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Eine taffe Polizistin, zwei Männer und ein Kampf, den nur einer überleben kann.
Mord gehört zu Sams Alltag, denn die junge Frau ist Detective bei der Bostoner Polizei. Und so wickelt sie auch ihren neuesten Mordfall routiniert ab - bis sie herausfindet, dass ihr Ex Leyton die Finger im Spiel hat.
Während sie ihren Ex beschattet, trifft sie in einem Nachtclub auf den charismatischen Darius. Zu ihm fühlt sie sich auf mysteriöse Weise hingezogen, obwohl sie noch etwas für Leyton empfindet.
Als ihre beste Freundin verschwindet, muss Sam alle Hebel in Bewegung setzen, um sie zu finden. Abermals läuft ihr Darius über den Weg, doch nicht nur er hütet ein düsteres Geheimnis. Auch Leyton scheint ihr gegenüber nicht ganz ehrlich zu sein.
Jedes Buch ist in sich abgeschlossen.
Die Reihe im Überblick
Kruento - Heimatlos (Novelle)
Kruento - Der Anführer (Band 1)
Kruento - Der Diplomat (Band 2)
Kruento - Der Aufräumer (Band 3)
Kruento - Der Krieger (Band 4)
Kruento - Der Schleuser (Band 5)
Kruento - Der Informant (Band 6)
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Klappentext
Impressum
Kruento
Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Über die Autorin
Weitere Bücher
Kruento
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Die Chroniken von Usha
Cheetah Manor
Glossar
Mord gehört zu Sams Alltag, denn die junge Frau ist Detective bei der Bostoner Polizei. Und so wickelt sie auch ihren neuesten Mordfall routiniert ab - bis sie herausfindet, dass ihr Ex Leyton die Finger im Spiel hat.
Während sie ihren Ex beschattet, trifft sie in einem Nachtclub auf den charismatischen Darius. Zu ihm fühlt sie sich auf mysteriöse Weise hingezogen, obwohl sie noch etwas für Leyton empfindet.
Als ihre beste Freundin verschwindet, muss Sam alle Hebel in Bewegung setzen, um sie zu finden. Abermals läuft ihr Darius über den Weg, doch nicht nur er hütet ein düsteres Geheimnis. Auch Leyton scheint ihr gegenüber nicht ganz ehrlich zu sein.
Jedes Buch ist in sich abgeschlossen.
Die Reihe im Überblick:
Kruento - Heimatlos (Novelle)
Kruento - Der Anführer (Band 1)
Kruento - Der Diplomat (Band 2)
Kruento - Der Aufräumer (Band 3)
Kruento - Der Krieger (Band 4)
Kruento - Der Schleuser (Band 5)
Kruento - Der Informant (Band 6)
E-Book
2. Auflage August 2016
201-346-01
Melissa David
Mühlweg 48a
90518 Altdorf
Blog: www.mel-david.de
E-Mail: [email protected]
Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss
www.juliane-schneeweiss.de
Bildmaterial: © Depositphotos.com
Lektorat, Korrektorat:
Jana Oltersdorff
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form bedürfen der Einwilligung der Autorin.
Personen und Handlungen sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Der Anführer
Band 1
von
Melissa David
Lieber Leser,
dieses Buch enthält ein Glossar, das sich im Anschluss der Geschichte befindet. In diesem Glossar werden unbekannte Begriffe erklärt. Wenn du das Glossar vorab lesen möchtest, bitte hier klicken.
Im diesem Buch habe ich es so gehandhabt, dass ich Begriffe beim ersten Auftauchen ins Glossar verlinkt habe. In der Regel ist dieser unterstrichen. Beim Daraufklicken kommst du direkt zur Erklärung. Mit „zurück“ gelangst du dann wieder zur aktuellen Textstelle.
Ich hoffe, dir ist das Glossar eine Hilfe, um die Welt der Kruento besser zu verstehen. Solltest du technische Probleme haben, kannst du dich gerne unter [email protected] an mich wenden.
Du möchtest noch tiefer in die Welt von Kruento eintauchen? Auf meinem Blog findest du spannende Artikel mit Hintergrundinformationen über die Kruento.
Nun wünsche ich dir viel Spaß beim Lesen. Mache dich bereit und tauche ein in die Welt der Kruento.
Deine Melissa David
Sam stieg aus ihrem Wagen und warf die Tür hinter sich zu. Die Gegend sah heruntergekommen aus. An den Häusern bröckelte die Fassade ab, einige Fenster waren mit Holzbrettern zugenagelt, und die windschiefe Laterne, die nur spärlich die Gegend beleuchtete, neigte sich bedrohlich dem Boden entgegen. Neben ihrem Dodge, in den typischen weißblauen Polizeifarben, hielt ein schwarzer Chevrolet, dessen Seiten das Emblem des Bostoner Police Department zierte. Ein hochgewachsener Mann stieg aus. Er trug ein marineblaues Shirt mit den gelben Lettern der Forensic Science Division. Sein spärliches Haar war unter einer Kappe versteckt, die die gleiche gelbe Aufschrift wie sein Shirt trug.
„Hi Jeff! Wie geht es deiner Frau?“ Sie mochte Jeff Howard von der Spurensicherung, der vor einigen Monaten das erste Mal Vater geworden war. Er ließ sich mit Einschätzungen gerne viel Zeit, aber das, was er sagte, hatte Hand und Fuß, und deswegen schätzte sie ihn.
„Danke, bestens."
„Kommt ihr jetzt erst?“
Ihr Kollege schüttelte den Kopf. „Andrew ist schon hier und macht Fotos.“
„Gut.“ Sie blickte stirnrunzelnd hinüber zu der Absperrung des Tatorts, wo sich bereits eine kleine Menschentraube Schaulustiger versammelt hatte und überlegte einen Moment, auf Jeff zu warten, der zu seinem Kofferraum gegangen war und diverse Utensilien aus seinem Auto holte. Sam entschied sich dagegen. Sie war müde und wollte ihren Job schnell erledigen. Eigentlich war sie schon auf dem Weg nach Hause gewesen, als man sie an diesen Tatort gerufen hatte. Wind frischte auf, wehte ein paar vertrocknete Blätter zu ihr hinüber und ließ sie frösteln. Ein Grund mehr, sich zu beeilen. Gleichzeitig ärgerte sie sich, dass sie nichts Wärmeres als ein T-Shirt und ihre Lederjacke trug. Blinkendes Blaulicht erhellte rhythmisch die Umgebung und tauchte die abgelegene Gasse in ein unheimliches Licht. Die Straße war noch feucht, aber zum Glück regnete es nicht mehr. Sam seufzte, hängte sich ihren Ausweis um den Hals und steuerte auf den Officer zu, der mit einem Klemmbrett vor der Absperrung wartete, die Schaulustigen auf Abstand haltend.
Sie nickte ihm flüchtig zu, ergriff den Stift und trug ihren Namen in das Protokoll ein. Dann schlüpfte sie unter der Absperrung hindurch. Vor den alten Mehrfamilienhäusern im Kolonialstil sah sie bereits Andrew, der fotografierte. Etwas abseits davon stand eine Gruppe von Cops zusammen, die aufgeregt miteinander diskutierten. Ein kleiner, untersetzter Mann in der dunkelblauen Polizistenuniform trat auf sie zu. An seiner Schulter hing das Funkgerät bedrohlich schief, und Sam befürchtete, es könnte jeden Moment hinunter fallen. Er schob seine Schirmmütze nach hinten, und sie konnte an seinen ergrauten Schläfen erkennen, dass er mit Abstand der Älteste der Truppe war. Die drei anderen Cops waren etwa in ihrem Alter, einer von ihnen sah sogar aus, als käme er frisch von der Akademie. Er war am nervösesten, trat unsicher von einem Fuß auf den anderen und wagte es nicht, sie anzublicken.
„Detective Forster?“, fragte der grauhaarige Polizist ungläubig, als hätte er jemand anderen erwartet.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust und verzog spöttisch den Mund. Inzwischen war sie es gewohnt, erst einmal misstrauisch gemustert zu werden. Sie wusste genau, was er sah. Sam schämte sich nicht für ihr Aussehen, und es war ihr auch egal, dass sie mit ihren siebenundzwanzig Jahren noch recht jung für das Dezernat für Gewaltverbrechen war. Und noch weniger kümmerte es sie, dass sie eine Frau war. Sie war gut in ihrem Job. Darauf kam es an.
„Was gibt es?“ Ihr fragender Blick musterte die Umgebung.
Der Streifenpolizist zog wichtigtuerisch seinen Notizblock aus der zweiten Brusttasche und räusperte sich.
„Eine junge Frau. Anfang zwanzig vielleicht. Übel zugerichtet, richtig übel. Der Gerichtsmediziner meinte, jemand habe ihr die Kehle buchstäblich aufgerissen.“
„Welchen Pathologen haben sie geschickt?“, wollte Sam wissen, da sie niemanden von der Gerichtsmedizin sah.
„Dr. Westwood. Er hat sich bereits die Leiche angesehen, musste allerdings schon weiter zu einem anderen Fall.“
Sam nickte. Nicht alle aus der Gerichtsmedizin machten ihren Job so gut wie Abraham Westwood. Sehr beruhigend zu wissen, dass er für diesen Fall zuständig war.
„Was haben Sie bisher gemacht?“ Ihr Blick schweifte kurz hinüber zu den Streifenpolizisten. Inzwischen standen sechs von ihnen herum.
