Larry Brent Classic 013: Die Blutsauger - Dan Shocker - E-Book

Larry Brent Classic 013: Die Blutsauger E-Book

Dan Shocker

0,0

Beschreibung

Das Beinhaus der Medusa Dem Mann stockt der Atem, als er die dunkle Tür erreicht. Er weiß, daß sich dahinter ein Geheimnis befindet, doch er muß vorsichtig sein. Da geschieht es auch schon. Die Dunkelheit in der kleinen, schloßähnlichen Villa scheint plötzlich von geisterhaften Leben erfüllt zu sein. Eine dünne, blasse Hand schießt aus der Dunkelheit hervor, und blitzender Stahl dringt tief in den Körper des Eindringlings. Tödlich getroffen sinkt er zu Boden. Wieder einmal hat das Schloß sein Geheimnis bewahrt. Ein grauenhaftes, denn die Herrin der Villa weiß, daß niemand ihre wahre Identität herausfinden darf. Sie ist Medusa, die Frau mit dem Schlangenkopf!!! Die Blutsauger von Tahiti Als Eva Sanders auf der Yacht eines Freundes zu einer heißen Party eintrifft, ahnt sie noch nicht, daß es der letzte Abend in ihrem Leben sein soll. Es herrscht eine tolle Stimmung an Bord. Auch Eva hat etwas getrunken, macht jeden Spaß mit und flirtet heiß mit Enio Saluta. Als sie alleine an Deck sind, springt sie kurz entschlossen in die nächtliche See. Enio hinterher. Da spürt sie einen Druck um ihre Fußgelenke, an ihren nackten Schenkeln. Wie eine Schlammschicht legt sich etwas um ihren Leib, und Panik krallt sich in ihrem Herzen fest, als sie verzweifelt erkennt, daß sie immer weiter in die Tiefe gezogen wird. Wenig später treibt ein plumper Schleimberg durch die See. Unbekanntes Grauen hat zugeschlagen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 313

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DAN SHOCKERS LARRY BRENT

BAND 13

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Fachberatung: Robert Linder

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

978-3-95719-813-6

Dan Shockers Larry Brent Band 13

DIE BLUTSAUGER

Mystery-Thriller

Das Beinhaus der Medusa

von

Dan Shocker

Prolog

Er hielt den Atem an, als er die dunkle Tür erreichte. Gunnar Mjörk blieb lauschend stehen und sah sich noch einmal um. Am bewölkten Himmel standen weder Mond noch Sterne. Der kühle Wind von der See her heulte leise in dem vom Herbst gefärbten Laub.

Es war eine finstere Nacht. Die Umgebung passte zu den Gedanken des jungen Norwegers und zu seinem Vorhaben. Er glaubte, das Geheimnis zu kennen. Jetzt wollte er sich den letzten Beweis holen ...

Die Erregung ließ sein Blut rascher durch die Adern strömen, und kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn.

Seine Nerven ließen ihn jetzt hoffentlich nicht im Stich.

Mit zitternden Fingern steckte er den Dietrich in das Schlüsselloch. Leise knackend bewegte sich der Riegel. Gunnar drückte die schwere, mit angerosteten Eisenbeschlägen versehene Tür langsam nach innen.

Zentimeterweise nur verbreiterte der Eindringling den Spalt. Muffige Luft schlug Mjörk entgegen. Er kannte diesen Teil des kleinen alten Schlosses nicht.

Die Gesellschaftsräume und die Ballsäle drüben auf der anderen Seite waren ihm ein Begriff. Erst seit vorgestern hielt er sich hier auf und war dabei auf das Rätsel gestoßen, das ihm schlaflose Nächte bereitete. War er wahnsinnig. Konnte das, was er vermutete, überhaupt wahr sein?

Mjörk trat über die Schwelle. Der finstere Gang nahm ihn auf. Im gleichen Augenblick schien die Dunkelheit vor ihm zu unheimlichem Leben zu erwachen.

Mjörk konnte nicht mehr die Flucht ergreifen. Er fand kaum die Zeit zu schreien.

Eine leichenblasse Hand schoss vor. Der blitzende Stahl bohrte sich genau in das Herz Gunnar Mjörks.

Der Getroffene riss die Augen auf, griff sich mit verkrampften Händen an die Wunde und fühlte, wie das warme Blut zwischen seinen Fingern durchrann.

Dumpf schlug Mjörk zu Boden. Sein Gesicht fiel in den fingerdick herumliegenden Staub.

Gunnar Mjörk wurde in die endlose Tiefe gerissen, in die schweigende Nacht, aus der es kein Zurück mehr gab.

Der Mörder riss ein Streichholz an. Er trug einen dunklen, aus bestem Wollkammgarn maßgeschneiderten Anzug, und es schien, als käme dieser Mann gerade von einer Party.

Er steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie mit dem bis zur Hälfte abgebrannten Streichholz an, das er noch immer zwischen den Fingern hielt.

Dann erst machte der Mann sich die Mühe, die Tür zu verschließen, die Mjörk halb geöffnet hatte.

Ein tiefer Atemzug hob und senkte seine Brust.

Björn Eriksen rauchte seine Zigarette zu Ende. Nur gelegentlich starrte er dabei auf den reglosen Körper zu seinen Füßen. Mit der weißbehandschuhten Hand warf er die halbgerauchte Zigarette schließlich zu Boden. Die feinen Spinnweben, die sich über den dicken Staubteppich ausbreiteten, fingen durch die glimmende Kippe Feuer und verschmorten lautlos.

»Du kannst herauskommen. Es ist alles zu Ende!« Eriksens Stimme klang dumpf. »Du siehst, dass ich recht hatte. Er ist zurückgekommen, obwohl er behauptete, während der nächsten Tage in Oslo zu tun zu haben. Er war überhaupt nicht in Oslo. Ich habe ihn beobachtet, als er den Berg heraufkam. Und deine Vermutung, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach durch den alten Seitenanbau käme, hat sich ebenfalls erfüllt. Er musste den Haupteingang meiden. Seine Ankunft im Schloss wäre dort von den Bediensteten nicht unbemerkt geblieben. Das Spiel ist aus, er wollte es so ...!«

Fast schien es, als würde Eriksen zu einer unsichtbaren Gestalt sprechen. Er wandte sich langsam um und starrte in die finstere Nische, die sich an die rohe Mauer anschloss.

