Larry Brent Classic 010: Die Leichenkammer - Dan Shocker - E-Book

Larry Brent Classic 010: Die Leichenkammer E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

In den Katakomben des Wahnsinns Eine alte Frau sieht ein Gesicht an dem Fenster ihrer Wohnung und erschrickt fast zu Tode. Es ist das Gesicht ihrer Tochter Ann! Doch das ist ganz unmöglich, denn Ann starb an einer schweren Krebserkrankung, und liegt auf dem Friedhof begraben. Oder doch nicht? Die Frau läuft durch die Finsternis und sucht mitten in der Nacht den Friedhof auf, um sich zu vergewissern, ob das Grab ihrer Tochter unversehrt ist. Dann steht sie vor dem Grabstein, liest den Namen und fragt sich grauenerfüllt, ob Tote wiederkommen können. Die Leichenkammer des Dr. Sarde Die Augen des Mannes weiteten sich. Dumpf fällt der Sargdeckel auf den rohen Fußboden der Leichenhalle - die Gestalt im Sarg richtet sich auf. Wenig später hallen Hammerschläge durch die nächtliche Leichenhalle. Der aus dem Sarg Auferstandene vernagelt den Deckel, unter dem jetzt der Überraschte liegt. In den frühen Morgenstunden soll der Sarg in die kühle Erde des Friedhofes von Passy gesenkt werden. Der Mann im Sarg ist nicht tot! Die unheimlichen Ereignisse, die in den Katakomben des Wahnsinns begonnen haben, setzen sich in der Leichenkammer des Dr. Sarde fort. Wer ist "Dr. Sarde"? Larry Brent und Iwan Kunaritschew sollen die unheimlichen Vorgänge klären.

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DAN SHOCKERS LARRY BRENT

BAND 10

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Fachberatung: Robert Linder

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

978-3-95719-810-5

Dan Shockers Larry Brent Band 10

DIE LEICHENKAMMER

Mystery-Thriller

In den Katakomben des Wahnsinns

von

Dan Shocker

Prolog

Ihr Mund war zum Schrei geöffnet, doch kein Ton kam über ihre Lippen. Eisiges Entsetzen packte sie, als der Mann, dem sie sich anvertraut hatte, plötzlich zu einer Bestie wurde.

Der blitzende Dolch stieß mit voller Wucht auf sie herab und bohrte sich genau zwischen ihre Brüste. Hart und brutal.

Joan Rowley starb unter den Händen eines Mannes, der sich Dr. Henry Fond nannte. Er unterhielt in der Stadt eine Praxis als Psychotherapeut und führte eigentlich einen ganz normalen Lebenswandel.

Die alte Frau erschrak, als sie das Gesicht am dunklen Fenster sah.

»Ann?« Angsterfüllt und zitternd kam der Name über ihre Lippen.

Da war das Gesicht schon wieder verschwunden.

Die Alte trippelte zum Fenster und riss es auf.

»Ann!«, hallte ihre Stimme durch die Nacht. Aber niemand gab Antwort.

»Es kann nicht sein«, flüsterte die Frau und eilte zur Tür. »Sie kann doch nicht mehr kommen! Mein Gott, ich werde doch nicht wahnsinnig?« Die Nacht war finster. Kein Stern zeigte sich am Himmel. Dicke, dunkle Wolken lagen über dem Land. Es würde bald regnen. Die Alte rannte aus dem Haus und lief über den sandigen Weg zum Friedhof, der nicht weit von ihrer Wohnung lag.

Das große Tor war um diese Zeit verschlossen. Aber an der Seite, hinter der Mauer, war der flache Zaun schadhaft. Die Frau zwängte sich durch die Spalte und lief in die Dunkelheit.

Sie sah die kleine, düstere Kapelle, die dunklen Grabsteine, die Erdhügel, Büsche und Bäume. Sie fürchtete sich nicht, allein um diese Stunde auf dem Friedhof des kleinen Dorfes zu sein. Ihr ganzes Denken war ausgeschaltet. Sie folgte in dieser Sekunde nur einem einzigen Trieb: sie wollte noch einmal das Grab ihrer Tochter sehen. Dann stand sie davor. Schlichte, einfache Buchstaben zeigten den Namen der hier zur letzten Ruhe Bestatteten.

ANN MULLER

Das gepflegte Grab war unberührt und Ann Muller lag in ihrem Sarg. Ihr Körper musste nach vier Jahren schon in Verwesung übergegangen sein ... Doch ihr Gesicht vorhin – am Fenster – es hatte sich bewegt, es hatte in die Stube gestarrt, in der sie so oft gesessen ... Die Alte wandte sich ab. Ein Schauer lief über ihren Rücken. Konnten Menschen, von denen man genau wusste, dass sie tot waren – wiederkommen?

Er taumelte plötzlich zurück, sah die blutüberströmte Leiche zu seinen Füßen und schien erst in diesen Sekunden zu begreifen, was da eigentlich geschehen war.

Doch seine dunkelgrauen Augen blieben kalt und unpersönlich. Er empfand weder Reue noch Angst, dass die ungeheuerliche Tat entdeckt werden könne.

Mit ruhiger Hand legte er die Mordwaffe auf den Tisch, holte aus einem alten, klobigen Eichenschrank eine Plane, wickelte die Leiche darin ein und schleppte sie zu dem dunklen Kombifahrzeug, das draußen neben der Garage stand.

Düster erhoben sich die gewaltigen Eichen und Buchen in dem verwilderten Garten. Das abseits gelegene Landhaus Fonds war von der Straße her, die nur knapp einhundertfünfzig Meter entfernt lag, nicht zu sehen.

Drei Minuten später fuhr der Psychotherapeut davon. Der ratternde Motor unterbrach die Stille des Abends.

Fond benutzte einen schmalen, lehmigen Feldweg. Ohne nach links oder rechts zu sehen, passierte er die brachliegenden Wiesen und Äcker. Er erreichte eine stille, dunkle Straße, die mitten durch einen Wald führte. Als die freie Ebene sich wieder vor ihm ausdehnte, hatte er gerade drei Kilometer zurückgelegt.

Er sah das dunkle, altmodische Haus mit den spitzen Giebeln vor sich. Ein Überbleibsel aus dem letzten Jahrhundert.

Zahlreiche Fachwerkbalken schimmerten zwischen einer Gruppe mächtiger Bäume hindurch. Der Weg führte hügelan. Zu dem abseits gelegenen und unbewohnt scheinenden Haus gehörte eine ausgedehnte Wiese, die bis an den unbefestigten Weg heranreichte. Ein Gatter, etwa hüfthoch, das mit einem Stacheldrahtverhau versehen war, umschloss die riesige Wiesenfläche.