„Wir haben den Tatort gesichert, die Personalien der Zeugen aufgenommen, den Krankenwagen und die Gerichtsmedizin sowie die Spurensicherung und das Dezernat für Gewaltverbrechen informiert.“
Während sie sich auf den neusten Stand bringen ließ, folgte sie dem Cop weiter in die dunkle Gasse. Eine Straßenlaterne, die vor dem ehemals weißen, jetzt ergrauten mehrstöckigen Haus stand, war vollkommen ausgefallen und die wenigen Scheinwerfer, die hergeschafft worden waren, sowie die Beleuchtung der Streifenwagen erhellten die Straße nur notdürftig. Ein weiteres Absperrband versperrte den Weg. Mit einer geschmeidigen Bewegung schlüpfte sie unter dem gelben Plastikband hindurch und nahm aus dem Augenwinkel wahr, wie der Cop vor der Absperrung stehen blieb.
„Die Spurensicherung hat bisher nur Fotos von der Leiche gemacht. Vielleicht sollten Sie warten, bis auch der Tatort fotografiert worden ist.“
„Ich weiß, wie man sich an einem Tatort verhält“, erklärte sie ärgerlich und wandte sich dann der Leiche zu.
Es handelte sich um eine junge Frau mit blonden Haaren und eingefallenen Wangen. Die weit aufgerissenen Augen starrten anklagend in den Himmel. Sam schluckte. Ein schwarzer Minirock war weit über die Hüften geschoben, und der weiße Tanga, den sie darunter trug, hing nur noch in Fetzen an ihr. Das knappe Oberteil war blutüberströmt, aber nicht verrutscht. Durch die blutigen Flecken glitzerte es silbern, wenn das Blaulicht darüber strich. Ihre Hände wiesen Kampfspuren auf. Einige der langen Nägel waren abgebrochen, ihre Handgelenke bläulich verfärbt, und die linke Hand sah unnatürlich verdreht aus. Vermutlich hatte sie sich gegen ihren Angreifer gewehrt. Leider vergebens, wie ihre zerfetzte Kehle bewies. Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend wandte Sam sich ab. Welche Qualen die Frau wohl in ihren letzten Minuten hatte erleben müssen?
Betroffen blickte Sam zur Seite. Seit einem Jahr arbeitete sie für die Mordkommission, und hatte in dieser Zeit schon viel gesehen. An den Anblick der Leichen hatte sie sich jedoch noch immer nicht gewöhnt.
Angestrengt versuchte sie, etwas zu erkennen und ging ein paar Schritte weiter in die finstere Sackgasse hinein, peinlich darauf bedacht, keine Spuren zu verwischen. Sie spähte angestrengt in eine Ecke hinüber, erkannte aber nichts in der Dunkelheit.
Ihrem Instinkt folgend, ging sie näher, sah eine zerbrochene Holzpalette und einige herumliegende Kartons, sonst nichts. Gerade wollte sie sich wieder abwenden, als sie etwas innehalten ließ. Seitlich, halb versteckt hinter einem Karton, lag ein Gegenstand. Sam zog einen Einmalhandschuh aus ihrer Gesäßtasche und streifte ihn sich über. Zögernd, nicht scharf darauf, Bekanntschaft mit dem herumliegenden Unrat zu machen, griff sie nach dem Ding. Eine Jacke. Um genau zu sein, eine schwarze Damenjacke, für die Jahreszeit eigentlich viel zu dünn. Mit ein paar geübten Handgriffen durchsuchte sie das Beweisstück. Nichts. Weder Ausweis, noch Schlüssel oder sonst ein Hinweis auf die Identität der Besitzerin.
„So ein Mist“, murmelte Sam vor sich hin. „Das wäre auch zu schön gewesen.“
Sie winkte Jeff zu sich, der das Kleidungsstück eintütete.
„Detective Forster, einer der Zeugen lässt fragen, ob er seine Aussage jetzt gleich machen kann. Er hat wohl noch einen wichtigen Termin“, erklärte ihr der grauhaarige Gesetzeshüter, dessen Funkgerät inzwischen an seinem Gürtel, gleich neben der Waffe, hing.
Sam sah sich noch ein letztes Mal um, vergewisserte sich, dass sie nichts übersehen hatte, und ließ sich vom Polizisten zu den Zeugen führen, die außerhalb der Absperrung bei einem anderen Cop warteten.
Es waren genau drei Zeugen. Zwei junge Mädchen, die noch etwas blass um die Nase wirkten, und ein kleinerer Mann, der ihr den Rücken zuwandte.
„Mr. Hendersen hier hat noch einen Termin“, erklärte der Officer. Sam bedankte sich knapp und trat auf den Mann zu.
„Danke, dass Sie noch hier sind. Ich bin Detective …“ Die nächsten Worte blieben ihr im Hals stecken, als sie den stämmigen Mann erkannte. Ihr Mund war trocken, die Kehle wie zugeschnürt. „Leyton?“, presste sie angespannt heraus.
„Sam“, antwortete der Mann ruhig.
Ungläubig blinzelte sie, doch er verschwand nicht. Noch immer stand er vor ihr. Er hatte sich verändert. Insgesamt war er breiter geworden, nicht dick, eher muskulöser, als hätte er viel trainiert. Die Falten in seinem Gesicht waren etwas tiefer geworden, ebenso die Furchen auf der fliehenden Stirn. Hatte er früher mehr Haare gehabt? Die breite Nase und das markante Kinn erinnerten sie immer noch an einen Boxer. Ja, das war Leyton. Unverwechselbar stand er mit einer abgetragenen Lederjacke vor ihr. Und noch immer überragte sie ihn um einige Zentimeter. Jetzt lächelte er sie an und sein Lächeln war noch umwerfender, als sie es in Erinnerung hatte. Ein Kribbeln machte sich in ihrer Magengegend breit, ließ ihre Knie weich werden.
„Was machst du hier?“ Ungläubig starrte sie ihn an. Ihr erstes Zusammentreffen war eine Ewigkeit her. Sie war Leyton begegnet, als sie gerade mit der Ausbildung anfing und hatte sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Er war nicht nur nett, sondern half ihr auch, sich in den ersten Monaten auf der Polizeiakademie zurechtzufinden. Zu dieser Zeit stand er kurz vor seiner letzten Prüfung. Schon damals war Leyton anders als alle anderen Männer, die sie kannte. Er war weder übermäßig gutaussehend noch besonders intelligent und hatte trotzdem etwas Anziehendes an sich.
„Ich bin dein Zeuge“, half er ihr auf die Sprünge. Im Gegensatz zu ihr schien er nicht im Mindesten davon überrascht zu sein, sie hier anzutreffen. Sein scharfer Blick musterte sie von oben bis unten.
„Du siehst gut aus.“ Sam schluckte. Unwillkürlich erinnerte sie sich daran, wie es sich angefühlt hatte, ihren Körper an seinen zu pressen. Himmel, woran dachte sie? Beschämt über ihre Gedanken kaute sie auf ihrer Unterlippe.
„Danke“, brachte sie gepresst heraus.
Ja, es war wirklich lange her. Es erschien ihr wie eine Ewigkeit. Zuerst waren sie nur essen gegangen und dabei gute Freunde geworden. Doch dann hatten sich ihre Gefühle füreinander geändert, waren tiefer geworden. Bei Leyton hatte sie sich das erste Mal als richtige Frau gefühlt – begehrt und umworben. Es war ihre erste längere Beziehung, und der Sex mit ihm war, im Gegensatz zu den flüchtigen Teenager-Bekanntschaften, der Himmel auf Erden gewesen. Die Erinnerungen an damals ließen ihr Herz auch jetzt wieder schneller schlagen. Sie hatte immer geglaubt, er sei der Mann ihres Lebens. Aber eines Tages war er einfach nicht mehr bei ihr aufgetaucht. Seine Wohnung war leer und Leyton spurlos verschwunden gewesen. Erst hatte sie ihn in Schutz genommen und nach Entschuldigungen gesucht. Nachdem ihr diese ausgegangen waren, kam die unbändige Wut, gefolgt von Hilflosigkeit und Trauer. Und eines Tages hatte sie beschlossen, nicht mehr an ihn zu denken. Dieser Lebensabschnitt war vorbei. Jetzt, Jahre später, war sie lange über ihn hinweg, hatte sie bisher zumindest gedacht. So wie über alle anderen Männer, die es bisher in ihrem Leben nach Leyton gegeben hatte.
„Sie kennen sich?“, fragte der Polizeibeamte verdutzt. Augenblicklich kehrte Sam in die Realität zurück.
„Wir waren zusammen auf der Polizeiakademie.“ Sie blickte Leyton immer noch an, während sie den Officer aufklärte. „Bringen wir es hinter uns.“ Mit einem Kopfnicken deutete sie in Richtung ihres Dodges, der hinter der nächsten Ecke parkte. Sam brauchte einen klaren Kopf und hoffte, dass ihr ein paar Schritte helfen würden. Davon abgesehen wollte sie mit Leyton alleine reden, ohne dass ein Streifenpolizist danebenstand und seinen Senf dazugab.
Sie konnte spüren, wie Leyton ihr folgte, fühlte seine Anwesenheit bei jeder Bewegung. Im Scheinwerferlicht eines Polizeiwagens, einige Meter von ihrem eigenen Fahrzeug entfernt, blieb sie stehen und wandte sich zu Leyton um.
„Du hast es also geschafft“, kam er ihr zuvor, ehe sie die erste Frage stellen konnte.
Befangen drehte sie sich ein wenig von ihm weg, sah hinüber zu den Schaulustigen, die, angezogen von dem Spektakel, immer mehr wurden. Er hatte sie aus dem Gleichgewicht gebracht, und das gefiel ihr überhaupt nicht. „Ich würde gerne anfangen. Meine Zeit ist knapp“, versuchte sie auszuweichen. Aus ihrer Brusttasche holte sie den kleinen Notizblock und einen Stift.
