins Gebäude.

Kriegsheim war nicht sonderlich groß. Genauso verhielt es sich mit der Schülerschaft. Obwohl hier von erster bis zwölfter Klasse alles unterrichtet wurde, zählte man nie mehr als 150 Kinder auf dem Gelände. Es war immerzu ruhig.

Ruhig und abgeschieden.

Maggie zupfte ihren Schultergurt zurecht, ehe sie die Straße zum Waisenhaus runter lief. Dort wohnte sie nun schon seit acht Jahren. Sie hatte das Gebäude zufällig entdeckt, als sie sich im Wald versteckt hatte. Erst hatte sie nichts mit den Hutan, den unmagischen Menschen, zu tun haben wollen. Aber als sie sah, wie liebevoll sie ein verstoßenes Mädchen aufnahmen …

Es hatte ihr keine Ruhe mehr gelassen.

Nur deswegen hatte sie sich langsam den anderen Kindern gezeigt. Sie hatte Vertrauen gefasst. Vorsichtig war sie aus dem Wald getreten, der zuvor ihr Zuhause war. Sie hatte sich Paul, einem ihrer jetzigen Stiefbrüder, gezeigt. Sie hatte sich hinter ihm versteckt. Sie hatte neuen Mut gesammelt …

Bis er auszog, um nach dem Schulabschluss sein eigenes Leben zu leben.

Das war so was von überfällig gewesen!, mischte sich Valerie sofort griesgrämig ein.

Überfällig, meinetwegen. Du musst aber nicht so genervt dabei klingen. Du mochtest ihn auch!, erinnerte Maggie ihr anderes Ich.

Das weißt du gar nicht!

Bitte. Keinen Grund zu streiten, ja?

Auf Alice hörend verstummten beide.

So hatten sie sich über die letzten Jahre arrangiert: Maggie lenkte den Körper. Valerie setzte an allem etwas aus. Und Alice quetschte sich als empathisches Gewissen dazwischen.

»Mag?«

Yukis Stimme riss sie zurück. Die Macian spürte, wie ihre Hand verkrampft war. Wasser hatte sich auf den Knöcheln gesammelt. Der Frühsommertag fühlte sich frisch an. Beinahe etwas kalt.

»Entschuldige. Kleiner Streit«, murmelte sie erklärend.

Das Halstuch flatterte von ihren Schultern und verwandelte sich noch im Flug in seine wahre Gestalt:

Weißes Fell. Lange Beine. Mit dem Körperbau eines Fuchses. Jedoch ohne den buschigen Schwanz. Yukis war schmaler. Und in ihrem Gesicht glänzten zwei strahlende Saphire.

»Gib‘s zu! Ohne mich wärst du aufgeschmissen, ne? Durch deinen kleinen Streit hat sich schon wieder alles abgekühlt!«, grinste die Gestaltwandlerin.

Lachend verschränkte die Macian die Arme: »Nun werd‘ nicht gemein.«

»Ach ja? Soll ich demnächst warten, bis die Hutan schreien?«

»Tötet deine Neugier schon wieder eine Katze?«

»Meine Befriedigung bringt sie eh zurück.«

Spaßend liefen sie die Straße entlang. Sie war eine der wenigen, die vom Dorf wegführte. Bis zum Waisenhaus war sie sogar betoniert! Leider hatte man es versäumt, ein paar Laternen zu verteilen und so tanzten die Lichtstrahlen selbst zur Mittagszeit nur spärlich herab.

Obwohl … Eigentlich hatten damals die magischen Kreaturen des Waldes ein Veto eingelegt. Die freien Desson mochten keine Veränderungen.

»Purer Optimismus.«

»Einer muss ja-«, Yuki stockte.

Unwillkürlich blieb Maggie stehen. Sie betrachtete ihre kleine Freundin irritiert. Erst dann vernahm sie ein entferntes Tackern.

Ein Auto?

Eilig sprang die Gestaltwandlerin wieder auf ihre Schultern und verwandelte sich dabei in das vorherige Halstuch. Die Macian trat auf das Gras. Weg von dem schwarzen Untergrund. Sie spürte die Blicke der freien Desson auf sich ruhen. Kleine, wie große, die ihr nicht trauten. Die niemandem trauten. Die den Frieden des Waldes schützen wollten.

Ein Van und ein Laster düsten auf sie zu. Sie waren größer als die üblichen Autos im Dorf. Vor allem letzterer. Doch war das kein Grund zur Sorge. Die Zweige wichen den Fahrzeugen stumm aus. Als würde der Wald ihre Durchfahrt dulden.

Direkt neben Maggie hielt der Van an. Das Fenster glitt runter. Dahinter kam der Fahrer zum Vorschein. Ein älterer Mann mit dunklen Haaren und einer dicken Brille. Er wedelte ungeduldig mit der Hand. Zischte die Frau auf dem Beifahrersitz an. Wirkte dabei so überheblich. So selbstüberzeugt.

»Meine Frau führt uns in die Irre. Sag, wo liegt Kriegsheim?«

Stumm blickte Maggie zur Beifahrerin, die dem Mann einen gutmütigen Blick zuwarf. Hatte er von ihr gesprochen? Wieso blieb sie so ruhig?

Und wieso sah die Fremde den Wald so liebevoll an, als ob sie ihn kannte?

Wortlos wandte sich die Macian zum Gehen. Sie wollte sich nicht weiter mit diesen Leuten befassen. Sie wollte sich generell nicht mit Menschen befassen. Jede Kontaktperson könnte ihre magischen Fähigkeiten entdecken. Und wenn das passieren würde … wäre ihr Schicksal besiegelt.

»Hey! Ich hab‘ dich etwas gefragt, Gör!«, rief ihr der Mann schimpfend hinterher.

Maggie ließ sich nichts anmerken.