Das Kombifahrzeug ruckelte den Hügel hinauf. Dr. Fond hielt an. Er hatte einen Schlüssel in der Tasche, mit dem er das über drei Meter hohe, schwere Tor aus groben Balken öffnen konnte. Knarrend schob er die beiden Seiten zurück und fuhr bis an das Haus heran.

Alle Fensterläden waren geschlossen. Kein Geräusch drang aus dem Haus.

Fond schob den verrosteten Riegel vor einer Tür zurück, die zum Keller führte. Dumpfe, modrige Luft schlug ihm entgegen. Düster zeichneten sich die kahlen, rohen Wände ab.

Er holte die Leiche, schleppte sie in das Gewölbe und legte sie auf eine Bahre, die in einer Nische stand.

Nur sein Atem war zu hören und seine dumpfen Schritte, die hohl durch die Finsternis hallten.

Mit verschlossenem Gesicht ging er auf die vorderste Tür zu.

Henry Fonds Gesicht spannte sich, als würde ihn eine eiskalte Dusche treffen.

Sekundenlang verhielt er im Schritt, dann erst drückte er die kalte Bronzeklinke herunter.

Er betrachtete den langen, dunklen Raum. Eine Gestalt kam auf ihn zu, lautlos, gebückt, und streckte ihre Hand aus.

Hinter einem dichten Schleier aus langen, krausen Haaren, die über dem Gesicht der merkwürdigen Gestalt wuchsen, wurde ein leises, kicherndes Lachen hörbar.

Ein nackter Frauenarm streckte sich dem Ankömmling entgegen, als sollte er begrüßt werden.

Wie aus weiter Ferne vernahm Henry Fond jetzt die unheimlichen Geräusche, ein gequältes Stöhnen oder Wimmern, einen unterdrückten Aufschrei, ein hässliches, grelles Lachen, das urplötzlich wieder verhallte, als wäre es nie gewesen ...

Henry Fond erschauerte nicht, und er fürchtete sich auch nicht. Er kam täglich hierher ...

1. Kapitel

Am nächsten Morgen hielt ein funkelnagelneuer Austin vor der Praxis Dr. Henry Fonds.

Der Psychotherapeut praktizierte hier seit anderthalb Jahren, zuvor war er in Glasgow gewesen. Niemand wusste eigentlich so recht, weshalb er die Großstadt mit Alness vertauscht hatte. Einige böse Zungen behaupteten, dass er nur für die High Society Schottlands und Englands zuständig war, die zu ihm kam, ob er nun in Glasgow wohnte oder hier in dieser abseits gelegenen Stadt.

Etwas war tatsächlich daran.

Doch hatte man auch beobachten können, dass Dr. Henry Fond immer öfter Patienten annahm, die keineswegs über einen großen Geldbeutel verfügten.

Der Mann, der den Austin vor dem Tor des großen, dreistöckigen Hauses parkte, in dem Fond fast völlig allein lebte, hieß Stuart White. Vor Jahren noch ein erfolgreicher Warenhausdetektiv, hatte er sich eines Tages selbständig gemacht und besorgte nun Informationen auf eigene Rechnung.

White war neunundzwanzig Jahre alt, sportlich und schlank. Er bevorzugte dunkelblaue und dunkelgraue Anzüge, zu denen er immer recht ausgefallene Krawatten trug.

White warf einen Blick zu dem düsteren, zurückgebauten Wohnhaus. Hinter den Fenstern der Dachwohnung glaubte er für den Bruchteil eines Augenblicks die Umrisse einer dunklen Silhouette zu sehen.

Seine Recherchen hatten ergeben, dass Fond die oberste Wohnung an eine alte, alleinstehende Frau vermietet hatte. Sie sollte einen sehr merkwürdigen Lebenswandel führen. Sie ernährte sich nur vegetarisch und von einer Vitaminpaste, die sie aus Kräuterauszügen selbst bereitete.

Man sah diese Frau, die das Leben eines Yogis führte – sie war zwölf Jahre lang durch Indien gereist – niemals in der Öffentlichkeit. Sie war schon Mitte Siebzig, sollte aber zwanzig Jahre jünger aussehen. Sie führte einen ruhigen, gesunden Lebenswandel, und White hatte herausgefunden, dass manchmal Frauen zu ihr kamen – sehr junge Vertreterinnen ihres Geschlechtes –, um sich mit ihr zu unterhalten. Die alte Blanche, wie sie hieß, sollte hochgeistige Gespräche führen. Die Unterhaltung, die sie mit ihren jugendlichen Gästen pflegte, war so kompliziert, dass ein Außenstehender kaum mitkam. Der junge Detektiv näherte sich der Haustür.

Ein junges Mädchen im weißen Kittel öffnete.

»Guten Morgen«, sagte sie freundlich.

Sie sah entzückend aus. Sie trug das seidig schimmernde, hellblonde Haar in zwei ungeflochtenen, dicken Zöpfen, die lustig an ihr aussahen. White pfiff leise durch die Zähne.

»Wenn ich Sie sehe, dann kriege ich direkt Lust, mich behandeln zu lassen. Können Sie mir keinen Komplex empfehlen?« Er grinste von einem Ohr zum anderen. Stuart White wusste, dass er gut aussah, und seine Erfolge bei den Frauen gaben ihm recht. Er hätte an jedem Finger zehn haben können, aber er genoss sein Junggesellenleben. Helen Carter sah ihn mit einem Unschuldsblick an.

»Vielleicht kann Dr. Fond Sie wirklich behandeln«, entgegnete sie leise. Ihre Stimme klang so sexy, wie die junge Dame aussah, und White musste sich dazu zwingen, ihr in die Augen zu sehen und nicht auf den provozierenden Ausschnitt, der ihre beiden Brüste nahezu bloßlegte. »Ich glaube, Sie leiden an übermäßigem Selbstbewusstsein«, fuhr sie fort. Sie zeigte zwei Reihen blitzsauberer Zähne.

»Fein, dann führen Sie mich mal zu Ihrem Doktorchen. Ich glaube, ich bin an der richtigen Adresse.«

Er wollte sich an ihr vorbeidrängen. Aber sie gab den Weg nicht frei. Sie wich auch nicht zurück, als er ihr auf Tuchfühlung gegenüberstand.