Dort regte sich jetzt etwas. Etwas Weißes kam durch die Dunkelheit auf ihn zu und leuchtete wie ein Gespenst. Das helle Gewand der jungen, ungewöhnlich schönen Frau war knöchellang und schmiegte sich weich und fließend an den schlanken, wohlproportionierten Körper. Die Frau näherte sich Eriksen lautlos. Sie trug auf dem Kopf einen geschmackvoll gebundenen Turban aus weißer Seide.

Inger Bornholms Miene war ernst. Doch dieser Ernst konnte ihre außergewöhnliche Schönheit, die Faszination, die ihre kirschdunklen Augen und das beinahe griechische Profil ausstrahlten, nicht verbergen.

Inger lehnte den Kopf an Eriksens Schulter.

»Ich kann es noch immer nicht fassen«, murmelte sie und wandte den Blick ab. Ein leichter Schauer lief über ihren Körper. »Ist er wirklich tot?« Eriksen nickte. »Ja. Und hätte ich mich nicht entschlossen, es zu tun, dann läge ich jetzt an seiner Stelle hier am Boden.«

Inger Bornholm schüttelte sich. Erik spürte die Nähe des verlockenden, warmen Körpers, und ein wildes Verlangen bemächtigte sich seiner. Er riss die hübsche Inger herum und presste seine Lippen auf ihren feuchtschimmernden Mund. Mit sanfter Gewalt löste sie sich wieder von ihm. »Nicht hier und nicht jetzt.« Ihre Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.

»Du wolltest mit«, erwiderte er hart, bereute aber gleich wieder, so heftig gesprochen zu haben. »Entschuldige, Liebling«, murmelte er dumpf. »Ich bin etwas nervös.«

»Das bleibt nicht aus, wenn man so merkwürdige Abmachungen trifft.«

»Es geschah in deinem ...« Er unterbrach sich sofort wieder, als er die großen, sanftblickenden Augen auf sich gerichtet sah, »... es geschah selbstverständlich in unser beider Interesse, Inger ... Nur einer konnte der Sieger sein. Vor zwei Tagen, bei der letzten Party, die du veranstaltet hast, gab Mjörk mir zu verstehen, dass ich ein toter Mann wäre, wenn ich mich dir noch mal nähern würde. Daraufhin kam es zu einer Art Wette.«

»Ja, ich weiß. Jeder von euch wollte mich besitzen. Das ist eigenartig. Die Männer sind so merkwürdig. Sie schrecken vor nichts zurück, wenn ...« Sie beendete ihre Ausführungen nicht.

Sie löste sich langsam von ihm und wandte sich um. »Ja, das haben mir schon viele Männer gesagt. Auch Gunnar Mjörk!«

Liebe macht blind – im Fall von Inger konnte man das sagen. Weder Eriksen noch Mjörk hätten geglaubt, jemals wegen einer Frau zu einem Mord fähig zu sein ...

Eriksen war so in Gedanken versunken, dass er aufschreckte, als Ingers Stimme aufklang. »Die Leiche muss verschwinden! Als du den Plan gefasst hast, dieses merkwürdige, heimtückische Duell auszutragen, hast du dir sicher auch Gedanken darüber gemacht, was geschieht, wenn Mjörk als Leiche vor dir liegt, nicht wahr?« Ihre Stimme hatte einen eigentümlichen Klang.

Eriksen, vierundzwanzig Jahre alt, ein sportlicher, kräftiger Typ, ein Bursche aus bestem Hause, nickte. »Ich werde ihn irgendwo vergraben. Man wird ihn niemals finden.«

»Das Grab bitte nicht in der Nähe des Schlosses, Björn ...!«

»Dann schaffe ich ihn hinunter zum Steilufer. Ich werfe ihn ins Meer.«

»Und wenn man ihn findet?«

»Das wird nicht geschehen.«

»Es gab schon die seltsamsten Zufälle im Leben.«

»Wenn man ihn finden sollte, dann hat er eben Selbstmord begangen.«

»Selbstmord?« Die großen, dunklen Augen Inger Bornholms wirkten noch größer.

»Ich gebe ihm den Dolch in die Hand. Im Griff sind übrigens seine Initialen eingraviert: G.M.

Mjörk stand am Steilufer. Vielleicht war er auf dem Weg nach hier. Er stieß sich den Dolch in die Brust und stürzte den Hang hinab.«

»Ein teuflischer Plan«, bemerkte die junge Frau mit rauer Stimme. Die Tatsache, dass es hier in ihrem Lebensbereich zu einem Mord gekommen war, schien sie nicht sonderlich zu erschüttern.

Aus dem angrenzenden Geräteschuppen holte Eriksen sich altes, bereits angefaultes Sackleinen und wickelte den Toten darin ein. Danach zog er sein dunkles Jackett aus, reichte es Inger und hob den eingewickelten Toten auf seine Arme.

»Ich bin in einer Viertelstunde zurück.«

»Ich erwarte dich«, entgegnete sie leise und legte das Jackett des Mannes, der ihr zuliebe einen Mord begangen hatte, mit einer beinahe zärtlichen Bewegung über ihren Unterarm. Dann warf sie in einer stolzen Geste den Kopf zurück. Triumph, Arroganz und Zufriedenheit kennzeichneten ihr klassisches Gesicht.

Björn Eriksen verließ durch die alte Holztür den Seitenanbau.

Inger Bornholm folgte dem schweigsamen Mann bis zur ausgetretenen hölzernen Schwelle. »Ich erwarte dich am Südeingang des Winterbaus«, flüsterte sie kaum hörbar.

Eriksen verharrte noch einmal im Schritt und drehte sich langsam der weißen, hochgewachsenen, wie lockend dastehenden Gestalt zu. »Diese Nacht mit dir gehört mir, Inger!«

Sie nickte. »Sie gehört dir ...«, erklang es wie ein leises Echo aus ihrer Kehle. Eriksen entfernte sich mit raschen Schritten. Geräuschvoll fiel das eiserne Tor ins Schloss. Inger Bornholm sah hinter dem Mann her wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Die Lippen der attraktiven Norwegerin verzogen sich zu einem abwertenden Lächeln. »Trottel ...«, sagte sie nur. Und sie wusste, dass es in dieser Nacht einen zweiten Toten geben würde. Das Opfer ahnte nur noch nichts davon, ebenso wie Gunnar Mjörk ...

