Larry Brent Classic 021: Der Schrumpfkopf - Dan Shocker - E-Book

Larry Brent Classic 021: Der Schrumpfkopf E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Der mordende Schrumpfkopf Paul Vernons Rache steht fest. Er wird den großen Magier Estrello umbringen und aus ihm einen häßlichen Schrumpfkopf mit Nagetierzähnen machen. Über zehn Jahre hatte der Franzose bei den Jivaro-Indianern in Equador gelebt und die makabere Kunst perfektioniert. Doch der große Illusionist steht mit dunklen Mächten im Bunde. Vernon ahnt nicht, daß die teuflische Macht, den Tod des Magiers überlebt. Estrello zieht eine Spur des Blutes durch Ecuador. Sein Ziel ist der Tod der schönen Anja. Kann Larry Brent den mordenden Schrumpfkopf aufhalten? Satans Mörderuhr Pierre Trondell wollte sie unbedingt besitzen, die Uhr des Marquis de Bergerac. Statt eines Perpendikels besitzt sie die blitzende Schneide eines Fallbeils. Um die Echtheit zu überprüfen, steckt er seinen Kopf in den Uhrenkasten. Ein Fehler, denn Satans Mörderuhr schlägt zu. In Panik beseitigt der Antiquitätenhändler Henri Laveaux die Spuren des Verbrechens, wird jedoch von Kommissar Seurat verhaftet. Larry Brent wird gebeten dem Antiquitätenhändler zu helfen und stößt auf die satanischen Uhren. Der PSA-Agent weiß noch nicht, daß der Geist des teuflischen Marquis zurückgekehrt ist, um sein teuflisches Werk fortzusetzen.

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DAN SHOCKERS LARRY BRENT

BAND 21

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Fachberatung: Robert Linder

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

978-3-95719-821-1

Dan Shockers Larry Brent Band 21

DER SCHRUMPFKOPF

Mystery-Thriller

Der mordende Schrumpfkopf

von

Dan Shocker

Prolog

Er betrachtete sich die Wand, an der die Schrumpfköpfe wie Glieder einer Kette hingen. An einer Stelle aber war zwischen der makabren Sammlung ein freier Platz, als fehle hier ein besonders seltenes Stück. Paul Vernon presste die Lippen zusammen.

»Verrückt, ich bin verrückt«, murmelte er. »Aber vielleicht kommt doch noch mal der Tag, an dem ich den Triumph erlebe, meinen Triumph.« Ein seltsames Lächeln umspielte die Lippen des bärtigen, braungebrannten Mannes. »Es muss Estrellos Kopf sein. Alles andere interessiert mich nicht«, führte er sein seltsames Selbstgespräch fort. Niemand hörte ihm zu. Er war allein in der dämmrigen, nach Kräutern und Moder riechenden Hütte.

»Ich hoffe, dass ich dir eines Tages wieder mal über den Weg laufe.«

Diese Worte sagte Paul Vernon, der mitten im Dschungel, abseits von jeglicher Kultur, ein Leben unter den Jivaros führte. Die Vernichtung Estrellos hatte er tausendmal in seinem Geist durchexerziert und vollendet. Und er wusste, wenn sich die Gelegenheit mal bot, würde es nichts geben, was ihn davon zurückhielt. Dieser Tag sollte tatsächlich kommen. Aber Vernon, blind in seinen Rachegefühlen, ahnte nicht, was er von dieser Stunde an heraufbeschwor. Er weckte die Kraft der Dämonen.

Das Mädchen verhielt in der Bewegung und blieb lauschend vor der Tür stehen. Alles war ruhig. Juanita wollte aber ganz sicher gehen. Leise klopfte sie an die Tür. Niemand antwortete. Die Tür war verschlossen. Der Schlüssel hing unten in der Rezeption. Aber das brauchte nicht unbedingt zu bedeuten, dass der Magier Estrello und seine Partnerin Anja sich nicht zu diesem Zeitpunkt im Hotel aufhielten. Man erzählte sich merkwürdige und wunderliche Dinge über das Paar. Besonders über Estrello. Er sollte mit finsteren Mächten in Verbindung stehen. Vielleicht konnte er an zwei Orten zur gleichen Zeit sein? In dem kleinen Kopf der jungen, hochbeinigen Südamerikanerin drehten sich die Gedanken wie ein Karussell.