Bis auf wenige Ausnahmen mied sie eh alle Menschen. Das war sicherer. Einzig bei TJ, Yuki, Cindy oder ihrer Stieffamilie öffnete sie überhaupt den Mund. Wobei sie es nur auf Cindy ausgeweitet hatte, um sich notfalls hinter der unaufmerksamen Macian verstecken zu können. Nur so konnte sie einen Ausrutscher zügig kaschieren und-

Maggie blieb stehen. Ihr Blick fiel auf die zwei Leute im LKW. Eine Erwachsene und eine Jugendliche. Die Frau mochte der Beifahrerin aus dem Van ähneln. Aber das Mädchen …

Und ihre Augen …

Für einen Augenblick starrten sich beide an. Maggie verharrte in einem Tunnelblick. Ein Name lag ihr auf der Zunge. Ein Gesicht. Ja. Dieses Gesicht … Die blauen Augen stimmten. Aber die Mundpartie …

Plötzlich heulten die Motoren auf. Die Fahrzeuge setzten ihren Weg fort und Maggie hastete erschrocken weiter.

»Alles gut?«, flüsterte Yuki herunter.

»Hm… Ich glaube …?«

Mir kam ihr Gesicht auch bekannt vor, merkte Alice an.

Aber in ihren Augen lag keine Wiedererkennung. Vielleicht nur ein doofer Zufall?, mischte sich Valerie ruhiger als sonst ein. Es wirkte fast so, als würde sie die Fremde faszinieren.

Kann sein …, Maggie umklammerte den Gurt ihrer Tasche.

Sie mochte keine Zufälle.

***

Jessica Naar haute ungehalten auf die Tasten. Aber was sie auch drückte, welchen Sender sie auch einstellte – das Radio lieferte nur knisternden Applaus.

Großartig. So verdammt wunderbar! Das hier musste die größte Einöde der Welt sein!

»Jetzt lass es doch einfach aus. Wir können eine CD einlegen. Was magst du? Ich habe noch diese Boyband, die du in-«

»Nicht den Mist. Bitte«, widersprach Jessica ihrer Mutter eilig, als sie den LKW anhielt, »Die Songs finde ich schon seit über drei Jahren peinlich!«

»Gut … Dann ein Best of? Ich habe das vom letzten Jahr gefunden.«

»Du meinst, du hast dir es von deiner Schwester geliehen«, berichtigte Jessica ihre Mutter.

Schmollend sackte sie zusammen und starrte auf den Van ihres Onkels. Er hatte angehalten, um ein Mädchen am Waldrand anzuquatschen. Woah! Gruselig. Sie wusste schon, warum sie den Kerl nicht ausstehen konnte.

Mit starrem Gesicht wandte sich die Fremde ab und lief weiter. Sie wirkte irgendwie isoliert. Abgeschnitten. Genau wie Jessica, wenn sie innerhalb eines Jahres auf die dritte Schule gezerrt wurde.

Aber diesmal musste sie länger durchhalten. Das hoffte ihre Mutter zumindest. Na ja. Wenn sie eben daran glauben wo-

Die Augen des anderen Mädchens weiteten sich, als sie Jessica erblickte. Sie blieb stehen. Schien nur noch Jessica zu sehen. Die Naar spürte förmlich, wie sie inspiziert wurde und jeder Winkel ihres Gesichts erkundet wurde und-

Ihre Mutter trat aufs Gas.

Erschrocken schüttelte Jessica den Kopf. Sie hörte die Hits vom letzten Jahr aus den Lautsprechern säuseln. Es fühlte sich falsch an. Albern. Künstlich.

Nicht wie dieser verschluckende Waldweg.

Jessica erschauderte.

»Alles gut? Jess?«, fragte ihre Mutter besorgt.

»Ich … war nur in Gedanken«, eilig schob sie ihre Sorgen beiseite, »Egal. Wichtiger: Ist es wirklich sicher mit denen«, sie wies nach vorn, »zusammen zu wohnen? Tante Janice ist ja zumindest ganz okay. Aber Casper? Werden wir da nicht eher als Kasperletheater enden? Er ist der Einzige, dem ich einen Mord zutrauen würde und wir ziehen aus Merichaven her!«

»Sieh es nicht so eng. Er hat auch … seine guten Seiten. Man muss sie nur finden«, erklärte ihre Mutter zögerlich.

»Okay. Du sagst Bescheid, wenn du eine entdeckst. Vielleicht steht ein Goldbottich daneben.«

Damit starrte Jessica wieder aus dem Fenster. Nun tauchten sogar ein paar Häuser auf. Märchenhaft gesellten sie sich an die Hauptstraße und offenbarten vereinzelte Straßen zwischen den niedlichen Vorgärten. Obendrein konnte sie eine Mühle in der Ferne ausmachen! Dieser Ort wirkte so alt. Wie eine Mumie!

Erst vor einem größeren Haus zog ihre Mutter endlich die Handbremse an. Drei Etagen. Die Fensterläden geschlossen. Das Dach dreckig. Der Garten ein Flickenteppich aus Beeten. Jedoch sahen alle verwahrlost aus. Als würde die Wildnis ihren Tribut fordern.

»Hier bist du aufgewachsen?«, fragte Jessica ihre Mutter unschlüssig.

»Wieso? Ist doch schön! Du wirst es lieben!«

Damit sprang sie raus und eilte zu Tante Janice.

Lieben? Ha! In tausend kalten Wintern nicht! Das Ding ähnelte einer Bruchbude. Wer wusste schon, ob noch alle Fenster hielten? Oder wie verstaubt es drinnen war? Ihre Großmutter hatte die letzten Jahre allein in dem Kasten gewohnt. Gewiss hatte die gebrechliche Frau es komplett verkommen lassen!

»Das ist doch albern«, murmelte Jessica vor sich hin und rollte sich aus ihrem Sitz, um dem Gespräch der beiden Frauen zu lauschen.

»Jessi kann gerne mein altes Zimmer haben. Dann kannst du in deines zurück.«

»Und ihr nehmt das große Schlafzimmer?«

»Ja. Casper braucht aber auch Vaters Arbeitszimmer.«

»Soll uns recht sein. Das mochte ich eh nie. Wo soll Felix hin, wenn er zu Besuch kommt?«

»Ich habe an das untere Gästezimmer gedacht. Oder möchtest du einen Ruheraum?«

Augenrollend ignorierte Jessica die beiden wieder. Sie würde sich doch lieber selbst ein Bild von dem Schuppen machen. Wenigstens hatte ihr Onkel bereits aufgeschlossen. Damit war er zielstrebiger als Tante und Mutter zusammen!