»Dr. Fond ist beschäftigt. Wir behandeln nur auf Anmeldung. – Wenn Sie mir jetzt endlich Ihren Namen sagen würden und das Flirten einstellten, dann wäre das vielleicht der erste Schritt ...«

»Zu einem Rendezvous?«, fragte White. Er zog interessiert die Augenbrauen hoch. Wenn er es mit einem besonders hübschen Girl zu tun hatte, dann fiel es ihm schwer, sachlich zu bleiben. Doch in Anbetracht des Auftrages, der ihn hierherführte, war es besser, die Zeit zu nutzen als zu vergeuden.

»Ich muss Dr. Fond in einer privaten Angelegenheit sprechen.« Er reichte der attraktiven Helen mit dem provozierenden Busen seine Karte. »Name und Adresse stehen drauf«, sagte er überflüssigerweise.

Das Mädchen warf einen Blick auf die Visitenkarte.

»Sie sind Detektiv?«, fragte Helen Carter überrascht. Er nickte. »Sieht man mir das nicht an?«

Sie senkte den Blick, und Stuart White fuhr fort: »Es geht um eine recht mysteriöse Angelegenheit. Mein Klient wünscht, etwas über eine bestimmte Person zu erfahren. Und es hat ganz den Anschein, als ob diese Person – eine Dame – eine Patientin von Dr. Fond gewesen ist ...«

»Gewesen ist?«, wiederholte Helen. Sie warf den Kopf zurück, dass die dichten Zöpfe flogen. »Sie reden von ihr – wie von einer Toten!« White zuckte die Achseln. »Vielleicht ist sie es auch, man weiß noch nichts Genaues ...« Die Assistentin Dr. Fonds führte den jungen Privatdetektiv ins Haus.

»Bitte warten Sie hier«, sagte sie, während sie eine Schiebetür lautlos zurückgleiten ließ.

White blickte in ein kleines, wohnliches Zimmer, in dem außer einem Barschränkchen, einer lederbezogenen, schweren Polstergarnitur und einem flachen Couchtisch keine weiteren Einrichtungsgegenstände zu sehen waren.

»Ich werde Dr. Fond von Ihrer Anwesenheit sofort unterrichten.« Mit diesen Worten ließ Helen ihn allein. Mit wiegenden Hüften, die sich stramm unter dem enganliegenden Kittel abzeichneten, ging sie davon.

Stuart White zündete sich eine Zigarette an. Er stand eine Weile am Fenster und blickte auf die freundliche Allee hinab, die sich am Haus entlangzog.

Dahinter begann, nach einer hohen Bodenwelle das hügelige Land, die Felder und die Wälder.

Fond wohnte ziemlich außerhalb.

Die Gestalt des Psychotherapeuten war ihm, White, ein Rätsel. Es gab da einige Dinge, die nicht zusammenpassten.

»Sie wollten mich sprechen?« Die Stimme erklang urplötzlich hinter ihm. White wirbelte herum. Er hatte den Mann nicht kommen hören.

»Anschleichen ist nicht meine Art«, entschuldigte Fond sich mit konziliantem Lächeln, das White viel zu glatt war. »Aber überall im Haus ist Teppichboden verlegt. Da kann es schon passieren, dass man jemand nicht hört.«

Der Detektiv ging auf Fond zu.

Deutlich sichtbar hielt er die Visitenkarte Whites in der Hand. »Sie wollten mich in einer bestimmten Angelegenheit sprechen? Ich möchte Sie bitten, die Sache kurz zu machen, da – wie Sie wohl verstehen werden – meine Zeit äußerst knapp bemessen ist. Ich befinde mich mitten in einer Session und die Gefahr, dass ich den Faden verliere, ist sehr groß. Also bitte, worum geht es?«

Er bot White einen Platz an und fragte ihn, ob er etwas zu trinken wünsche. Der Detektiv lehnte ab.

»Nein, danke ...« Er griff in sein Jackett und nahm die aus marokkanischem Leder verfertigte Brieftasche heraus. Gleich obenauf lag ein Foto in der Größe einer Postkarte.

»Kennen Sie eine Miss Joan Rowley?« White fragte es scheinbar ganz beiläufig. Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete er aber dabei die Reaktion seines Gegenübers sehr genau.

Fond blickte erstaunt auf. »Rowley – Joan Rowley sagten Sie?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, tut mir leid, den Namen habe ich nie gehört. Warum fragen Sie nach ihr?«

White hielt das Foto in der Hand, aber er drehte dem Doktor noch immer die Rückseite zu.

»Joan Rowley wurde gestern Abend von – von jemandem erwartet, Doktor«, sagte White mit ruhiger Stimme. Er wollte schon den Namen sagen, aber er ließ Fond absichtlich im Ungewissen. »Sie kam nicht zum verabredeten Zeitpunkt. Daraufhin hat dieser Jemand angefangen, sich Gedanken zu machen und mich beauftragt, der Sache nachzugehen. Es scheint so zu sein, dass Joan Rowley in den letzten Wochen und Monaten sehr oft in diesem Haus ein und aus gegangen ist, Doktor.«

Fond zuckte die Achseln. »Es tut mir leid!« Er war die Ruhe selbst. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Ich kenne keine Joan Rowley. Sie war niemals in meiner Behandlung. Das müsste ich doch wissen.«

Wortlos reichte White dem Psychotherapeuten das Foto. Es zeigte Joan Rowley in einer Porträtaufnahme.

Sie lächelte, der Mund war halb geöffnet, ihre dunklen Augen blickten verlockend und verführerisch.

Fond sah sich das Bild eingehend an, und in der gleichen Zeit studierte White aufmerksam jede Reaktion seines Gegenübers. Nichts! Fond war so kalt wie ein Eisberg.

»Es tut mir leid! Sie müssen sich wirklich getäuscht haben. Ich habe eine Joan Rowley nie in meinem Leben gesehen.«

»Dann erübrigt sich jede weitere Sekunde, die ich Ihnen stehle, Doktor«, sagte White enttäuscht, während er das Foto wieder in die Brieftasche schob.

»Mein Besuch bei Ihnen war also umsonst. Schade!«

Fond erhob sich. »Das tut mir leid. Ich hätte Ihnen gern geholfen. Aber was nicht möglich ist ...«

Er verabschiedete sich von dem Privatdetektiv mit Händedruck. »Noch viel Erfolg. – Meine Assistentin wird Sie hinausbegleiten.«

Henry Fond ging davon. Seine Schritte waren auf dem dicken Teppichboden nicht zu hören.

White drückte die halbgerauchte Zigarette aus und wandte sich um, als Helen ihm entgegenkam.

»Das war ein recht kurzer Besuch«, sagte sie lächelnd.