„Bist du allein hier?“, hakte er nach.
Unvermittelt blickte sie ihn jetzt an, zog scharf die Luft ein. „Dir bin ich keine Rechenschaft schuldig.“ Inständig hoffte Sam, dass sie sich nicht so kläglich anhörte, wie sie sich fühlte. Er zog wortlos eine Augenbraue nach oben, blickte sie streng an.
„Es ist lange her, Leyton“, seufzte sie resigniert.
„Ja, ich weiß.“ Seine Stimme war nur noch ein leises Flüstern. „Es tut mir leid.“
Gerade noch rechtzeitig trat sie einen Schritt zurück, um seiner Hand auszuweichen und keuchte erschrocken. Er hatte kein Recht, sie anzufassen, sie auf diese vertraute Art zu berühren.
Leyton wirkte enttäuscht und zog sich fast unmerklich von ihr zurück. Seine Hände vergrub er in den Hosentaschen.
„Was hast du hier gemacht?“ Sie war froh, dass ihre Stimme jetzt fester klang. Ihr entging nicht, wie er zögerte, um zu überlegen, was er ihr antworten sollte.
„Nichts Wichtiges.“
Sam sah von ihrem Notizblock auf und suchte in seinen Augen nach Antworten. Er erwiderte ihren Blick. Innerlich wehrte sie sich dagegen und versuchte, ihre Aufmerksamkeit auf den dunklen Asphalt zu ihren Füßen zu lenken. Sie sammelte sich und sah ihn abermals an, um ihre Frage zu wiederholen.
„Was hattest du hier zu suchen?“ Es schien, als ob er seine Hände noch tiefer in den Taschen vergrub.
„Ich arbeite jetzt als Privatdetektiv.“ Entgeistert starrte sie ihn an. Leyton ein Privatdetektiv? Das passte nicht. Unmöglich. Sie hatte schon öfter mit Menschen dieser Berufsgruppe zu tun gehabt und konnte sich Leyton in diesem Job einfach nicht vorstellen. Was war vorgefallen, dass er seine Karriere bei der Polizei aufgegeben hatte? Oder hatte er sie sogar aufgeben müssen?
„Ich war wegen eines Auftrags hier. Mehr kann ich dir nicht sagen.“ Er musste ihre Verblüffung gesehen haben, ging jedoch glücklicherweise nicht darauf ein. „Weil ich etwas hörte, ging ich in die Gasse, sah aber nur einen Schatten, der verschwand, als ich näher kam.“
Sie sah ihn skeptisch an.
„Etwas Schwarzes, vermutlich männlich, zwei Meter groß. Ich habe kein Gesicht gesehen.“
Sam glaubte ihm kein Wort, notierte sich trotzdem brav die Stichpunkte auf ihrem Block. Kein ausgebildeter Polizist – und das war Leyton, egal ob er jetzt als Privatdetektiv arbeitete oder nicht – würde eine so ungenaue Beschreibung abgeben. In ihrem Beruf war man geschult, auch auf die kleinsten Details achtzugeben, erschienen sie auch noch so unbedeutend.
„Geht es etwas genauer?“
„Nein, ich habe nicht mehr gesehen.“
„Das glaube ich dir nicht.“
„Verdammt, Sam, es ist stockdunkel, man sieht kaum seine Hand vor Augen. Was bitte soll ich hier gesehen haben?“ Er machte eine ausladende Handbewegung und zeigte auf die Umgebung um sie herum. Die Leichtigkeit, mit der er sich bewegte, verblüffte Sam noch immer. Trotz seines breiten Erscheinungsbildes waren seine Bewegungen geschmeidig.
„Es ist spät, ich bin müde.“ Er fuhr sich über das stoppelige Kinn. „Ich habe nicht mehr gesehen. Als ich ankam, war die Frau schon tot. Ich konnte ihr nicht mehr helfen. Es war zu spät.“ Bedauern schwang in seiner Stimme mit und etwas anderes, etwas Undefinierbares.
„Hast du sie angefasst? Den Puls gefühlt?“
Jetzt war es Leyton, der sie fassungslos anstarrte.
„Hast du die Leiche gesehen?“, wollte er irritiert wissen. „Ihre Kehle war zerfetzt. Warum hätte ich da ihren Puls fühlen sollen?“
Sam schloss für einen Moment die Augen. Ihre Professionalität löste sich schon wieder in Luft auf.
„Und nein, ich habe sie nicht angefasst. Auch wenn ich als Privatdetektiv arbeite, gewisse Dinge habe ich nicht vergessen.“
Langsam ließ sie die Hände sinken. Mit der Rechten umfasste sie den Stift so krampfhaft, dass es wehtat.
„So war das nicht gemeint.“
„Sie war schon tot. Ich hätte nichts mehr für sie tun können, selbst wenn sie noch gelebt hätte.“ Er beruhigte sich wieder.
„Ist das alles?“
Er nickte stumm.
„Okay, dann brauche ich noch deine persönlichen Angaben.“ Erneut hob sie den Block und fügte entschuldigend hinzu: „Für das Protokoll.“
„Warte, ich gebe dir eine Visitenkarte.“
Sam nickte und steckte ihr Schreibzeug ein. Leyton kramte in den Innentaschen seiner Lederjacke und zog schließlich ein kleines Kärtchen hervor. Zögernd nahm sie es entgegen, peinlich darauf bedacht, ihn nicht zu berühren. Einen hastigen Blick auf die Visitenkarte konnte sie sich nicht verkneifen. Da stand zweifelsfrei Leytons Name in Verbindung mit einer Privatdetektei hier in Boston.
„Sind wir fertig?“ Seine Stimme klang angespannt.
„Ja.“
„Gut, wenn du noch Fragen hast, weißt du ja nun, wo du mich finden kannst.“
„Hmm …“, murmelte sie eine undeutliche Antwort.
Hastig, fast so, als wollte er flüchten, eilte er davon. Nach ein paar Schritten drehte er sich dann noch einmal um und blickte sie direkt an.
„Schade, dass wir uns unter diesen Umständen wiedergetroffen haben. Ich wünschte, es wäre anders gekommen.“ Nachdenklich nickte sie, unfähig etwas dazu zu sagen. „Mach's gut“, verabschiedete er sich leise.
Er wartete noch einen Augenblick. Als sie jedoch weiterhin schwieg, verschwand er endgültig. Sam blickte ihm hinterher, selbst als er schon lange in der dunklen Nacht verschwunden war.
Das Opfer, Ashley Simons, wie Sam inzwischen wusste, war gesäubert worden und lag auf dem sterilen Obduktionstisch der Gerichtsmedizin. Dr. Westwood begann, die Leiche genauer zu untersuchen, während Sam ungeduldig danebenstand. Sie hatte den Gerichtsmediziner darum gebeten, sie zu informieren, wenn er mit der Autopsie begann. Da Ashley Simons nicht die einzige Leiche in Boston war, die auf eineObduktion wartete, konnte es bis zu einer Woche dauern, bis der Pathologe ihr erste Ergebnisse lieferte. Sam war Dr. Westwood dennoch dankbar, dass er auf ihr Drängen hin noch an diesem Abend Zeit gefunden hatte, die Untersuchung durchzuführen. Schließlich lag Ashleys Tod inzwischen drei Tage zurück. Mit der äußeren Untersuchung war der Mediziner fast fertig. Peinlich genau hatte er Größe, Gewicht, Ernährungszustand und Hautkolorit sowie Lokalisation und Farbe der Totenflecke und den Ausprägungsgrad der Totenstarre dokumentiert. Dann hatte er nach Hautveränderungen wie Narben, Pigmentflecken und Tätowierungen gesucht, jedoch nichts Auffälliges gefunden. Schließlich wandte er sich der zerfetzten Kehle zu, die augenscheinlich die Todesursache war.
„Sehen Sie das, Detective Forster?“
Sam beugte sich über die Leiche und starrte auf die Stelle, die ihr der Pathologe zeigte.
„Was meinen Sie, Doc?“ Sie schaute zu dem hochgewachsenen Mediziner, der wasserdichte Kleidung, Handschuhe sowie Kopfbedeckung und Mund-Nasen-Schutz trug. Die Schutzbrille lag neben seinen Werkzeugen, und Sam wusste, dass er sie aufsetzen würde, bevor er begann, den Leichnam zu öffnen.
„Die Halsschlagader ist verletzt. Regelrecht herausgerissen. Sehen Sie die ausgefransten Ränder? Das war kein Mensch. Das sieht mehr nach einem Tierangriff aus, von einem richtig großen Tier.“
„Vielleicht ein Wolf?“, überlegte Sam laut.
Dr. Westwood schaute nicht zu ihr auf, griff sich eine lange Pinzette und inspizierte die Wunde genauer.
„Ein Wolf in Boston, dazu noch frei herumlaufend? Was haben Ihre Zeugen berichtet?“
Sam zog ihren Notizblock aus der Tasche und blätterte darin. „Der Zeuge sagte, er hätte einen Schatten gesehen, etwa zwei Meter groß. Es war zu dunkel für eine nähere Beschreibung. Von der Größe her kann man wohl eher auf einen Mann schließen.“
„Aha …“, kommentierte der Mediziner ihre Worte. „Ich kann die Bissspuren noch nicht näher bestimmen, aber einen Menschen kann ich mit Sicherheit ausschließen.“
Nachdenklich starrte Sam auf die Tote. Etwas passte nicht – ganz und gar nicht. Leytons Aussage stimmte mit den Beweisen nicht überein.