1. Kapitel

Die alte, handgeschnitzte Uhr aus dem frühen 15.Jahrhundert tickte monoton. Die beiden Gewichte über den ruckartig weiterlaufenden Holzrädern schwangen rhythmisch hin und her.

Im Zimmer brannten nur wenige Kerzen. Inger Bornholm liebte Kerzenlicht. Die Dämmerung, die sich auf diese Weise erzeugen ließ, war mit nichts zu vergleichen. Auch nicht mit der Stimmung, die durch eine abgedeckte Stehlampe entstand. Nur Kerzenlicht brachte jene gewisse Wärme und Geborgenheit.

Inger Bornholm hatte das Kleid gewechselt. Sie trug jetzt ein ebenfalls knöchellanges, der neuen aus England kommenden Mode angepasstes Maxikleid, das ihre schlanke Gestalt imponierend zur Geltung brachte.

Inger Bornholm wirkte ungewöhnlich ruhig, beinahe heiter. Ihre Augen leuchteten. Sie wartete auf die Rückkehr von Björn Eriksen.

Die Norwegerin lehnte sich aufatmend in den weichen, bequemen Polstersessel. Sie streckte sich und reckte die langen, nackten Arme. Verträumt starrte sie vor sich hin.

An den zum Teil mit Seidenstoffen bespannten Wänden hingen kostbare Ölgemälde in schweren, handgeschnitzten und vergoldeten Rahmen. Dieser Raum zeigte drei große Landschaftsbilder der holländischen Schule. Es waren ein Vermeer und zwei van Ruisdaels.

Inger Bornholm störte es nicht, dass sich hier griechische Kunst mit jener der Holländer mischte. Es war für sie kein Stilbruch. Sie hatte es verstanden, sich so einzurichten, wie es ihr Freude bereitete und gefiel. Und alles, was schön war und Stil hatte, ließ sich irgendwie auch wieder stilvoll kombinieren.

Sie hob kaum merklich den Kopf, als sie die leisen, knirschenden Schritte vor der Terrasse hörte. Inger Bornholm erhob sich und ging in den Wintergarten hinüber, der nur durch eine verschiebbare Glaswand von diesem Wohnraum getrennt war. Sie sah die dunkle, ein wenig gebeugte Gestalt.

Björn Eriksen!

Sie öffnete dem Mann, der aufatmend und fröstelnd hereinkam.

Seine Hände waren angeschmutzt und zerkratzt.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte er nur. Inger antwortete nicht darauf. Wortlos verfolgte sie auch, wie er in das Badezimmer ging und sich wusch. Sie stand in der Mitte des mit kostbaren, echten Teppichen ausgelegten Raumes. Björn Eriksen kam, die Krawatte öffnend, auf sie zu.

»Du siehst wieder wunderbar aus«, drang es wie ein Hauch über seine Lippen. Er konnte nicht umhin, ihr dieses Kompliment zu machen. »Warum aber, zum Teufel, trägst du immer diesen verrückten Turban?«

Sie lächelte geheimnisvoll. »Das ist mein Mythos«, entgegnete sie leise.

»Und außerdem kleidet er mich, findest du nicht auch?« Sie drehte sich mit wiegenden Hüften vor ihm, wie ein Mannequin auf dem Laufsteg.

»Ja, das ist schon richtig. Er gibt deinem Gesicht einen eigenwilligen Rahmen.« Sie zog die Augenbrauen in die Höhe.

»Vielleicht trage ich ihn auch nur, um mein Aussehen in gewisser Weise zu korrigieren, Björn. Ich habe ein ovales, längliches Gesicht. Ohne den Turban würde es noch länger wirken. Das sieht bei einer Frau meines Typs nicht besonders gut aus.«

»Du verstehst es ausgezeichnet, deinen Typ zu unterstreichen und zur Wirkung zu bringen, Inger.« Er kam auf sie zu und nahm sie in seine Arme. Die Lippen der beiden Liebenden fanden sich zu einem langen Kuss.

Eriksen fühlte, wie die Spannung der letzten Stunde von ihm abfiel wie eine Haut. Die Nähe dieser ungewöhnlichen Frau ließ alles vergessen. Inger verzauberte ihn und ließ ihn spüren, dass er wirklich lebte.

Seine Hände glitten über ihre Schultern den nackten Rücken hinab, während sein Mund sich nicht von ihren Lippen löste.

Zärtlich erwiderte Inger seine Liebesgesten.

Als er zitternd seine Lippen von den ihren löste, fragte er: »Ich weiß nicht mal, wie du wirklich aussiehst. Ich möchte dich sehen, wie du wirklich bist! Wie sind deine Haare? Trägst du sie lang, kurz, sind sie blond oder schwarz?« Er wollte den Turban lösen, aber sie wich mit einem kleinen Schritt zurück.

»Es gab bisher nur ganz wenige, die mich zu sehen bekamen«, sagte sie geheimnisvoll lächelnd. Inger Bornholm ging um die schwere, mit Seidenstoff bezogene Couch herum.

»Ich glaube, ich habe es verdient, einer dieser Auserwählten zu sein, Inger, und mehr noch, von nun an der einzige Mann in deinem Leben zu sein! Habe ich dir meine Liebe nicht unter Beweis gestellt?«

»Doch, das hast du.« Er kam abermals auf sie zu. Aber sie wich erneut zurück.

»Wie würdest du mich gern sehen?«, fragte sie, und der Schalk in ihren Augen war nicht zu übersehen.

»Blond oder schwarz? Mit langen oder kurzen Haaren?«

»Vielleicht blond – das Haar hochgesteckt«, sagte er verträumt.

»Das dürfte mir stehen.«

»Du würdest damit phantastisch aussehen.«

»Ich habe zahlreiche Perücken. Eine moderne Frau hat heute die Möglichkeit, sich recht vielseitig zurechtzumachen. Und jede neue Frisur gibt einer Frau ein neues Gesicht. Und ich, so denkst du bestimmt, laufe immer mit diesem scheußlichen Turban herum.«

»Er passt zu deiner Art, dich zu kleiden und zu leben. Wohin gehst du?« Inger Bornholm stand an der Tür, die in den angrenzenden Raum führte.