An der Haustür blieb sie verdutzt stehen.

Da war ein Zeichen in die Tür geritzt. Ein Kreis, der von drei Zacken umgeben war. Sie alle liefen spitz auf die Mitte zu. Wie Pfeile oder Dreiecke?

Es kam ihr bekannt vor …

»Janice? Janice! Ich brauche meinen Computer! Sonst kann ich morgen nicht arbeiten!«

»Kommt gleich, Schatz!«

Überrascht bemerkte Jessica nun das offene Fenster über ihr. Blumengardinen wehten hinaus. Alte Blumengardinen.

Sie konnte nur hoffen, dass der Rest geschmackvoller war.

***

Sobald sie in ihrem Zimmer ankam, schloss Maggie die Tür und legte ihre Tasche davor. Eine reine Vorsichtsmaßnahme. Derzeit wohnten dreizehn weitere Hutan hier, die Betreuerin mit eingeschlossen, und fast keiner besaß die Geduld, zu klopfen.

Die Macian musste ihre Tür absichern. Nur so konnte sie ihr Geheimnis und Yuki schützen …

Sie hatte eh ein so verdammtes Glück, dass sie das Zimmer für sich allein hatte. Zuvor hatte ihre Stieffamilie hier drinnen Kleidung und Bücher gelagert. Da aber mit ihrem Einzug der Platz auf den drei Etagen eng wurde, hatten Janine und Paul den Raum auf Vordermann gebracht.

Prompt waren Bett, Schrank und Tisch hineingewandert. Selbst ein Stuhl hatte sich irgendwo angefunden. Die restlichen Sachen hatte Janine über die kaputte Treppe auf den Dachboden geworfen. Die Macian wusste noch, wie irritiert sie sich gefühlt hatte, als das Mädchen sie vor den morschen Stufen gewarnt hatte. Zum Hochklettern wäre jede Seilleiter sicherer.

»So tief in Gedanken?«, ihre Freundin sprang auf das Kopfkissen. Gähnend rollte sie sich auf die Seite und streckte die Beine aus.

»Das Mädchen kam mir bekannt vor … Also, teilweise …«

Nun hatte sie die gesamte Aufmerksamkeit des Desson. Mit großen Augen setzte Yuki sich auf und kam näher. Sie zog Maggie zu sich aufs Bett, um sich auf ihren Schoß zu legen.

»Also ist sie wie du?«

»Ich … ich weiß nicht. Es war nur ein Teil … sie …«

Sie wirkte zu entspannt, oder?, bemerkte Alice nachdenklich.

Genau. Sie ist viel zu sorglos durch Shizens Wald gefahren.

Und was, wenn sie eine Erlaubnis hatte?, hinterfragte Maggie beide Einwände.

»Möchtest du zu ihr? Wir könnten sie mit etwas Belanglosem ansprechen. Einfach mal schauen. Vielleicht hilft das deinem Gedächtnis auf die Sprünge. Ich halt es auch vor Gakumon und TJ geheim, ja?«, bot Yuki eifrig an.

Maggie spielte einen Augenblick mit dem Gedanken. TJ … Der Hushen war mittlerweile ihr bester Freund geworden. Er war einer der wenigen, der von ihrem einstigen Todeswunsch sowie ihren immer wieder ausbrechenden Kräften wusste. Er hatte ihr geholfen, sich im Wald zu verstecken. Er hatte ihr geholfen, sich an die Hutan und das Waisenhaus zu gewöhnen. Und er hatte geholfen, ihre Gedanken zu ordnen. Er besuchte sie immer noch regelmäßig. Er passte auf sie auf. Er verdeckte ihre Spuren vor den anderen Hushen. Vor all jenen, die sie sonst bekämpfen müsste. Die sie töten müsste.

Denn ihre einstige Abmachung hatte sich in eine verwobene Freundschaft verwandelt. Die Macian vertraute ihm. Und er ließ es sogar zu, dass sie seine Wunden versorgte.

Durch ihn hatte sie Yuki getroffen, die einzige Freundin, die ihr wohl je vergönnt wäre. Denn eigentlich mieden die Desson Macian wie sie. Aber weil Yukis Zwilling, Gakumon, TJ’s Vertrauter war, hatte der Hushen sie einander vorgestellt. Er hatte das kleine Wesen gebeten, als Aufpasserin zu fungieren. Damals hatte sie Maggie beobachten und notfalls ausschalten sollen. Aber schon bald hatten sie miteinander gelacht.

Ja. Maggie konnte der Gestaltwandlerin blind vertrauen. Es war ihr egal, dass die Zwillinge denselben Geist teilten. Yuki war ihr Fels in der Brandung. Ihr Lächeln.

Fühlten sich so Vertraute an?

»Nein … Ich will keine Aufmerksamkeit. Cindy ist mir schon an manchen Tagen zu viel. Warum sollte ich mich also nun in den Vordergrund drängen? Ich … Ich will einfach nur meine Ruhe, ja?«, erschöpft sackte sie zusammen.

Yuki kuschelte sich schnurrend gegen ihre Brust.

»Und du fühlst dich auch sicher nicht einsam? Ich meine, wenn mir langweilig ist, kann ich einfach mal in Gakumons Leben schnuppern. Du jedoch … Du kommst hier nicht so leicht weg.«

Weil wir es nicht wollen, klar?!, schnaubte Valerie sofort.

Maggie ignorierte sie. Sie durfte nichts sagen. Sie spürte ja schon, wie die Magie in ihr brodelte. Es war eine unheimliche Kraft. Eine Energie, die immer aufstieg, wenn sie sich mit ihren anderen Ichs in die Haare bekam. Deswegen mussten sie für einen Ausgleich sorgen. Ohne diesen würde sie auffallen. Ohne Balance war sie eine tickende Bombe. Eine Katastrophe!

Ein Fehltritt und die Elemente würden ein rabiates Eigenleben entwickeln.