„Haben Sie keine Zeugen, die Sie dazu befragen können?“, erkundigte Dr. Westwood sich, während er noch immer an der Leiche herumstocherte.
„Die Mädchen haben leider nichts gesehen. Sie haben nur die Schreie des Opfers gehört und gesehen, wie der Privatdetektiv in die Gasse lief. Daraufhin haben sie die Polizei gerufen.“
„Und der Privatdetektiv?“, erkundigte sich Dr. Westwood.
Sam blätterte erneut in ihrem Block und hielt schließlich Leytons Karte in der Hand. „Den werde ich jetzt aufsuchen.“ Sie lächelte den Gerichtsmediziner an. „Wann kann ich Ihren Bericht auf dem Schreibtisch haben?“
Nach kurzem Zögern meinte er: „Nun ja, ich denke, im Lauf des morgigen Tages.“
Das passte ihr gut. Morgen hätte sie zwar frei, würde aber am Nachmittag im Büro vorbeischauen, denn der kuriose Fall machte sie doch sehr neugierig.
Sie drehte sich um und blickte auf die Uhr. Es war schon ziemlich spät, trotzdem wollte sie Leyton noch aufsuchen. Er hatte ihr etwas verschwiegen, darauf würde sie jede Wette eingehen.
„Ich muss los“, verabschiedete sie sich hastig und machte sich auf den Weg.
* * *
Eine halbe Stunde später saß Sam in ihrem Wagen und wartete. Sie hatte etwas weiter unten an der Straße geparkt, von wo aus sie eine gute Sicht auf das vierstöckige graue Haus hatte, in dem Leytons Detektei lag, ohne selbst gesehen zu werden. Im zweiten Stock, dort wo an den Fensterscheiben groß Detektei Hendersen stand, hatte sie Licht gesehen und daraus geschlossen, dass er noch arbeitete. Erst hatte sie überlegt, direkt zu ihm zu gehen, sich dann aber doch dafür entschieden, hier unten zu warten.
Es dauerte lange, bis das Licht ausging. Wenige Minuten später verließ Leyton das Gebäude. Sam hatte ihre Hand bereits am Türöffner, hielt aber kurz inne. Sie sah, wie Leyton sein Handy aus dem Mantel holte, kurz tippte und sich das Telefon ans Ohr hielt.
Anstatt auszusteigen, betätigte sie den Fensteröffner und ließ das Fenster halb herunterfahren. Als das elektrische Summen verstummte, schloss sie die Augen. Sie versuchte, sich in dem Wirrwarr von einzelnen Tönen, die an ihr Ohr drangen, auf Leytons Stimme zu konzentrieren. In letzter Zeit gelang es ihr immer besser, einzelne Geräusche auch über größere Entfernung herauszufiltern.
„Wo bist du, Younes?“, hörte sie ihn fragen. Einige Sekunden Stille. „Warte einfach, ich bin gleich bei dir. Mach bitte keine Dummheiten wie neulich Nacht. Die Polizei war verdammt schnell da. Ich will nicht, dass der Bastard uns noch mal entwischt. Diesmal müssen wir ihn kalt machen!“
Erschrocken riss Sam die Augen auf und starrte aus ihrem Versteck zu Leyton hinüber. Kannte er den Mörder nicht nur, sondern deckte er ihn auch noch? So hatte sie Leyton noch nie reden hören, und das machte ihr Angst. Was hatte er nur vor?
In aller Eile klappte er das Handy wieder zu, schaute sich vorsichtig um und stieg hastig in seinen alten VW, der direkt vor dem Haus parkte. Zum Glück schien er sie und das Polizeiauto nicht bemerkt zu haben, und so heftete sie sich in sicherer Entfernung an seine Fersen. Quer durch die Stadt ging die heimliche Verfolgungsjagd bis nach North End. Leyton bog in eine Seitenstraße, worauf sie den Abstand noch etwas größer werden ließ. Als sie sah, dass er seinen blauen VW abgestellt hatte und in einem Gebäude verschwand, parkte sie ebenfalls.
Aus sicherer Entfernung beobachtete sie das Haus, in dem Leyton verschwunden war. Der Putz bröckelte an einigen Stellen bereits ab, und die beige Farbe hatte auch schon bessere Tage gesehen. Lediglich das grelle Leuchtschild mit der Aufschrift Night Shark über dem Eingang ließ erkennen, dass in diesem schmucklosen Haus ein Nachtclub untergebracht war.
Sollte sie hier auf Leyton warten? Sam beschloss, ihm zu folgen. Sie sah an sich hinunter. Schwarzes Shirt, Bluejeans und dunkle Jeansjacke. Nicht gerade das perfekte Outfit, aber es musste reichen. Wenn nicht, würde ihre Dienstmarke als Eintrittskarte fungieren müssen. Mit einem unguten Gefühl stieg sie aus und ging auf den Club zu.
Eine enge, spärlich beleuchtete Treppe führte hinunter in einen großen Raum. Der Gestank von Schweiß und Alkohol schlug ihr entgegen. Alle, die aus anderen Clubs der Stadt hinausgeworfen oder überhaupt nicht eingelassen worden waren, schienen hier zusammengekommen zu sein. Sam sah einige ziemlich junge Mädchen mit zu viel Schminke und zu wenig Kleidung, die eigentlich um diese Uhrzeit längst in ihren Betten hätten liegen müssen. Viele Studenten waren hier, die ausgelassen feierten. Weiter hinten entdeckte sie einige in die Jahre gekommene Prostituierte, die ihr Glück bei den älteren Herren, mit spärlichem Haar und deutlichem Bauchansatz, versuchten.
In knallrot gepolsterten Kunstledersitzgruppen saßen Menschen beisammen, lachten und unterhielten sich. Auf der Tanzfläche vergnügten sich nur Wenige. Das Zentrum des Raumes bildete eine lange, gut besuchte Bar. Die davor aufgereihten Hocker waren fast alle besetzt.
Sam sah sich suchend um, konnte Leyton aber nirgends ausmachen. Sie stand da und überlegte, ob sie nicht doch lieber umkehren sollte, als sie von hinten angerempelt wurde.
„Entschuldigung“, hörte sie eine tiefe männliche Stimme, die ihr ein Schaudern über den Körper jagte. Abrupt drehte sie sich um und starrte eine breite, männliche Brust an. Als sie daran hochblickte, sah sie in saphirblaue Augen. Die Welt schien für einen Moment stillzustehen, und Sam hatte das Gefühl, in diesem unglaublich leuchtenden Blau zu versinken. Sie musste sich förmlich zwingen, woanders hinzusehen. Unwillig gestand Sam sich ein, dass sie beim Anblick dieses Mannes weiche Knie bekam. Das war ihr ja noch nie passiert!
„Ich wollte dich nicht anrempeln“, entschuldigte er sich nochmals mit seiner samtweichen Stimme. Der Mann war so groß, dass sie ihren Kopf in den Nacken legen musste, um zu ihm aufzublicken. Die kinnlangen Haare umspielten das ebenmäßige, männliche Gesicht. Er hatte eine gerade Nase und schmale Lippen, die gerade zu einem unwiderstehlichen Lächeln geformt waren. Sam zitterte leicht, als sie mit aller Gewalt ihren Blick von dem Gesicht des Fremden löste und den Rest betrachtete. Er trug ein einfaches, schwarzes T-Shirt, das sich über seine breite Brust und die muskulösen Oberarme spannte. So wie er aussah, konnte er mit jedem Bodybuilder in Boston konkurrieren. Die festen Oberschenkel steckten in einer abgetragenen Jeans. Nur die teure Uhr und die dunkelbraunen Schuhe passten nicht so recht zu diesem legeren Outfit.
„Nichts passiert!“, murmelte sie irritiert und hoffte, dass sie ein Lächeln zustande brachte.
„Darf ich dich als Wiedergutmachung auf einen Drink einladen?“
„Gern“, hörte sie sich antworten, ehe sie darüber nachdenken konnte. Sie erschrak über sich selbst und spürte, wie ihr die Situation Stück für Stück entglitt.
„Ich bin Darius.“
Sam erschauderte leicht, als seine Finger sie berührten und er sie sanft Richtung Bar dirigierte. Jeder Gedanke, die leise warnende Stimme in ihrem Kopf, alles war wie weggeblasen.
„Sam. Ich bin Sam“, stammelte sie leise. Oh Gott, das war doch nicht sie. Mit ihren siebenundzwanzig Jahren hatte sie gedacht, endlich einigermaßen erwachsen zu sein und nicht beim Anblick eines gut aussehenden Mannes gleich in die Verhaltensweisen eines pubertierenden Teenagers zurückzufallen.
„Sam. Ein sehr schöner Name", raunte Darius in ihr Ohr. Beim Klang ihres Namens stellten sich ihre Nackenhaare auf. Er sprach ihn seltsam fremd aus, was ihr gut gefiel.
Sie waren an der Bar angekommen, und Darius bestellte für sie einen Cocktail. Es dauerte nicht lange, bis der Barkeeper fertig war. Sam war dankbar, sich am Glas festhalten zu können, und folgte Darius, der sie zu einer freien Sitzgruppe führte.
„Bist du mit jemandem verabredet?“, erkundigte er sich interessiert, während er sich neben sie setzte. Verwirrt blickte sie ihn an und sog am Strohhalm ihres Cocktails.
„Es sah so aus, als ob du jemanden suchen würdest“, erklärte er geduldig.