»Ich bin gleich zurück. Blond liebst du doch besonders, hast du gesagt, nicht wahr?«

Er nickte. »Ja. Und was ich noch sagen wollte«, fügte er eilig hinzu. »Ich möchte gern mal deine Ausstellung sehen. Man sagt, dass du als Bildhauerin ein Phänomen bist. Vorgestern auf der Party hat mir das jemand verraten. Du weißt, ich bin ein Kunstnarr! Warum trittst du mit deinen Arbeiten nicht an die Öffentlichkeit?«

»Vielleicht sind sie so hässlich, dass man sie nicht zeigen kann ...«

»Unsinn ...«

»Aber darüber reden wir später. Lass dich erst mal überraschen!« Mit diesen Worten verschwand sie im Ankleidezimmer und drehte den Schlüssel hinter sich herum.

Björn Eriksen blieb allein zurück. Als sie nach fünf Minuten zurückkam, trug sie eine Langhaarperücke, die bis auf ihre Schultern reichte. Björn Eriksen war sprachlos. »Warum zeigst du dich deinen Gästen niemals so?«, wollte er wissen. Inger lächelte und trat näher. Ihre schlanken Finger kraulten seinen Nacken.

»Wer sagt dir, dass ich mich meinen Gästen noch nie so gezeigt habe? Du darfst nicht vergessen, dass du erst zwei Partys in diesem Haus erlebt hast. Wir kennen uns noch nicht sehr lange ...«

»Lange genug, so glaube ich jedenfalls, um alles über dich zu erfahren!«

Björn Eriksen fand die ganze Situation keineswegs merkwürdig. Gerade jetzt, nach dem Mord an Gunnar Mjörk, fühlte er sich noch mehr mit Inger Bornholm verbunden. Sie hatte die Dinge nicht nur mitverschuldet, sondern ihm dabei geholfen. Er hatte die Liebe einer ungewöhnlichen Frau gewonnen, deren Namen man in Männerkreisen nur flüsternd und mit Ehrfurcht nannte. Wer einmal mit Inger zusammengetroffen war, der musste von ihr erzählen. Es hieß, dass die Männer ihr auf den ersten Blick verfielen.

Björn Eriksen musste sich jetzt, als er die heißen, langen Küsse der Norwegerin erwiderte, im stillen eingestehen, selbst darüber gelacht zu haben, als man ihm Ingers Wirkung auf die Männer geschildert hatte. Aber es stimmte, er hatte es am eigenen Leib verspürt. Er hatte aus Eifersucht einen Nebenbuhler ausgeschaltet! Und doch kam er sich nicht wie ein Mörder vor. Alles schien schon weit zurückzuliegen. Wie ein Traum, schon vor einiger Zeit geträumt, verblassten die Bilder und Eindrücke immer mehr. Sein Denken und Fühlen wurde nur noch durch Inger bestimmt. Ein Leben an der Seite dieser Frau! Was würde er alles dafür geben!

Er hatte sie gewonnen. Für immer?

Er wagte nicht, sich diese Frage selbst zu stellen. Zuviel hatte er über die einsame Schlossherrin gehört, die ein zurückgezogenes und doch gesellschaftliches Leben führte. Es hieß, dass sie oft wochen- und monatelang in stiller Einsamkeit verbrachte und sich ganz ihrer Arbeit widmete. Dann aber kam es wie ein Rausch über sie. Sie musste wieder Leben um sich haben, dann lud sie Menschen ein, Bekannte und Fremde. Sie hatte ein eigenartiges System entwickelt, das sich aber in jeder Hinsicht bewährte. Wenn Inger Bornholm ein Fest organisierte, dann hatte es nicht nur Hand und Fuß, sondern sie ließ sich auch immer etwas Neues einfallen, um nette und markante Persönlichkeiten, Künstler und Schriftsteller, Maler und Filmschaffende, Politiker oder Leute aus dem Wirtschaftsleben um sich zu versammeln. Ihre engsten Freunde und Bekannten wurden bei den Einladungen aufgefordert, mindestens eine neue Person in den Kreis der Partygäste mitzubringen.

Das schon brachte Abwechslung in die stattfindenden Feste. Wenn Inger Bornholm sich entschloss, eine neue Party zu geben, dann wollte sie auch neue Gesichter um sich sehen. Sie selbst verließ äußerst selten das kleine Schloss, das vor über hundert Jahren von einem ihrer Vorfahren väterlicherseits übernommen worden war. Inger holte sich die Menschen in ihr Heim, studierte sie, fertigte, auch das glaubte man zu wissen, heimlich Zeichnungen und Skizzen von ihnen an und gestaltete danach eine lebensgroße und lebensechte Statue. Als Bildhauerin hatte sie sich einen Namen gemacht, obwohl es nur wenige Arbeiten von ihr gab, die bisher einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich geworden waren.

Eigentlich gab es nur zwei Statuen, die öffentlich von ihr zu sehen waren, und die härtesten Kritiker hatten einstimmig geurteilt, dass Inger Bornholm ein Schöpfertalent sei.

Eine Statue stellte einen prominenten Politiker dar, der eines Tages spurlos verschwunden war. Von der Familie des Mannes hatte Inger den Auftrag erhalten, eine lebensgroße Statue zu schaffen. Zu diesem Zeitpunkt gab es schon jene bekannte Gestalt des Marne, wie sie allgemein bezeichnet wurde. Diese Statue hatte die Norweger schockiert, als sie auf einer Ausstellung lebender Maler und Bildhauer anlässlich des Geburtstages einer berühmten Kunstpädagogin vorgestellt wurde.

Marne war ein Original, das in Norwegen sehr populär geworden war. Erst vor drei Jahren hatte er eine Liga gegründet, die sich zur Aufgabe machte, Dämonen und Geister zu beschwören und spiritistische Sitzungen durchzuführen. Marne gewann durch eine Reihe ungewöhnlicher Publikationen rasch einen großen Anhängerkreis. In einigen seiner Bücher behauptete er, Kontakt zu Toten gehabt zu haben. Mitglieder seiner Liga konnten dies nur bestätigen.

