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Der Philosoph Laotse gilt als der Begründer des Taoismus, einer der drei großen Lehren Chinas. Nicht nur auf Religion und Geisteswelt hat der Taoismus großen Einfluss ausgeübt, sondern auch auf Wirtschaft und Politik. Der Asienkenner Werner Schwanfelder macht die Lehren Laotses für westliche Manager erfahrbar und anwendbar.
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Seitenzahl: 275
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Schwanfelder, Werner
Laotse für Manager
Meisterschaft durch Gelassenheit
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E-Book ISBN: 978-3-593-40314-4
Ich schreibe dieses Buch, weil ich der Meinung bin, dass wir im Management neue Ideen brauchen. Wir sind alle mit bestimmten Denkmustern groß geworden, haben sie uns zu Eigen gemacht und arbeiten nun so. Nach wie vor gibt es die Vorstellung von dem Kapitän, der sein Unternehmen durch eine unsichere See steuert. Der alles überschauende Firmenlenker mag ein reizvolles Bild sein, beruht aber auf einem Mythos. Es wird heute wohl niemand mehr ernsthaft glauben, dass ein einzelner Mensch einen ganzen Konzern leitet. Viele Manager, und nicht nur sie, haben daran ihren Anteil.
Im Management haben wir es mit äußerst komplexen Systemen zu tun. Es herrscht immer noch die Illusion, dass solche Systeme rational gesteuert werden können. In Wirklichkeit handeln wir dagegen oft eher intuitiv oder emotional. Erst hinterher suchen wir eine rationale Erklärung für unser Handeln, die dann der Öffentlichkeit präsentiert wird. Viele Manager gestehen sich das selbst nicht ein, weil sie an die Überlegenheit der Rationalität glauben. Daher fehlt vielen auch eine gewisse Experimentierkultur. Sie bleiben in ihren Denkstrukturen verhaftet und wenden eben nur das Standardrepertoire ihrer Logik an.
Ich glaube nicht, dass immer neue Methoden und neue Rezepte helfen, die komplexer werdenden Aufgaben zu bewältigen. Auch wenn es paradox scheint: Können wir uns stattdessen vorstellen, besser zu führen, indem wir weniger führen? Ein viel beachtetes Beispiel ist das Orpheus Chamber Orchestra in New York. Es arbeitet |12|seit 1972 konsequent ohne Dirigenten und ist dennoch sehr erfolgreich.1 Nun wird natürlich auch in diesem Orchester geführt und dirigiert werden, jedoch nicht zentral, sondern prozessorientiert und aus der eigenen Kraft heraus, selbstorganisiert. Das ist nicht das einzige Orchester, das so arbeitet. Auch das Sunday Night Orchestra in Nürnberg kommt häufig ohne Dirigenten aus, dennoch fügen sich selbst Interpretationen in eine Ordnung.
Andererseits frage ich mich oft, ob wir unsere Manager in der Wirtschaft nicht einfach überfordern. Unternehmen sind vielfach so komplex geworden, dass sie nur noch bedingt steuerbar sind. Gerade dies aber soll der Manager leisten. Wie sieht die Aufgabe des Managers aus? In welchen Strukturen hat er sich zu bewähren?
Organisationen entwickeln sich um ihren Marktauftrag und entfalten bedingt durch Arbeitsteiligkeit und Größe eine zunehmende Komplexität. Wie jedes lebende System werden auch Organisationen als sich selbst schaffende und sich selbst erhaltende Systeme verstanden. Das Funktionieren des Unternehmens wird sowohl von den Innenbeziehungen als auch von den Außenbeziehungen zu anderen Systemen bestimmt. Entsprechend komplex gestaltet sich die Führungsaufgabe.
Zu den Außenbeziehungen gehören die Beziehungen zu Kunden und Lieferanten. Hier muss der Führende einen Ausgleich der unterschiedlichen Interessen schaffen. Qualität von Führung bedeutet in diesem Zusammenhang aber noch viel mehr. Der Führende muss in der Lage sein, über die Organisation hinauszusehen, die relevanten Kunden- und Lieferantensysteme zu erkennen und die Organisation darauf auszurichten. Hierfür muss er die Organisation verändern und die Mitarbeiter in den Veränderungsprozess integrieren.
Die wichtigste Innenbeziehung scheint zwischen Mitarbeitern und Organisation zu bestehen. Auch hier gibt es unterschiedliche Interessen und Zielvorstellungen. Die Menschen wollen glücklich sein und gut leben. Die Organisation will ihre Aufgabe gewinnbringend erfüllen. Daraus entsteht ein Interessenkonflikt, der von der Führungskraft ausgesteuert werden muss.
|13|Die Qualität der Führung kann man an ihren Ergebnissen ablesen. Wenn die Kopplung der Systeme nicht gelingt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass Mitarbeiter mit Wissen die Organisation verlassen und damit der Organisation schaden. Führungskräfte vertreten beide Seiten. Sie vertreten gegenüber den Mitarbeitern die Interessen der Organisation, gleichzeitig vertreten sie aber auch das Interesse der Mitarbeiter an Anerkennung und Entwicklungsmöglichkeiten innerhalb der Organisation. Führungskräfte müssen in der Lage sein, die Spannung auszugleichen.
