Kriegsheim: - Medra Yawa - E-Book

Kriegsheim: E-Book

Medra Yawa

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Beschreibung

"Nun. Ihr entscheidet: Sind wir zu einem Wortwechsel fähig? Oder sind wir die eigentlichen Monster, die sich lieber dem gegenseitigen Abschlachten verschreiben, ohne dabei an die Zukunft unserer Kinder zu denken?" Wenn die Traditionen einem den Weg des Hasses vorschreiben, obwohl man doch endlich Frieden schüren will, muss man die Vorurteile überwinden. Man muss neue Wege finden. Man muss veraltete Ansichten abschütteln. Ob nun freiwillig oder gewaltsam, sei dahingestellt.

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Kapitelübersicht

Prolog: Das kleinste Übel…

Kapitel 1: Die Essenz der Dimen

Kapitel 2: Zukunftspläne

Kapitel 3: Unterschiede überwinden

Kapitel 4: Gemeinsamkeiten finden

Kapitel 5: Das Spiel zweier Kinder

Kapitel 6: Sorgen und Offenbarungen

Kapitel 7: Eilnachricht

Kapitel 8: Vom Gegeneinander zum Miteinander

Kapitel 9: Die Schwere der Duria

Kapitel 10: Vertrauensgrundsteine

Kapitel 11: Der Schwur der Floras

Kapitel 12: Der Alptraum lebt

Kapitel 13: Von Ahnungen geplagt

Kapitel 14: Offene Karten

Kapitel 15: Den Traditionen folgend

Epilog: … für das größte Wohl

Mini-Glossar: Kazokus und Floras

Begriffsverzeichnis

Personenübersicht aus den früheren Bänden

Danksagung

Weiteres von der Autorin

Prolog: Das kleinste Übel …

Ludwig Renaldo wank die Wachposten ungeduldig zur Seite, während er durch die Hallen eilte. Eigentlich hätte er sich auch zu seinem Bruder blinzeln können. Doch kam ihm der Fußweg eher gelegen. So konnte er seinen Frust fortschieben. Er konnte seine Gedanken neu ordnen. Das Dilemma abwägen …

»So gut gelaunt?«, grüßte ihn seine Kindheitsfreundin unerwartet. Er stockte. Er hatte sie nicht kommen gehört. Auch sein Vertrauter Arashi wirkte überrascht. Fiona Katja war die einzige Hushen, die ihn so überrumpeln konnte.

»Hast du nichts zu tun?«, murrte LR.

Obwohl er sich abweisend gab, schrak sie nicht zurück. Das tat sie nie. Stattdessen zuckte sie mit den Schultern und passte sich seinem Laufschritt an.

»Ich habe gesehen, wie du mit deinem Herzblatt in den Tempel bist.«

Abrupt blieb er stehen. Jeden anderen hätte er für diese Worte fortgejagt. Sie jedoch? Die einzige Person, die er je als seine Familie gesehen hatte.

Und es dennoch nicht durfte …

»Es ist einfach kein guter Tag«, gab er zu, »Ich muss etwas erledigen. Jetzt.«

»Ist gut, ist gut«, FK lachte herzlich auf, ehe sie in seine Seite rempelte, »Mach dir nicht zu viel Stress, ja? Wenn irgendetwas ist … Ich bin da.«

Ihre Worte waren wie Tropfen auf einem glühenden Stein. Tropfen, die ihm ein winziges Lächeln abrangen.

Dabei war er der Otou-san. Er musste Abstand wahren. Er durfte sie nicht bevorzugen. Sie war ja gerade mal eine Kindheitsfreundin. Nicht die Okaa-san, der er verpflichtet war. Nicht die Schwester, die er in ihr sehen wollte.

Wenn du so weiter grinst, drehen die Gerüchte wieder frei, bemerkte Renaldo still.

»Danke«, hauchte er ihr daher so tonlos entgegen, wie er nur wagte. Dann setzte er sein neutrales Gesicht auf. Er nickte. Begutachtete die Hushen, die ihn vom anderen Ende des Flurs musterten. Überlegte, wem er vertrauen konnte. Wen er lieber an die Front schicken sollte…

Als LR kurz darauf bei seinem Bruder ankam, war er wieder so ruhig, dass ihm das Dilemma wie ein schlechter Witz erschien. Ein vergessener Traum. Nur der Fehler eines Priesters.

Aber Priester machten keine Fehler …

»So hoher Besuch?«, Edward Justus lächelte ihn höhnisch an. Es war seine übliche Mimik. Immerhin war LR der Ältere. LR hatte die Aufmerksamkeit ihrer Mutter bekommen. LR war zum Otou-san geweiht worden. LR durfte die Hushen befehligen, Kriegspläne schmieden, die Positionen ihrer fliegenden Inseln bestimmen.

EJ war nur der Ersatz. Er musste in Sicherheit bleiben. Er musste zusehen. Zuhören. Sich zurücknehmen. Auf LR hören. Sich stets hinter seinem Bruder halten.

Und deswegen hasste EJ ihn.

»Wir müssen reden.«

»Oh, ich glaube, mein Terminkalender-«

»Jetzt.«

EJ's Vertrauter Raiu erschien in der Tür. Er spannte den Rücken an, woraufhin Arashi knurrte. Der andere Desson grölte. Renaldo kicherte ungehört. Irgendwo schrie ein Baby. Wahrscheinlich sein Neffe, EJ's Bengel. Bislang hatte LR das Kind nur einmal gesehen. Einmal, um ihn als Kazoku anzuerkennen. Auch damals hatte es so schrill gemeckert. Die Geräuschkulisse reizte ihn. Ludwigs Geduldsfaden spannte sich an. Jegliche Ruhe, die er aus dem Gespräch mit FK mitnehmen konnte, verflog.

Nur wegen seines hochnäsigen Bruders.

»Meine Frau hat letzte Woche entbunden. Sie braucht-«

»Sie ist Anwärterin auf den Konzilposten des Svadhisthana und damit eine der besten Heilerin der Hushen. Hier wirst du nicht gebraucht«, widersprach LR schroff und legte eine Hand auf EJ's Schulter, »Stattdessen schuldest du mir eine Antwort.«

Damit blinzelte er nur seinen Bruder mit sich. Er wählte einen verlassenen Hügel. Vor ihnen klaffte ein gewaltiger Abgrund. Hinter ihnen thronte ein Berg. Endlich. Hier war es ruhiger. Hierhin hatten sie sich auch geflüchtet, als sie jünger waren. Als LR noch gedacht hatte, dass er EJ wie einen Bruder lieben könnte. Nicht nur sollte.

»Was fällt dir-«

»Nein. Was. Fällt. Dir. Ein?«

Er ließ jedes seiner Worte final klingen. Es musste sein. Er war der Otou-san. Er durfte sich nicht auf der Nase rumtanzen lassen. Niemals. Und erst recht nicht hierbei!

Nicht, wenn sein Bruder Hochverrat begangen hatte.

Wir vermuten es nur. Wir wissen es nicht mit Sicherheit, erinnerte Renaldo ihn.

»Ich weiß nicht, wovon du redest«, behauptete EJ unterdessen und wandte sich trotzig ab.

»Wir haben keine Ankündigung gemacht, da die Priester es für ein Wunder hielten«, erklärte LR ruhiger, als er sich fühlte, »ST erwartet Zwillinge. Das ist das letzte Mal vor über einhundertachtzig Jahren vorgekommen. Kannst du dir das überhaupt vorstellen?«

Endlich schien EJ zu erahnen, in welche Richtung sich das Gespräch entfalten würde. Unruhe breitete sich in seinen Augen aus. Er schüttelte den Kopf.

»Ja. Schön. Und?«

»Und?«, der Otou-san wiederholte das Wort so leise, dass es fast vom Wind verschluckt wurde, »Gib mir kein bloßes UND, EJ! Hast du oder hast du mir nicht etwas zu sagen? Irgendetwas?!«

»Ich glaube nicht, dass-«

Strenger!, befahl Renaldo.

Und so gab sich Ludwig strenger.

»Edward Justus Kazoku! Antworte mir oder ich schwöre dir, ich stoße dich eigenhändig diese Klippe hinab. Ohne dein Zentrip!«, seine Geduld schwankte. Er wollte seinen Bruder nicht anbrüllen. Er wollte ihm nicht drohen. Aber er wusste auch, dass der andere keinen seiner Fehler je freiwillig zugegeben hatte. Und dieser hier?

Es war mehr als nur ein Fehler.

Sieh dir sein Gesicht an. Er hat es gewusst. Sonst hätte er nicht so zur Seite gesehen, erkannte Renaldo.