Sie hatten Stimmen aus dem Jenseits empfangen. Diese Stimmen waren auf Band aufgezeichnet worden. Viele hielten diese Dinge für faulen Zauber und für Fälschungen, aber es gab auch einige wissenschaftliche Vereinigungen, die Problemen der Jenseitsforschung und dem Okkulten nachgingen und in deren Archiven zahlreiche ungeklärte Fälle lagen, die man auch nicht mit einem Achselzucken als Fälschungen abtun konnte.

Marne selbst hatte sich immer als das größte Medium bezeichnet. Er behauptete, mehrere Male direkte Jenseitsgespräche mit bekannten Persönlichkeiten geführt zu haben. Es sei einmal sogar zu einer Materialisation gekommen. Dieses weiße, schleimige Etwas, das entfernt an die Gestalt eines Menschen erinnerte, materialisierte in dem dämmrigen Raum, in dem außer Marne an jenem Abend ein zweites Medium anwesend war. Die Erscheinung konnte auf eine Fotoplatte gebannt werden. Wen diese Person darstellte, darüber schwieg der Liga-Leiter eisern. »Ich habe noch nicht das Recht, darüber zu sprechen. Vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt, wenn er mir selbst die Erlaubnis erteilt ...«

Aber dieser spätere Zeitpunkt kam nicht mehr. Inger Bornholm gab zwei Tage nach dem sensationellen Geschehen eine Party in ihrem Schloss. Auch Marne war eingeladen, und er kam. Er war der am meisten belagerte Mann in jener Partynacht, die erst ein Jahr zurücklag. Ebenfalls ein kühler, finsterer Herbsttag, schon etwas vorangeschritten, etwa November. Die Bäume kahl, das Schloss düster und grau, wie ein steinernes, urweltliches Monument hinter den schwarzen, kahlen Stämmen. Nebelschwaden lagen wie ein dicker, wallender Teppich über dem feuchten, felsigen Boden. Und dann hatte Marne sich als erster Gast verabschiedet. Die seinerzeit Anwesenden konnten später bezeugen, dass Marne mit einem Mal von einer eigenartigen Unruhe ergriffen wurde. Inger Bornholm begleitete ihn noch nach draußen. Danach hatte ihn niemand mehr gesehen. Seit gut einem Jahr suchte man vergeblich nach Marne. Inger Bornholm, einmal mit diesem ungewöhnlichen Mann zusammengetroffen, gestaltete eine lebensgroße Statue. Sie zeigte Marne in einer Pose der Abwehr, der Angst und des Entsetzens.

Es war, als ob der Liga-Leiter in einem Augenblick von dieser Welt gegangen sei, als er eine ungeheuerliche Begegnung hatte. Waren es die Geister, die er beschworen und die ihn geholt hatten? In eingeweihten Kreisen war dieser Gedanke nicht einmal so entrüstet abgewiesen worden.

Inger Bornholm bescheinigte man eine ungewöhnliche Einfühlungsgabe in das Leben, den Charakter und das Wirken des Dahingeschiedenen. Sie hatte Marne in einer panikartigen Abwehr gestaltet, als müsse er sich vor irgendwelchen Einflüssen von draußen schützen, vor einer Gefahr, die ihn blitzartig überfiel.

Marnes erschrockene Gestalt und die drei Monate später entstandene Statue des auf ebenso unerklärliche Weise verschwundenen prominenten Politikers hatten eines gemeinsam: Auch diesen Mann gestaltete Inger Bornholm in einer Geste des Entsetzens.

Danach gefragt, was dies zu bedeuten hatte, hatte die Bildhauerin geheimnisvoll lächelnd erklärt: »Angst begleitet uns doch alle durchs Leben. Die einen verbergen es, die anderen zeigen es. Ich habe diejenigen, die es verbergen, so gestaltet, dass die Angst und das Entsetzen, das in ihnen ist, plötzlich zum Ausdruck kommt. Das ist mein Stil, wenn Sie so wollen. Und die beiden Männer, Marne, der Liga-Leiter und Hogens, der Politiker, waren sich vielleicht in einer Weise ähnlicher, als wir alle glauben.«

Inger Bornholm und Björn Eriksen unterhielten sich lange, unterbrachen ihr Gespräch aber immer wieder durch Zärtlichkeiten, die sich steigerten. Die charmante, vom Alkohol ein wenig angeregte Norwegerin ließ es zu, dass er ihren Reißverschluss nach unten zog und zärtliche Küsse auf ihren Rücken hauchte.

Als Björn ihr das Kleid jedoch völlig abstreifen wollte, erhob sich Inger.

»Du wolltest vorhin meine Ausstellung sehen«, bemerkte sie mit schelmischem Augenaufschlag, und sie sah die Enttäuschung in den Augen ihres Partners, der sich in diesem Moment die Fortsetzung des Schäferstündchens wünschte ...

»Du hast aber auch komische Ideen«, murmelte er, knöpfte sein Hemd zu und rückte den Schlips wieder zurecht.

Das geheimnisvolle Lächeln auf den Lippen der schönen Inger verstärkte sich. »Meine Unberechenbarkeit ist der Grund meines Erfolges. Genauer gesagt: ein Grund meines Erfolges bei den Männern. Bei mir wird es nie langweilig.«

Björn Eriksen nickte kaum merklich. »Ja, da hast du recht«, murmelte er. Sie verließen den warmen und gemütlichen Wohnraum, der in anheimelnden Kerzenschein getaucht war.

»Muss das unbedingt jetzt sein?«, fragte Eriksen. Aber sie gab darauf keine Antwort, und so schwieg auch er.

Sie passierten den langen, düsteren Gang. Große und schmale Fenster reichten fast bis zur Decke. Von hier aus hatte man einen Blick in den angrenzenden, großzügig angelegten Garten. Die mächtigen Eichen und Buchen standen wie eine Mauer in der Dunkelheit.