Zu den Innenbeziehungen gehört auch die Hierarchie: Spannungen zwischen den Hierarchieebenen sind anscheinend unvermeidbar. Sie sind oft sehr stark emotional geprägt. Führung erfordert hier einerseits die Positionierung der eigenen Person als Führungskraft in der Hierarchie, andererseits die permanente Reflexion über die Verbesserung der Organisation und damit auch über die Veränderung der Hierarchie.
Zum Innenbild der Organisation gehört darüber hinaus das Zusammenspiel zwischen Abteilungen, Bereichen und Projekten. Das optimierte Zusammenspiel ist die Voraussetzung für den Erfolg der Organisation. Die Aufgabe von Führung besteht darin, die Eigenheiten der einzelnen Teilorganisationen zu bewahren und gleichzeitig die Kooperation zu sichern. Die meisten Führungskräfte sind gleichzeitig auch Teil eines solchen Teilbereiches.
Qualität und Professionalität von Führung zeigen sich in einem klaren Bild von ihrer Rolle und in der Fähigkeit, die Einzelbereiche zu einer effektiven Kooperation zu bewegen. Ziele und Interessen der eigenen Abteilung müssen mit den Interessen der anderen Abteilungen und dem Gesamtinteresse der Organisation ausgeglichen werden.
Dazu kommt, dass sich Unternehmen entwickeln und verändern. Führung bedeutet Steuerung dieser Veränderungsprozesse. Dabei sind Dynamik und Stabilität auszubalancieren. Führungskräfte müssen die optimale Veränderungsgeschwindigkeit für ihre Organisation festlegen. Oder anders ausgedrückt: Sie müssen so |14|viel Ruhe und Stabilität schaffen, dass das Funktionieren der Organisation stets gewährleistet bleibt. Sie müssen aber auch darauf achten, dass sich die Organisation rechtzeitig gemäß den Außenanforderungen entwickelt.
Hat man sich die vielfältigen Aufgaben des Managers in diesem Sinne klar vor Augen geführt, wird mancher sagen: So einen Komplex kann man gar nicht führen. Ich meine, auch in der Wirtschaft wird man zu einer neuen Art von Führung kommen. Es ist mehr Reflexion über die eigene Situation notwendig und eine Veränderung der Haltung, verbunden mit ein bisschen Mut, diese Haltung auch zu zeigen. Wichtig sind viel stärkere echte Bindungen zu Mitarbeitern, aber auch zu Kunden oder Lieferanten. Das sind Bindungen, die sozusagen an die Wurzel gehen und die man nicht technokratisch managen kann.
Deshalb nehmen wir Anleihe bei Laotse und seinem Konzept des Führens durch Wu Wei, durch Nicht-Handeln.
Einen großen Staat regiert man so,
wie man kleine Fische brät –
mit zu viel Gestocher ruiniert man sie.
[…]
Tao Te King, 60
Wer soll mit der Veränderung beginnen? Der große Chef oder jemand anders? Jeder kann damit beginnen, jeder kann durch seine veränderte Haltung eben auch sein Umfeld verändern. Zu dieser neuen Erkenntnis gehört aber, dass man gegebenenfalls Enttäuschungen (wenn es sich doch nicht schnell genug ändert) akzeptieren kann.
Wie kommt man nun zu den notwendigen Erkenntnissen? Dieses Buch möchte dazu beitragen, indem es sich dem chinesischen Weisheitslehrer Laotse nähert, der die Kraft der Nichteinmischung lehrt. Vielleicht hilft es, sich auf ihn einzulassen.
Ich habe Freude daran gewonnen, mich mit alten chinesischen Weisheitslehren auseinanderzusetzen und sie auf meine Aufgaben in Management und Menschenführung anzuwenden. Ich habe mit Sun Tzu begonnen, dem alten Feldherrn und Strategen, der vor 2 500 Jahren gelebt und ganz handfeste Empfehlungen niedergeschrieben hat, wie man Krieg erfolgreich führen soll, wenn man ihn nicht vermeiden kann. Vieles davon ließ sich übertragen auf das Management, auf Auseinandersetzungen mit Konkurrenten und Wettbewerbern. Dann habe ich mich mit Konfuzius beschäftigt, dessen Weisheit China geprägt hat. Er schuf die philosophische Grundlage des chinesischen Staats und kann als solcher auch als gutes Vorbild für Manager dienen. Kern seiner Lehre war die Bewahrung von Harmonie durch die Vermittlung der traditionellen Tugenden und die Rückbesinnung auf die sozialen Pflichten des Menschen.
Schließlich stieß ich auf Laotse, den legendären »Alten Meister«, der im 6. /5. Jahrhundert vor Christus gelebt haben soll und als Begründer des Taoismus gilt. Anders als bei Konfuzius gibt es für die Existenz der historischen Person keine sicheren Belege. Der Legende nach könnte er ein älterer Zeitgenosse von Konfuzius, der ihm sogar begegnet sein soll, und von Sun Tzu gewesen sein.
Aber was kann ein Manager schon mit einer Empfehlung wie Wu Wei (nicht handeln) anfangen? Andererseits, wenn ich meine persönliche Managementarbeit ansehe, dann bemerke ich, dass ich |16|mit einer Phase des Nicht-Handelns vor dem Handeln (das natürlich erforderlich ist) sehr gut fahre. Ich kann mich damit einfach besser auf Gegebenheiten einstellen, und viele Tatsachen ergeben sich, ohne dass ich eingreifen müsste. Ich merke, wie ich Wu Wei immer besser begreife.