„Ja. Nein. Ich … Eigentlich wollte ich hier jemanden treffen. Aber … Sie sah verlegen auf ihre Armbanduhr und erschrak. Es war bereits halb elf. Die Zeit war einfach nur so dahin gerauscht, ohne dass sie es wahrgenommen hatte. „Ist nicht so wichtig“, beendete sie dann den Satz. Darius nickte und grinste sie an. Dieses Lächeln! Es war einfach unwiderstehlich. Sam überlegte, ob sie es sich nur einbildete oder ob er wirklich näher an sie herangerückt war. Ein angenehmes Kribbeln machte sich in ihr breit.
„Verdammt, Sam, was machst du hier?“ Grob wurde sie aus der Sitzecke gezogen und blickte verwirrt Leyton an, der sie geradezu panisch musterte.
„Hat der Kerl dir etwas getan?“, fragte er und betrachtete eingehend ihr Gesicht. Sie brauchte einige Sekunden, um zu realisieren, wer da vor ihr stand. Dann ärgerte sie sich, ihn zu sehen.
„Ich bin alt genug, um auf mich selbst aufzupassen.“ Entrüstet riss sie sich von ihm los und warf trotzig ihr Haar über die Schulter. „Zisch ab, Leyton, und lass mich in Ruhe!“
„Was hast du hier zu suchen?“, wiederholte er seine Frage.
„Ich amüsiere mich in meiner Freizeit", schleuderte sie ihm entgegen. Darius machte einen Schritt auf sie zu.
„Wenn du sie berührst, bring’ ich dich um, du Bastard.“ Wütend schaute Leyton ihn an, musste dabei weit nach oben schauen, da er Darius nur bis zur Brust ging. Abgrundtiefer Hass lag in seinem Blick. Das verwirrte sie. Hilfesuchend drehte sie sich zu Darius um und kam dabei gefährlich ins Wanken. Sie schloss die Augen und hob ihre Hand an die pochende Schläfe. Dankbar nahm sie wahr, wie Darius sie sanft in den Arm nahm und sich mit ihr setzte.
Vor ihren Augen drehte sich alles, als sie die Lider wieder öffnete, und in ihrem Kopf pochte es unaufhörlich. Lag das an der schlechten Luft hier drinnen, oder vertrug sie den Alkohol nicht? War vielleicht sogar etwas im Cocktail gewesen? Verdammt. Irgendwie war sie nicht Herrin ihrer Sinne.
„Ich habe ihr nichts getan.“ Ein herablassendes Lächeln umspielte Darius' wohlgeformte Lippen, als er sich mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung erhob und sich an Sam vorbei schob. „Und selbst wenn ich etwas getan hätte, würde dich das nichts angehen.“
Leyton zog hörbar die Luft durch seine breite Nase. Sein Oberkörper hob und senkte sich, die Hände waren neben seinem Körper zu Fäusten geballt, als ob es ihm schwerfiel, sich zu beherrschen.
Abwehrend hob Darius seine Hände.
„Ich habe nichts Verbotenes getan. Es ist nichts passiert. Aber wenn sie dir so wichtig ist, werde ich gehen. Ganz langsam und ruhig. Du willst bei so vielen Zuschauern doch kein Theater veranstalten.“
Darius musterte sein Gegenüber abschätzend. Leytons Lippen waren fest aufeinander gepresst und schienen vor Wut zu beben. Er schloss die Augen und rang offensichtlich um Fassung.
„Verschwinde! Komm ihr ja nicht mehr zu nahe. Sonst reiß’ ich dich in Stücke“, bedrohte er Darius.
Benommen saß Sam da und versuchte, dem Wortwechsel zu folgen. Ihr Kopf fühlte sich an, als würde er jeden Moment explodieren. Das war definitiv nicht mehr normal. Darius war gerade im Begriff, sich zu ihr zu beugen.
„Fass sie nicht an!“, brüllte Leyton seinen Widersacher an. Darius zuckte mit den Schultern.
„Wie du möchtest, Inimicus“, zischte er, drehte sich mit einer geschmeidigen Bewegung um und verschwand in der Menge.
Leyton ließ sich neben Sam nieder und legte ihr besorgt einen Arm um die Schultern. Seine Aufmerksamkeit war nun ganz auf sie gerichtet.
„Ist mit dir alles in Ordnung, Sam?“ fragte er ernsthaft besorgt.
„Außer, dass mir der Schädel dröhnt, geht es mir ausgezeichnet", wisperte sie. Sie hatte ihn gesucht, weil es einige Fragen gab, die sie Leyton stellen wollte, aber irgendwie war in ihrem Kopf nichts als Leere.
„Komm, ich bring dich nach Hause.“ Leyton half ihr auf. Dankbar lehnte sie sich gegen ihn. Den aufkeimenden Drang, sich von ihm loszumachen und selbstständig den Club zu verlassen, verwarf sie gleich wieder, als sie merkte, wie sie schwankte. Ergeben ließ sie sich von ihm durch die dichte Menschenmenge in Richtung Ausgang führen und war froh, dass sein kräftiger Körper sie vor den meisten Stößen schützte. Bei jeder Erschütterung hatte sie das Gefühl, ihr Gehirn würde in Einzelteile zerspringen. Was war nur mit ihr los?
Die Treppe aus dem Club schien nicht enden zu wollen. Dann endlich hatten sie die Straße erreicht. Sams Lungen füllten sich mit frischem Sauerstoff, und auch ihr Verstand wurde langsam etwas klarer. Leyton schwieg, als er mit ihr im Arm auf sein Auto zusteuerte.
„Ich habe mir Sorgen um dich gemacht“, begann er vorsichtig. Trotz ihrer Erschöpfung musste Sam ein wenig schmunzeln.
„Ich bin alt genug, um auf mich selbst aufzupassen“, wiederholte sie ihre Worte aus dem Club.
Stumm nickte er.
Es war deutlich kälter geworden, und Sam war froh, dass sie heute Morgen eine Jacke angezogen hatte. Ihr Blick glitt Richtung Himmel. Einige Sterne waren zu sehen, und die winzige Sichel des Mondes kündigte den baldigen Neumond an. Die Nacht mit ihren Gestirnen zeugte von wiederkehrender Beständigkeit und war genau das, was sie in ihrem Leben brauchte. Sobald es dunkel wurde, fühlte sie sich sicher und seltsam geborgen. Irrsinn und sinnloser Tod, die ihr fast täglich begegneten, schienen ihr dann nichts mehr anhaben zu können.
An seinem alten VW angekommen, öffnete Leyton die Zentralverriegelung und ließ Sam auf der Beifahrerseite einsteigen.
„Wir sind gleich bei dir zu Hause“, meinte er zu ihr, während er sich auf der Autotür abstützte und zu ihr herunterbeugte.
„Mir geht es schon viel besser. Ich kann auch allein nach Hause fahren“, warf sie ein. „Mein Auto steht gleich da drüben.“ Sie deutete auf die dunkle Gasse, wo sie ihren Dodge geparkt hatte.
Ihr Kopf war tatsächlich wieder erstaunlich klar, der pochende Schmerz verschwunden. Und wenn sie nun darüber nachdachte, war ihr die Vorstellung, sich von Leyton nach Hause fahren zu lassen, eher unangenehm. Sie wusste, dass er als Privatdetektiv keine Probleme haben würde, ihre Adresse herauszufinden, wenn er es nicht schon längst getan hatte. Trotzdem war es ihr peinlich, sich von ihm vor die Haustür kutschieren zu lassen wie ein unmündiges Kind.
Leyton schüttelte den Kopf: „Kein Problem, Sam.“
Er stieß die Wagentür zu und schlenderte gemütlich um den VW herum. Gerade, als Leyton sich in den weichen Autositz neben ihr fallen ließ, hörten sie einen Schrei.
„Warte hier und beweg’ dich nicht von der Stelle!“ Leyton warf ihr einen warnenden Blick zu und stieg rasch aus. Sam hörte die gedämpften Schritte, als Leyton in der Dunkelheit verschwand.
Erschrocken blieb sie sitzen. Sie brauchte mehrere Minuten, um die Situation zu durchdenken. So wach, wie sie gedacht hatte, war ihr Verstand nämlich noch nicht. Sie musste Leyton folgen! Sie tastete nach ihrer Waffe und war erleichtert, den Pistolengriff zu spüren – nur für alle Fälle. Jemand brauchte Hilfe, sonst hätte er nicht geschrien. Und sie war ein Cop. Es war ihr Job, Menschen in Not zu helfen. Entschlossen öffnete sie die Beifahrertür und stieg aus. Eilig folgte sie Leyton, der hinter dem Club verschwunden war. Ihr Gehör arbeitete auf Hochtouren. Sie lauschte den Stimmen und versuchte, die von Leyton herauszufiltern. Doch vergeblich, sie konnte ihn nicht hören. Dafür wurden ihre Schritte immer schneller. Hektisch blickte sie sich in einem leeren Hinterhof um. Hier gab es keine Straßenlaterne, die das Kopfsteinpflaster hätte erhellen können. Nur das spärliche Mondlicht ließ in der Finsternis einige Umrisse erahnen. Ihre Augen brauchten nicht lange, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Jetzt sah sie die überlaufenden Mülltonnen, die erbärmlich stanken, und einige alte Holzpaletten – sonst nichts.