Wortlos näherte Inger Bornholm sich der Gangbiegung. Sie kamen an einem Durchlass vorbei. Die angrenzende Halle wurde von hohen, massiven Säulen getragen. Diesen Raum kannte Eriksen. An den Wänden hingen die zahlreichen Bilder, die Inger Bornholm und ihre Vorfahren im Lauf vieler Jahrzehnte zusammengetragen hatten. Diese Gemäldesammlung war unbezahlbar.

Auffällig waren die zahlreichen griechischen Motive, Darstellungen von orgiastischen Festen, von den Abenteuern der Götter und den Irrfahrten des Odysseus.

Inger Bornholm öffnete die massive, mit schweren Bronzeverschlägen versehene Tür. Sie kamen durch einen kleineren Raum, von dem aus eine schmale Wendeltreppe nach unten führte.

Aus einer Mauernische nahm Inger eine Taschenlampe und knipste sie an.

»Hier unten gibt es keine weitere elektrische Versorgung«, sagte sie erklärend.

»Es ist doch kein Problem, die Kabel zu verlegen. Die Anschlüsse sind doch vorhanden«, meinte Eriksen.

»Ich wollte es nicht. Die Stromversorgung endet oben bei der Wendeltreppe.

Das ist so eine Marotte von mir. Hier unten beginnt ein anderer Teil des Schlosses.« Sie sagte es mit einer eigenartigen Betonung, die Eriksen zusammenfahren ließ. Die Veränderung in der Stimme der charmanten, bildschönen Begleiterin fiel ihm sofort auf.

Der Lichtkegel der von Inger Bornholm gehaltenen Taschenlampe wanderte über den rohen, steinernen Fußboden. Die Wände zu beiden Seiten waren kahl und schmucklos. An der gewölbten, niedrigen Decke hingen Spinnengewebe.

Eriksen rümpfte die Nase. »Dein Personal scheint auch nicht viel von Sauberkeit zu halten. Scheinbar kümmert es sich nur um die Räume, die unmittelbar zum Lebensbereich gehören. Alles andere bleibt liegen.«

Inger Bornholm nickte. »Das bleibt nicht aus in einem so großen Haus wie diesem. Da sind drei Arbeitskräfte viel zu wenig. Außerdem liegt mir nichts daran. Es ist vielmehr so, dass ich ausdrücklich angeordnet habe, diesen Trakt des Schlosses nicht zu betreten. Nur ich habe das Recht dazu! Hier unten befinden sich meine ... Arbeitsräume ...«

Sie stockte einen Augenblick, als müsse sie erst das richtige Wort suchen.

»Ich mag es nicht, wenn darin etwas verändert wird, oder wenn vielleicht durch irgendeinen dummen Zufall etwas zerstört wird. Hier unten habe nur ich ganz allein etwas zu suchen. Für jeden anderen ist dieser Bezirk tabu! Nur wenn ich mal besonderer Laune bin, dann erlaube ich es einem guten Freund, mit mir zu kommen. Du wirst etwas sehen, was nur ganz wenige vor dir zu Gesicht bekamen, Björn ...« Ihre Stimme klang geheimnisvoll.

Die Frau trat einen Schritt zur Seite und nahm hinter einem losen Stein einen großen Schlüssel heraus, mit dem sie die schwere Holztür öffnete.

Quietschend bewegte sie sich in den Angeln. Sie war niedrig, so dass Inger und Eriksen sich bücken mussten, um den dahinterliegenden Raum betreten zu können.

Eine unangenehme Kühle schlug den beiden Menschen entgegen. Eriksen hatte das Gefühl, direkt ins Freie zu geraten. Er trug nur Hemd und Hose.

Es fröstelte ihn. Inger Bornholm schien die Kälte nichts auszumachen, obwohl sie ein ärmelloses und mit tiefem Rückenausschnitt versehenes Kleid trug.

»Geh voraus«, sagte die junge Norwegerin leise.

Eriksen wandte sich um und erwiderte den Blick der Sprecherin. Es schimmerte ein Licht in diesen Augen, das ihn erschreckte. Die ganze Umgebung, die Stille, das seltsame Verhalten Inger Bornholms berührte ihn eigenartig.

»Du brauchst nur den Vorhang zurückzuschlagen, dann wirst du die besten Arbeiten sehen, die jemals unter meinen Händen entstanden. Du warst neugierig darauf! Ich erfülle deine Wünsche! Was willst du mehr?«

Er fand, dass Inger Bornholm sich ganz anders benahm als vorhin. Vielleicht irrte er sich aber auch. Er war aus einer ganz anderen Stimmung herausgerissen worden und war ein wenig verärgert. Das konnte eine Erklärung sein.

Er drückte den schweren Seidenvorhang zur Seite. Er war blutrot, fleckig und schon ein wenig verschlissen.

Das dämmrige Gewölbe wurde durch verborgene, schwach brennende Lichtquellen nur mäßig erhellt; sie strahlten die Farben Rot, Grün und Blau ab.

»Sieh es dir an, sieh es dir genau an«, drängte die Stimme Ingers hinter ihm. Und er konnte nicht anders als gehorchen. Wie ein hypnotischer Zwang wirkten ihre Worte auf ihn. Er wandte sich nicht um.

Es war ungeheuerlich, was Inger Bornholm in diesem düsteren, unheimlich anmutenden Gewölbe geschaffen hatte.

Es war die Arbeit einer Besessenen, einer Wahnsinnigen, schoss es ihm durch den Kopf.

In dem Keller standen zahllose Gestalten herum. Mehr oder weniger abgebrannte Kerzen steckten in Ständern vor den Füßen der Statuen. Es waren nur bestimmte Gestalten, die auf diese Weise auf eine ihm unerklärliche Art besonders geehrt wurden.

»Warum hast du ...« Weiter kam er nicht. Inger Bornholms Atem streifte seinen Nacken. »Nicht reden! Nicht hier! Fragen kannst du später! Du sollst dir jetzt nur alles ansehen. Ich glaube, du wirst sehr schnell verstehen. Ich lege viel Wert auf dein Urteil. Du bist kein Außenstehender, du verstehst etwas von den Dingen. Du bist selbst Künstler. Sag mir später, was du von den Arbeiten hältst.«

Björn Eriksen konnte sich dem Bann und der Anziehungskraft, die diese grauen, lebensgroßen Gestalten in dem gespenstisch wirkenden Gewölbe auf ihn ausübten, nicht entziehen. Schrittweise ging er in den kühlen Keller hinein. Er blieb vor einer Statue stehen. Ein junger Mann, ruhige, sympathische Gesichtszüge. Jede Falte war bis ins letzte Detail herausgearbeitet. Die Mundwinkel genau nachgezogen. Nichts war oberflächlich oder verflacht.