Ich diskutiere meine Erkenntnisse insbesondere mit einem meiner chinesischen Freunde, der für mich ein zeitgenössischer chinesischer Weiser ist. Seine Ratschläge, Fragen und Hinweise werden mich durch dieses Buch begleiten.
Dieser Freund sagte mir: »Der Taoismus ist eigentlich nicht zu beschreiben. Du wirst es bemerken, wenn du Laotse liest. Er ist sehr eingängig, klingt gut. Aber die Bedeutung seiner Worte ist nicht so einfach zu ergründen.«
»Und ich dachte, der Taoismus hat China geprägt?«, fragte ich erstaunt.
Er nickte. »Das ist richtig. In China ist der Taoismus allgegenwärtig. Die meisten Chinesen haben Laotse zwar nicht gelesen, haben vermutlich nicht einmal eine Ahnung, wer das ist. Aber dennoch wächst jeder Chinese damit auf, er lebt damit, ohne es zu wissen. Also musst du eigentlich nur versuchen, die Chinesen zu begreifen, dann wirst du auch den Taoismus begreifen.«
»Es ist aber schwer für einen Europäer, die Chinesen zu begreifen. Wenn du mir nicht helfen würdest, hätte ich gar keine Chance.«
»Gut, ich helfe dir. Aber setze deinen Anspruch nicht zu hoch. Du wirst nur einen kleinen Zipfel zu fassen bekommen. Nicht mehr.«
»Lass uns doch gleich beginnen. Kannst du mir den Taoismus kurz beschreiben?«
Er lachte: »Ich sehe, du hast nicht verstanden.«
Was er dann sagte, klang wie ein Gedicht, und ich hörte einfach zu.
Ein Taoist ist wie Wasser.
Ein Taoist hat kein Problem mit dieser Welt, wie sie ist.
|17|Ein Taoist fließt in diese Welt hinein und lässt die
Weisheit des Tao durch all seine Taten fließen
und erfüllt diese Welt im Kern damit.
Für den Taoisten ist alles taoistisch, auch diese Welt.
Alles folgt seiner Natur.
Alles folgt seinem Fluss.
Alles folgt seinem Tao.1
»So einfach ist es«, meinte mein Freund und lächelte.
Ich lauschte seinen Worten nach und überlegte, was dies nun für mich bedeuten könnte, was ich davon für Manager und also auch für mich ableiten möchte. Ich erinnere mich, was man mir vor vielen Jahren am Beginn meiner Managerlaufbahn beigebracht hat: Es gibt keine Probleme, nur Herausforderungen. Auch Laotse hat keine Probleme mit dieser Welt, wie sie ist. Aber er weiß natürlich, dass sie nicht in Ordnung ist. Auch für ihn gibt es Herausforderungen. Er nimmt die Herausforderungen jedoch mit Gelassenheit, Geduld, Abstand. Ich habe gelernt, mich mit aller Tatkraft um die Herausforderungen zu kümmern. Widerspricht dies nun den Aussagen von Laotse? Ich war mit meiner Art von Management erfolgreich. Aber vielleicht wäre ich mit mehr Gelassenheit noch erfolgreicher gewesen, hätte zumindest Kraft gespart.
»Du hast behauptet, der Taoismus ist Teil des chinesischen Lebens. Wo kann ich ihn finden, was ist taoistisch?«
Er stand auf und trat ans Fenster. Wir sahen hinunter auf die Straße. Sie war breit, dreispurig in beiden Richtungen für die Autos und dann noch je eine Spur für die Fahrradfahrer. Die Radlerspur war brechend voll. Radfahrer hinter Radfahrer. Alle fuhren sie gleich schnell. Nicht schnell, eher langsam. Aber zügig. Sie kamen gut voran, weil sie sich alle gleichmäßig und wie abgestimmt bewegten.
»Das ist praktischer Taoismus«, sagte mein Freund. »Sie fahren im Gleichklang. Sie bewegen sich wie das Wasser eines Flusses. |18|Keiner schwimmt schneller oder gar gegen den Strom. Kein Radfahrer stört den Fluss – und alle kommen sie gut an.«
Ich überlegte mir, wie man in Deutschland Rad fährt. Jeder Radfahrer ist ein Individualist, kämpft für sein Vorwärtskommen. Wäre so ein Radfahrer unter den chinesischen Radfahrern, würde er ein Chaos hervorrufen. Vielleicht käme er schneller vorwärts, aber die Masse der Radfahrer hinter ihm würde im Chaos versinken, und irgendwann würde das Chaos ihn einholen.
Ich schlussfolgerte, dass dies auch das Geheimnis für den Manager sein könnte. Manchmal ist es vielleicht auch für den Manager besser, nicht einzugreifen und stattdessen »nur« dafür zu sorgen, dass der Strom fließen kann.
Um mir die Unbegreiflichkeit und die Dimension des Tao anschaulich zu machen, erzählte mein Freund die folgende Geschichte. Sie wird so oder so ähnlich immer wieder erzählt, von Generation zu Generation.