Zu gern hätte sie gewusst, was ein Magier und weltbekannter Illusionist, der zum ersten Mal in Südamerika eine Tournee unternahm, so alles bei sich hatte. Estrello hatte sich ausdrücklich verbeten, dass seine Zimmer betreten wurden. Er empfing keine Besucher, sondern fertigte sie telefonisch ab. Estrello wollte nicht, dass man seine Utensilien zu Gesicht bekam, mit denen er seine großen Auftritte vorbereitete und durchführte. Aber genau das interessierte Juanita. Nicht nur aus persönlicher Neugierde. Jorge steckte dahinter. Ein kleiner Zauberkünstler, der in Bars und Touristenrestaurants auftrat und hoffte, durch seine rassige Freundin einiges in Erfahrung zu bringen, was seiner eigenen Karriere nur nützen konnte. Noch einen letzten Blick in die Runde, dann steckte Juanita den Nachschlüssel ins Schloss, drehte ihn herum und huschte auf Zehenspitzen ins Zimmer. Rasch drückte sie die Tür hinter sich zu. Dämmerstimmung herrschte in dem Raum. Das Mädchen sah große Kisten und eine mannsgroße Truhe, zahlreiche, vasenähnliche Behälter, kleine, mit dunklen Seidentüchern verhangene Tische und ein Gestell, das aussah wie ein dunkles Tor und ebenfalls unmittelbar hinter der Öffnung einen dunklen Vorhang aufwies.

Juanita fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut. Es lag irgendetwas in der Luft, was sie nicht definieren konnte. Waren es die Erregung und die Spannung, die sich ihrer bemächtigten, weil sie wusste, dass sie etwas Verbotenes tat? Die Südamerikanerin hielt den Atem an und näherte sich der Kiste, die mit Büchern vollbepackt war. Noch ehe sie jedoch die Hand danach ausstrecken konnte, geschah etwas ...

Wie aus dem Boden gewachsen, stand plötzlich die dunkle, drohende Gestalt vor ihr, überragte sie um Haupteslänge, und ein finsterer Blick traf sie. Estrello! Ein schwarzer Umhang spannte sich über seine Schultern, und sein bleiches Gesicht schimmerte unter dem Rand des hohen Zylinders hervor, den er trug. Sekundenlang war Juanita vor Entsetzen wie gelähmt. Dann warf sie sich herum, stürzte zur Tür und riss sie auf. Dort erwartete sie der zweite Schrecken. Vor der Tür stand der Magier Estrello!

Juanita schrie gequält auf. Ihr Blick ging zu der Stelle, wo sie eben in dem dämmrigen Zimmer schon mal der Gestalt begegnet war. Dort war Estrello verschwunden. Nun stand er hier vor ihr. Hexerei? Zauberei? Auf jeden Fall ging das nicht mit rechten Dingen zu. Der schmale, harte Mund des weltbekannten Illusionisten verzog sich. »Sie wissen doch, dass das verboten ist, mein Kind!«, sagte er auf Spanisch. Juanita begegnete dem eisigen Blick der umschatteten Augen. Sie las darin ihren Tod.

Paul Vernon schlenderte durch die Gassen von Guayaquil. Der Mann war einfach gekleidet, und damit unterschied er sich kaum von anderen Menschen, die um die frühe Vormittagsstunde das Straßenbild belebten. Eingeborene, Mischlinge mit stark indianischen Zügen, arme Leute, die mit Mühe und Not ihr tägliches Ein- und Auskommen hatten, waren darunter. Hin und wieder ein amerikanischer Tourist, hauptsächlich in den Straßen in Hafennähe, dem schreiend die verlumpten und dreckigen Kinder nachliefen und um ein paar Centavos oder gar um einen Sucre bettelten.