»Mir scheint, dass ich mir demnächst doch irgendeinen Komplex zuziehen werde. Behandlungen dauern hier wahrscheinlich länger.« Sie nickte. »Manche Patienten kommen Monate – manche sogar Jahre zu uns.«

Er ging langsam an ihrer Seite zum Ausgang. »Haben Sie sich's überlegt?«, fragte er.

»Überlegt? Was?« Ihre Augen blitzten.

»Nun, Sexhäschen – ich habe vorhin gleich nach unserer Bekanntschaft etwas von einem Rendezvous gesagt. Erinnerst du dich nicht mehr?«

»Bei Ihnen geht das ja ziemlich schnell.«

»Es ist das Tempo unserer Zeit, Darling. Ich war einmal verlobt ...«

»Ah, interessant!«, bemerkte sie spitz.

»Sie müssen mich ausreden lassen. – Ich hatte das Mädchen am Vormittag kennengelernt. Mittags um zwei verlobte ich mich mit ihr – abends um sechs waren wir wieder entlobt. Das ist ein Tempo, was?« Er lachte.

Es war so ansteckend, dass es ihr schwerfiel, ernst zu bleiben. »Ihr Temperament ist bewundernswert, Mister White.« Er winkte ab.

»Vererbung«, sagte er leichthin. »Meine Großeltern waren noch waschechte Iren.« Er fuhr sich durch die Haare, als wolle er Helen darauf aufmerksam machen, dass sie rotblond waren. »Echtes, altes Irenblut strömt in meinen Adern. Mein Vater sagte einmal, dass alles, was er sich vorgenommen hatte im Leben, sich auch erfüllt habe. Er hätte niemals locker gelassen. Man muss eine Sache nur wirklich wollen, mein Sohn, sagte er einmal zu mir. Dann erreicht man sie auch. Mein Alter hatte recht. Ich habe es bisher so gehalten. Und es hat immer funktioniert.«

»Bei mir nicht, Mister White!«

»Aber Darling – bei deinem Aussehen? Man braucht sich doch wirklich nicht zu schämen, dich irgendwohin mitzunehmen. – Kennst du übrigens Jackie?«

»Die Frau von Onassis?«

»Nein, die nicht. Ich meine Jackie – vom Hausboot, Jackie the Ripper, wie sie ihn hier nennen.« Sie schüttelte sich. »Das ist ja eine scheußliche Bezeichnung, Mister White.«

»Aber, Kindchen, du kriegst heute alles in die falsche Kehle. Keinen guten Tag erwischt, was? Ich sagte nicht: Jack the Ripper – der ist doch lange tot. Ich sagte ganz deutlich Jackie. Aber das ist natürlich nicht sein richtiger Name. Er ist Grieche. Wie er wirklich heißt, weiß eigentlich kein Mensch. Jedermann in der Gegend nennt ihn Jackie. Etwa zehn Meilen von hier entfernt, mitten im Wasser, liegt das Piratenschiff – und dort ist heute Abend eine Party. Bei Jackie verkehren nur junge Leute. Es wird gesungen, getanzt, gescherzt, geküsst ... wie es gerade beliebt. Alles, was dir Spaß macht, kannst du dort haben. – Überleg' es dir mal, Bunny. Meine Anschrift hast du ja – die Telefonnummer steht ebenfalls auf der Karte. Ich warte auf deinen Anruf bis um sieben. Wenn ich bis dahin nichts von dir höre, muss ich leider Rosy anklingeln. Sie sieht nicht schlecht aus, aber sie ist bei weitem nicht so nett wie du.«

»Auf Wiedersehen, Mister White«, sagte Helen Carter, als er die Türschwelle passierte.

Er warf noch einmal einen Blick auf ihre provozierende Figur, seufzte und nickte grüßend.

»Bis heute Abend dann, Baby ...« Er ging zwei Schritte und wandte sich nochmal um. »Vergiss nicht, anzurufen! Es wird bestimmt ein reizender Abend. Ich kenne mich ...«

White fuhr geradewegs nach Hause. Er wohnte fast am anderen Ende von Alness. Das Wohnhaus stand zweihundert Meter von einem großen Gasthaus entfernt, das seit urdenklichen Zeiten ein verwittertes Schild am Sandsteinpfosten des verrosteten Tores hängen hatte: Fremdenzimmer zu vermieten.

Selbst zur Hauptsaison war dieses Restaurant niemals voll belegt. Der Besitzer legte keinen großen Wert auf Komfort, und dies war mit ein Grund, weshalb viele Gäste ausblieben.

Stuart White parkte hinter einem alten VW, der vor dem Haus stand, in dem er wohnte. Mit einem raschen Blick auf die andere Straßenseite vergewisserte er sich, ob dort ein grüner Triumph Vitesse stand. Er sah ihn.

Also war sie schon da.

Er öffnete die Haustür und stürzte die Treppen hoch. Seine Schritte hallten durch den großen, kahlen Hausflur.

Stuart White wohnte im vierten Stockwerk. Seine Junggesellenbude befand sich direkt unter dem Dach. Die Vierzimmerwohnung, die er allein bewohnte, diente auch gleichzeitig als Büro. Er vermutete, dass er die längste Zeit in Alness verbracht hatte. Seine Aufträge, die ihn oft drei- bis vierhundert Kilometer von zu Hause fernhielten, hatten ihm schon so viel eingebracht, dass er mit dem Gedanken spielte, sich zu vergrößern. Ein großes, helles Büro in einem modernen Hochhaus, eine Funkzentrale, zwei, drei Mitarbeiter, und auch zwei oder drei hübsche Sekretärinnen waren sein Traumziel. Die schnittige Helen, die bestimmt auch die Schreibmaschine beherrschte ,würde gut in den Rahmen passen, schoss es ihm durch den Kopf ...

Trotz des schnellen Laufens geriet White nicht außer Atem. Sein sportlich durchtrainierter Körper wurde mit der Belastung mühelos fertig.

Er schloss die Tür auf. Seine Wohnung machte einen geräumigeren Eindruck, als dies normalerweise bei Dachbehausungen der Fall war. White hatte bei seinem Einzug einfach zwei Wände eingerissen und aus zwei kleinen Zimmern ein großes gemacht.

Wenn man den geräumigen Flur betrat, hatte man den Eindruck, in den Salon – wie er das gewaltige Wohnzimmer nannte – zu gelangen.

Und dort – wie von einem Meister mit zarten Pinselstrichen hingemalt – lag sie auf der großen, wuchtigen Couch!