Die Legende von dem Herrn am Gelben Fluss
Ein Einsiedler lebte am Ufer des Gelben Flusses in einer einfachen Strohhütte und beschäftigte sich mit Meditation und den Weisheiten des Tao. Man nannten ihn He Shang Gong, den »Herrn am Gelben Fluss«. Die Lehre vom Tao stand im Land in hohem Ansehen. Und so hatte auch der Kaiser Han Wen Di so manche Sprüche und Verse von Tao und Te gehört. Sie klangen gut in seinen Ohren, aber er hatte sie nicht verstanden. Also suchte er unter den Weisen und Adeligen seines Volkes nach einem Kundigen, der ihm die Geheimnisse des Tao erklären könnte. Zufällig hörte er auch von jenem Einsiedler, von dem es hieß, er sei sehr vertraut mit den Weisheiten des Tao. Der Kaiser sandte Boten aus, die den Einsiedler befragen sollten. Sie fanden ihn auch, stellten ihm viele Fragen und wurden zudringlich. Aber |19|der Einsiedler sagte lediglich: »Folgt einfach Tao und Te – mehr müsst ihr gar nicht tun!« Zu weiteren Auskünften ließ er sich nicht bewegen. Als die Boten dem Kaiser das berichteten, wurde dieser ärgerlich. Er ließ anspannen und machte sich mit einem großen Gefolge selbst auf den Weg, um dem Einsiedler den gebotenen Respekt beizubringen. Als He Shang Gong vor ihm stand, fuhr der Kaiser ihn ungehalten an: »Alles Land, das unter dem Himmel ist, gehört dem Kaiser. Und alle Menschen auf diesem Land sind die Untertanen des Kaisers.Auch du, Einsiedler, bist einer meiner Untertanen, auch du gehörst zu meinem Volk und bist von meiner Gnade abhängig. Es steht dir nicht zu, so stolz und überheblich aufzutreten. Daran erkenne ich auch, dass du vom Tao keine Ahnung hast.«
Der Einsiedler aber drehte sich um, setzte sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden und erhob sich nach einiger Zeit wie eine Wolke ganz langsam vom Boden. Schwebend wandte er sich dem Kaiser zu und sagte zu ihm: »Wie du siehst, berühre ich den Boden nicht. Daher bin ich auch nicht dein Untertan und gehöre nicht zu deinem Volk.Wie kannst du dann mein Kaiser sein? Ich habe mich schon lange von allen irdischen Bedürfnissen entfernt. Es gibt nichts, was du mir geben könntest.«
So erkannte der Kaiser, dass der Einsiedler nicht mehr von dieser Welt war, sondern ein Unsterblicher. Da verbeugte sich der Kaiser vor ihm, entschuldigte sich für seine hochfahrenden Worte. Er gestand sich und dem Einsiedler ein, dass er noch sehr wenig verstehe von der Welt und ihren Geheimnissen.Weil der Einsiedler nun sah, dass der Kaiser es ehrlich meinte, war er bereit, ihn zu unterrichten. Er führte ihn in die Weisheit von Tao und Te ein, sodass der Kaiser einen kleinen Zipfel zu fassen bekam. Zum Abschied schenkte der Einsiedler dem Kaiser die Aufzeichnung von 81 Sprüchen zu den Weisheiten, die er selbst angefertigt und kommentiert hatte. Der Kaiser bedanke sich vielmals und nahm die Schrift in Ehrfurcht entgegen. In den Chroniken ist zu lesen, dass der Kaiser von nun an gerecht regierte. Die Legende will, dass der Einsiedler in Wahrheit der alte weise Geschichtsschreiber des Staates Zhou gewesen sei, der sich in die Einsamkeit zurückgezogen hatte und den wir als Laotse kennen. 2
|20|Man kann sich Laotse über seinen Namen nähern. Der bedeutet übersetzt der »Alte Meister«; mitunter wird er auch der »Gute Alte« genannt. Es handelt sich also um eine weise Person mit viel Erfahrung. Er hat viel gesehen, erlebt und gedacht. Erst im Alter hat er sich zurückgezogen, und aus dieser Perspektive spricht er. Manches wirkt dunkel und widersprüchlich, manches ist auch im Lauf der Jahrhunderte an den Texten geändert worden. Seine Empfehlung, »nicht zu handeln«, ist eine mögliche Anregung zur Erlangung von Harmonie, die einem Gleichgewicht zwischen Bedürfnissen und Gütern, zwischen Aktivitäten und Ruhe entspricht. Seine Empfehlung führt zum ausgeglichenen Manager. Das ist doch nicht schlecht.
Laotse gilt als einer der beiden wichtigsten Vertreter (neben Dschuang Dsi) der erst sehr viel später Taoismus genannten Lehre der Naturphilosophen.
Die Legende vom Leben des Laotse
Es geschah einige Jahrhunderte vor unserer christlichen Zeitrechnung. Damals gab es auch noch nicht das China, das wir heute kennen, sondern zerstrittene Kleinstaaten. Daher kennt man diese Zeitepoche des Chaos in der Geschichte auch als das Zeitalter der »Streitenden Reiche«. Diese Epoche brachte die wichtigsten chinesischen Philosophen hervor, vielleicht nicht zufällig, denn sie suchten alle einen Weg aus dem Chaos heraus.