Obwohl Ludwig sich etwas anderes gewünscht hatte, so musste er ihm zustimmen. Renaldo war besser darin, andere Leute einzuschätzen oder gar zu lesen. Das war seine Aufgabe. Ludwig hingegen musste die passenden Masken aufsetzen, die Renaldo brauchte, um die richtigen Reaktionen von eben jenen Leuten zu bekommen – doch war Renaldo sein eigentlicher Kopf. Er lenkte die Fäden im Hintergrund.

Das war ihr Geheimnis. Ein Abkommen, das niemand außer FK und Arashi kannten.

»Ich hatte ihr nur eine Lektion erteilen wollen, weil- Ich wusste nicht- Nicht mit Sicherheit. Ich bringe das wieder in Ordnung, Ludwig. Bitte.«

»Was willst du in Ordnung bringen? Einer der Embryos ist seelenlos. Samira Theresa trägt ein totes und ein lebendiges Kind in sich und freut sich auf zwei. Der Priester hatte es vorhin nicht gewagt, ihr die Wahrheit zu sagen. Wohl aber mir, weil er einen Bruch gegen unser Ehegesetz ausschließen wollte. Eines, das du gebrochen hast, oder? Bruder?«

EJ schluckte.

»Ich habe nicht gewusst, dass daraus …«

Warte! Nix sagen!, mischte sich Renaldo plötzlich ein und obwohl Ludwig den Verräter weiter in die Mangel nehmen wollte, so spielte er den Part, den sein anderes Ich ihm vorsprach.

»Und wem hast du so unbedingt eine Lektion erteilen müssen, die nicht mit dem Tod endete?«, er lachte, als säßen sie zusammen bei Tisch. Als würde er die Tat seines Bruders akzeptieren. Nein, als würde er sie gutheißen! Doch die Abneigung, der Hass und vor allem der Ekel, den er gegenüber EJ empfand, erstickten ihn fast.

»Sie … Sie ist nicht mehr auf Kumohoshi. Ich …«, er schien sich zu entspannen, »Ich werde es nachholen. Ich werde die Macian auf ihre Fährte locken. Sobald das Kind tot ist, sollte Samira Theresa wieder schwanger werden können. Vielleicht kann Shingasha auch den zweiten Embryo retten. Ich werde alles Erdenkliche tun, Ludwig. Das schwöre ich dir. Bitte … Bitte sag es nur nicht den Priestern. Niemandem. Bitte.«

Die Bitten wirkten so aufrichtig. Dennoch verspürte LR nichts außer Verachtung für diesen Mann. Für diesen Widerling, der eine Frau vergewaltigt hatte, um ihr eine Lektion zu erteilen und nun den Tod ihrer Linie plante, um alle Spuren zu beseitigen. Er hasste es, dass Renaldo ihn drängte, darauf einzugehen. Doch nur so könnten sie den Namen erfahren. Nur so könnten sie ihren Bruder notfalls zurückhalten. Ihn erpressen.

»Meinetwegen. Allerdings will ich wissen, wen ich nicht mehr zu suchen brauche.«

EJ's Augen weiteten sich so abrupt, dass selbst Renaldo sich anspannte. Für einen Moment befürchteten sie beide, dass sie leer ausgehen würden. Dass EJ lieber Gefahr lief, sich der Gnade des Tempels zu unterwerfen und sich opfern zu lassen.

Dann schluckte er.

»Janina Fortini.«

Etwas in LR gefror. Zum ersten Mal gab Renaldo keine Worte vor. Er schien zu zittern. Zu-

Die Schauspielerei ergriff die Kontrolle über Ludwig. Er lachte, um die Pause zu überbrücken. Versetzte sich in den Abschaum vor sich hinein. Imitierte den Mistkerl, den er am liebsten zerreißen wollte!

»Dann entsorge das abartige Mischblut gefälligst!«

Sofort blinzelte sich sein Bruder fort.

LR blieb allein auf dem Felsen zurück. Er lachte noch immer. Tränen entrannen seinen grauen Augen. Er lehnte sich gegen den Berg. Starrte in den Himmel. Auf diese tristen Wolken.

FK's Schwester, Renaldo schien die Worte nicht begreifen zu können, Wir sind gemeinsam aufgewachsen. Sie … EJ hat die Schwestern gehasst, ja. Weil ihre Mutter Emily eine Hutan war. Aber- Aber-

Deswegen ist sie wohl von Kumohoshi weg. Sie ist viel zu eilig aufgebrochen.

Sie hätte uns sagen sollen, was passiert ist! Sie hat ja nicht einmal mit FK geredet. Sie ist nur-

Ist das wirklich deine einzige Sorge? EJ wird sie und ihr Kind nun auf der Abschussliste haben!

Stille. Renaldo musste es ausgeblendet haben. Ja. Anders konnte sich Ludwig die fehlenden Vorschläge nicht erklären. Denn sie mussten etwas tun. Sie mussten-

Wir können nichts für sie tun.

BITTE WAS?!, er traute seinen Ohren nicht.

Denk doch mal nach! Wir können ihr nur helfen, wenn wir wissen, wo sie ist. Aber sie hatte sogar jeglichen Kontakt mit FK abgebrochen. Wenn wir sie als Otou-san suchen lassen, wird EJ eine Falle vermuten und diese Ragnarökfraktion besäuseln. Derzeit ist unsere Regierung zu zerstritten, um alles subtil zu regeln. Wenn wir ihr zu offen helfen, wird die Verbindung zu EJ auffliegen. Wir müssten ihn also dem Tempel überstellen. Wir würden ihn nicht mehr als schwarzes Schaf vor den Kriegsfanatikern verwenden können. Die Rägnarökhushen werden es als Anlass sehen, uns das Fehlverhalten vorzuwerfen, da wir es erst jetzt aufgedeckt haben. Nein. Wir können nichts machen. Wir dürfen nicht. Wir … wir müssen zusehen.

Ludwig erschauderte. Er konnte die Logik in den Worten erkennen. Er konnte sie nicht abstreiten. Derzeit war ihre Situation zu verstrickt. Sie hatten kaum eine Chance, das Richtige zu tun. Immer mussten sie abwägen. Immer mussten sie die Dinge so umbiegen, dass das Richtige rauskam, indem sie etwas Falsches taten.

Es schmerzte.

»Sie ist Fionas Schwester«, murmelte er nach einer Weile, »Sie hat das nicht verdient. Nichts davon. Sie-«

Ja. Das hat sie nicht. Ich … Ich würde es begrüßen, wenn wir mit Fiona sprechen könnten. Aber nicht heute. Oder morgen. Nächste Woche sollte gut sein. Bis dahin sollte EJ sein Vorhaben in die Wege geleitet haben und das Ehegesetz wieder halbwegs hergestellt sein. Fiona wird es verstehen. Nicht sofort. Aber eines Tages. Immer das kleinste Übel für das größte Wohl.

Kapitel 1: Die Essenz der Dimen

Maggie starrte Soyokaze an. Sie durfte sich nicht von ihr abwenden! Sie durfte nicht nach TJ oder ihrem Bruder schauen. Nicht nach OPa oder RT, die die ganze Zeit den größtmöglichen Abstand zueinanderhielten.

Nicht, solange die Sylphe ihnen vielleicht einen Ausweg aus diesem Horror weisen konnte.

Soyokazes Seufzen hallte in Maggies Ohren nach. Sie wirkte gepeinigt. Erschöpft. Aber darauf durfte die Flora keine Rücksicht nehmen. Nicht, nach allem, was passiert war. Nicht nachdem sie den Hass aus den Augen von Macian wie Hushen erkannt hatte. Dieser Hass verfolgte sie. Und er wirkte so verdorben. So-

Trügerisch?

»Ich kenne nicht alle Hintergründe«, murmelte die Sylphe, »Ich kenne Nagashas, weil ich im Gegensatz zu meinen Geschwistern nie wiedergeboren wurde. Wir sieben tragen einen Teil ihrer Essenz in mir. Also, ihr Sohn und die anderen sechs Naturgeister. Sie hatte sieben ihrer Seelensplitter unter uns verteilt, als sie uns erschaffen hatte. Daher stammt unsere Macht. Genauso wie bei den Kindern der anderen Dimen. Zumindest bei Zangasha und Shingasha. Mingasha hingegen … Er verschwand zu früh. Es hieß, dass seine Abwesenheit der Auslöser war, aber … na ja. Er hat nie ein Schwert erhoben …«

»Und Mingasha und Nagasha sind wer?«, fragte Maggie ruhig. Sie glaubte, den letzten Namen schonmal gehört zu haben. Nur war es zu schwammig. Zu weit weg.