Sie wandte ihm ihr Gesicht zu, erhob sich langsam und trat zu ihm in einem cremefarbenen, raffiniert geschnittenen Hausanzug.

Sie sah der jungen Frau, der Dr. Henry Fond in der letzten Nacht mehrere tödliche Messerstiche versetzt und dann in die Katakomben geschafft hatte, zum Verwechseln ähnlich ...

Der junge Mann mit dem braungebrannten Gesicht traf mit dem Zwölf-Uhr-Zug in Alness ein.

Er trug eine cremefarbene Hose und ein dunkelviolettes Sporthemd mit feinen Stickereien.

Auf den ersten Blick war dem Ankömmling nicht anzusehen, dass er amerikanischer Herkunft war.

Larry Brent, der sympathische und erfolgreiche PSA-Agent, schien Reisender zu sein, der eine kurze Stippvisite in Alness machte, ein Tourist, der nicht beabsichtigt, für lange Zeit zu bleiben. Larry hatte nur eine prallgefüllte Reisetasche dabei, die seine notwendigsten Utensilien enthielt.

X-RAY-3 war an diesem Tag aber alles andere als ein Tourist. Er hielt sich in der Nähe eines Mannes auf, der vor drei Tagen in den Staaten aufgebrochen und nach Europa geflogen war.

Ein Geheimbericht an die PSA sprach davon, dass Dr. Clay Morron, der berühmte Gehirnchirurg, eine Kapazität auf seinem Gebiet, einen Brief von einem gewissen Professor George Sanders erhalten hätte.

Genau das aber war etwas, was nicht sein konnte!

X-RAY-1 hatte sofort seinen besten Agenten auf die Spur von Dr. Clay Morron angesetzt.

In den höchsten Abteilungen der Regierung und der Abwehr hatte die Sache mit Professor Sanders seinerzeit großen Staub aufgewirbelt.

Was aus ihm geworden war, wusste eigentlich niemand so recht. Vor zwei Jahren geschah es: Professor Sanders, der in einer Sonderabteilung der NASA an Plänen arbeitete, die einen Cyborg ermöglichen sollten, war plötzlich verschwunden. Und mit ihm die Pläne, die die Grundlagen enthielten, auf denen eine zukünftige Forschergeneration aufbauen konnte.

Die Amerikaner wussten um die Dringlichkeit ihrer Weltraumpläne. Schon vor Jahren hatte ein anderer populärer Forscher, der in der gleichen Abteilung arbeitete, den Vorschlag gemacht, nicht Milliarden in die Entwicklung technischer Möglichkeiten zu stecken, um Vorrichtungen zu schaffen, die den Menschen vor den schädlichen Einflüssen des Alls bewahrte. Besser und billiger wäre es, den Menschen, der an die gewohnte Lebenssphäre seines Planeten gebunden sei und sie praktisch mitnehmen müsse, an eine neue Lebenssphäre zu gewöhnen und ihn gewissermaßen dem Weltraum anzupassen.

Anfang der sechziger Jahre waren diese Gedankengänge noch Utopie gewesen. Aber dann hatte man doch ernsthaft darüber diskutiert, hatte Pläne entworfen, wieder verworfen, und schließlich Cyborgs und sogenannte Saucer (Menschen, deren einziges lebendes Organ das Gehirn und der Kopf waren), auf dem grünen Tisch entwickelt. Larry hatte solche Konstruktionspläne von Menschen gesehen, die eigentlich keine Menschen mehr waren. Erschreckende, abstoßende und unheimliche Bilder drängten sich ihm auf, als er jetzt wieder daran dachte. Aber er wusste auch, dass die Generation der Zukunft solche Wesen – halb Mensch, halb Roboter – aus ihrem Alltag nicht mehr würde verdrängen können, dass sie in das Bild der Zukunft gehörten wie heute das Auto und das Flugzeug. Die Amerikaner hatten festumrissene Pläne.

Larry wusste, dass schon jetzt medizinisch alle Voraussetzungen geschaffen waren, um diese Wesen zu schaffen. Der stürmische Fortschritt der Medizin bei der Verpflanzung von lebenswichtigen Organen musste auch der Arbeit Professor Sanders neuen Auftrieb gegeben haben.

Hinzu kamen Entwicklungen von Kunstnieren und Kunstherzen.

Doch das komplizierteste Organ, das menschliche Gehirn, war trotz aller Fortschritte noch ein großes Geheimnis. Und gerade ihm hatte Sanders sich besonders gewidmet. Es hieß, dass er einmal in einem Zuchthaus vorgesprochen hätte. Man hatte ihn zu einem Todeskandidaten geführt, der auf seine Hinrichtung wartete, die in drei Tagen stattfinden sollte.

Sanders machte dem Mann den Vorschlag, sich für seine Versuche zur Verfügung zu stellen. Er könne ihm das Leben versprechen. Es würde allerdings ein Leben sein, wie er es bisher nicht gekannt habe, und von dem er, Sanders, selbst nicht einmal wisse, wie es sich dem Betreffenden äußere. Aber immerhin hätte er, der Todeskandidat, eine Gewissheit: er müsse nicht in der Gaskammer sterben. Als Sanders dem Mann die Pläne unterbreitete, soll er abgelehnt und drei Tage später den Gang in die Gaskammer angetreten haben.

Nach den genauen Darlegungen, die später der PSA zugingen, soll Sanders noch in der gleichen Woche verschwunden sein.

Die Abwehr, die CIA und das FBI schalteten sich ein. Man vermutete stark, dass er von einer feindlichen Macht abgeworben oder entführt worden sei. Doch für keine Annahme fand man jemals den Beweis. Schließlich vermutete man sogar, der Professor sei einem Verbrechen zum Opfer gefallen. Wochenlang suchte man jeden Winkel nach ihm ab, doch man fand nichts. Keine Spur von ihm, keine Spur von seiner Leiche.

Gras wuchs über die Sache. Der Fall Sanders lag unerledigt in den Archiven.

Die PSA nahm sich der Sache an, als plötzlich der Brief im Haus von Dr. Clay Morron eintraf. Ein Schreiben von Professor Sanders, hieß die vertrauliche Mitteilung eines Mannes, der der PSA nahe stand.

Was war wirklich dran?

X-RAY-3 sollte es herausfinden. Es schien, dass X-RAY-1 einen bestimmten Verdacht hatte, aber offenbar wollte er den ersten Bericht Brents abwarten, ehe er sich zu weiteren Maßnahmen entschloss.