In einem dieser Reiche mit dem Namen Zhou gab es einen Geschichtsschreiber. Er war beim König angestellt und musste alle offiziellen Dokumente kopieren und archivieren, um somit die Staatsgeschäfte und natürlich auch die Verdienste des Königs für die Nachwelt zu sichern. Das Archivieren hätte eigentlich eine befriedigende Arbeit sein können. Der Archivar hätte sich an dem stetigen Wachstum und Weiterkommen des Staates freuen können, das den Dokumenten zu entnehmen war. Aber so war es leider nicht. Die Zeiten waren chaotisch, und so kamen auf den Schreibtisch des Archivars |21|Erlasse, Widersprüche, Ankündigungen und Abkündigungen, Dokumente über Kriegserklärungen und Niederlagen, die das widerspiegelten. Manchmal seufzte er, entsetzte sich, überlegte, machte sich seine Gedanken. Er hatte die Möglichkeit, auch all die alten Dokumente einzusehen, die schon vor seiner Zeit erstellt worden waren. So eignete er sich viel Wissen an. Er wurde zu einem weisen Philosophen. Draußen schien in den kriegerischen Zeiten die Welt unterzugehen, drinnen im Archiv wurde der Philosoph älter, weiser und auch ruhiger. Seine Weisheit jedoch sprach sich im Königreich herum und auch darüber hinaus.
Eines Tages meldete sich ein Besucher an. Es war der noch junge Konfuzius. Er begrüßte den Älteren respektvoll und fragte ihn dann nach Sitten und Gebräuchen und Riten aus. Konfuzius wollte wissen, wie sie in der Vergangenheit gehandhabt wurden und wie sie sich veränderten. Für Konfuzius war dies wichtig, denn er wollte damit das Chaos besiegen. Der alte weise Archivar seufzte. Er wollte den jungen Kollegen nicht enttäuschen, aber er konnte ihn auch nicht ermutigen weiterzumachen. Die Einhaltung von Riten, so die Überzeugung Laotses, führte nicht zum Erfolg und zum Frieden. Der Alte mochte nicht mehr diplomatisch sein, und so gab er dem jungen Konfuzius eine ehrliche und barsche Antwort. Er erklärte ihm, dass Sitten, Gebräuche und Riten nicht zur Regelung der Staatsgeschäfte und des Lebens taugten. Seine Antwort war ganz anders als von Konfuzius erwartet ausgefallen, jedenfalls verabschiedete der sich sehr schnell und verließ den Archivar. Die beiden sahen sich nie wieder. Sie kannten sich nun und das genügte beiden.
Irgendwann wurden die Zeiten so schlimm, dass der Archivar keine Hoffnung auf irgendeine Besserung mehr hatte. Deshalb bat er den König um seine Entlassung, die ihm nach einiger Zeit auch gewährt wurde. So schwang er sich auf einen Wasserbüffel und zog nach Westen. Er wollte in seinem Inneren das behalten, was im Äußeren, in der Welt schon lange abhanden gekommen war, den Frieden.
So kam Laotse eines Tages an den Grenzpass und wurde dort von dem Grenzwächter aufgehalten. Da dieser in ihm den Weisen |22|erkannt hatte, beharrte er darauf, dass er sich nicht einfach so davonstehlen könne, ohne der Nachwelt die Einsichten seines Lebens zu überliefern.
Seufzend nahm sich Laotse einen Tag Zeit und brachte mit dem Pinsel seine weisen Ratschläge zu Papier. Er schrieb und schrieb, bis ihm die Tusche ausging. Dann überreichte er das Schriftstück von mehr als fünftausend Zeichen dem Grenzwächter, und der ließ ihn passieren.
Laotse bestieg wieder seinen Wasserbüffel, ritt hoch zum tibetischen Bergland, dann hinunter in die Ebene des Ganges. Die Chinesen glauben zu wissen, dass Laotse noch sehr alt geworden sei. Manche Quellen sprechen von 160, manche sogar von 200 Jahren.3
So weit also die Legende vom Leben des Laotse, für dessen Existenz es keine sicheren Belege gibt. Auch die Begegnung mit Konfuzius ist nicht bezeugt. Die Konfuzianer jedenfalls bestreiten sie mit aller Heftigkeit.
Der erste historisch verbürgte Bericht, der Angaben über das Leben des Laotse bietet, stammt von dem berühmten chinesischen Geschichtsschreiber Sima Qian (145 bis 79 vor Beginn der Zeitrechnung), der in seinen »Historischen Aufzeichnungen« um 104 vor Christus das Wissen der damaligen Zeit weitergab. Aber auch Sima Qian ist sich nicht sicher, ob es Laotse gegeben hat, schließlich sei er ja ein im Verborgenen lebender Edler gewesen.
Angeblich wurde Laotse im Königreich Chu geboren, im Dorf Qu Ren. Sein Sippenname war Li, sein Vorname Er, sein persönlicher Name Dan. Er war Archivar am Königshof der Zhou. Den Zeitraum des Wirkens von Laotse gibt man um das 6. Jahrhundert vor Christus an.
Die neuere Forschung legt nahe, dass es keinen historischen Laotse gegeben hat und die Legende auf drei verschiedene historische Figuren zurückgeht.4 Wir wollen uns hier mit der Legende begnügen.
Im Westen machten die Jesuiten (neben dem Konfuzianismus) |23|auch Laotse und den Taoismus bekannt. Damals erschien ihnen diese Gruppe eher als eine obskure Sekte. Obwohl die Jesuiten den Taoismus eigentlich nicht ernst nahmen, ist ihnen die erste Übersetzung des Tao Te King zu verdanken.