Und Soyokaze so greifbar.

»Alle vier sind Dimen. Sie sind der Kreislauf. Geburt. Leben. Tod. Wiedergeburt. Gemeinsam hatten sie die Tiere und Pflanzen geschaffen. Aber irgendwann wollte jeder seine eigene Schöpfung präsentieren. Mingasha kreierte die Hutan, Nagasha die Desson, Shingasha die Hushen und Zangasha die Macian«, erklärte sie, »Shingasha und Zangasha hatten sich dabei stets übertrumpfen wollen. Deswegen hatte sich Mingasha unter seine Schöpfungen gemischt. Er hat Nagasha zurückgelassen. Das war der Anfang vom Ende.«

»Das kann nicht sein. Es gibt nur zwei Dimen«, mischte sich RT ein und zog ein Buch hervor, durch das er wild durchblätterte, »Ich habe noch nie von diesen anderen gehört. Das muss ein Fehler sein. Ein-«

»Richard. Buch weg«, TJ's Stimme unterbrach ihn so ungehalten, dass der andere Hushen sofort gehorchte.

Soyokaze lachte.

Irritiert runzelte Maggie die Stirn und schaute nach TJ. Die Reaktion der Sylphe wirkte zu schief. Als würden sie etwas übersehen!

»Also ist Mingasha gegangen«, überlegte sie laut, »Gut. Aber das muss schon lange vor dem Krieg gewesen sein, oder? Sonst gäbe es bestimmt Aufzeichnungen über ihn und diese Nagasha.«

»Hm? Oh, nein. Das geschah nur ein paar Winter davor. Shizen meinte mal, dass Mingasha eine Art Puffer zwischen den anderen Dimen gewesen wäre. Doch ohne ihn ging der Wettstreit in die nächste Runde und deswegen lenkten die Dimen ja erstmalig ihre Essenzen in ihre Schöpfungen«, Soyokaze kreiste um sie herum, »Nagasha war die erste. Sie tat es eigentlich nur aus Neugierde. Dass sie dadurch schwächer wurde, war ihr nicht bewusst. Sie hatte nur die ewigen Elemente und ihren Sohn beschützen wollen. Die anderen Dimen waren es, die dieses Risiko wissentlich eingingen, um ihre Kreationen durch die Floras oder Kazokus zu kontrollieren«, endlich blieb sie stehen und sank vor Maggie zu Boden, »Doch ihre Seelensplitter waren begrenzt und da jede eurer Seelen einen benötigte, konnten sie nur fünf von euch zeitgleich erschaffen. Um euch erkennbar zu machen, schenkten sie mindestens einer eurer Seelen graue Augen und die Gabe, ihresgleichen zu befehlen. Genauso, wie der Otou-san es uns eben so schön vorgeführt hat.«

»Das kann nicht dein Ernst sein«, TJ trat näher, »Ja, ich habe RT gesagt, dass er aufhören solle. Aber jeder andere hätte das auch sagen können. Das hat nichts zu bedeuten.«

»Ach ja?«, Soyokaze lachte und stieg erneut auf, um diesmal mit OPa’s Gewand zu spielen, »Nun, dann nehme ich an, dass es keine Regeln gibt, die nur auf Kazokus oder Floras zutreffen. Sicherheitsvorkehrungen, die darauf achten, dass ihr nichts Unüberlegtes sagt?«

Maggie wandte den Blick ab. Sie spürte, wie Valerie ihren Unterricht bei ihrer Benimmdame durchging. Sie hatte damals akribisch aufpassen müssen, was sie sagte … Es würde hinkommen!

Erst als Yuki ihre Halsbeuge anstupste, schaute sie wieder zur Sylphe auf. Zu diesem Windgeist, der gerade die Spuren von Alice' Magie weg wedelte.

»Floras dürfen keine Befehle äußern, aber all ihre Fragen müssen beantwortet werden und manche Antworten sind mit Folgen oder Drohungen verknüpft«, erklärte sie.

TJ schien einen Moment zu zögern, ehe auch er nickte: »Wir haben nicht direkt Regeln. Eher … drei Gesetze, die vom Tempel überwacht werden. So dürfen wir zum Beispiel nichts gegen die Priester sagen, es sei denn, sie verstoßen gegen Shingashas Willen. Jeder sonst?«, er zuckte mit den Schultern.

»Das können doch auch Zufälle sein«, murmelte Tristen.

»Hm? Ach, und als sich eure Familien verfeindeten, kämpften die Hushen und Macian sofort gegeneinander?«

Soyokazes Tonfall ließ Maggie frösteln.

Warum klingt es wie ein Vorwurf? Als ob wir uns erinnern müssten?

Ich verberge nichts mehr, entgegnete Valerie sofort.

Ja, aber … Spürst du es denn nicht?

Unschlüssige Zustimmung umwob sie.

Es fühlt sich genauso an, wie damals, als ich einfach wusste, wie man heilt. Wie ein Echo?, meldete sich Alice.

Maggie runzelte die Stirn. Es war nicht ganz so. Eher wie ein Déjà-vu. Ja! Als ob sie bei Kriegsausbruch dabei gewesen wäre! Aber … Das war doch albern, oder? Sie lebte jetzt. Nicht vor hunderten von Jahren!

»Moment. Die Hushen sagen, wir hätten sie verraten. Jedoch macht unser Volk die Hushen verantwortlich. Du meinst, dass unsere Familien schuld waren, weil wir die anderen befehligen konnten. Aber es muss ja irgendeinen Auslöser gegeben haben, oder? Was ist also passiert?«, erkundigte sich Maggie nachdrücklicher.

»Das sage ich euch doch die ganze Zeit: Die Essenzen der Dimen sind passiert«, Soyokaze wirbelte so eilig um sie herum, dass Yuki sich in ihrem Kleid festkrallte, »Alle Dimen waren Geschwister. Sie alle liebten sich. Aber Zangasha und Shingasha verband eine so starke Rivalität, dass sie sich in ihre Essenzen fraß. So wurde immer ein Teil ihrer Persönlichkeit weitergereicht. Genauso wie die Gefühle, die sie füreinander empfanden. Hass. Eifersucht. Liebe … Als sich nun also ein Radix und eine Kodomo ineinander verliebten, wollte ihre restliche Familie diese Liebe nicht gestatten. Unter den Hushen wurde ein männliches Privileg eingeführt, unter den Macian setzte sich die Machtposition der Frau durch, da sie die Gebärende ist. Eure Familien besaßen und besitzen einen Teil der Dimenmächte – und diese haben sie benutzt, um ihre Gegenseite als Monster zu brandmarken.«

Es klingt so vertraut, dass es wehtut, oder?, fragte Maggie ihre anderen Ichs, Ich meine, Monster. So nennen wir uns schon immer. Dabei … wir sind uns so ähnlich!

»Zusammengefasst«, erhob TJ das Wort, »Die Essenzen unserer Dimen werden in den Kazokus und Floras stets wiedergeboren, weswegen wir unsere Völker befehligen können. Und weil Zangasha und Shingasha miteinander zerstritten waren, haben unsere Familien diese Feindschaft übernommen und den Krieg ausgelöst?«

Soyokaze nickte lachend.

»Aber was ist aus Nagasha geworden? Hätte sie nicht mit ihren Geschwistern reden können?«, gab Maggie die besorgte Frage von Alice weiter.

»Reden? Sie?«, Soyokaze schüttelte sich, »In ihrem Streit haben Zangasha und Shingasha sie beinahe getötet! Ihr Sohn hat alles mit ansehen müssen und war von Shingasha nach Nigben gebracht worden. Er war einer der ersten Vertrauten geworden, weil er einem Kazoku in Not helfen wollte. Doch dieser hatte Shizen lieber ausgenutzt, weswegen er sich nach dessen Tod nur noch seiner Mutter und ihren Schöpfungen verschrieb.«

Shizen.

Ungläubig schüttelte Maggie den Kopf. Ja, sie hatte gewusst, dass der Desson alt war und dass er viel erlebt hatte. Deswegen hatte sie nicht einmal gestutzt, als er zuvor erwähnt wurde. Es gab viel zu viele Gerüchte über ihn. Aber … eine Dimen als Mutter?