Die Statue war die Darstellung eines Nackten. Der junge Mann, dessen Modell Eriksen eingehend studierte, war nicht älter als acht- oder neunundzwanzig Jahre. Den Kopf ein wenig zur Seite gedreht, schien er offensichtlich irgendetwas beobachtet zu haben, was ihn ein wenig verwirrte und überraschte. Fast gewann Eriksen den Eindruck, als wäre dieser junge Mann selbst ein Betrachter dieses ungewöhnlichen Panoptikums und dabei durch irgendetwas abgelenkt und überrascht worden.

Es war phantastisch, was diese faszinierende Frau gestaltete! Er kam an zwei anderen Figuren vorüber. Ihre Mienen und ihre Haltung waren mit der gleichen Intensität herausgearbeitet. Merkwürdig fand er, dass das Material, mit dem Inger Bornholm arbeitete, eine gräulich-gelbe Tönung hatte. Die steinernen Statuen bekamen so einen beinahe wächsernen Ausdruck.

Die Lebensechtheit, mit der sie gestaltet waren, war das größte Phänomen. Wie konnte ein Mensch aus einem harten, spröden Material solche Gestalten formen?

Nichts wirkte hart und unnatürlich. Die Figuren, die hier standen, schienen nur den Atem anzuhalten. Ihre Augen, so glaubte man, verfolgten den nächtlichen Besucher. Und nichts entging ihnen.

Seine ganze Aufmerksamkeit galt jetzt einer jungen Frau, die die Hände nach vorn auf den Boden gestützt hatte und damit beschäftigt war, ihre zersplitterte Brille aufzuheben, die ihr, bei welcher Gelegenheit auch immer, heruntergefallen war. Die Frau blickte Eriksen erstaunt an, als würde sie ihr Gegenüber mustern und irgendetwas feststellen, das an ihm nicht stimmte.

Der Mörder Gunnar Mjörks konnte sich eines gewissen Unbehagens nicht erwehren.

Er kannte diese Frau! Das war Ingrid Odden, eine bekannte Kunstpädagogin, die in verschiedenen norwegischen Großstädten eigene Galerien besaß und junge Talente durch von ihr ausgerichtete Ausstellungen einer breiteren Öffentlichkeit nahezubringen versuchte.

Eriksen zuckte zusammen, als die schwere Tür hinter dem geschlossenen Seidenvorhang ins Schloss fiel.

Er sprang auf und starrte in den dämmrigen Raum. »Inger?«, fragte der Mann heiser. Er blickte sich um. Keine Spur von der jungen Bildhauerin.

Er merkte, wie es eiskalt durch seine Adern strömte.

Er rannte auf den Vorhang zu und riss ihn zur Seite.

Die Tür vor ihm war verschlossen. Vergebens suchte er nach der Klinke. Wütend trommelte Eriksen mit beiden Fäusten gegen das schwarze Holz.

»Aufmachen!«, brüllte er. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. »Zum Teufel noch mal, Inger. Was soll der Unsinn?«

Er lauschte und hoffte auf eine Antwort. Nichts!

Er war Inger Bornholms Gefangener!

Sie wollte ihn loswerden. Er war der einzige Zeuge des Mordes an Gunnar Mjörk!

Eriksen schloss die Augen. Das also war ihr teuflisches Spiel ...

Sie hatte ihn hier unten eingesperrt. In einem unter dem Wohntrakt liegenden kühlen Kellergewölbe. Hier konnte ihn niemand hören. Selbst, wenn er noch so laut schrie.

Die Wände waren meterdick, und die drei Hausangestellten betraten diesen Trakt nicht. Sie wussten nichts von seiner Anwesenheit in diesem makabren Gewölbe, das ihn an die Horrorkammer der Madame Tussaud erinnerte und doch einen weitaus stärkeren Eindruck auf ihn machte.

Die Menschen als versteinerte Gestalten.

Er presste die Lippen zusammen. Die Kälte. Jetzt wurde sie ihm wieder bewusst. Gnadenlos kroch sie in seine Glieder.

Wie unter einem inneren Zwang löste er sich von der Tür.

Er wurde auf das Geräusch hinter dem Vorhang aufmerksam.

»Björn?« Leise und verführerisch klang die Stimme, und der Gefangene glaubte, einen verlockenden Ruf zu vernehmen.

»Warum versteckst du dich? Hat dich das Kabinett so mitgenommen?« Sie lachte leise. »Es muss dir einen gehörigen Schrecken eingejagt haben, plötzlich festzustellen, dass du allein bist. Ich glaube, die stärksten Männer werden hier schwach. Oder könntest du dir vorstellen, dass du eine ganze Nacht hier verbringst, ohne die geringste Anwandlung von Furcht?«

Konnte sie Gedanken lesen? Ja, er fürchtete sich. Aber er durfte es sich nicht anmerken lassen. Mit beiden Händen schob er den schweren seidenen Vorhang zur Seite.

»Es gibt Menschen, die es nicht unterlassen können, anderen einen gehörigen Schrecken zu versetzen«, kam es erleichtert über seine Lippen. Er blickte sich um. Schweiß stand auf seiner Stirn. Björn Eriksen wollte noch etwas hinzufügen. Aber er brachte keinen Laut mehr über seine Lippen.

Was er erblickte, war dazu angetan, einen Menschen in den Wahnsinn zu treiben.

Zwischen den steinernen Statuen, im Licht der flackernden Kerzen und der gespenstisch erscheinenden Lampen, erblickte er sie. Inger Bornholm!

Er wollte noch einen Schritt auf sie zugehen und schreien.

Doch seine Füße rührten sich nicht vom Fleck. Bleierne Schwere erfüllte seine Beine. Eisige Kälte stieg seine Waden und Schenkel hoch. Er merkte, wie er abstarb. Seine verkrampften Hände konnten sich nicht mehr vom Vorhang lösen. Mit schreckgeweiteten Augen starrte er in die Dämmerung vor sich und konnte den Kopf nicht mehr drehen, um das Unheil abzuwenden.