Vernon war Franzose, aber das sah man ihm nicht mehr an. Seit fast einem Jahrzehnt lebte er in diesem Land unter den Jivaros, einem kleinen Indianerstamm mitten im Urwald. Ein seltsames Schicksal hatte ihn gerade zu diesen Menschen verschlagen, die von der Zivilisation so gut wie unberührt waren. Die Jivaros waren isoliert aufgewachsen, und die Zeit schien an ihnen spurlos vorübergegangen zu sein. Unter primitivsten Verhältnissen lebten sie in ihren Hütten im Busch, abseits jeglicher Zivilisation. Kaum einer von ihnen hatte jemals eine Stadt gesehen, kaum einer wusste, wie ein Auto aussah und was elektrisches Licht war. Von diesen Dingen verstanden sie nichts.

Aber von einer Sache verstanden sie umso mehr: von der Herstellung ausgefallener Schrumpfköpfe. Die oft nur faustgroßen Gebilde hatten den Stamm der Jivaros berühmt gemacht. Die Jivaros sind die einzigen, die ihre Schrumpfköpfe zum Teil mit Nagetierzähnen versehen und den Köpfen damit ein besonders unheimliches und ausgefallenes Aussehen verleihen.

Paul Vernon war Franzose. Als Siebzehnjähriger riss er von zu Hause aus und fuhr auf einem altersschwachen Frachtschiff um die Welt. Mit zwanzig beschloss er, in Südamerika zu bleiben und die Jivaros aufzusuchen. Er tauchte einfach eines Tages unter, und man nahm an, er sei im Urwald verschollen. Vernon war von jeher ein weltfremder Abenteurer gewesen, und alles, was sich vom Normalen und Alltäglichen abhob, hatte ihn stets mit magischer Gewalt angezogen. Als Junge hatte er mit Begeisterung Gullivers Reisen und Robinson Crusoe verschlungen. Später waren andere Abenteuerromane und seltene esoterische Bücher hinzugekommen.

Das Ganze hatte eine Steigerung erfahren, als Vernon sich nicht mehr mit Geschichten zufrieden gab. Er wollte selbst etwas erleben. Das Leben fremder Völker interessierte ihn seit jeher. Eine besondere Vorliebe hatte er dabei für Insulanerstämme in Südamerika. Die Herstellung von Schrumpfköpfen war ein Geheimnis für jeden Außenstehenden. Als Paul Vernon zum ersten Mal etwas über Schrumpfköpfe las, tauchte der Gedanke in ihm auf, auch so etwas können zu wollen. Sein Aufenthalt bei den Jivaros hatte ihn zu einem Meister dieser makabren Kunst werden lassen. Hin und wieder verließ Paul Vernon seine selbstgewählte Einsamkeit und bummelte durch die Stadt. Das kam mehr als selten vor. In seiner Begleitung befand sich ein junger Jivaro mit großflächigem Gesicht, breiter Nase, flacher Stirn und buschigen Brauen. Im schwarzen Haar, das bis auf die Schultern fiel, trug er ein farbig gesticktes Band. Bei dem jungen Mann handelte es sich um Kamoo, den Sohn des Häuptlings. Kamoo war ein intelligenter Bursche.