»Vielleicht ist das auch ganz gut so … Ich möchte niemanden verletzen. Ich möchte … Frieden …«, sie schloss erschöpft die Augen, »Ist das denn zu viel verlangt?«

Kapitel 2: Auf engem Raum zu oft gesehen

»Langsamer! Christoph! Ich sagte langsamer! Melanie, du sollst dir etwas Anderes anziehen. Das ist zu knapp! Nein! Nun wird nicht gemalt, Kati! Stifte weg! Flo! Hilf endlich Robby und benimm dich nicht selber wie ein kleines Kind!«

Maggie hörte ihrer Betreuerin nur mit halben Ohr zu, während sie Lisa mit ihrem Oberteil half. Eigentlich konnte sich das jüngste Mitglied ihrer Familie schon alleine fertigmachen. Aber wenn es zu viele Knöpfe gab, wollte sich keiner eine meckernde Vierjährige antun.

»Annika! Schau nach, wo Melanie bleibt! Das kann doch nicht so schwer sein … Und wo ist Niklas?«

»Ist gestern mit so ‘nem Wälzer übers letzte Jahrhundert auf dem Gesicht eingeschlafen. Ich darf ihn nicht wecken«, erklärte dessen Zimmergenosse Christoph aus dem Bad.

»Mir egal. Er muss los. Steve! Zerr Nik notfalls aus dem Bett. Und Flo! Renn nicht so! Hey. Langsam!«, seufzend blieb die Betreuerin hinter Maggie stehen, »Mittagsbrote fertig, Ben?«

»Jo. Packe gerade die letzten ein«, lachend verteilte er es an die eintrudelnden Kinder – für die Macian hielt er zwei hin, »Nimmst du Niks? Ehe er es vergisst?«

»Klar«, grinsend stopfte sich Maggie die Tüten in die Tasche.

Sofort klammerte sich Lisa an ihrem Bein fest.

»Darf ich mit?«

»Du wirst nächstes Jahr eingeschult.«

»Ich will aber jetzt!«

»Will ist gestorben, hat sich den Magen verdorben!«, ihre Ziehmutter scheuchte das Kind aus der Küche, »Wir gehen gleich einkaufen. Obst wird wieder knapp. Wenn du lieb bist, darfst du dir am Ende was aussuchen.«

Ein Schwall Proteste folgte von den lauschenden Waisen, die sich übergangen fühlten. Doch wies Sabine sie streng zurück.

Lachend verabschiedete sich Maggie, schlüpfte in ihre Schuhe und sprang aus dem Haus. Die frische Luft tat gut …

Sanft drückte sich Yuki gegen ihre Schultern.

Die Macian nickte stumm. Sie schob ihre Tasche nach hinten und warf einen abschätzenden Blick auf das Waisenhaus.

Niemand beobachtete sie.

Eilig schlüpfte sie durch die Bäume in den Wald. Sie spürte, wie die freien Desson sie beäugten. Misstrauen schwang darin mit. Misstrauen und Verachtung. Doch das störte sie nicht.

Immerhin könnte sie TJ gleich wiedersehen.

»Gakumon ist genervt, weil sie noch Berichte schreiben sollen. Und das letzte Briefing lief wohl nicht so gut. Sie sind direkt danach her. Irgendetwas über eine Evakuation. Hab‘ nicht alles mitbekommen«, erzählte Yuki und verwandelte sich dabei in ihre wahre Gestalt zurück.

»Denk dran, wir haben nicht so viel Zeit, ehe die Schule anfängt«, erinnerte Maggie ihre Freundin, die voller Vorfreude mit dem Schwanz wackelte.

In der Ferne konnten sie die altbekannte Lichtung erkennen. Jemand stand dort. Er drehte sich um. Ihre Narbe kribbelte-

Im nächsten Blinzelschlag befand sich TJ vor ihr. Eine Hand lag auf ihrem Unterarm. Genau über der dünnen Markierung. Er drückte sie sacht zur Begrüßung, ehe er von ihr abließ.

»Wissen wir«, entgegnete der Hushen, als hätte er die ganze Zeit gelauscht. Neben ihnen tauchte Yukis Spiegelbild auf.

Gakumon sah genauso aus, wie seine Schwester, nur mit umgedrehten Farben. Wo ihr Fell weiß war, war seines schwarz. Wo ihre Augen blau waren, waren seine rot. Wo sie albern war, war er stur …

»Hör auf, von Schokolade zu träumen«, knurrte er leise.

»Du bist doch nur eifersüchtig, dass du keine mehr genießen kannst«, säuselte sie.

»Das Zeug ist ungesund.«

»Dein Lebensstil nicht?«

Grinsend sprangen sie aufeinander zu und tollten über den Waldboden. Es war eine normale Umarmung für die beiden. Ein Spiel, das sie seit Jahren begleitete.

Maggie lachte unwillkürlich auf.

»Schön, euch wiederzusehen«, offenbarte sie TJ.

Er zuckte mit den Schultern. Verharrte in der Bewegung. Seine Lippen bildeten eine dünne Linie. Er wirkte steif. Stockend.

Hat er sich schon wieder verletzt. Ha! Der lässt sich doch nur blicken, damit wir ihn zusammenflicken!

Nun übertreibst du, Valerie.

Ich? Ihr zwei denkt nicht mehr nach! Er ist ein Hushen, Alice. Ein Hushen!

Und was sind wir? Eine Macian mit drei Seelen? Weil das auch so viel besser ist …

Maggie blendete ihre anderen Ichs seufzend aus. Sie war der Diskussion zu müde geworden. Monatelang hatte sie mit Alice überlegt, warum sie zu dritt in diesem Körper steckten. Doch nichts ergab einen Sinn!

Als sie ins Waisenhaus gezogen waren, hatten sie ihre Neugier ablegen müssen. Die Überlegungen hatten für zu viele Streits gesorgt. Und mit jeder Diskussion war ihr die Kontrolle über ihre Magie ein bisschen mehr entglitten.

Sie durfte ihre Stieffamilie nicht gefährden!

Stumm malte sie eine kreisende Bewegung in die Luft. Eine verschnörkelte Linie, hinter der sich eine Schar Wassertropfen sammelte. Für einen Moment ließ sie diese vor sich schweben. Dann hob sie eine fragende Augenbraue.