Moment. Könnte er ihnen vielleicht helfen, den Krieg zu beenden? Immerhin musste er bereits am längsten darunter leiden, oder? Bestimmt ersehnte er sich ein Ende …

Das restliche Gespräch verschwamm in ihren Gedanken. Sie lauschte, wie Valerie noch einiges hinterfragte. Wie die Sylphe behauptete, dass ein Macian sie zu Kriegsbeginn gebeten habe, die Inseln der Hushen in die Lüfte zu heben. Der erste Radix, der die Hushen und seine Geliebte vor dem Zorn seiner Familie retten wollte. Dass deswegen die Duria von der Floris angeordnet wurde, damit sie ihren Bruder kontrollieren konnte. Dass die Kazoku derweilen die Hinrichtungen ihrer Alten befahlen, weil sonst nicht genug Dimenessenzen verfügbar waren und alle Babys als seelenlos begraben werden konnten. Dass sie später ihren Tempel abgaben, um sich dem Krieg zu verschreiben. Genauso wie die Floras ihren Glauben auf mündliche Überlieferungen begrenzten. Ein paar wenige Lieder und Reime, die an die Kinder weitergegeben wurden.

Alles stimmte mit jenen Traditionen überein, mit denen sie oder TJ einst aufgewachsen waren. Selbst die Anzahl Dimenessenzen ergab irgendwie Sinn. Nur hatten die Macian nie ihre älteren Generationen geopfert. Dafür war eine starke Geburtenkontrolle ausgeübt worden. Maggie erinnerte sich noch daran, wie ihr die Tradition als Kind unsinnig erschien, wo doch jede Geburt gefeiert werden sollte. Aber dank Soyokazes Erzählungen…

»Sind damit all eure Fragen geklärt?«

Hätte Valerie sie nicht kurz zuvor wachgerüttelt, hätte Maggie die Worte der Sylphe nicht vernommen. Sie tastete gedanklich nach Alice. Nach der Seele, die sich wie eine Schwester in ihr anfühlte.

»Ich glaube. Können wir notfalls wiederkommen, wenn uns noch etwas einfällt?«

Soyokaze nickte langsam. Wo sie zuvor gelacht hatte, erschien sie nun träge. Als hätten die Erinnerungen sie ausgelaugt. Dennoch hatte sie sich durch gequält. Um die Wahrheit loszuwerden? Oder weil sie hoffte, dass sich endlich etwas änderte?

Konnten sie in diesem Kartenhaus irgendetwas ändern?

»Danke«, verabschiedete sich Maggie von der Sylphe.

»Zurück?«, TJ streckte ihr fragend den Arm entgegen und sofort stand OPa neben ihr.

Maggie hatte ihren Auxilius und RT fast vergessen. Die zwei waren immer stiller während Soyokazes Erzählungen geworden und sie immer abwesender … Nachdenklich begutachtete sie ihre Leibwache. Wie er so da stand. Wie er TJ musterte. Es war, als wollte er ihn zum Abstand auffordern. Als traute er dem Hushen nicht. Es erinnerte sie wieder an den Zwist, der zwischen ihnen lag. Dieser Hass, den sie auch bei ihrem Bruder gesehen hatte, als er sie und SR gefunden hatte. Den Tristen und Steffen über die letzten Tage nicht mehr gezeigt hatten.

Seit wann? Seit sie ihre Erinnerungen mit ihm geteilt hatte? Oder seit er und TJ sie gemeinsam gerettet hatten?

Entschlossen ergriff sie OPa's Hand und legte sie wortlos auf TJ's. Sie sah, wie sich ihr Auxilius anspannte und den Hushen musterte. Es wirkte, als wollte er angreifen. Aber TJ? TJ wirkte nur überrascht. Überrascht und doch schien er nichts gegen ihre Leibwache unternehmen zu wollen.

Er hob einzig eine Augenbraue.

Ehm, alles gut mit uns?, Valerie klang alles andere als begeistert, als Maggie einen Schritt zurücktrat.

Sofort riss OPa seinen Arm runter.

Beobachtet RT und OPa, ja?, bat sie ihre anderen Ichs.

»Floris?«

»Moment«, murmelte sie und holte TriSte heran. Erneut legte sie wortlos die Hand des Macian auf TJ's. Diesmal zählte sie innerlich bis zehn, ehe sie von beiden wegtrat.

Obwohl Tristen sie unschlüssig ansah, zog er den Arm nicht weg. Maggie befürchtete fast, dass er mit der Duria ihre Gedanken ausspioniert hatte. Aber dafür sah er zu unruhig aus. Nein. Sie hielt ihre Überlegungen ja sogar vor ihren anderen Seelen verborgen. Sie musste es erst selbst abwägen. Verstehen.

Wie haben sie reagiert?

Du solltest wirklich mal die Augen aufmachen. Die sehen so geladen aus, als würden sie einem der beiden gleich an die Kehle springen!, beschwerte sich Valerie.

Hm, mal schauen.

Mal schauen?!

Sie mussten in Ruhe reden können. Am besten ohne die Sylphe. Diese hatten sie schon genug ausgelaugt. Ja. Solange sie sich nicht vollkommen sicher war, sollten sie ihre Gedanken nur im kleinen Kreis austauschen.

»Können wir nochmal wohin? Zum Nachdenken?«, fragte sie an TJ gewandt.

»Klar?«, obwohl er ihre Gedanken nicht kannte, ging er darauf ein. Also legte sie ihre Hand auf seiner ab und achtete darauf, wie sich die anderen mitblinzeln ließen.

Tristen berührte ihren Arm dort, wo er zum Hushen rüberging, OPa hielt sich an ihrem anderen fest. Gakumon war zu TJ's Füßen, Yuki und RT's Desson auf ihren Schultern, RT an TJ gelehnt.

Es war, als herrschte eine Grenze zwischen TJ und ihr.

Eine Grenze, die es zu überwinden galt!

Die neue Umgebung war höher gelegen. Hier war die Luft dünner. Und es war heißer. Die Sonne knallte auf sie herab, während Berge oder Kiefern neben ihnen aufragten.

»Wo sind wir?«, fragte OPa zugleich.

Doch Maggie wank ab. Das wo war nicht wichtig. Nicht, solange sie sich hier ungestört unterhalten konnten.

»Ist in Ordnung. LaNa wartet noch immer bei der Kirche auf uns. Und nach allem, was Soyokaze erzählt hat – wir müssen diesen Krieg stoppen können, oder?«, wandte sie sich direkt an TJ.

»Mag …«, er wirkte fast gepeinigt, während er RT etwas fort wank, als ob ihnen das mehr Ruhe schenken würde, »Versteh mich bitte nicht falsch, aber ich weiß nicht, ob das so gut ist.«

»Soll es besser sein, wenn sich alle über die nächsten Jahrtausende weiter abschlachten?«, Maggies Kopf raste mit Gedanken, die sich kaum ordnen ließen, »Dieser Krieg geht schon viel zu lange und wenn unsere Familien dafür verantwortlich waren-«

»Unsere Vorfahren. Nicht unsere Familien.«

»Warum betonst du es so? Laut Soyokaze waren es Kazokus und Floras. Wir sind mit verantwortlich.«

»Mag«, er seufzte, »Hör auf. Ich möchte nicht, dass du dir ihre Taten anlastest. Bitte.«

Überrascht schüttelte Maggie den Kopf. So wie er es formulierte … Machte er sich etwa für die Taten seiner Vorfahren verantwortlich? Warum wollte er sie dann davor bewahren? Er musste das nicht alleine durchstehen!

»TJ, ich-«

»Mag … Ich kenne dich. Du wirst nicht aufhören, bis es klappt. Aber es ist ein verlorener Kampf. Er wird dich auslaugen und ich möchte nicht, dass er dich bricht«, gestand er so leise, dass sie die Worte kaum vernahm. Er wirkte dabei so ängstlich auf sie. Warum? Wegen ihr? Weil er um sie bangte?

Es war genauso wie nach dem Labyrinth …

»Aber du kämpfst diesen ausweglosen Kampf doch schon, oder?«, fragte sie sachte, als sie sich gegen seine Brust lehnte, »Du hältst die Hushen zurück. ALi, einer der Generäle, er meinte, dass es keine Angriffe mehr gegeben hätte. Das bist du, nicht wahr?«, sie senkte die Stimme so sehr, dass es schmerzte, »Warum willst du dir diesen Kampf alleine aufbürden? Bitte. Ich möchte nicht sehen, wie ihr durch etwas brecht, vor dem ihr mich bewahren wollt, Tarek John. Das kann ich nicht.«

»Floris, bitte«, unterbrach OPa und gestikulierte mit den Armen, dass sie Abstand suchen solle.

Abstand. Von TJ. Das sie nicht lachte! Nach allem, was dieser Hushen für sie getan hatte, sahen OPa und die anderen Macian ihn immer noch als Feind, als Monster. Dabei hatte er sie über die letzten Jahre nur beschützt. Er hatte mit ihr gelacht. Er hatte ihre Alpträume verjagt. Selbst Jessica hatte er für sie gedeckt!