Sie rannte weiter, hätte fast den schmalen Trampelpfad, der zwischen zwei riesigen Häusern vorbeiführte, übersehen und landete in einem weiteren Hinterhof, wo eine kleine, defekte Leuchtreklame unrhythmisch flackerte. Als sie Leyton erblickte, blieb sie abrupt stehen und war zuerst erleichtert. Doch etwas ließ sie inne halten. Langsam näherte sie sich. Leyton stand breitbeinig, in Kampfstellung da. In seiner rechten Hand hielt er etwas. Sam konnte nicht genau erkennen, was es war. Sie hatte allerdings auch keine Zeit, einen zweiten Blick darauf zu werfen. Die Gestalt, die Leyton gegenüberstand, zog ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich. Der Mann war bestimmt zwei Meter groß und ganz in schwarz gekleidet, sodass er sich von seiner düsteren Umgebung kaum abhob. Sein Körper war lauernd vorwärts gebeugt, als wollte er jeden Moment nach vorne schnellen und Leyton angreifen. Doch das, was Sam am meisten schockierte, war das Gesicht des Angreifers. Er hatte dunkle, kurz geschorene Haare. Seine Augenbrauen waren zusammengekniffen. Er fixierte Leyton. Die Augen leuchteten in einem seltsamen Grau – unmenschlich. Extrem lange Eckzähne blitzten aus seinem Mund. Sam konnte sich nicht von der Stelle rühren, starrte das bizarre Wesen mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen an. Ihr fielen keine Worte ein, um das zu beschreiben, was sie da sah. Es war ihr unmöglich, den Blick von diesen monströsen Zähnen abzuwenden.
Vampir! Endlich hatte sie etwas gefunden, was das Ding vor ihr beschrieb. Der Angreifer war ein Vampir. Nein, das war unmöglich, schrie ihr der Verstand entgegen. Das waren Märchen, Mythen, alte Legenden und vor allem nicht real – bis jetzt. Doch das unmenschliche Glühen und die langen Eckzähne verschwanden nicht. Er würde Leyton umbringen. Ihr Kopf sagte ihr, sie müsse ihm helfen, doch es war ihr unmöglich, auch nur den kleinen Finger zu rühren.
Unfähig, sich zu bewegen, musste sie zusehen, wie das Wesen mit übernatürlicher Schnelligkeit auf Leyton zuschoss. Dieser wich aus und ließ seinen Gegner ins Leere laufen. Etwas in Leytons Hand blitzte auf. Sam wusste nun, was es war, hatte das kleine Messer in seiner Hand erkannt. Adrenalin durchströmte ihren Körper, und Panik machte sich breit. Sie musste Leyton helfen! Sie sollte ihre Waffe ziehen und den Angreifer daran hindern, erneut auf Leyton zuzustürmen. Denn genau das geschah in diesem Moment. Trotz der Dunkelheit konnte Sam sehen, wie das bizarre Wesen mit Leyton zu Boden fiel, ihn unter sich begrub. Sams Mund öffnete sich zu einem stummen Schrei. Selbst ihre Stimme versagte den Dienst. Etwas knackte laut, vermutlich brechende Knochen. Leyton stöhnte, sein Gegner knurrte. Dann war es still. Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis Leyton den schweren Körper, der regungslos auf ihm lag, neben sich wuchtete. Leblos fiel er auf den Rücken. Blut strömte aus einer Wunde in seiner Brust. Die Augen leuchteten nicht mehr. Er war tot.
Ein Zittern ging durch Sams Körper. Sie war Zeuge eines Mordes geworden. Sie musste Leyton verhaften. Nein, halt. Leyton hatte in Notwehr gehandelt, korrigierte sie sich. Einen Notarzt rufen, um den Tod des Wesens festzustellen. Nein halt! Wenn dieses Wesen kein Mensch war, hatte Leyton auch keinen Mord begangen. Ihr Kopf war voll mit wirren Gedankenfetzen, die sie nicht nur in ihren Bewegungen lähmten, sondern auch ihren klaren Menschenverstand trübten.
Orientierungslos sah sie sich um, erkannte den großen Kleiderschrank und das Poster an ihrer Zimmertür, das für die Polizeiakademie warb. Sie befand sich in ihrem Schlafzimmer, in ihrem Bett. Noch immer trug sie die Kleidung vom Vortag; lediglich Schuhe und Strümpfe hatte sie ausgezogen. Die Erlebnisse der letzten Nacht kamen ihr wie ein abwegiger Albtraum vor.
Glühende Augen. Fänge.
Sie lief zum Fenster.
Ein Messer. Kampfgeräusche. Brechende Knochen.
Die Vorhänge waren zugezogen, die Rollläden aber nicht heruntergelassen. Sam schob die Gardinen beiseite und musste unweigerlich blinzeln. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel und strahlte ihr direkt ins Gesicht. Ein Blick auf ihren Wecker verriet ihr, dass es längst Nachmittag war. Zum Glück hatte sie heute keinen Dienst.
Wie ferngesteuert ging sie in die Küche, setzte Kaffee auf und betrat anschließend das Bad, wo sie sich ihrer verschwitzten Kleidung entledigte. Als sie im Spiegel die dunklen Augenringe begutachtete, blitzten erneut Bilder in ihrem Kopf auf.
Leere Augen, die sie anklagend anstarrten: Ashley Simons.
Sie zitterte, musste sich am Waschbecken abstützen und brauchte einen Moment, ehe sie sich erneut im Spiegel ansah. Sie hatte die schreckliche Erkenntnis noch nicht verarbeitet. War es wirklich möglich, dass es Vampire gab? Ein Tier, so groß wie ein Mensch? Hatte Leyton die Wahrheit gesagt? Stimmten seine Aussagen doch mit den Beweisen überein?
Ihre Hände legten sich schützend um ihren Hals. War sie auch von einem Vampir gebissen worden? Abermals starrte sie ihr Spiegelbild an. Langsam zog sie erst die eine, dann die andere Hand von ihrer Kehle fort. Keine Bissspuren, keine Kratzer – unversehrt.
„Ich werde paranoid“, flüsterte sie zu sich selbst, schüttelte den Kopf und wandte sich ab.
Die Schiebetür quietschte leicht, als Sam sie zuzog. Gleich darauf strömte das Wasser über ihren verspannten Körper.
Obwohl sie die Wärme genoss, blieb sie nicht lange unter der Dusche, sondern stand kurz darauf in ein flauschiges Handtuch gehüllt in ihrer kleinen Küche und goss sich eine Tasse Kaffee ein. Gerade, als sie den Raum verlassen wollte, ertönte die Melodie von Mission Impossible, der Klingelton ihres Handys. Es musste noch in der Jacke sein, die über der Stuhllehne hing. Während sie in der einen Hand die Kaffeetasse balancierte, fischte sie mit der anderen nach dem Telefon. Ein Blick auf das Display mit einer völlig unbekannten Nummer ließ sie kurz innehalten.
„Ja?“, meldete sie sich.
„Hi Sam, ich vermute, du bist inzwischen wach. Ich bin bei dir um die Ecke und dachte … wir sollten vielleicht miteinander reden.“
Leyton. Sam schwieg, dachte kurz nach.
„Sam? Bist du noch da? Geht es dir gut?“, hörte sie Leytons besorgte Stimme.
„Ja.“ Natürlich hatte sie Gesprächsbedarf.
„Kann ich vorbeikommen? Wir sollten wirklich reden“, wiederholte er seinen Vorschlag.
„Ja“, antwortete sie.
Erneut blitzten ungewollte Bilder in ihrem Kopf auf, die ihr die Kehle zuschnürten.
„Ich bin in zehn Minuten da. Mach bitte keine Dummheiten. Keine Panik, ich werde dir alles erklären, okay?“
„Okay, bis gleich.“ Sie beendete das Telefonat und legte das Telefon auf den Tisch. Es war gut, dass Leyton vorbei kam. Sie hatten eine ganze Menge zu besprechen. Wieder hatte sie das Bild des toten Wesens vor Augen. Die Verletzung auf der Brust, das viele Blut. Der Appetit auf Kaffee war ihr gründlich vergangen. Ihr Magen rebellierte und sie fühlte sich, als hätte ihr jemand mit voller Wucht in den Bauch geschlagen. Sam kämpfte die Übelkeit hinunter. Sie musste die Erinnerungen ausblenden. Sich auf das Wesentliche konzentrieren. Ein Blick an ihrem Körper hinab rief ihr in Erinnerung, dass sie nicht mehr als ein Handtuch trug. In wenigen Minuten wollte Leyton da sein. Sam eilte in ihr Schlafzimmer, zog ihre bequemste Jeans an und schlüpfte in einen roten Rollkragenpullover. Im Badezimmer hängte sie das nasse Handtuch auf, kämmte ihre Haare durch und band die braunen Locken mit einem Haargummi zu einem losen Knoten im Nacken. Leyton gegenüber wollte sie zumindest den Eindruck vermitteln, dass sie das Geschehene der vergangenen Nacht gut wegsteckte und alles unter Kontrolle hatte. Auch sich selbst redete sie unentwegt ein, mit allem klarzukommen. Es gab nichts, was sie erschüttern konnte. So war es schon immer gewesen. Sie hatte sich stets alleine durchgeschlagen, kam mit jeder Situation zurecht, also auch mit dieser. Ein letzter entschlossener Blick in den Spiegel bestätigte ihr, dass sie völlig normal aussah.
Keine Minute zu früh, denn da klingelte es bereits an der Tür. Sam schenkte Leyton ein verkrampftes Lächeln, als sie ihn eintreten ließ. Er sah verdammt gut aus. Keine tiefen Augenringe oder blasse Wangen. Stattdessen strotzte er nur so vor Kraft und Ausgeglichenheit.
Sam bot Leyton einen Sitzplatz an.
„Möchtest du Kaffee?“, fragte sie ihn.
Aus den Augenwinkeln nahm sie sein Kopfschütteln wahr. In ihrer kleinen Küche wirkte er fehl am Platz. Von der Küchenzeile bis zu ihrem winzigen Tisch mit zwei Stühlen, brauchte sie gerade mal zwei Schritte. Der Küchenstuhl ächzte bedenklich, als Leyton sich in eine bequemere Position brachte. Sam ging an ihm vorbei und setzte sich geräuschlos auf den zweiten Stuhl. Verkrampft verschränkte sie ihre Finger.