TJ nickte erschöpft: »Rechte Schulter.«

Mehr brauchte sie nicht. Irgendetwas in ihr wusste, wie ein gesunder Körper aussehen musste. Dieses Wissen war wie das Einmaleins in ihrem Kopf verankert. Und wenn sie das Wasser in einen Menschen lenkte, konnte sie das Blut bewegen, das Gewebe verschieben, die Verletzungen heilen …

Solange die Wunden nicht mit starker Magie genährt worden waren, konnte sie jede verschwinden lassen.

Kurz darauf fühlte sich die Schulter wieder richtig an und sie lenkte das Wasser hinaus.

»Pass bitte besser auf dich auf«, murmelte sie.

»Entschuldige«, beinahe schuldbewusst wich er ihrem Blick aus und blickte stattdessen in die Baumkronen.

Bestimmt beobachtete er die anderen Desson. Stets tuschelten diese Wesen miteinander. Sie mochten Maggie und TJ nicht, so viel war ihr klar. Aber solange der Hüter der Wälder ihnen den Aufenthalt gestattete, mussten sie sich alle benehmen.

Sie musterte den Hushen genauer.

Kleidung zerrissen. Haare leicht fettig. Augenringe. Ruß auf der Wange. Und seine rechte Hand … Er hielt immer noch sein Zentrip darin. Das Messer, in dem er seine Magien bündelte, fokussierte und lenkte …

»Willst … du reden?«, fragte sie zögerlich, wenngleich sie eigentlich nichts von der magischen Welt wissen wollte.

Aber wenn es ihm half …

Zu ihrem Glück schüttelte er den Kopf: »War nur eine anstrengende Woche. Obwohl … Wir haben uns erst vor drei Tagen das letzte Mal gesehen, oder?«

Die Macian nickte. Sie wollte ihm nicht auf die Nase binden, dass er da noch gesünder ausgesehen hatte.

»Am Montag. Vor … vier Tagen also. Sabine hatte dich fast im Waisenhaus erwischt«, erinnerte Maggie ihn.

Er hatte sich morgens zu ihr geblinzelt, als sie gerade zurück auf ihr Zimmer gegangen war. Dort hatten sie kurz gesprochen, ehe die Betreuerin reingeplatzt war, weil die Macian mit dem Trödeln aufhören sollte.

»Ja. Konnte nicht mal tschüss sagen. ‘Tschuldige«, er wurde leiser, beinahe als wäre ihm das Thema unangenehm.

»Nicht der Rede wert.«

Gemeinsam liefen sie durch den Wald. Die beiden Desson voran. Sie hinterher. Es fühlte sich wie immer richtig und falsch zugleich an. Alles in diesem Wald fühlte sich richtig und falsch zugleich an!

Fragend huschten seine Augen über ihr Gesicht. Dann wandte er sich wieder ab. Die Macian war das bereits gewohnt. TJ tat das immer, wenn er sich unschlüssig war.

»Du … wirkst ruhiger. Selbst für deine Verhältnisse. Sonst bist du … lebhafter. Alles gut?«

Ihre Gedanken huschten zum letzten Nachmittag zurück. Das Mädchen in dem LKW. Ihre Augen. Dieses Gefühl, dass sie die andere doch kennen musste!

Und dennoch wusste ein Teil von ihr, dass dem nicht so sein konnte. Huh. Das war immer noch das Verrückteste in ihrem Leben. Obwohl sie sich an nichts vor TJ erinnern konnte, so konnte sie schon lesen, schreiben, heilen. Sie wusste so vieles, über das sie doch nichts wissen sollte, oder?

Und genauso verhielt es sich mit dem Mädchen.

Ein Teil von ihr war sich absolut sicher, sie noch nie gesehen zu haben. Es war ein verqueres Labyrinth in ihrem Kopf!

»Wirre Gedanken … Ich weiß nicht … Ist wie ein Echo?«

»Ein Echo?«, er stoppte und sofort hielten auch die Desson an, um aufzusehen.

»Ja. Als hätte ich mal etwas gesehen, was ich nicht gesehen habe, was aber da war und sich nun verschwommen zeigen möchte, doch ein tolles Versteck hat, das es nicht verlassen möchte oder … ich weiß auch nicht«, sie strich ihre Haare zurück. Sie fühlten sich ölig an. Na toll. Dabei hatte sie die Mähne erst abends zuvor gewaschen. Hatte Flo sie deswegen beim Frühstück so komisch angesehen?

»Wie hast du letzte Nacht geschlafen?«, TJ strich beruhigend über ihren Arm.

Das geht ihn nichts an! Was fällt ihm überhaupt ein, dieser-, Maggie blendete Valeries Schimpftirade gekonnt aus.

»Bestimmt nicht schlechter als du«, platzte es aus ihr heraus, wenngleich sie seine Augenringe eigentlich nicht ansprechen wollte, »Soll ich dir einen Concealer besorgen?«, entschlossen lief sie weiter.

Sofort tauchte der Hushen vor ihr auf.

»Ich wollte nicht … ‘Tschuldige«, murmelte er.

Zornig über ihre Reaktion, starrte Maggie auf den Waldboden. Sie ärgerte sich, so überreagiert zu haben. Es war nicht fair gegenüber TJ. Vor allem, weil ihr Zimmer heute Morgen eh einer Katastrophe ähnelte:

Äste aus der Wand? Check. Gestrüpp aus dem Holzboden? Check. Vereiste Fenster? Check. Tiefhängender Nebel? Check! Yuki hatte sich schaudernd unter ihrem Kissen verkrochen. Ihr musste so furchtbar kalt gewesen sein …

Und das nur, weil Maggie sich während ihres Alptraumes nicht beherrschen konnte …

TJ kannte diese Unfälle zur Genüge. Früher, im Wald, hatte er sie immer geweckt, wenn es zu schlimm wurde. Doch hatte ihmdas zu viel Schlaf geraubt. Sie wollte nicht, dass er sich wieder so auslaugte. Nur wegen dieser nichtssagenden Träume …

»Egal. Du brauchst etwas Erholung«, erklärte sie, von sich ablenken wollend, »Sabine geht heute mit Lisa auf den Markt. Der Rest ist in der Schule. Schmeiß dich also in mein Bett und vergiss die Verpflichtungen. Nur für ein paar Stunden. Dann-«

»Du bietest mir dein Bett an?«, unterbrach er grinsend.