Neben Laotse muss man auch noch einen anderen sehr bekannten Vertreter des Taoismus nennen. Es ist Dschuang Dsi (oder Zhuangzi nach der neueren Umschrift). Seine Popularität verdankt er der Art, wie er seine Überzeugungen weitergibt, nämlich in Form von Parabeln und Anekdoten. Er lebte im 4. Jahrhundert vor Christus. Er stammte aus Meng im heutigen Shandong und hatte dort ein Amt inne. Sein Hauptwerk ist Das wahre Buch vom Südlichen Blütenland (eigentlich Das wahre Buch von Nanhua nach dem Herkunftsort von Dschuang Dsi). Es gehört zu den berühmtesten Texten des alten China. Es ist zunächst einfach zu lesen, da es vor allem aus Zitaten, Gleichnissen und Parabeln besteht. Europäer empfinden es häufig als sehr eindrücklich. Dennoch ist auch dieses Werk nicht so einfach zu interpretieren. Die wichtigste und wohl auch schönste Parabel ist die folgende.
Die Geschichte vom Schmetterlingstraum
Einst träumte Dschuang Dschou, dass er ein Schmetterling sei, ein flatternder Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts wusste von Dschuang Dschou. Plötzlich wachte er auf: da war er wieder wirklich und wahrhaftig Dschuang Dschou. Nun weiß ich nicht, ob Dschuang Dschou geträumt hat, dass er ein Schmetterling sei, oder ob der Schmetterling geträumt hat, dass er Dschuang Dschou sei, obwohl doch zwischen Dschuang Dschou und dem Schmetterling sicher ein Unterschied ist. So ist es mit der Wandlung der Dinge.5
Die Lehren des Dschuang Dsi haben einige Gemeinsamkeiten mit den Gedanken des Tao Te King. Auch er geht von dem Begriff Tao aus, den er aber auch Qi oder »lebendige Kraft« nannte. Diese Kraft besteht ewig und ist Quelle jeglicher Energie.
|24|Er behauptet weiterhin, dass auf der Erde alles in Bewegung ist. Der Mensch ist dieser Bewegung von der Geburt bis zu seinem Tod ständig ausgesetzt. Daher gibt es auch keine festen Traditionen. Er konzentriert sich darauf, die konventionellen Werte zu diskutieren oder auch nur bloßzustellen. Er entwickelt sich in seiner Welt zum Skeptiker. So hält er Intelligenz und Wissen zum Beispiel für nutzlos, weil es relativ und nicht übertragbar ist. Und sie dienen nur dem Zweck, Leuten beizubringen, sich gegenseitig zu betrügen. Dschuang Dsi teilt die politischen Zielsetzungen Laotses nicht, der sich auch als eine Art Leitfaden für die Haltung des Herrschers und die Entwicklung des Staates lesen lässt, und gerade deshalb für Manager interessant ist.
Wenn wir uns heute mit Laotse und den 81 Spruchkapiteln des Tao Te King beschäftigen, geht es uns wie dem Kaiser in der Legende. Wir sind konfrontiert mit einer Gedankenwelt, die sich uns nicht gleich erschließt. Schon bald, nach den ersten Versen, begegnet dem Leser die charakteristische Aufforderung zum »Nicht-Handeln«, in dem sich der Berufene üben soll.
Was soll man damit anfangen? Soll das eine Maxime für Manager sein? Soll es die Aufgabe von Managern sein, nicht zu handeln? Dabei hat man gar nicht den Eindruck, dass Laotse sich vom tätigen Leben abgewandt hatte, dass er ein Aussteiger war, den das Leben um ihn herum nicht interessierte. Nein, die ihm zugeschriebene Textsammlung Tao Te King weist ihn durchaus als aktiven Menschen und Denker aus. Umso mehr müssen wir uns mit seiner Empfehlung »Übe dich im Nichttun, und alles fügt sich zum Guten« auseinandersetzen.
Das Weltbild von Laotse umfasst Himmel und Erde. Auf der Erde agieren die Menschen. Eigentlich herrscht in diesem System eine |25|natürliche Ordnung, aber das Handeln der Menschen richtet die Ordnung zugrunde, wenn es ihr zuwiderläuft. Das entspricht der Erfahrung des Laotse in der »Zeit der Streitenden Reiche« im 6. Jahrhundert vor Christus; das passt auch in unser heutiges Geschehen. Wir versuchen zu korrigieren, indem wir zum Beispiel die, die das Chaos anrichten, bestrafen oder sogar kasernieren, soweit wir ihrer habhaft werden können. Laotse geht einen anderen Weg, er richtet sich nicht an die Übeltäter, sondern er konzentriert sich auf die Handlungen. Die Handlungen verursachen das Chaos, wenn sie den natürlichen Fluss der Dinge stören. Daraus schlussfolgert er, Nicht-Handeln bringe Harmonie. Er lehnt jedoch nicht alle Handlungen ab. Da liegt der Gedanke nahe, dass es unterschiedliche Arten des Handelns gibt.
Laotse versucht zu erklären, dass Harmonie und Balance durch den Ausgleich der Gegensätze entstehen, die einander bedingen. Sehr gut kann man seine Gedanken in dem folgenden Text erahnen:
Wenn gewisse Dinge als schön gelten,
werden andere Dinge hässlich.