Larry hatte Dr. Morron, den Gehirnchirurgen, der in enger Verbindung mit dem Gesuchten gestanden hatte, aufmerksam beschattet. Es schien in der Tat irgendetwas an dem Verhalten Morrons nicht ganz in Ordnung zu sein. Er hatte den Flug nach London gebucht, war dort einen ganzen Tag lang geblieben. X-RAY-3 hatte den Grund nicht erkennen können. Offenbar bemühte Morron sich, sein Ziel nicht direkt anzusteuern und einen eventuellen Beschatter irre zu leiten.

Einen Tag später hatte der Gehirnchirurg sich nach Glasgow abgesetzt. Ihm war nicht bewusst geworden, dass Larry Brent, der seine Kleidung sehr oft gewechselt hatte, um nicht auf sich aufmerksam zu machen, auch hier nicht abzuschütteln gewesen war. Mit der ihm eigenen Einfühlungsgabe gelang es ihm, in der Nähe Morrons zu bleiben, ohne auch nur den geringsten Verdacht auf sich zu ziehen.

Nun schien der Gehirnchirurg sich entschlossen zu haben, sein wirkliches Ziel anzusteuern. Es gab einige Hinweise, die ganz deutlich zeigten, dass das schottische Städtchen Alness sein Endziel sein musste.

Larry Brent ließ den Forscher nicht aus den Augen, als er die Bahnhofshalle passierte. Zwei Gepäckträger schleppten die Koffer des Gelehrten. Vor dem Bahnhof stand das Taxi bereit. Larry ließ sich seine Verwunderung nicht anmerken. Die Angelegenheit war bis ins letzte Detail von Morron vorbereitet.

X-RAY-3 wartete, bis das Taxi mit dem Gehirnchirurgen abgefahren war. Dann stieg er selbst in einen bereitstehenden Wagen.

»Wollen Sie sich ein Pfund extra verdienen?«, fragte er den Chauffeur.

»Immer«, lautete die Antwort. »Was soll ich tun?«

»Nichts anderes, als Ihrem werten Kollegen auf der Fährte zu bleiben, das ist alles. Aber so, dass der Fahrgast nicht unbedingt bemerkt, dass wir hinter ihm her sind.«

Der Schotte mit den buschigen Augenbrauen grinste von einem Ohr zum anderen. »Solche Aufträge habe ich schon mehr als einmal erledigt. Sie sind meine Spezialität, Sir.«

Er warf den Motor an. Es klang, als ob jemand mit einer Mähmaschine unter der Motorhaube des alten Vehikels hantieren würde.

Der Chauffeur zuckte die Achseln. »Tut mir leid, es klingt ein bisschen laut, ich weiß. Aber die Kiste fährt noch, darauf können Sie sich verlassen!«

»Das ist die Hauptsache.« Das Vehikel wackelte und klapperte, ließ sich aber erstaunlich gut beschleunigen.

Während der Fahrt öffnete der Amerikaner seine Reisetasche, nahm das in einem Extrafach liegende zitronengelbe Hemd heraus, zog das violette aus, legte es zusammen und schlüpfte in das gelbe.

Der Schotte riss die Augen auf. Er beobachtete die Maskerade seines Fahrgastes im Innenspiegel.

»Gehören Sie zu den Parodisten um Charly La Mer?«, fragte er heiter. Larry hielt inne. »Charly La Mer?«, echote er. »Nie gehört. Wer ist das?«

»Er ist der größte männliche Stripper, den ich jemals im Westend von London gesehen habe«, plauderte der fröhliche Schotte munter drauflos. »Kürzlich habe ich eine Tante dort besucht. Abends machte sie mir den Vorschlag, in ein Striptease-Lokal zu gehen. Ich war natürlich hell begeistert. Aber ich wunderte mich, dass die alte Dame mir, ihrem Neffen, einen solchen Vorschlag machte. Nun, dann merkte ich, was dahintersteckte: sie führte mich in ein Striptease-Lokal, in dem keine Girls auftraten – sondern als Mädchen verkleidete Männer! Charly ist 'ne Wucht, Mister! Ich habe Tränen gelacht. Diese Kleider, diese Perücken, dieses Make-up, und vor allen Dingen: diese Mimik! Als er schließlich mit seiner Lendenschnur dastand, tobten die Zuschauer vor Begeisterung. Neben mir am Tisch saß am gleichen Abend ein alter Opa. Offenbar war ihm gar nicht bewusst geworden, dass er in ein Lokal geraten war, in dem Parodien gezeigt wurden. Als der Stripper ziemlich am Ende war, wandte er sich an mich und meinte, dass das Mädchen doch zu bedauern sei: Sie hätte ja gar keinen Busen!«

Larry lachte. Er schlüpfte in sein gelbes Hemd. »Nein, mit der Gruppe um Charly La Mer habe ich nichts zu tun. Ich habe auch kein Interesse daran, Stripper zu werden, und ich probe auch nicht meinen Auftritt für den heutigen Abend. Meine Verkleidung hat ganz gewöhnliche Gründe. Zugfahren ist nicht immer das Ideale, nicht wahr? Wenn ich jetzt in einem piekfeinen Hotel absteige, dann möchte ich das gern in sauberer Kleidung tun. Ich habe gerade noch einmal zum Wechseln dabei. Mein Gepäck folgt nach.«

Es stimmte eigentlich nur seine letzte Bemerkung. Sein Gepäck wurde ihm schon seit drei Tagen nachgereicht. Ein Mittelsmann der PSA, der in London stationiert war, hatte diese undankbare Aufgabe übernommen. Solange Larry noch kein festes Quartier bezogen hatte, war es sinnlos, mit einem Berg Gepäck in der Gegend herumzureisen. Der Mittelsmann wurde jeweils am Ende eines Tages informiert und kam mit dem Gepäck nach. Larry hoffte, dass das Zigeunerleben der letzten drei Tage nun hier sein Ende fand, und er über alle Annehmlichkeiten verfügen konnte, die sein umfangreiches Gepäck ihm bot.

Ohne dass der Fahrer es merkte, wechselte Larry auch die Hose. Er trug jetzt eine dunkelgraue. Die cremefarbene rollte er einfach zusammen, stopfte sie in die Reisetasche und verschloss sie wieder.

Dann löste er langsam einen haarfeinen Faden, der an den Nähten der Tasche entlanglief. Die oberste Lederschicht löste sich ab. Er konnte die Hülle wie eine Folie davon abziehen. Die Tasche war jetzt nicht mehr braun, sondern schwarz. Das Gepäckstück war ihm in London überreicht worden. Er hatte jetzt noch vier weitere Möglichkeiten, Farbe und Muster der Reisetasche zu verändern.