Seine Nackenhaare sträubten sich. Ein eisiger Hauch ließ sie erstarren, auch die Schweißperlen auf seiner kalten, gefühllosen Stirn zu einer festen Masse werden.

Björn Eriksen begriff die Welt und seinen Tod nicht. Nur eines verstand er noch, ehe sein Körper zu seinem eigenen steinernen Grab wurde: Inger Bornholm hatte niemals auch nur einen Finger gerührt, um die ungewöhnlichen, lebensvollen Gestalten in diesem Gewölbe aus kaltem, hartem Stein herauszumeißeln.

Dies hier war nicht ihre Werkstatt.

Dies war ein Beinhaus! Eine Gruft der versteinerten Toten!

Medusas finsteres Reich ...

Angestrengt starrte er auf die Straße. Die Scheinwerfer des Wagens stachen wie dicke Geisterfinger in das Dunkel und die wabernden Nebelschwaden, die dick und zäh über der Straße lagen.

Der Fahrer war trotz dieser schlechten Sichtverhältnisse nicht bereit, die Geschwindigkeit zu drosseln.

»Fahr langsamer«, bat die junge blondhaarige Frau an seiner Seite. Elin Holtsen fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut. Sie begriff zwar, dass für ihren Begleiter einiges auf dem Spiel stand. Innerhalb des Automobilclubs, dem er angehörte, war es zu einer Wette gekommen. Bernt, der Fahrer, hatte behauptet, eine Norwegenrundfahrt in einer beinahe phantastischen Zeitspanne durchzuführen. Dr. Falledsen, ein reicher Fabrikant, setzte daraufhin einen Betrag als Wettsumme aus, der zumindest ebenso phantastisch war.

»Wenn wir gewinnen und für mich gibt es keinen Zweifel, Elin, dass wir die Wette gewinnen, dann können wir endlich heiraten.« Der Angesprochene ging gar nicht auf die Bemerkung der hübschen Begleiterin ein. »Für die Summe riskiere ich Kopf und Kragen. Und außerdem kann ich den Burschen im Club beweisen, dass die Zeit, die ich angegeben habe, alles andere als utopisch ist. Man muss nur durchhalten.«

»Aber Leichtsinn ist fehl am Platz.«

»Ah«, Bernt Lyngstad lächelte. »Du willst doch nicht sagen, dass ich leichtsinnig bin?«

»Du fährst zu schnell«, beharrte sie auf ihrem Standpunkt. »Der Nebel ist zu dicht. Man sieht keine zehn Meter weit.«

»Aber ich kenne die Strecke. Wenn ich weiterhin so fahre, dann sind wir in spätestens zwanzig Minuten in Kjerringöy. Dort können wir uns eine halbe Stunde ausruhen, unseren Bestätigungsstempel empfangen – und dann übernimmst du die Führung des Wagens. Ich lege mich dann aufs Ohr. Du hättest auch ein oder zwei Stunden länger schlafen sollen«, machte er ihr zum Vorwurf.

»Aber ich kann nicht. Nicht bei diesem Wetter. Ich bin nervös.«

»Dann wird es besser sein, wenn ich den Wagen auch weiterhin lenke.«

»Das kommt nicht in Frage. Du bist müde. Du brauchst dringend deine Ruhe. Soll ich mich nicht schon hinter das Steuer setzen, Bernt?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe hier die Möglichkeit, Zeit zu gewinnen. Die Straße ist völlig frei. Um diese Zeit und bei diesem Wetter ist niemand unterwegs. Ich bin fast vierzehn Minuten hinter meiner Sollzeit zurück. Hier habe ich die Gelegenheit, Minuten herauszuschinden.«

Seine Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Er zog den Wagen herum, weil die abschüssige, nebelfeuchte Straße eine Kurve nach links machte.

Wie Schemen huschten die schwarzen Stämme der fast kahlen Alleebäume an ihnen vorbei.

Rechts neben ihnen dehnte sich eine mit dornigem Gestrüpp bewachsene Bodenfläche aus, die schließlich zu einem Steilufer abfiel.

Links erhoben sich düstere Felswände. Wie eine Mauer stand eine solche Wand plötzlich vor dem mit hoher Geschwindigkeit bergab fahrenden Fahrzeug.

Elin schrie gellend auf.

Bernt Lyngstad riss das Steuer herum und wollte den frontalen Zusammenprall mit der Felswand noch vermeiden.

Doch mit quietschenden Reifen schoss das aus der Kontrolle geratene Fahrzeug über die Straße. Nur auf zwei Rädern fahrend raste es auf die andere Seite hinüber und durchbrach die Begrenzung. Steine schlugen gegen die Karosserie. Äste und Zweige brachen; der Wagen überschlug sich. Wie von einer Titanenfaust wurde die Tür an der Seite Elin Holtsens aufgerissen und die junge Norwegerin hinausgeschleudert. Dumpf und schwer schlug sie auf, verlor sofort das Bewusstsein und sah nicht mehr, wie der dunkle Wagen sich ein zweites und drittes Mal überschlug. Für den Bruchteil eines Augenblicks schien es, als würde der führerlose Wagen noch von dem niedrigen, laublosen Gestrüpp aufgehalten.

Aber der Eindruck täuschte.

Der Wagen kippte noch einmal über und stürzte in die Tiefe. Krachend schlug er unten auf die zerklüfteten Felsen. Die Gischt schäumte über das Autowrack; das salzige Meerwasser schwemmte das Blut vom Gesicht und von der Brust des hinter dem Lenkrad eingeklemmten Fahrers.

Bernt Lyngstad hatte von dem Aufprall nichts mehr bemerkt. Er war schon vorher tot gewesen. Das Lenkrad hatte sich ihm in die Rippen gebohrt ...

Monoton und rhythmisch donnerten die Brandungswellen gegen das urzeitliche Gestein. Die Brecher rollten auch über das zertrümmerte, zwischen den Felsen eingekeilte Fahrzeug.

Ständig schlugen sie gegen einen schlaffen menschlichen Körper, in dessen Brust ein Dolch steckte, dessen Griff mit den Initialen G.M. versehen war.