Genervt rollte sie mit den Augen: »Tu, was du nicht lassen kannst, okay? Ich muss zur Schule. Yuki?«

Sofort kletterte der Desson auf ihre Schultern zurück.

»Macht bloß keine Dummheiten!«, rief die Gestaltwandlerin noch einmal aus.

Gakumon schnaubte.

»Du weißt, wenn du reden magst, hör ich zu«, hielt TJ sie auf.

Er war erneut vor ihr aufgetaucht. Das tat er immer. Anfangs hatte es sie erschreckt. Aber mittlerweile verstand sie, dass es für ihn normal war. Es war wie ein alltäglicher Schritt zur Seite. Oder ein Kopfnicken. Nur halt … magisch.

Ja. Magisch. Und ihre Magie verlangte immer einen Preis. Die Seelen mussten sich uneins sein, damit Hushen wie Macian auf ihre Kräfte zugreifen konnten. Allerdings reichte das nicht. Sie mussten auch alle Facetten ihrer Seelen verstehen, um die Energien zu kontrollieren. Es war ein einziger Balanceakt …

Mit ihren drei Seelen sogar noch mehr als bei ihm …

Ob sie auch so dunkle Augenringe hätte, wenn sie unter Macian leben würde?

Nachdenklich legte sie einen Finger auf TJs Wange. Sie spürte, wie das Blut darunter pulsierte. Sie konnte seinen Atem an ihrer Haut spüren. Da lagen Krümel auf seiner Stirn. Kleine Körner, die er aus der Ferne mitgebracht hatte …

Er hatte genug Sorgen. Da sollte sie ihn nicht noch zusätzlich mit ihren Lappalien belasten!

»Wird schon. Mach dir keinen Kopf«, in einer flüssigen Geste nahm sie den Finger runter und schlenderte vorbei.

***

»Es ist Freitag!«, wiederholte Jessica, als ihre Mutter sie zur Schule lotste, »Frei-tag!«

»Hier links. Und rede besser nicht mit der Familie da drüben«, ihre Mom senkte die Stimme, »Die erzählen nur von ihren Hunden. Glaub‘ mir, das willst du dir nicht antun.«

»FREI-TAG!«, sie schrieb das Wort zusätzlich in die Luft.

Ihre Mutter ging nicht darauf ein: »Die Schule ist sehr klein. Das hat auch etwas Gutes. Ist fast wie Privatunterricht. Manche Fächer werden aber nur halbjährlich unterrichtet. Die restliche Zeit dient als Wiederholung für die Jahrgänge darüber, die dir alles mit beibringen werden. Ist wie kostenlose Nachhilfe.«

»Okay. Ich hab’s kapiert. Ich bin schlecht in Mathe und jeder Naturwissenschaft dieser Welt. Gut. Aber es ist immer noch Freitag und die Kartons daheim sind kaum ausgepackt! Können wir die Anmeldung nicht auf Montag legen? Bitte?«, flehentlich stoppte sie.

Und endlich hielt auch ihre Mutter inne. Seufzend sackten ihre Schultern herab. Sie wirkte müde. Ausgelaugt.

»Jess, bitte. Das Dorf ist winzig. Wenn wir sonst umgezogen sind, hat es keinen Nachbarn interessiert, ob du am Tag darauf die Schulpflicht eingehalten hast oder nicht. Ich konnte es, wenn nötig, auch eine ganze Woche hinauszögern. Aber hier?«, mit ausgestreckten Armen drehte sie sich im Kreis – mitten auf der Straße, »Jeder kennt jeden. Der Schulleiter ist immer noch derselbe, den ich damals hatte. Irgendein Cousin dritten Grades meiner Mutter oder so. Der kleine Laden neben der Kirche? Wird von Janice‘ ehemaligen Freundin geleitet. Die übrigens die Schwester vom Schwager der Sportlehrerin ist, die die Tante von-«

»Okay. Jeder, jeden, jederzeit. Gut. Hab’s kapiert!«, Jessica wollte sich diese Beziehungen auf keinen Fall bis zum Ende anhören, »Also. Ich muss in die Schule, damit das Jugendamt nicht anklopft? Ist das dein Ernst?«

Ihre Mutter lächelte entschuldigend.

Super.

»Warum hast du damit nicht gleich rausgerückt? Warum dieses ganze Gelaber und Drum-rum-Gerede?«

»Ich … Ich glaub‘, wegen der Erinnerungen … Sind echt viele und … Ist kompliziert«, ein ferner Ausdruck schlich sich in ihr Gesicht, »Es ist so lange her, dass wir zuletzt hier waren. Und damals …«, ihre Stimme brach.

Jessica atmete tief durch.

Na super. Damit wäre ihre Mutter heute zu nichts mehr zu gebrauchen! Immer wenn sie sich an den Mistkerl erinnerte, der sie sitzen gelassen hatte, war ihre Mom ein Wrack. Es war so bescheuert! Warum konnte diese dumme Frau ihn nicht einfach vergessen? Er hatte sie im Stich gelassen!

Die Straße runter erblickte Jessica ein Kind mit einer großen Tasche auf dem Rücken. Zielsicher bog es in eine Nebenstraße ein. Bestimmt war es auch auf dem Weg in die einzige Schule dieses Kaffs. Nervig, aber hilfreich.

Stumm zog sie ihre Mutter denselben Weg entlang. Die Wut brodelte wie Lava in einem Vulkan. Am liebsten hätte sie sich ein Ventil herbei gewünscht. Irgendeinen Mistkerl, der sich nicht benehmen konnte. Dem sie die Meinung geigen konnte!

Stampfend ballte sie die Hand zur Faust.

»Du warst damals noch ganz klein, weißt du? Bei ihm warst du immer der reinste Engel, aber alle anderen durften deine rebellische Natur genießen …«

»Hm«, nichtssagend nickte sie.

Daran konnte sie sich schon lange nicht mehr erinnern.