Die Fahrt dauerte knapp zehn Minuten.

Dann erreichte das vor ihnen fahrende Taxi das Star Hotel. Larry gab dem Fahrer ein Zeichen, ebenfalls zu stoppen. Er hielt am hintersten Ende des Parkplatzes und beobachtete von seinem Platz aus, wie der Gehirnchirurg ausstieg.

Vom Portal her lösten sich zwei livrierte Hotelpagen und nahmen das Gepäck des Forschers in Empfang.

Dr. Clay Morron war erwartet worden.

Larry Brent wartete so lange, bis die hochgewachsene Gestalt des amerikanischen Gelehrten im Hotel verschwand, dann lotste er seinen Taxichauffeur vor das Portal, zahlte, gab wie versprochen eine Pfundnote mehr und stieg dann langsam die breiten Stufen zum Glasportal hoch. An der Rezeption erkundigte er sich nach einem Zimmer, während Dr. Clay Morron, nur zwei Schritte von ihm entfernt, sich bereits in das Gästebuch eintrug.

Larry, der mit dem zweiten Angestellten hinter der Rezeption sprach, redete gerade so laut, dass Morron ihn noch verstehen musste.

»... ich bin nur auf der Durchreise. Ich habe morgen geschäftlich in Alness zu tun. Es ist anzunehmen, dass ich das Zimmer nur für eine Nacht brauche. Mein Aufenthalt hier hat sich erst im letzten Augenblick ergeben, so dass ich keine Gelegenheit hatte, ein Zimmer vorzubestellen. Wäre es möglich ...«

Es war möglich. Larry bekam ein Zimmer. Die Haupturlaubszeit war noch nicht angebrochen, und er hätte eine ganze Etage mieten können, wenn er das gewollt hätte.

Die Pagen brachten das Gepäck des Gehirnchirurgen zum Lift. Larry beobachtete aus den Augenwinkeln heraus, welcher Schlüssel für Morron abgenommen wurde. Zimmer 146 ...

Er, der Agent, bekam Zimmer 157. Auf dem gleichen Gang also. Larry begrüßte diesen Zufall.

»Ich möchte gern noch telefonieren«, hörte er dann die Stimme Morrons.

Der Chirurg sprach ruhig und gelassen. Und doch kam es Larry vor, als würde eine gewisse Nervosität in Morrons Worten mitschwingen.

Während X-RAY-3 rasch seine Eintragung erledigte, ging Morron zur Telefonzelle. Es gab drei von ihnen, keine fünf Schritte von der Rezeption entfernt.

Larry nahm seine Tasche und betrat einfach die zweite Zelle. Sie lag in der Nische hinter der ersten.

Brent war völlig aus dem Blickfeld Morrons.

Der Spezialagent zündete sich eine Zigarette an und hielt dann seine linke Hand mit dem schmalen, würfelförmigen Feuerzeug so gegen die Seitenwand der Telefonzelle, dass die Bewegung ganz zufällig wirkte. Dann blätterte er mit der anderen Hand im Telefonbuch, als suche er eine bestimmte Nummer.

Ein kaum merkliches Lächeln lag auf seinen markanten Lippen.

Er war im gleichen Hotel wie Dr. Morron. Und er nahm, ohne dass dem Gehirnchirurgen das bewusst war, in diesem Augenblick an dem Gespräch teil, das der Forscher jetzt führte.

Das Spiel konnte beginnen!

Wohin es ihn allerdings führte, das sah er in diesen Sekunden noch nicht voraus. Das Grauen hätte ihn gepackt.

Er wartete, bis Clay Morron seine Zelle verließ. Schließlich wählte er selbst eine x-beliebige Nummer, gab achselzuckend auf, als niemand sich meldete, nahm seine Reisetasche und suchte sein Zimmer auf.

Brent schloss sofort alle Fenster, riegelte die Tür hinter sich zu und nahm dann das schmale, würfelförmige Feuerzeug aus seiner Tasche. Er löste die obere Platte und schob das fingerlange Miniaturtonbandgerät heraus. Die beiden Spulen auf der fingerbreiten Apparatur waren nicht größer als sein Daumennagel. Das Spezialband war hauchdünn und hatte eine maximale Aufnahmekapazität von zweimal sieben Minuten.

Surrend liefen die Spulen. Dann drückte Larry den winzigen Knopf.

Deutlich waren die Geräusche zu hören, die Dr. Clay Morron in der Telefonzelle verursacht hatte. Man hörte, wie er den Hörer abnahm, wie er Münzen in den Schlitz warf – und wie er wählte. X-RAY-3 war ein Bild konzentrierter Aufmerksamkeit. Er verfolgte die Geräusche der sich drehenden Wählscheibe sehr genau und notierte sich aufgrund der Länge des Geräusches die Zahlen auf seine Zigarettenpackung.

Dann hörte er die dunkle Stimme Morrons. »Ich bin in Alness. Was soll ich jetzt tun?«

Stille. Das Band rauschte leise. Die Aufnahmekapazität war nicht so hoch, dass jetzt auch die Antwort des Gesprächsteilnehmers von Morron zu hören gewesen wäre. Eine ganze Minute verging. Dann meldete sich noch einmal die Stimme Morrons: »Gut. Ich richte mich danach.«

Er hängte ein.

Larry Brent ließ das Band wieder zurücklaufen, schob es in die Vorrichtung des Feuerzeugs und klemmte den Metallstreifen darüber. Er steckte es in seine Tasche, warf einen Blick auf die sechs Zahlen, die er auf seiner Zigarettenschachtel stehen hatte, räumte in aller Ruhe seine Reisetasche aus und verstaute seine Sachen im Schrank. Dann verließ er sein Zimmer und betrat abermals die Telefonzelle. Er wählte die Nummer, die Morron ebenfalls gewählt haben musste. Wer würde sich melden?

Professor Sanders?

Brents Puls schlug etwas rascher.

Es knackte in der Leitung, dann meldete sich eine Frauenstimme am anderen Ende der Strippe.

»Praxis Dr. Fond. Guten Tag ...« Er wusste, was er hatte wissen wollen, und entschuldigte sich mit einem dumpf gemurmelten: »Oh, dann bin ich falsch verbunden ...« Brent legte auf. Seine nächste Routinearbeit bestand darin, über den PSA-Ring, den er ständig trug, einen Bericht an X-RAY-1 abzustrahlen.

In seinem Zimmer angekommen, informierte er seinen geheimnisvollen Chef über den augenblicklichen Stand der Dinge, und auch darüber, dass er beabsichtige, der Praxis dieses Dr. Fond einen Besuch abzustatten.