Wenn gewisse Dinge als gut gelten,
werden andere Dinge schlecht.
Sein und Nichtsein erzeugen einander.
Schwierig und leicht stützen einander.
Lang und gut bestimmen einander.
Hoch und niedrig sind abhängig voneinander.
Vorher und nachher folgen einander.
Daher handelt der Meister,
ohne irgendetwas zu tun,
und lehrt, ohne irgendetwas zu sagen.
Die Dinge erscheinen, und er lässt sie kommen;
Die Dinge verschwinden, und er lässt sie gehen.
|26|Er hat, besitzt aber nicht,
handelt, erwartet aber nicht.
Wenn sein Werk getan ist, vergisst er es.
Ebendarum währt es ewig.
Tao Te King, 2
Die Auffassung Laotses, dass alle Gegensätze sich gegenseitig bedingen, führt dazu, dass jede Aktion eine Reaktion auslöst. Laotse leitet davon ab, dass eine verhinderte oder nicht ausgeübte Aktion auch keine Reaktion provoziert.
Daraus ergibt sich bei Laotse so etwas wie die Lehre vom »Wirken ohne Handeln«. Der »Meister« – in anderen Übersetzungen ist von dem »Berufenen« oder dem »weisen Herrscher« die Rede – handelt nicht, wirkt aber dennoch. Er lehrt auch, indem er nicht redet. Aus diesen Worten wird ersichtlich, dass er natürlich aktiv ist. Er verweigert sich nicht, er wirkt, aber er behält nicht und er verharrt nicht. Laotse-Texte sind nicht ganz leicht zu verstehen. Sie sind auch nicht eindeutig und lassen daher Raum für Interpretation. Um sie für uns zu nützen, bleibt uns nichts anders übrig, als darüber nachzudenken, was sie für uns bedeuten.
Ein Kernbegriff des Taoismus ist das Tao (Dao). Der Begriff findet sich in allen Richtungen der chinesischen Philosophie, wird hier aber im Sinne eines umfassenden Prinzips gebraucht. Tao ist die Quelle des Lebens, der Urgrund der Welt, das alle Erscheinungen bestimmende Weltgesetz. Tao ist unfassbar und gleichzeitig die höchste Vernunft. Es befindet sich im Kern aller Dinge und bestimmt die kosmische Ordnung. Die Menschen machen sich Gedanken darüber und entwickeln Vorstellungen, die allerdings nur Hilfskonstruktionen sein können.
Den Begriff Tao kann man auch nicht einfach übersetzen und ausdrücken. So ist es unzähligen Übersetzungen (z. B. als »Sinn«, »Weg« oder auch »Leben«) und Deutungen ausgeliefert, die uns die Bedeutung klarmachen wollen.
|27|Vielleicht ist der Blick in einen klassischen chinesischen Text hilfreich, den der Taoismus aufnahm und der fast tausend Jahre älter ist als das Tao Te King: das Buch der Wandlungen, das I Ging. Bereits hier findet sich die Grundidee von der Ausgewogenheit der Gegensätze (Yin und Yang) und des ständigen Wandels als Prinzip. Die Welt wird als ein Ganzes beschrieben, dessen ständiger Wandel durch die beiden polaren Prinzipien Yang (das Schöpferische, Männliche, Himmel) und Yin (das Empfangende, Weibliche, Erde) bestimmt wird. Der »Edle« kann lernen, die kosmische Ordnung in allen Dingen zu spüren und sich der jeweiligen Situation gemäß zu verhalten und zu verändern. Aus dieser Position der Ausgewogenheit heraus kann er seine Ziele im Einklang mit der kosmischen Ordnung erreichen.
Es gab etwas Formloses und Vollkommenes,
bevor das Universum entstand.
Gelassen ist es und leer.
Einzig und unverständlich.
Grenzenlos und ewig verfügbar.
Es ist die Mutter des Universums.
In Ermangelung eines besseren Namens
nenne ich es das Tao.
Es fließt durch alle Dinge,
innen und außen, und kehrt zurück
zum Ursprung aller Dinge.
Das Tao ist groß.
Das Universum ist groß.
Die Erde ist groß.
Der Mensch ist groß.
Das sind die vier großen Mächte.
Der Mensch folgt der Erde.
Die Erde folgt dem Universum.
|28|Das Universum folgt dem Tao.
Das Tao folgt nur sich selbst.
Tao Te King, 25
Oft wird das Wort Tao auch gar nicht übersetzt, wahrscheinlich kommt es auf das Wort nicht an. Vielleicht ist der Sinn des Wortes auch gar nicht intellektuell begreifbar. Geeigneter scheint der Versuch, das Tao zu erfahren.
Am Anfang war das Tao.
Alle Dinge entspringen ihm;
alle Dinge kehren zu ihm zurück.
Willst du den Ursprung finden,
dann verfolge die Spur der Erscheinungen.
[…]
Tao Te King, 52
Das Tao befindet sich mitten im Leben. Es fordert nicht auf zur Weltflucht und auch nicht zur Askese. Gemäß der Philosophie des Tao soll der Mensch mitten in der Welt stehen und wirken, aber er darf sich nicht an die Welt verlieren. Der Mensch soll die Welt beeinflussen, gleichzeitig muss der Mensch bedenken, dass er nicht zu stark von der Welt beeinflusst wird. In diesem Sinne bevorzugt der Taoist auch eher das einfache Leben. Er ist genügsam, damit er nicht der Begierde erliegt.