Unsere Auxilius müssen TJ als TJ sehen. Nicht als Hushen. Oder als jemand, der mich markiert hat.

Du willst ihnen die Wahrheit sagen?, Valerie klang nicht begeistert, Was, wenn das nach hinten losgeht? Oder wenn es an den Generalstab gelangt? Wenn sie-

Dann wissen sie es eben. Aber es ist nicht fair TJ gegenüber. Wir müssen uns alle auf derselben Augenhöhe begegnen. Wie soll dieser Frieden klappen, wenn wir unseren Auxilius kein Vertrauen entgegenbringen?

»Es reicht, OPa«, seufzend schüttelte Maggie den Kopf, »Es ist kein Etikettenbruch, da TJ mein Verlobter ist.«

Sie beobachtete den Macian während der Offenbarung genauestens. Jede Regung. Jede Mimik. Erst danach wandte sie sich wieder an TJ und umarmte ihn. Sie musste sich noch an ihren Bruder wenden. Sie spürte, wie seine Gedanken rasten. Ob er es für falsch hielt, dass sie so ehrlich zu ihrem Auxilius war? Oder dachte er darüber nach, dass sie seine Hand auf TJ’s gelegt hatte?

»Wir können den Krieg beenden. Wir müssen. Wenn nicht wir, wer dann?«, Maggie schaute wieder zu TJ hoch, »Ich hatte einige unserer Erfahrungen mit Tristen geteilt. Über die Duria. OPa wusste nichts. Und wer hat länger Vertrauen in eine Berührung mit einem Hushen gehabt? Jene Person, die sich mehr mit dir befasst hat. Jene Person, die nicht mehr ein Monster hinter einem bloßen Wort vermutete. Das muss auch bei anderen klappen. Bei all den anderen Macian und Hushen. Wir können diesen Krieg beenden. Genauso, wie es die Hutan so unzählige Male untereinander geschafft haben. Wir müssen nur alle an denselben Tisch bekommen. Wir müssen das Gespräch suchen. Wir müssen unsere Beziehung offenlegen und beide Gruppen zum gegenseitigen Zuhören bewegen. Wir werden die Vergangenheit nicht ungeschehen machen können. Aber wir können die Zukunft besser machen. Ich habe es durch TC gesehen. Und durch LiZa. Es muss gehen. Bitte. Lasst es uns versuchen, Tarek John.«

Eilig schnappte sie nach Luft. Sie war es nicht gewohnt, so viel zu reden. Nicht nach all den Gedankenaustauschen mit ihrem Bruder. Nicht nach ihrem stillen Wesen unter den Hutan. Aber jedes Wort musste gesagt werden!

»Eine Seite zurückzuhalten ist nichts im Vergleich zu dem, was du vorhast«, murmelte Tarek.

»Denn das Zurückhalten ist nur der erste Schritt von vielen«, gab sie zu.

»Du-«, John drängte seine dominante Seele abrupt beiseite, »Bist du dir sicher? Also, wirklich? Die Vorwürfe und Hasstiraden auf Kumohoshi sind schon nicht ohne und ich will nicht, dass du damit zu tun haben musst.«

»Ja. Alles andere ist nicht fair. Nicht den Macian, nicht den Hushen und erst recht nicht den Desson oder Hutan gegenüber. Jeder Einzelne hat seinen Frieden verdient. Jedes Lebewesen sollte die Ähnlichkeiten zu seinem Nächsten sehen können – nicht nur die Unterschiede.«

Johns Augen flackerten. Dann war Tarek zurück. Er drückte sie an sich. Sachte. Aber bestimmt.

»Hör auf, meine Welt immer wieder auf den Kopf zu stellen«, hauchte er in ihr Ohr.

Es erinnerte sie an damals. Als sie über Jessica gesprochen hatten. Als er eingewilligt hatte, ihr zu helfen, das Mädchen zu decken. Als er bei ihr geblieben war, um gemeinsam eine Lösung zu finden.

Er wusste, dass sie handeln mussten.

»Danke.«

***

TJ's Gedanken drehten sich unentwegt. Obwohl er die Macian schon vor Stunden in Kriegsheim abgesetzt hatte und seither seine Notizen für das abendliche Konziltreffen durchging, beschäftigten ihn Maggies Ideen noch immer. Frieden? Wie unter den Hutan? War das Wunschdenken? Oder konnten sie es wirklich schaffen? Wie sahen die Friedensverhandlungen bei den Hutan wohl aus? Und wie sprangen sie über ihre Schatten?

Nachdenklich lehnte er sich zurück und starrte auf den leeren Kindertisch. TC und ihr Bruder waren vor einer knappen Stunde nach Hause gegangen. Wie hatten sie Maggie eigentlich kennengelernt? RT schien sie ja immer noch argwöhnisch zu behandeln. Die Kleine jedoch…

»Kinder nehmen die Welt anders wahr, oder?«

Gakumons Ohren zuckten in seine Richtung. Er hatte sich kurz nach ihrer Rückkehr hingelegt und döste seither vor sich hin. Eigentlich erwartete TJ keine Antwort. Dass sie dennoch erfolgte, erfüllte ihn mit tiefer Dankbarkeit.

»Sie haben nicht so viele negative Erfahrungen. Sie sind behüteter. Aber auch offener.«

Ja. Das klang stimmig. Hatte Maggie deswegen von TC gesprochen? Und LiZa … Das war das Kind, dessen Mutter er als Botin freigelassen hatte, oder? Die Kleine von der Überwachungskamera.

Ihr Name klang wie Lisas …

»Du solltest dich noch ausruhen. In ein paar Stunden wird dich der Konzil für die fehlenden Kampfhandlungen auseinandernehmen wollen. Willst du ihnen wirklich heute von dem aufgelösten Abkommen mit Shizen erzählen? Es könnte etwas viel werden. Sie werden dich in der Luft zerreißen wollen«, bemerkte Gakumon gähnend und wies auf die Notizen.

»Wir müssen sehen«, TJ stand auf, um sich gegen das Fenster zu lehnen.

Die Nacht war hereingebrochen. Ganz Kumohoshi lag im Schummrigen. Jegliches Licht wurde von gedimmten Fensterscheiben verschluckt. Die Straßen glichen finsteren Furchen. HIn und wieder konnte TJ vereinzelte Desson ausmachen, die durch die Nacht huschten. Ansonsten hatte einsame Stille die Insel umklammert.

Damit die Macian sie nicht fanden, hatte sein Vater einst erklärt, damit sie nicht angegriffen wurden …

Wenn das nicht klappt, wird sie sich trotzdem Vorwürfe machen, meldete sich John plötzlich.

Ich weiß. Aber sie wird von der Idee nicht mehr ablassen. Und sie hat ja auch irgendwie Recht. Genauso, wie sonst, Tarek spürte, wie sich ein Lächeln auf seine Züge schlich, Ich musste neulich an Vater denken. An seine letzten Worte, ehe wir am Shanai einfielen. Erinnerst du dich? Wir müssten den rechten vom richtigen Weg unterscheiden lernen. Wir hatten es direkt versucht, als wir sie kurz darauf gefunden haben. Aber seither? Seither erscheint es mir, als wäre der rechte Weg bei ihr auch immer der richtige.

Wenngleich John sonst alle Erinnerungen an ihren Vater verdrängte, sandte er Tarek dieses Mal seine Zustimmung entgegen.

Sie hatten ihren richtigen Weg mit Maggie gefunden.

»Gakumon? Hattest du schon mal etwas von Mingasha oder Nagasha gehört? Also, vor heute?«, erkundigte er sich nach einer Weile bei seinem Vertrauten.

Zu seiner Überraschung setzte sich der Desson auf. Er schien ihn lange zu beobachten. Zu lange.

»Mutter ist ein freier Desson. Sie hatte Nagasha zwar erwähnt, als ich noch ein Kind war. Nur klang es wie eine Weihnachtsmanngeschichte.«

»Und Mingasha?«

Seufzend schüttelte der Vertraute den Kopf: »Es gibt unter den Desson wilde Gerüchte über einen Hutan, der wiedergeboren wurde und jedes Mal eine neue Religion gründete. Aber selbst diese sind so abstrus, dass ich sie nie für wahr genommen hätte. Vor heute hätte ich ihn nicht einmal mit dem Namen in Verbindung gebracht.«

»Hm«, TJ legte sich auf das Sofa, »Ich wäre nie auf die Idee gekommen, Soyokaze nach dem Beginn des Krieges auszufragen«, gestand er leise, »Ich weiß nicht, ob ich ihr alles glauben kann, ob ich ihr glauben sollte.«

Für einen Moment beobachtete Gakumon ihn. Dann sprang er herüber und rollte sich auf TJ’s Brust zusammen. Es war so unüblich für den Desson, dass Tarek sofort nach dessen Stirn tastete. Aber statt einem Fieber spürte er das Wesen nur schnurren.