***

Niklas kam mit dem Klingelzeichen in den Raum gestürzt. Er rief seine tägliche Entschuldigung aus, schlitterte auf seinen Platz und zerrte in derselben Bewegung Buch und Unterlagen aus der Tasche.

Für Biologie.

»Geschichte fällt aus«, erklärte Janek grinsend, »Wir sollen gleich zu zweit in den jüngeren Klassen aushelfen.«

»Ich habe die ganze Nacht gepaukt«, klagte ihr Stiefbruder.

»Nicht umsonst«, sie kam rüber und hielt ihm sein Pausenbrot hin »Der Test wurde auf nächste Woche verschoben.«

»Mehr als fünf Worte von dir am Morgen. Ist heute ein so guter Tag?«, grinsend beugte sich Cindy in ihre Richtung.

Guter Tag? Wo hat sie ihre Menschenkenntnisse gewonnen? Im Lotto?

Maggie ignorierte die streitsüchtige Seele in ihr. Lieber zuckte sie mit den Schultern. Es erwartete eh keiner eine ernsthafte Antwort von ihr. Keiner erwartete generell irgendetwas von ihr. Und das war das Wichtigste.

»Können wir uns aussuchen, wo wir landen? Ich hatte Chris versprochen, ihm mit Mathe zu helfen.«, merkte Niklas an.

»Kann sein. Wenn nicht können wir bestimmt wieder tauschen. Ich will bloß nicht nochmal bei Sport landen. Welche armen Küken haben das gerade?«, mischte sich Cindy ein.

»Keine. Ben und Flo haben ihre Weitsprungprüfung. Davor sollten wir sicher sein«, erklärte Niklas, der die Stundenpläne aller Waisenkinder auswendig kannte.

Maggie ignorierte das Hin und Her ihrer Mitschüler. Es würde eh nicht lange anhalten. Sobald der alte Direktor käme, würden sie sich aufteilen. Manche müssten nur ein paar Lieder trällern. Andere den Fotosynthesezyklus erklären. Es brachte nichts, sich nun bereits zu sorgen.

Als es losging, bildeten die Schüler ihre üblichen Pärchen. Maggie überließ es Cindy, ihre nächste Stunde auszuwählen. Immerhin schwieg sie sich meist aus, sodass die andere Macian das Reden eh übernehmen müsste.

»-ag? Mag!«

»Anwesend«, blinzelnd starrte sie die Rothaarige an. Sie sah gereizt aus. Ihre Sommersprossen stachen auf der blassen Haut wie die Nadeln einer Kaktee hervor.

»Ach, vergiss es. Nicht so wichtig«, also würde sie es nächste Pause wiederholen, »Wie war das mit den Kontinentalplatten?«

»Sie schwimmen auf Lava wie Schwimmreifen?«

»Wenn ich nicht weiter weiß, werde ich dich zum Weiterreden auffordern. Schön zu wissen.«

»Es ging auch um Erdbeben. Und Vulkane. Reicht das?«

»Muss. Du wirst eh kein Wort rausbekommen, oder?«, die andere seufzte theatralisch.

Maggie presste die Lippen zusammen und folgte Cindy in die sechsköpfige Klasse. Die Gesichter waren alle ein knappes Jahr jünger. Ein knappes Jahr …

Sie blieb wie angewurzelt neben der Tafel stehen. Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss. Ihre Augen huschten über die Gesichter. Eins. Zwei. Drei … Sieben! Da war eines zu viel! Da …

Da saß das Mädchen.

»… neue Schülerin«, vernahm sie gerade noch von der Lehrerin und wandte angestrengt den Kopf ab, »Stellt ihr euch also bitte kurz vor?«

»Klar doch! Ich bin Cindy Patil und wohne im Westen des Dorfes. Bei dem großen Anwesen. Ich gehe in die neunte Klasse und habe keine Geduld mit dummen Fragen«, sie sah auffordernd zu Maggie rüber.

»Maggie Garwin. Neunte. Waisenhaus«, kämpfte sie vor.

Die Lehrerin nickte: »Gut. Wir nehmen gerade die Entstehung eines Vulkans durch die …«

Die ganze Stunde stand sich Maggie angespannt die Beine in den Bauch. Sie konnte sich kaum auf Cindy konzentrieren! Nur vereinzelt kämpfte sie ein paar Stichpunkte hervor, wenn die andere sie hilfesuchend ansah. Mehr war nicht drin. Dafür lag ihr Fokus zu sehr auf der Neuen.

Auf diesen blauen Augen …

***

Den restlichen Schultag ging Maggie allen aus dem Weg. Sie versteckte sich regelrecht vor ihren Mitschülern. Selbst vor Niklas! Nur vor Cindy musste sie nicht weglaufen. Diese hatte sich eh wegen Magenkrämpfen heimschicken lassen.

Einzig Yuki blieb ihr.

Sanft strich die Gestaltwandlerin über ihren Rücken, als sie die Ruhe des Altbaus genossen. Hier konnten sie die spielenden Kinder in der Ferne hören. Und einen Lehrer, der mit ihren Stiefgeschwistern schimpfte.

Maggie ließ sich an der Wand zu Boden sinken und zog ein beliebiges Buch aus der Tasche.

Yuki machte sich bemerkbar. Der Desson klopfte sanft aber fordernd gegen ihre Brust.

»Ich werd‘ schon klarkommen«, murrte sie still.

»Du wirkst nicht so«, hauchte ihre Freundin zurück.

Maggie blätterte die Seiten um, ohne sie wirklich anzugucken. Stattdessen sah sie überall diese Augen. Lächelnde Augen. Ermutigende Augen. Sie fühlte sich schuldig. Schuldig? Ja. Aber weswegen? Was war passiert? Warum …?

Yukis feuchte Nase presste sich gegen ihren Hals.

Die Macian schrak auf.

Vor ihr glitzerte die Luft. Es war kälter geworden. Schwüler.

Schwerfällig kämpfte sie sich auf die Füße und begann das Fingerspiel, um wieder für Normalität zu sorgen. Immerhin liefen draußen alle in Shirts rum. Da passte der Frost nicht ins Bild. Sie musste-

Wir sollten nach Hause. Jetzt.