Stuart White pfiff leise durch die Zähne, als er Jeanne Rowley auf sich zukommen sah.

»Wenn ich gewusst hätte, dass du heute wieder mal so verführerisch bist, dann hätte ich mein Gespräch bei Dr. Fond schneller zu Ende gebracht.«

Jeanne Rowley lächelte charmant. Sie legte ihre schmalen Hände auf die Schultern Whites und fuhr langsam seinen Nacken hoch.

»Wie ich dich kenne, hast du garantiert nicht nur mit Fond gesprochen. Soviel mir bekannt ist, hat er eine verdammt hübsche Assistentin eingestellt, alter Casanova.«

White schloss die Tür hinter sich. »Du solltest dich an meiner Arbeit intensiver beteiligen, Jeanne. Dein Scharfsinn hat etwas für sich.«

»Was hast du über Joan herausgefunden?« Jeanne Rowley erwiderte voll den Blick des jungen Privatdetektivs. Sie glich ihrer Schwester wie ein Ei dem anderen. Sie hätten Zwillinge sein können. Doch Jeanne war zwei Jahre jünger als Joan.

»Er hat behauptet, sie niemals gesehen zu haben.«

Jeanne sah ihr Gegenüber an, als wäre er nicht ganz richtig im Kopf. »Das darf nicht wahr sein. Du willst doch damit nicht etwa sagen, dass du ihm glaubst, Stuart?«

White zuckte die Achseln. Umständlich suchte er nach seiner Zigarettenpackung. »Es ist so eine Sache, Jeanne«, begann er, leise und unbeholfen, als fiele es ihm schwer, die richtigen Worte zu finden. »Ich habe ihn beobachtet. Ich habe meine Erfahrungen mit Menschen, und ich bilde mir auf meine Menschenkenntnis etwas ein. Es scheint wirklich so, dass das Foto ihm nichts sagte, der Name Joan Rowley auch nicht, und das Gesicht erst recht nicht ...«

»Unmöglich«, unterbrach Jeanne ihn. Sie nahm ihm die Zigarette, die er sich angezündet hatte, einfach aus dem Mund und schob sie sich zwischen die feuchtschimmernden Lippen. »Joan hat mindestens zehn Sessions in Fonds Haus durchgemacht. Niemand wusste davon, nur ich. Joan litt seit etwa drei Monaten unter zunehmenden Depressionen. Sie trug sich mit Selbstmordgedanken. Dr. Fond war ihre Hoffnung. Schon nach der ersten Sitzung fühlte sie sich erleichtert. Ich hatte Fond im Verdacht, dass er einen leichten hypnotischen Einfluss auf sie ausübte, einen Einfluss allerdings, der ihr guttat. Joan wollte mich gestern Abend nach meinem Auftritt im Scotch Horse besuchen. Sie hatte die genaue Zeit angegeben. Sie sagte, dass sie direkt von der Sitzung Fonds käme. Aber Joan kam nicht!«

»Was schließt du daraus?«

Sie wandte sich ab. Ihr fester Busen hob sich unter einem tiefen Atemzug.

»Dass da irgendetwas nicht stimmt. Ich hatte dafür gesorgt, dass Joan zu einem Psychotherapeuten in Behandlung kam. Das tat ihr gut. Schon deshalb, weil die Behandlung zweihundert Kilometer von ihrem Wohnort entfernt stattfand und niemand von ihren Freunden und Bekannten erfuhr, dass da eventuell etwas mit ihr nicht in Ordnung sein könnte. Joan war aber auch ein Teufelsweib. Sie hat mir gegenüber erwähnt, dass sie wisse, Fond sei Junggeselle, er wäre steinreich, er stänke förmlich nach Geld ... Ob man sich vielleicht, als Patientin, nicht an ihn heranmachen könne? – Warum nicht? sagte ich damals. Wenn die Patientin dementsprechend aussieht ... Etwas geht hier nicht mit rechten Dingen zu, Stuart! Ich habe mich sofort an dich gewandt. Schließlich kennen wir uns schon lange. Wir sind befreundet.«

Sie lehnte sich an seine Schulter. »Joan und ich – wir sehen uns selten. Das kam durch die räumliche Trennung. Aber wir mochten uns immer. Wir haben uns eigentlich nichts verschwiegen.«

Er ging auf ihre letzte Bemerkung nicht ein. »Warum hast du mich und nicht die Polizei verständigt?«

Sie seufzte und streichelte seinen Nacken. »Erstens würde man mich dort doch nicht ernst nehmen. Schließlich ist Joan eine erwachsene Person und kann machen, was sie will. Eine Vermisstenanzeige aufzugeben, dazu wäre es zu früh. Zweitens war die Tatsache, dass Joan ihr Versprechen nicht hielt für mich ein Grund, mich wieder mal mit dir in Verbindung zu setzen.« Sie sah sich um. Ihre Augen schimmerten geheimnisvoll. »Ich habe lange deine Wohnung nicht gesehen – und ich habe dich lange nicht im Scotch Horse gesehen.«

Ehe er etwas darauf erwidern konnte, fühlte er ihre feuchten, heißen Lippen auf seinem Mund. Er erwiderte lange ihren Kuss, dann löste er sich langsam von ihr. »Du verstehst die Dinge falsch, Jeanne«, sagte er leise. »Mein Beruf – er frisst mich auf. Früher konnte ich stundenlang im Scotch Horse sitzen – heute ist das etwas anderes. Aber von diesen Dingen wollen wir nicht reden. Du weißt, dass ich bisher sehr beständig mein Junggesellendasein verteidigt habe. Ich gedenke, das auch weiterhin zu tun. Ich muss feststellen, dass du deiner Schwester nicht nur täuschend ähnlich siehst, sondern offenbar auch eine ähnliche Geisteshaltung hast. Sagtest du vorhin nicht, dass Joan ein Auge auf Dr. Fond geworfen hätte? Vielleicht hat ihn das gestört, und er wollte ihr einen Denkzettel verpassen. Vielleicht hat er sie in eine Gummizelle gesperrt, um sie zur Vernunft zu bringen – es ist nicht immer gut, wenn Frauen hinter Männern her sind.«

»Im Zeitalter der Emanzipation haben wir alle die gleichen Rechte und Pflichten. Wenn einer Frau ein bestimmter Mann gefällt, dann kann sie ihm meiner Meinung nach ebenso nachsteigen, wie das ein Mann tut, wenn er wild nach einem Mädchen ist, nicht wahr?«