»Lässt du mich bei dir bleiben? Nur kurz?«, fragte er.

Nickend stimmte TJ zu. Er genoss die Wärme seines Freundes. Ob Maggie sich auch so fühlte, wenn sie Yuki bei sich schlafen ließ? Er wusste noch, wie er es früher für anstandslos gehalten hatte.

So vieles hatte er durch die Macian in einem anderen Licht gesehen.

Und so vieles müsste er den Hushen nun in eben jenem Licht näherbringen.

Er sollte sich eine Liste machen.

Kapitel 2: Zukunftspläne

»Daher geht von TJ keine Gefahr aus«, schloss Maggie ihre Erzählung ab. Sie hatte CiLu, OPa und SveA in ihre Beziehung mit dem Hushen eingeweiht. Das war ihr nach dem Treffen sicherer erschienen. Vor allem für TJ. Sie durften ihn nicht als Bedrohung sehen. Auch wenn es bis dahin gewiss noch ein weiter Weg wäre. Aber wofür gab es den ersten Schritt?

Den ersten Schritt von vielen, die vor ihr lagen.

»Floris. Das- Das ist viel zu gefährlich! Ihr-«, SveA rang mit ihren Worten. Sie wedelte mit ihren Händen. Ihr Armband verformte sich. Wurde länger-

Dann schüttelte sie sich und schob das Metall zurück.

»Es ist leichtsinnig. Dumm!«, entfloh es Cindy, sodass sich die Auxilius nach ihr umwandten, »Ehm. Ich meine-Nicht unsere Floris! Die Situation?«

»Schon gut«, Maggie lehnte sich zurück und strich dabei über Yukis Fell.

Blaue Augen blickten zu ihr auf. Der Desson wirkte angespannt. Wegen der aufgewühlten Macian? Ja. Die Luft war geladener. Cindys Affinität sickerte hindurch. Genauso wie die ihrer Auxilius … Aber das hieß doch, dass sie sich uneins waren, oder? Dass ein Teil von ihnen verstand, was sie sich erhoffte …

»Es mag anfangs gefährlich gewesen sein. Vor mehreren Jahren. Doch nun?«, Maggie dachte daran zurück, wie oft der Hushen sich für sie eingesetzt hatte oder bei ihr geblieben war, wenn ihre Magie durchdrehte, »Ich weiß, dass TJ ein Hushen ist. Ich weiß, dass er Macian getötet hat. Ich weiß, dass ihn unsere Freundschaft alles andere als unschuldig macht. Aber ich weiß auch, dass uns derzeit keine Hushen angreifen, weil er sie zurückhält. Ich weiß, dass er zuhört, dass er versteht, dass er uns nicht als Monster sieht.«

»Hushen bleibt Hushen«, SveA verschränkte die Arme, »Man kann keine Ehrlichkeit von- von ihnen erwarten!«

Na? Läuft das Gespräch wie vorgestellt? Selbst Tristen und Steffen haben ewig gebraucht, um sich mit TJ zu arrangieren. Und dabei ist unser Bruder immer noch sehr zögerlich unterwegs, mischte sich Valerie ein.

Ich weiß nicht. Yuki wurde doch auch akzeptiert.

Ja. Aber Yuki ist ein freier Desson.

Maggie blickte stumm auf ihre Hände. Obwohl ihre anderen beiden Seelen diskutierten, blieben ihre Kräfte ruhig. Tief in sich drin glaubten sie also an dieselbe Sache. Und wenn es für sie ein möglicher Frieden war …

Wir können das, unterbrach sie die beiden Ichs, Wir alle. Macian wie Hushen wie Desson. Wir müssen. In Nigben hatte es ja auch geklappt!

Ja. Darauf musste sie sich konzentrieren.

»So oder so habe ich euch drei und meinen Bruder im Vertrauen eingeweiht«, erklärte Maggie strenger, »Meine Verlobung hat niemandem sonst mitgeteilt zu werden. Ich werde es dem Generalstab sagen, sobald die Zeit reif ist. Ich denke, ihr könnt es bis dahin für euch behalten, oder?«

Erdrückende Stille legte sich über den Raum. Die drei Macian schauten sich unschlüssig an. Langsam nickten sie. OPa zuerst. Dann CiLu. Zuletzt SveA.

»Ihr-«, die Auxilius biss sich auf die Lippen, ehe sie fortfuhr, »Sollte Euch etwas passieren oder sollte dieser Hushen Euch bedrohen, werde ich trotzdem handeln. Ich werde nicht schweigen können, wenn das Eure Sicherheit gefährdet, Floris.«

Für einen Moment gedachte Maggie, sie zu einer anderen Meinung zu drängen. Die Worte abzuweisen. Aber das erschien ihr als falsch. Es-

Sie sollten TJ kennenlernen. Genauso, wie wir ihn kennengelernt haben, murmelte Valerie vor sich hin.

Du meinst, als wir ihn jedes Mal angreifen wollten, wenn er sich irgendwohin blinzelte?, hinterfragte Alice lachend, Ja. Das würde super laufen, nicht?

Nein. Ja. Also- Es war nicht perfekt. Aber ich … Ich konnte mich die ganze Zeit erinnern und habe dennoch eine Freundschaft zu ihm aufgebaut. Das sollte auch bei den anderen Macian funktionieren, oder?

Maggie ließ sich die Worte durch den Kopf gehen. Langsam nickte sie.

»Ich verstehe«, räumte sie vor SveA ein, »Weswegen ich möchte, dass du mich die nächsten Male begleitest. Ich möchte, dass du TJ für ihn kennenlernst. Nicht für das, was er ist. Sondern für den, der er ist.«

»Floris- Ich- Ihr könnt nicht-«, die Frau stolperte über ihre Worte, »Ihr wollt ihn weiterhin sehen?!«

»Ja«, Maggie starrte sie nachdrücklich an, »Wir werden uns überlegen, wie man einen Frieden erreichen kann. Für alle. Ohne Kämpfe, ohne Tote. Dafür müssen wir einander sehen können. Ohne Vorurteile.«

Vorurteile … Ja. Die mussten sie überwinden! Genauso wie damals, als sie ins Waisenhaus gekommen war und die Hutan nicht für voll genommen hatte. Was hatte sie von ihrer Stieffamilie gedacht? Vor neun Jahren … Es war so lange her! Sie hatte ihre eigenen Vorurteile erst abgelegt, als sie mit ihnen zusammenwohnte. So ähnlich wie bei TJ! Als sie angefangen hatten, sich ehrlich zu unterhalten…

»Grundgütiger! Meinst du nicht, dass du damit deine Zeit verschwendest?«, fragte Cindy.

»Du hast kein Recht, die Floris zu hinterfragen!«, belehrte SveA sie direkt.

»Nein. So-«, ihre einstige Klassenkameradin raufte sich die Haare – sie schien es immer noch nicht gewohnt zu sein, Maggie als Floris zu sehen, »Ich meinte es nicht so! Eher- Wir denken ja alle das Gleiche, nicht?«

»Aber du bist doch auch unter den Hutan aufgetaut«, mischte sich Yuki plötzlich ein, »Als wir das erste Mal in die Schule kamen, hast du noch über jeden gelästert. Nach ein paar Jahren bist du ihnen auf Augenhöhe begegnet. Das muss doch auch bei den Hushen klappen, oder?«

Dankbar drückte Maggie den Desson an sich. Es fühlte sich gut an, dass wenigstens einer sie hier verstand.

»Ja, aber- Das waren Hutan. Nicht-«, Cindy gestikulierte wild mit den Armen.

»Ich habe beim Massaker von Shanai wahrscheinlich mehr Hushen, Macian und Desson in den Tod geschickt, als irgendwer sonst auf diesem Planeten«, gestand die Flora leise, »Ich weiß nicht, ob ich oder irgendjemand der mir vergibt, in der Position ist, die Hushen weiterhin als alleinige Monster dieser Welt zu betiteln.«

»Das war ein Unfall«, befand OPa direkt, »Ihr konntet nichts dafür.«

»Dann hat LeVi dich darüber informiert?«, fragte sie.