Der Taoismus basiert auf drei Grundbegriffen, die jedoch eine Gesamtheit darstellen.
Tao, der Ursprung aller Dinge;
Te, das Leben oder die Wirklichkeit;
Wu Wei, das Handeln im Sinne von »geschehen lassen«.
|29|Aus dem Tao gehen die Gegensätze hervor, die aber gleichzeitig eine Harmonie bilden, symbolisiert im Prinzip von Yin und Yang, der beiden kosmischen Grundkräfte.
Der Begriff Te steht für das Leben, für die Realität, für alle materiellen Erscheinungen. Dabei geht man davon aus, dass sich unsere Welt selbst organisiert. Sie besteht aus eine Vielzahl von Prozessen. Diese haben zum Beispiel die Artenvielfalt hervorgebracht, aber auch die Staatenbildungen, alle soziologischen Strukturen, und auch alle kulturellen Strömungen, die Menschenrassen und die Klimabildung. Te beschreibt das gesamte Leben. In diesem Sinne kann man sagen, dass unser Leben, das Te ein Teilaspekt des Tao ist. Im Rahmen von Te wird unser Leben organisiert. Im Taoismus wird zwar anerkannt, dass wir die Freiheit zur Gestaltung des Lebens haben, diese aber dennoch nur im Rahmen von Te geschieht. Weiterhin besteht die Auffassung, dass jedes Ereignis auf der Welt mittelbar mit jedem anderen zusammenhängt.
Wie kann man dies verstehen? Dass jeder Mensch mit jedem anderen über eine Kette von durchschnittlich nur 6 Kontaktpersonen verbunden ist, ist bekannt, seit Stanley Milgram im Jahr 1967 das Kleine-Welt-Phänomen formulierte und experimentell belegte.
In den Tagen, in denen ich dies schreibe, kommt gerade der Film Babel in die Kinos. Dieser Film zeigt uns die weltweiten Zusammenhänge.
Die Geschichte von Babel
Die beiden Brüder Ahmed und Yussef werden von ihrem Vater beauftragt, die Ziegenherde der Familie zu hüten. Dieser hat aber gerade ein Jagdgewehr von einem Nachbarn gekauft, der dies von einem japanischen Großwildjäger geschenkt bekommen hat. Die beiden Jungen nehmen das Gewehr mit, weil sie die Ziegen vor den Schakalen schützen sollen. Aber statt aufzupassen, schießen sie mit dem Gewehr
|30|in der Gegend herum. Sie wollen ausprobieren, was das Gewehr kann, und so zielt der junge Ahmed auf einen weit entfernten Touristenbus. Er trifft die Frau eines amerikanischen Ehepaars, die auf dieser Reise wieder zueinanderfinden wollten. Nun ist die junge Frau stark verletzt, wird in ein Dorf gebracht. Man wartet dort auf Hilfe. Die amerikanische Botschaft geht von einem terroristischen Anschlag aus und verzögert die Rettung.
Die Kinder des Ehepaars sind in San Diego zurückgeblieben. Die illegal in den USA lebende mexikanische Haushälterin wird informiert. Sie sucht jedoch nach einem Babysitter für die beiden Kinder, weil sie zu einer Hochzeitsfeierlichkeit ihres Sohnes nach Mexiko will. Als sie niemanden findet, beschließt sie, die Kinder mit über die Grenze in ihr Heimatdorf zu nehmen.Auf der Rückfahrt legt sich ihr betrunkener Neffe mit den Grenzbeamten an. Er durchbricht die Grenze, fährt in die Wüste, lässt seine Tante und die Kinder aussteigen und flieht. Diese werden gerade noch rechtzeitig von einer Grenzkontrolle gefunden und vor dem Tod gerettet. Die Haushälterin wird sofort ausgewiesen.
In Tokio sucht die Tochter des japanischen Großwildjägers nach ersten Liebesbeziehungen. Sie ist aber taubstumm, deshalb ist dieser Prozess für sie sehr schmerzlich.
In dieser Geschichte werden unterschiedlichste Orte angesprochen, die durch Gemeinsamkeiten verbunden sind, ohne dass die Beteiligten dies auch nur ahnen. Handlungsstränge an unterschiedlichen Plätzen in der Welt stehen zueinander in Beziehung. Es ist ersichtlich, dass wir zwar Handlungsfreiheiten haben, wir können also in die Diskothek gehen oder nicht, wir können ein Gewehr verkaufen oder nicht, wir können zu einer Hochzeit gehen oder nicht, und trotzdem steht der Gesamtzusammenhang all dieser Handlungen nicht zu unserer Disposition.
Nach taoistischer Meinung bringt die Einsicht in das Wesen von Tao und Te dem Menschen Auskunft über seine eigene Position in der Welt.
|31|Fragt man nun, welche Handlungen sich daraus ableiten, kommt man zum dritten Grundbegriff, dem Wu Wei. Dieses Nicht-Handeln ist schwer zu verstehen, eine Interpretation wie Nicht-Zwingen dürfte wohl treffender sein. Auf keinen Fall darf man Wu Wei