Diesmal widersprach niemand Valeries Worten. Selten hatte sie sich so vereint mit ihren anderen Seelen gefühlt, dass …

Ihre Magie brach ab. Doch war die Kälte noch nicht fort. Die Nässe blieb in der Luft. Sie tanzte glitzernd im Wind und-

Maggies Finger verkrampften sich.

Nein. Wir bleiben, entschied sie hastig, um die Magie wieder fließen zu lassen, Wir müssen. Was wäre die Alternative? Sich jeden Tag im Waisenhaus verstecken? Klar. Weil wir damit das eigentliche Problem auch nicht vertagen würden!

Es klappte. Die Elemente gehorchten ihr wieder. Der Nebel verzog sich. Die Kälte verschwand. Die Wärme kehrte mit einem seichten Windstoß zurück und-

Schritte.

Hastig las sie das Lehrbuch auf und setzte sich auf den Boden. Sie hielt es wie einen Schild vor ihr Gesicht. Wie eine Barri-

»Wenn du dich dahinter verstecken willst, solltest du es richtig rum halten. So«, jemand riss ihren Schutzwall fort und drehte ihn um.

Die Neue stand da.

Maggie nickte stumm. Mehr konnte sie nicht tun. Dafür lenkten sie diese Augen zu sehr ab. Diese blauen Augen …

»Den Mund kriegst du echt nicht auf, oder? Was starrst du mich so an? Hab‘ ich was im Gesicht?«

Maggie schüttelte den Kopf. Langsam.

»Wow. Besten Dank für das freundliche Gespräch! Klasse. Genauso wie der Rest in diesem Kaff!«, gefrustet stampfte das Mädchen auf den Boden.

Risse bildeten sich unter ihren Füßen. Feine Risse. Hutan wären sie vermutlich nicht aufgefallen. Aber jemandem, der sich mit Magie auskannte? Der dieselbe Magie besaß?

Steif packte Maggie ihr Buch ein.

Noch immer schimpfte das Mädchen rum. Sie beachtete die Brünette schon gar nicht mehr. Stattdessen beschwerte sie sich über die Entscheidungen anderer. Immer wieder würde man sie durch die Welt zerren. Darauf hätte sie keinen Bock mehr!

Ihr scheint es nicht gut zu gehen. Als wäre sie verletzt …, warf Alice ein und riss Maggie aus ihrer Trance.

Die Neue ballte ihre Hand zur Faust. Die Luft darum schien zu flimmern. Doch bemerkte das Mädchen die schwankenden Temperaturen nicht. Sie stampfte nur weiter. Hinterließ einen geschändeten Boden. Eine Spur …

Kein Macian würde eine solche Spur hinterlassen, murmelte Valerie mürrisch.

Maggie schüttelte überrascht den Kopf. Zwei Worte rannen über ihre Lippen. Sie entflohen ihr regelrecht. Als warteten sie bereits seit Jahren darauf, hinaus zu schlüpfen.

»Warte bitte.«

Abrupt hielt das Mädchen inne. Sie drehte sich langsam um. Überraschung stand in ihren Augen. In diesen Augen, die Maggie doch so sehr verfolgten …

»Wa-«

Du hast nach ihr gerufen. Du löffelst die Suppe aus, erklärte Valerie genervt und zog sich hastig zurück.

Ehm. wollten wir nicht keine Aufmerksamkeit auf uns ziehen?, erkundigte sich Alice unschlüssig.

Oh… Nein! Mist! Was habe ich getan?! Das war nicht mit Absicht! Nicht mit Absicht!, panisch klatschte sie ihre Hände ins Gesicht, was mache ich nur? Was mache ich jetzt nur?!

Rennen?

»Was denn, verdammter?«, holte sie die andere zurück.

Maggie spürte, wie Yuki sich anspannte. Der Desson musste das Schlimmste erwarten. Einen Kampf? Dass sie auffliegen würden? Vielleicht einen Hinterhalt?

»Willkommen in Kriegsheim. Hatte ich vorhin vergessen zu sagen. Bis dann«, erklärte sie hastig und eilte davon.

Großartig. Besser konnte der Tag nicht laufen!

***

Jessica starrte dem Mädchen hinterher. Maggie irgendwas aus dem Waisenhaus. So viel hatte sie sich gemerkt. Im Unterricht hatte sie nicht viel gesagt. Nur einzelne Worte, die leiser als ein Flüstern wirkten. Dass sie nun so deutlich gesprochen hatte…

Nachdenklich rieb sie ihre nackten Arme. Eine Gänsehaut hatte sich darauf gebildet. Ihr war für einen Moment ganz kalt gewesen. Als ob die Welt eingefroren wäre?

Wie albern …

Sie lehnte sich gegen eines der Fenster und starrte hinaus. Von hier aus konnte sie den ganzen Schulhof einsehen. Zwei Schaukeln und ein Klettergerüst für die Kleinen. Fünf Bänke und einen Basketballkorb für die Großen. Sowie eine komische Statue, die dazwischen thronte.

Dahinter der riesige Wald, der dieses Kaff umgab. Bäume über Bäume über Bäume. Es war ein einziges Meer! Wahrscheinlich konnte man da drinnen die Hand vor Augen nicht mehr sehen!

Sie war am Rande der Welt.

Genervt ließ Jessica den Schulalltag über sich ergehen. Sie schraubte ihren Sarkasmus sogar ein wenig zurück, wenn sie nach ihrer Vergangenheit gefragt wurde. Stattdessen zählte sie einzig die letzten drei Schulen und Wohnorte auf.

Niemand musste wissen, dass sie ihr ganzes Leben wie eine Nomadin zugebracht hatte.

Als die Schulglocke ihre Erlösung verkündete, atmete Jessica erleichtert auf. Eilig zerrte sie sich den Beutel mit den neuen Schulbüchern über die Schulter und klemmte sich den Rest unter den Arm.

»Wollen wir zusammen nach Hause laufen?«, fragte der Junge vor ihr strahlend.

Hieß er Rick? Mick? Sie wusste es nicht mehr. Sie wusste nur, dass er sie schon den ganzen Tag beobachtet hatte. Immer hatte er ihr helfen wollen. Immer hatte er den Casanova gespielt.