Beide schwiegen. Leyton musterte sie eindringlich. Erwartete er von ihr, dass sie anfing zu erzählen?
„Ich bin dir gestern gefolgt, weil ich …“ Sie brach ab, schluckte, wusste nicht so recht, wie sie fortfahren sollte.
Leyton reagierte nicht, wartete auf mehr.
„Ich dachte mir, ich sollte dir vielleicht helfen. Schließlich bin ich Detective und du nur … Privatdetektiv. Ich habe dich gesehen. Dich und den Anderen.“ Sie machte eine kurze Pause. „Das Andere.“ Unbeholfen strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht, als sich das Erlebte ein weiteres Mal vor ihrem inneren Auge abspielte. Fänge schossen aus einem Mund hervor, Augen begannen in der Dunkelheit gefährlich zu glühen.
„Ich habe in meinem Leben schon viel gesehen, Leyton. Verdammt viele verrückte Dinge. Aber das …“ Die Verzweiflung in ihrer Stimme konnte sie nun nicht mehr leugnen. „Was war das gestern?“ Fest presste sie die Lippen aufeinander, hatte Angst, dass diese unkontrolliert zitterten. Die Hände zu Fäusten geballt, starrte sie an dem Privatdetektiv vorbei.
„Ein Vampir!“, erklärte er ohne Umschweife.
„Nein!“, brach es aus ihr heraus. Heftig schüttelte sie den Kopf. Das konnte nicht wahr sein. Nein, das durfte nicht wahr sein! Diese Vorstellung war einfach zu unglaublich. Vielleicht hatte sie sich das alles nur eingebildet …
„Das war nur eine Täuschung, nicht real.“ Es musste so sein.
Leyton schüttelte den Kopf.
„Ein Verrückter, ein Groupie“, versuchte Sam das Unglaubliche zu erklären.
Abermals verneinte Leyton. Sie spürte seinen fordernden Blick auf sich. „Sieh mich an, Sam!“ Seine Stimme war leise und eindringlich. Sie konnte gar nicht anders, als ihm Folge zu leisten. „Es war ein Vampir. Ich bin mir ganz sicher.“
Sam wurde klar, dass Leyton sie nicht anlog. Die Welt, wie sie sie bisher gekannt hatte, gab es nicht mehr.
„Sam.“ Er berührte sie sanft am Arm, erdete sie damit und brachte sie in die Realität zurück. Seine Stimme klang fest; sie gab ihr Halt und neue Kraft.
„Ich kann dich gut verstehen. Ich war auch geschockt, als ich das erste Mal einen Vampir sah. Ich dachte, ich drehe durch. Um ehrlich zu sein, steckst du das Ganze äußerst vernünftig weg.“
Sie nickte langsam.
„Was wollte dieser …?“ Sie brachte das letzte Wort nicht heraus.
„Vampir? Blut. Es geht immer um Blut. Die Viecher brauchen es zum Leben. Sie ernähren sich von Menschenblut. Sie töten Menschen. Das sind Bestien.“ Er spuckte das letzte Wort angewidert aus.
„Ich dachte, es wäre ein Mythos. Nicht real. Die Legenden von Vampiren, Werwölfen, Feen, Elfen …“
„Stopp, stopp, stopp!“, unterbrach Leyton sie energisch. „Nun mach mal halblang. Ich habe noch nie Werwölfe oder Elfen gesehen, und ich kann mir nicht vorstellen, dass es so etwas gibt.“
Sam war nun vollkommen verwirrt. „Ich dachte, Vampire seien auch nicht real. Zumindest bis gestern Nacht.“ Ihr Lächeln misslang gründlich.
„So, wie du dir Vampire vorstellst, sind es auch nur Fantasiewesen. Knoblauch, Kreuze oder Weihwasser sind völlig wirkungslos. Es wäre schön, wenn es so einfach wäre. Diese Blutsauger sind viel gefährlicher, als du dir vorstellen kannst. Raubtiere sind das, die sich durchaus auch bei Tag bewegen können – zumindest die Stärkeren unter ihnen. Sie sehen wie ganz normale Menschen aus, und ehe du dich versiehst“, er schlug mit der Faust auf den Tisch, und Sam zuckte bei dem Geräusch zusammen, „fallen sie über dich her und saugen dir das Blut aus den Adern.“
Sam bohrte ihre Fingernägel in die Handinnenflächen, lauschte gebannt Leytons Ausführungen.
„Nein, sie sind nicht tot, wie der Volksglaube uns weismachen möchte. Ihr Herz schlägt, sie leben und können durchaus getötet werden. Das muss man auch tun, denn im Blutrausch werden diese Bestien unberechenbar.“
„Woher weißt du das alles?“
Leyton zuckte mit den Schultern. „Man muss seine Feinde kennen, ihre Schwachstellen.“
Das leuchtete ihr ein, war jedoch keine Antwort auf ihre Frage.
Unterdessen erzählte Leyton weiter: „Früher waren die Vampire unsterblich. Durch die Jahrhunderte hat sich ihr Blut immer mehr mit dem der Menschen vermischt. Das schwächt sie, und das ist auch der Grund, warum sie nicht mehr so lange leben. Sie können aber immer noch sehr alt werden. Einige von ihnen gehörten zu den ersten Siedlern und leben heute noch immer.“
„Dann sind sie über vierhundert Jahre alt?“ Sam war sichtlich bestürzt. Die Vorstellung, dass jemand so lange leben konnte, war einfach unglaublich. Wie viele Menschen wünschten sich ein so langes Leben? Nahezu unsterblich zu sein, war mit Geld nicht zu bezahlen. Wenn das bekannt würde … Sam führte den Gedanken nicht zu Ende und wollte stattdessen wissen: „Und wie wird man zu einem Vampir?“
„Überhaupt nicht.“ Er lächelte sie schief an. „Vampirblut im Körper eines Menschen ist absolut tödlich. Jeder Wahnsinnige, der das versucht, bezahlt mit seinem Leben. Vampire werden als solche geboren. Sie bekommen dieses Gen von einem Elternteil oder gar beiden Eltern vererbt. In den ersten Jahren sind sie menschlich, aber irgendwann mutiert etwas in ihnen, und sie verwandeln sich in Vampire.“
Augenblicklich hatte sie wieder glühende Augen vor sich und erschauderte. Aber noch etwas anderes machte sich in ihr breit, was sie weit mehr beunruhigte. Diese Vampire übten eine unglaubliche Faszination auf sie aus, begleitet von dem Wunsch, diese Wesen noch einmal zu sehen. Wie aus weiter Ferne hörte sie Leytons Stimme.
„Nur dann kann Vampirblut einen zu einem richtigen Vampir wandeln. Die jungen Vampire sind noch schwach und leicht zu vernichten.“ Leyton lehnte sich nach hinten. Der Stuhl ächzte unter ihm bedrohlich, hielt jedoch immer noch stand.
Sie würde einige Zeit brauchen, um über das Gehörte nachzudenken, um es wirklich zu begreifen. Es kam ihr vor wie ein Traum, verzerrt und nicht real. Doch sie wollte mehr erfahren über die Welt dieser unglaublichen Geschöpfe.
„Was hat das mit dir zu tun? Wie steckst du in der Sache mit drin?“
„Ich bin ein Vampirjäger“, gestand Leyton nach einigem Zögern. „Ich jage diese Ungeheuer und bringe sie um. Sie haben keine Moral, keinen Verstand, keine Seele. Sie sind nur Monster. Wenn sie erst einmal Blut geleckt haben, sind sie kaum noch aufzuhalten. Sie breiten sich aus wie Heuschrecken, die in ein Land einfallen, um alles zu vernichten. Auch hier in Boston werden sie immer zahlreicher. Es wird nicht mehr lange dauern, und uns wird es so gehen, wie den Europäern damals im Mittelalter. Aber sie haben es damals noch rechtzeitig erkannt.“
Sam kannte sich in der europäischen Geschichte nicht so gut aus, hatte aber sowohl etwas von der Hexenverbrennung als auch von der französischen Revolution gehört, bei der so viele – und wie sie bisher gedacht hatte – Unschuldige ihr Leben lassen mussten.
Leyton beugte sich vor, stützte sich am Tisch ab und blickte sie ernst an.
„Diese Monster sind gefährlich. Ich wünschte, du hättest nie von ihnen erfahren. Ich wollte dich nie diesem Wissen, dieser Gefahr aussetzen.“
„Aber du gehst dieses Risiko auch jedes Mal ein, wenn du sie jagst“, stellte Sam fest und ignorierte hartnäckig die Angst, die in ihr hochstieg. Sie waren zwar schon lange kein Paar mehr, aber sie mochte Leyton immer noch, und die Vorstellung, dass ihm etwas zustoßen könnte, gefiel ihr ganz und gar nicht.
Leyton machte eine abwertende Handbewegung. „Ich tue das, was zu tun ist. Mach dir keine Sorgen! Ich kann auf mich aufpassen.“ Sein Blick glitt über ihre Hände, die Brüste, den Hals hinauf zu ihren Augen und hinterließ dort, wo er sie betrachtete, ein seltsames Kribbeln. „Ich werde dich beschützen. Du brauchst keine Angst zu haben.“
Unwillkürlich musste sie lächeln. „Ich glaube kaum, dass ein Vampir Interesse an mir hätte. Und wenn, dann würde er Bekanntschaft mit meiner Pistole machen.“ Alleine die Vorstellung, dass sie die Aufmerksamkeit eines Vampirs auf sich ziehen könnte, war einfach abwegig. Würde sie vor Entsetzen wieder völlig bewegungsunfähig sein? Würde sie überhaupt mit einer Waffe auf das Wesen zielen können?