Zwischen den beiden Männern hatte sich in den vergangenen Jahren eine enge Freundschaft entwickelt. Obwohl Kamoo schon mehrere Male mit Vernon in der Stadt gewesen war, bewegte er sich zwischen fremden Menschen mit einer gewissen Scheu und Unsicherheit. Auch Vernon fühlte immer wieder die Unsicherheit. Er war in einen anderen Lebenslauf hineingewachsen und hatte den Kontakt zur zivilisierten Umwelt verloren. Aber genau das wollte er nicht. Er war sich selbst noch nicht darüber schlüssig, ob er vielleicht eines Tages nicht doch der alten Sehnsucht wieder verfiel, sich den Wind der weiten Welt um die Nase wehen zu lassen. Schweigend gingen die beiden Männer nebeneinander her. Vernon hatte den weichen, federnden Gang der Jivaros angenommen, kleidete sich wie ein Indianer, trug das Haar ebenso lang wie Kamoo und beherrschte die Eingeborenensprache perfekt.

Kamoo hatte hingegen von Vernon dessen Sprache gelernt. Er sprach ein recht gutes Französisch. Vernon und Kamoo spazierten an den Schaufensterauslagen vorüber. Die Sonne brannte schon jetzt heiß am Himmel. Man litt jedoch nicht so sehr unter der Hitze. Die Nähe des Golfs de Guayaquil machte sich bemerkbar, der Wind vom Meer fächelte eine sanfte Brise über die staubige Stadt. Bettler hockten am Straßenrand und auf dem Asphalt herrschte ein Verkehr wie am Markttag. Fußgänger und Radfahrer bestimmten das Straßenbild. Vernon und Kamoo passierten eine Bretterwand, die mit farbigen Plakaten vollgehängt war, worauf die Händler und Geschäftsleute der Umgebung ihre Sonderangebote anpriesen. Aber es waren auch Plakate vorhanden, die auf Veranstaltungen in den Clubs und Bars der Strandhotels hinwiesen. Ein Plakat wirkte auf Vernon wie ein Magnet. Es war ein riesiges Bild von einem Magier, der in großartiger Pose neben einem überdimensionalen Zylinder stand. Mit einem Zauberstab, dessen Spitze von einem Strahlenkranz umgeben war, fuchtelte der Mann über der Zylinderöffnung. In riesigen Buchstaben stand am Kopfende des Plakats folgender Text:

Weltsensation! Der berühmte unübertroffene Meister der Schwarzen Magie und der Zauberei auf großer Südamerika-Tournee! Der Welt größter Illusionist beehrt auch Guayaquil mit einem Sondergastspiel. Kommen Sie, sehen Sie, staunen Sie! Sie werden fasziniert und begeistert sein! Estrello und seine reizende Partnerin Anja werden auch für Sie zu einem unvergesslichen Erlebnis werden!

Links neben dem Hut sah man die als Anja angekündigte Partnerin. Sie war mehr als reizend, eine Frau von makelloser Schönheit, wie aus einem Bilderbuch; in dem Flitterkostüm, das sie trug, kamen ihre weiblichen Reize voll zur Geltung. Anja hatte die Haltung einer Prinzessin, die gar nicht in diese falsche, bunte Welt der Kulissen passte. Sie hielt die Rechte in den Zylinder gestreckt, und auf ihrer flachen Hand stand ein kleiner Elefant, der einen etwas tollpatschigen Eindruck machte. Das Ganze wirkte wie aus einem schlechten Comic. Aber Vernon interessierte sich weder für Estrello noch für den Text. Ihn sprach die Frau an. Die edlen, klassischen Züge, das schmale, reizende Gesicht, die dunklen, geheimnisvollen Augen. Dieser Frau war er schon mal begegnet!

»Anja«, flüsterte Vernon mit blutleeren Lippen, und es wurde ihm nicht bewusst, dass sich seine Rechte zur Faust ballte.

»Sie ist es, sie ist es. Daran gibt es keinen Zweifel!« Paul Vernon schluckte. Er machte plötzlich einen gehetzten und kranken Eindruck. »Das hättest du nicht tun sollen, Estrello. Nicht direkt vor meiner Haustür. Es wird dich teuer zu stehen kommen.« Von einem Augenblick zum anderen stand ein Plan für seine Rache fest. Sie würde furchtbar sein.