Ihre Auxilius tauschten einen Blick aus. Stumme Worte schienen zwischen ihnen hin und her zu fliegen. SveA seufzte. Erst danach nickte der andere.

»Nachdem ihr uns ausgewählt habt, haben einige Generäle uns zu sich berufen. Sie haben gemeint, dass Ihr gegebenenfalls Hilfe mit Eurer Kontrolle benötigt, das Wasser aufgefangen werden solle und wir kein Wort über den alten Stützpunkt am Shanai verlieren sollten, da Ihr darauf empfindlich reagiert hättet. Dass das Massaker aber mit Eurer Kontrolle zusammenhänge.«

»Hatten sie euch gebeten, mich auszuspionieren?«

Die folgende Stille war so vielsagend, dass Maggie das Ja gar nicht hören brauchte. Valerie schimpfe vor sich her. Alice klang enttäuscht. Sie selbst verstand es jedoch. Es war nur nachvollziehbar, dass die Macian wissen wollten, was sie vorhatte. Noch hatte sie nicht den Schwur der Floras geleistet. Das konnte sie nach den alten Traditionen erst tun, wenn sie einen Beweis ihrer Blutung vorlegte. Alte Regeln, die ihr nun wie alberne Relikte erschienen.

Aber sie wiesen auch die Generäle in ihre Schranken.

Wir müssen uns nicht an alles halten, oder?, fragte sie Valerie still.

Was meinst du?

Können wir unseren Auxilius nicht Rechte gewähren? Genauso wie Mama damals! Solange wir mit Tristen allein waren, durften wir auch ganz albern mit ihm spielen. Nur wenn andere Macian kamen, mussten wir uns benehmen.

Fragende Zustimmung hallte ihr entgegen.

»Ich weiß nicht, was die Generäle euch für ein paar Worte geboten haben. Dennoch möchte ich euch darum bitten, nichts an sie weiterzutragen. Ich möchte es euch nicht indirekt befehlen müssen. Ich möchte euch nicht nötigen mit offenen Fragen oder Drohungen. Ich möchte, dass wir ehrlich miteinander umgehen: Ihr drei dürft mir gerne ins Gewissen reden. Ihr dürft mich hinterfragen, wenn wir unter uns sind. Aber dafür wünsche ich mir, dass diese Vertraulichkeit auch von euch erwidert wird.«

»Moment. Stopp. Du willst, dass wir Zweifel an deinen verrückten Ideen bekunden, wenn wir dafür die Klappe halten?«, Cindys Stimme wurde mit jedemWort schriller.

Maggie nickte: »Ich möchte, dass wir offen miteinander umgehen können. Genauso, wie ich und Tristen, wenn wir unsere Durias verbinden. Ich möchte Vertrauen schaffen. Unter uns und später auch mit den Desson und Hushen. Ich möchte euch gegenüber ehrlich sein. Keine Lügen. Keine geheimen Ausflüge…wie beim letzten Mal.«

Sie kämpfte das Geständnis hervor. Sie musste. Dennoch biss sie sich schuldbewusst auf die Lippen.

»Floris?«, SveA schien als erste zu verstehen.

»Es war nichts passiert. Es war nur- Ich meine-«

»Du brabbelst«, Yuki legte fragend den Kopf schief, also ließ Maggie den Desson erzählen, »Sie wollte etwas von den Desson ausprobieren, um Alice rauszuholen, hat sich jedoch nur die halben Infos besorgt. Weswegen TJ und ihr Bruder sie gemeinsam rausholen mussten.«

»Ja. Ist aber nicht weiter wichtig«, befand sie hastig, »Niemand ist gestorben.«

»War das, als … Ihr gerade Eure Gemächer bekommen habt?«, erkundigte sich OPa still.

Maggie nickte. Sie beobachtete, wie Cindy sich unwohl zur Seite lehnte. SveA wirkte zornig. Ihr anderer Auxilius nachdenklich. Doch keiner kritisierte sie.

»Ihr dürft gerne mit mir auch über so etwas schimpfen«, erklärte sie daher leise, »Ist in Ordnung. Ich war doof. Aber ich möchte nicht, dass ihr euren Frust über mich in euch reinfresst. Bitte.«

Fünf Minuten später bereute sie die Worte.

***

»Sie hat mich rausgeworfen!«, LyA fegte die Obstschale so heftig vom Tisch, dass sie an der nächsten Wand zerbrach. Er konnte nicht anders. Diese Respektlosigkeit seiner Tochter war inakzeptabel! Für wen hielt sie sich? Ja. Sie war die einzige weibliche Flora. Sie wäre seine Floris. Aber ohne seine Gnade wäre sie nie entstanden!

»Sie ist recht eigen«, bemerkte Generälin LiJu, während sie ungerührt ihren Tee umrührte. Stumm deutete sie auf eine zweite Tasse, die sie ihm hingestellt hatte.

Murrend kam er der Aufforderung seiner Schwester nach und leerte das Getränk in wenigen Zügen. Wenn es von ihr kam, hätte sie gewiss etwas hinein gemischt. Etwas, was ihm helfen sollte. Und wenige Momente später setzte die erwartete Wirkung ein.

Dankbar und entspannt lehnte er sich zurück.

Wenigstens auf LiJu ist Verlass, meldete sich August.

»Es war eine einzige Demütigung. Dieser nervige ALi hat alles mit angesehen. Gewiss wird er mich nun nicht mehr so herzlich behandeln. Nicht nach ihrem maßlosen Verhalten!«, spuckte er seinen letzten Zorn aus.

»Hm«, sie nippte ein paar Mal an ihrem Tee, ehe sie wieder aufsah, »Wir werden sehen. Ich habe SteMa rufen lassen. Er sollte in ein paar Tagen ankommen. Vielleicht lässt sich die Vergangenheit wiederholen.«

Er stockte. Meinte sie wirklich das, was er vermutete? Kaum jemand wusste, wie er an die Position des Lyx gekommen war. Kaum jemand wusste, was die frühere Generälin von Gallahain dafür getan hatte. Er bezweifelte, dass seine Frau es je jemandem anvertraut hatte. Gewiss nicht Tristen oder Steffen. Ihre Tochter wäre damals noch zu jung für das Thema gewesen. Ihre Spielgefährtin war abgehauen…Und ihr Auxilius? Der war endlich tot!

Und Tote konnten keine Wahrheiten mehr verbreiten.

»Und wie willst du sichergehen, dass er dir treu bleibt? Kinder sind … eigenwillig«, erklärte LyA ungehalten.

»Deine? Seit der Rückkehr deiner Tochter, ja. Aber mein Sohn weiß, wie er sich zu benehmen hat. Er weiß, was die Konsequenzen sind. Und er weiß, dass er im Notfall auf sich allein gestellt ist«, sie lächelte so lieblich, als würde sie über einen Hushen reden.

Nicht über das Kind, das sie selbst geboren hatte.

Sie klingt wie Mutter, bemerkte August schaudernd.

Obwohl Lysander es nicht wollte, so musste er seiner anderen Seele zustimmen. Er würde nie vergessen, wie die Frau ihn und seine Schwester einst umherkommandiert hatte. Erst als sie in die Pläne eingeweiht wurden und eigene Ideen teilten, waren sie geachtet worden. Bis LiJu ihre Mutter endlich aus der Welt warf.

Sie hatten alles besser machen wollen. Sie hatten die Macian bündeln wollen, um vereint gegen die Hushen vorzugehen. Gegen die Desson. Gegen die Hutan.

Gegen alles, was anders war!

Und das würden sie nach all den Jahren nicht aufgeben.

»Wo kann ich helfen?«

***

»Nun denn: Im Namen Shingashas, möge der Tod euch verschonen«, beendete TJ das Treffen. Er wartete, bis die Konzilmitglieder den Saal verließen. Erst danach lehnte er sich erschöpft gegen den Tisch.

Die letzten fünf Stunden waren katastrophal gewesen.

Wie konnte BM wissen, dass wir den Vertrag aufgelöst haben?!, fragte John zum gefühlt hundertsten Male.

Nur hatte Tarek keine Antwort darauf. Er hatte erst mit den gewöhnlichen Themen anfangen wollen. Nach dem Gespräch mit Soyokaze hatte er den Konzil am liebsten erst nächste Woche in Kenntnis gesetzt.

Doch dann hatte ihn der Chakrameister gestellt.

TJ hatte sein bestes gegeben, es als Wiedergutmachung eines Unrechts darzustellen. Er hatte angemerkt, dass die Vertragsauflösung nicht bedeutete, dass es fortan keine Vertrauten mehr gäbe. Dass sie nur die Wahl hätten und damit jedes neue Band stärker wäre. Er hatte angedeutet, dass alles einem höheren Zweck diente.