„Schon möglich“, murmelte Leyton seltsam abweisend. „Aber deine Glock vergiss mal schnell wieder. Schusswaffen sind völlig wirkungslos gegen die Viecher. Aber keine Angst, du kannst auf mich zählen. Das ist ein Versprechen, Sam.“
Er legte seine große Hand auf ihre. Sam war die Berührung unangenehm. Sie zog ihre Hand zurück und rieb mit der anderen ihr Handgelenk. Ihr Schädel begann zu schmerzen.
„Wie lebst du damit?“, fragte sie leise und massierte sich die pochenden Schläfen. „Ich meine, sie umzubringen.“
Leyton zuckte mit den Schultern. „Mit der Zeit wird es einfacher. Man lernt damit umzugehen, wie mit vielem anderen eben auch. Das sind keine Menschen, Sam. Das sind Monster. Das darfst du nie vergessen.“
„Ich weiß nicht, ob ich das für mich behalten kann“, gestand Sam. „Ich bin Detective.“
„Du wirst einen Weg finden. Du weißt, dass es das Richtige ist.“
Sam starrte nachdenklich vor sich hin. „Was ist in dieser Nacht passiert, als wir uns wieder trafen? Ist Ashley Simons einem Vampir zum Opfer gefallen?“ Sie musste diese Fragen stellen. Sie musste einfach eine Antwort darauf bekommen.
Unverwandt sah Leyton sie an.
„Ich habe den Vampir leider zu spät bemerkt. Er war bereits dabei, sie auszusaugen. Ich konnte ihr nicht mehr helfen. Es war ein Ephebe, ein junger Vampir, noch nicht ganz erwachsen. So einer, wie du ihn gestern gesehen hast.“ Kurz schwieg er. Er schien zu überlegen, ob er weiter erzählen sollte. „Ich habe ihm die Kehle durchgeschnitten.“
„Aber wir haben keine weitere Leiche gefunden.“ Sam machte große Augen.
„Ich habe ihn verbrannt. Ihr werdet nichts mehr von ihm finden. Ich arbeite sehr gründlich.“
Unzählige unaufgeklärte Morde unter mysteriösen Umständen erschienen in Sams Erinnerungen. Sollten das alles Vampiropfer sein? In einer Stadt wie Boston geschahen ungewöhnliche Morde tagtäglich. Sie waren eine Begleiterscheinung einer pulsierenden Metropole, ähnlich wie Vergewaltigungen und Bandenkriege.
„Ich werde dann mal wieder“, murmelte Leyton und stand auf.
„Warte.“
Leyton blickte sie an.
„Gestern. Erzähle mir von gestern“, bat sie eindringlich.
„Du hast ihn gesehen, diesen Epheben. Junge, schwache Vampire sind am gefährlichsten. Sie können ihren Blutdurst nicht kontrollieren. Ich musste ihn umbringen. Wer weiß, wie viele unschuldige Menschen er getötet hat.“
Widerstreitende Gefühle kämpften in ihr. Sie erinnerte sich nur allzu deutlich an die starren Augen, aus denen alles Leben gewichen war. Ein Schaudern breitete sich in ihrem Körper aus. Plötzlich war ihr eiskalt, als in ihrer Erinnerung die vergangene Nacht wieder wie ein Film ablief. Leyton war verschwunden, musste zum Auto gegangen sein. Wie versteinert hatte sie dagestanden, nach wie vor unfähig, sich zu bewegen. Als Leyton zurückkam, übergoss er den Toten mit Benzin. Der schneidende Geruch brannte in Sams Atemwegen. Sie hatte Leyton daran hindern, ihn irgendwie aufhalten wollen. Doch ehe sie es sich versah, stand der Leichnam in gelben Flammen, brannte, wie sie es noch nie gesehen hatte. Es dauerte nicht lange, und das Feuer zehrte den nichtmenschlichen Körper auf und erlosch schließlich. Innerhalb von Minuten war nur noch ein Aschehaufen übrig. Weder Knochen noch sonstige Überreste, die es eigentlich hätte geben müssen, waren zu sehen. Dieses Wesen, dieser Vampir, war mit Sicherheit kein Mensch. Hätte sie das Verbrechen trotzdem melden müssen? Der Zweifel nagte an ihr, zerfraß sie von innen.
War sie nun schuld daran, dass ein weiterer Mord in Boston ungesühnt blieb? Handelte es sich überhaupt um Mord?
„Du darfst dir keine Vorwürfe machen, Sam.“
Sam reagierte nicht, starrte weiter in Gedanken versunken vor sich hin. Sie hätte es melden müssen!
„Dieses Monster gestern war kein Sterblicher so wie du und ich. Er war niemand, der die Gerichtsbarkeit unseres Landes verdient hätte. Das sind Tiere, getrieben von ihren Instinkten. Nicht fähig, klar zu denken. Sie betrachten Menschen lediglich als Beute.“
Noch immer war sie nicht vollkommen überzeugt.
„Wenn es sich um ein Raubtier gehandelt hätte, einen Tiger zum Beispiel, würdest du dir dann auch solche Vorwürfe machen? Du musst aufhören, diesen Vampir als Mensch zu sehen, auch wenn er äußerlich so ausgesehen haben mag!“
Das saß! Sam konnte Leytons Worte nachvollziehen. Sie hatte keinen Fehler gemacht, hatte nicht ihre Pflichten als Detective verletzt. Das gestern war kein Mensch gewesen. Doch trotz dieser Erkenntnis war sie immer noch viel zu durcheinander. Sie brauchte Zeit und Ruhe, denn sie musste über die vielen neuen Informationen nachdenken.
Leytons Handy gab ein aufgeregtes Piepsen von sich. Er zog es aus der Jackentasche und warf einen Blick auf das Display.
„Ich werde gebraucht“, meinte er und erhob sich.
„Ich bringe dich noch zur Tür.“ Eilig stand Sam auf, ging mit ihm in den Flur und verabschiedete sich von ihm an der Wohnungstür.
Er war bereits bei der ersten Treppenstufe, als er sich noch einmal zu ihr umdrehte. „Ich weiß, dass du das erst einmal verdauen musst, aber ich würde mich freuen, von dir zu hören. Meine Nummer hast du ja jetzt.“ Er grinste sie schief an. „Schau nicht so. Es ist mein Job, etwas über andere Menschen herauszufinden, und deine Adresse und deine Handynummer waren nur ein paar Fingerübungen zum Aufwärmen.“
Sie schluckte, lächelte verkrampft. Was hatte er noch alles über sie in Erfahrung gebracht? Nicht, dass sie etwas zu verbergen hatte, aber sie mochte es nicht, wenn jemand in ihrem Privatleben herumstocherte.
„Ach, und noch etwas. Was ich dir erzählt habe, musst du für dich behalten, Sam. Hörst du, es würde dir keiner glauben, und das weißt du. Behalte es einfach für dich.“
Dann verschwand er.
Sam ging zurück in die Küche, griff nach ihrem Handy und speicherte die unbekannte Nummer aus der Anrufliste unter Leyton Hendersen. Sie überlegte, was mit dem angebrochenen Tag noch anzufangen war. Irgendwie musste sie den Kopf frei bekommen. Laufen. Sie zog ein altes Shirt, ihre Laufhose sowie Turnschuhe an und machte sich auf den Weg. Als sie ausgepowert war, lief sie zurück, duschte sich und zog frische Kleidung an. Danach war sie bereit, über einige Dinge nachzudenken. Sie machte sich auf zu dem Ort, an dem sie die nötige Ruhe fand.
* * *
Sam öffnete das schmiedeeiserne Tor des Friedhofs und schlüpfte hindurch. Die Gräber lagen in geraden Reihen zwischen den alten Bäumen. Es war still. Selbst am Tag hörte man kaum Autos vorbeifahren. Jetzt, bei einsetzender Dämmerung, schien auch die Natur einzuschlafen. Die in den alten Bäumen wohnenden Vögel verstummten, zogen sich in ihre Nester zurück. Sam kannte den Weg gut. Sie hatte ihn in den letzten Jahren oft zurückgelegt. Jeder Baum, jedes Grab, das ihren Weg kreuzte, waren ihr vertraut.
Als sie vor ihrem Ziel stehen blieb, ging sie in die Hocke und berührte sanft den Granitstein. Er war nichts Besonderes, und viele Menschen übersahen ihn wegen seiner Schlichtheit. Doch Sam gefiel dieser rechteckige Stein, dessen obere Ecken abgerundet waren. Die Inschrift war schlicht:
Hier ruht in Frieden Elena Forster.
Sam ließ sich auf die Steineinfassung des Grabes nieder und fuhr mit dem Finger den Schriftzug nach.
„Hallo Mom.“ Sie wartete, als ob sie ein Zeichen, eine Antwort erhalten würde.
„Ich bin etwas verwirrt, weißt du. Heute habe ich Dinge erfahren, die ich nie für möglich gehalten habe.“ Wieder schwieg sie einen Augenblick, ehe sie fortfuhr. „Ich habe Leyton wiedergetroffen“, flüsterte Sam. „Aber das weißt du sicherlich.“
Es half ihr, sich vorzustellen, dass ihre Mutter im Himmel zu ihr herab sah.
„Es gibt Vampire. Keine Untoten wie in den Mythen, sondern sehr lebendige Kreaturen, die den Menschen das Blut aus den Adern saugen. Hast du das gewusst? Kannst du dir das da oben vorstellen?“