Nur wollte der hasserfüllte Hushen nicht hören.

Stattdessen hatte er angemerkt, dass TJ vom Tempel und den Priestern geprüft werden sollte. Er hatte die anderen Konzilmitglieder in die Diskussion gezogen. Gefragt, ob TJ seine Position wirklich ausfüllen könne.

Wichtiger ist doch, wie wir mit den Anschuldigungen verfahren, oder?, wies er John zurecht, Derzeit lassen wir keine Angriffe von den Hushen zu. Das verstößt zwar nicht gegen Shingashas Lehren …

… jedoch sorgen wir auch nicht dafür, dass diese so verbreitet werden, beendete seine andere Seele erschöpft, Ja, aber – das ist eigentlich kein Teil der Schriften.

Es ist ein Teil der Predigten, Tarek massierte sich die Schläfen, Es ist wie AW gesagt hat, als er dieses Ragnarök erwähnt hatte. Alles ist eine Frage der Auslegung.

Und wichtig wäre, wie die Priester seine Entscheidungen auslegten und ob EJ oder AC TJ’s Position wollten. Dann könnten sie ihn als Otou-san absetzen …

»Wir müssen«, unterbrach Gakumon seine Gedanken, »RT und TC sind bestimmt schon zurück.«

Erschöpft stieß er sich vom Tisch ab und sammelte seinen Vertrauten ein, ehe er sich direkt in sein Büro blinzelte – ihm fehlte die Kraft zu laufen.

»Du- Guten Morgen!«, sein einstiger Kollege sprang fast auf der Stelle, als TJ neben ihm auftauchte, »Ehm- Ich habe auf den Weg hierher alles rausgesucht, was ich in unseren Bibliotheken finden konnte«, erklärte er, während er auf ein paar verstaubte Bände auf TJ's Tisch deutete, »Und ich habe es diskret hergeschafft. Wenn irgendetwas davon als gestohlen gemeldet wird, wirf mich bitte nicht ins Messer, ja?«

Der Otou-san nickte abwesend. Stimmt. Er hatte RT ja darum gebeten, alles über vergangene Kontaktaufnahmen mit den Macian zu besorgen – von Nigben zu möglichen Verhandlungen während des Krieges. Viel hatte er dabei nicht gefunden: Drei Bücher, zwei Schriftrollen und ein paar lose Zettel zierten seinen Tisch. Vielleicht sollte er den anderen nochmal in Hutanbibliotheken suchen lassen? Diese mickrige Ausbeute konnte kaum alles sein!

»Offen gesagt, bezweifle ich, dass die Sachen hilfreich sind«, fuhr RT fort, als TJ die ersten Seiten überflog, »Dasmeiste davon ist uralt. Die Schriftrollen sind aus dem Mittelalter. Damals wurde uns nur grundlos ein Radix vor die Füße geworfen. Detailreich ist anders. Ich glaube nicht, dass du damit fündig wirst.«

»Mal schauen«, TJ ging die eingegangenen Anträge durch und gab sie dann weiter, »Setz dich zu TC und kümmere dich um den Kleinkram, ja?«

Obwohl sich sein Freund die Papiere nahm, trat er nicht weg. Er schien zu zögern. Warum? Merkte er ihm an, dass das Konziltreffen alles andere als goldig verlief oder-

»Hast du letzte Nacht geschlafen?«

»TC!«, erschrocken rotierte RT auf der Stelle, »Sie meint es nicht so. Wirklich! Das- Entschuldige, bitte!«

Sie klang wie Maggie, oder?, Johns Gedanken ließen ihn aufhorchen – er wirkte so sehnsüchtig.

»Ich lag eine Weile wach«, gab er vor dem Mädchen zu und schenkte ihr ein dünnes Lächeln, »Ist aber nicht weiter tragisch. Mach dir keinen Kopf.«

Wenngleich sie nickte, schien sie ihm nur bedingt zu glauben. Er beobachtete, wie sie sich wieder über das Hutanlehrbuch beugte. Wie sie so viel ausgeglichener und vor allem entspannter wirkte.

Genauso wie Maggie als sie aufgetaut war.

»Sie hätte dich nicht fragen dürfen und- Ehm. Es-«

»Ich habe ihr gestattet, mich mit Namen anzusprechen. Da darf sie mir auch solche Fragen stellen. Ist in Ordnung. Wir sind hier unter uns«, erklärte er.

Nachdenklich wies er seinen Freund dazu an, nochmal näher zu treten. Soyokazes Erzählungen spukten wieder durch seine Gedanken. Vor allem ihre Anmerkung, dass die Kazokus die restlichen Hushen kontrollieren können sollten. Wenn es stimmte … Konnte alles, was er aufbaute, von EJ oder AC eingerissen werden, oder?

»Was denkst du zu der Geschichte der Sylphe?«

Befangen schaute RT beiseite. Er schien sich seine Worte abzuwägen. Erst danach suchte er Blickkontakt.

»Ehrlich gesagt, stimmen einige Sachen davon nicht mit den Schriften Shingashas überein. Aber meist ist es eher so eine Art Auslegungssache. Ich bin gestern noch einmal ein paar Geschichtstexte und die Lehren durchgegangen. Es wird nirgends gesagt, dass es nur zwei von-«, er schaute kurz zu TC, ehe er leiser weitersprach, »Also, dass es nur zwei Dimen gäbe. Ihre Beziehung wird überhaupt nicht aufgeführt. Deswegen bin ich anders an die Sache rangegangen: Es sind die Vornamen der Person überliefert, die die Sylphe darum bat, unsere Inseln hochzuheben. Ein Otis Dion. Aber es gibt nirgends einen Vermerk, wer er war oder wo er herkam.«

»Zumindest bei uns«, vermutete TJ, als er sich setzte.

»Ja. Es ist gut möglich, dass die Sylphe in dem Punkt Recht hatte und es sich bei dem Mann um einen Macian handelte. Das würde auch Sinn machen, da sie ja ein lebendiges Element ist und wir nichts mit elementarer Magie zu schaffen haben. Aber selbst, wenn es stimmt, es beweist noch lange nicht den Rest.«

»Hm«, Tarek musterte ihn, »Als ich dir gestern gesagt habe, du sollest das Buch schließen. Hast du es von dir aus getan oder hast du dich kontrolliert gefühlt?«

Sein Freund schaute ihn verständnislos an.

»Bitte?«

»Ich meine, wegen dieses Kontrollgedöns‘. Ich-«, er atmete tief durch, »Vater hatte mir mal gesagt, dass wir andere befehligen dürften. Aber ich habe nie gedacht, dass er es kontrollierend meinte. Dass- Es wirkt einfach so verkehrt, weißt du?«

Gakumon schmiegte sich erneut an ihn. Stimmt. Er war ihm gar nicht von der Seite gewichen. Er lag plötzlich wieder auf TJ's Schoss. Ganz so, als konnten sie derzeit nicht lange oder weit voneinander getrennt sein. Hatte Soyokazes Erzählung TJ so stark aufgewirbelt?

»Ich weiß nicht. Ich habe es einfach getan, weil-«, RT schüttelte den Kopf, »Du könntest es ja einfach testen?«

Überrascht starrte der Otou-san ihn an. Es testen? Ja. Der Gedanke war ihm auch schon gekommen. Vor allem im Konziltreffen, als er sich so überrannt von den anderen Hushen fühlte. Allerdings ginge das nur mit einem Befehl, den diese Person nicht ausführen wollte. Wenn es nicht klappte, würden man ihn vom Tempel überwachen lassen. Wenn es jedoch klappte …

Es macht mir Angst, gab John zu.

Tarek erschauderte.

Sehr?, fragte er seine andere Seele.

Ja! Ich will es auf keinen Fall probieren! An niemandem. Aber ich spüre, wie du immer wieder mit dem Gedanken spielst. Was denkst du dir dabei?!, Johns Frust schwappte so plötzlich auf, dass selbst Gakumon aufsah.

Wenn wir es benutzen könnten, könnten wir die Hushen leichter vom Frieden überzeugen. Und wir wüssten, wie EJ oder AC uns in die Quere kommen könnten. Wir-

Wir sind nicht unser irrer Vater!

TJ blickte in Gakumons rote Augen. John hatte Recht … Sie waren nicht ihr Vater. Er hatte stets mit Befehlen um sich geworfen. Darunter waren so absurde Forderungen gewesen. Und jede war eilig erfüllt worden. Alle sprangen direkt auf, wenn er das Wort erhob.