Juanita hatte gehofft, noch am gleichen Abend mit ihrem Freund Jorge sprechen zu können. Aber sie hatte ihn telefonisch nicht mehr erreicht. Eine unruhige Nacht lag hinter dem Zimmermädchen und furchtbare Träume hatten sie verfolgt. So träumte sie, dass der unheimliche Estrello in ihrem Schlafzimmer aufgetaucht sei. Die große Gestalt in dem schwarzen Umhang nahm überdimensionale Formen an und plötzlich teilte Estrello sich. Innerhalb von Sekunden entstanden eine ganze Reihe von Estrellos, die das Zimmer ausfüllten, sich ihr wie eine Mauer näherten und sie umringten.

Es gab keinen Ausweg. Gierige Hände griffen nach Juanita, mordlüsterne Augen starrten sie an – und dann – war sie aufgewacht. Der Traum war unerträglich für sie geworden. Auch heute Morgen, als sie in der Etage zu tun hatte, in der Estrello und seine Partnerin untergebracht waren, musste sie ständig an ihr nächtliches Erlebnis denken. Es verfolgte sie auch jetzt noch. Wie eine Diebin schlich sie sich an den Zimmern vorüber, die Estrello für die Zeit seines Aufenthalts gemietet hatte. Der Magier lebte hier wie ein Fürst. Fünf Zimmer standen ihm zur Verfügung. Zwei davon – luxuriös eingerichtete Apartments – wurden von Estrello und seiner Partnerin benutzt.

Die anderen Räume erfüllten praktisch den Zweck von Abstellkammern. Außerdem hatte Estrello ein Einzelzimmer im Stock weiter unten gemietet. Dort war sein Fahrer untergebracht, der den Bus chauffierte, mit dem der Magier durch die Lande reiste. Es war eine Sonderanfertigung mit Allradantrieb, Schlafkojen, einer kleinen Küche und einem großen Gepäckabteil, in dem sämtliche Kisten und Truhen sowie die gesamte Ausrüstung für die Bühnengestaltung einschließlich des technischen Geräts und der Sonderbeleuchtung ständig mitgeführt wurden.

Dieser Bus hatte schon seine Reise über alle Weltmeere hinter sich. Estrello und Anja dagegen betraten kein Schiff. Sie ließen sich mit dem Flugzeug von einem Kontinent zum anderen befördern. Das Zimmermädchen fühlte sich an diesem Morgen erleichtert, als sich eine Kollegin in unmittelbarer Nähe aufhielt und das Zimmer gegenüber aufräumte. Über den Gang hinweg unterhielten sich die beiden Mädchen. Mehr als einmal war Juanita nahe daran, ihr Erlebnis von gestern Abend zu schildern. Aber dann unterließ sie es doch. Es war kaum anzunehmen, dass jemand ihr Glauben schenkte. Nur mit Jorge konnte sie darüber sprechen.

Um die Mittagszeit rief sie nochmal an. Diesmal erreichte sie ihn. Seine schläfrige Stimme klang an ihr Ohr. »Ja?«, fragte er.

»Juanita hier. Ich habe es gestern Abend schon versucht, dich zu erreichen. Es war nicht möglich.«

»Ich war beschäftigt. Ich übe gerade einen neuen Trick ein. Tut mir leid, Kleines. Was hast du erreicht?«

»Nichts.«

»Das ist wenig. Du kommst an seinen Kram nicht heran?«

»So ähnlich kann man es wohl sagen. Er hat mich im Zimmer erwischt.«

»Verdammt!« Jorges Stimme klang mit einem Male hellwach. »Jetzt hast du Schwierigkeiten? Hat er mit der Hoteldirektion gesprochen? Haben sie dich hinausgeworfen?«

»Nein, das ist es nicht. Er hat überhaupt nicht viel gesagt. Der Direktion schon gar nicht. Aber jetzt habe ich Angst vor ihm, Jorge.«

»Wieso? Hat er dir gedroht?«

»Nicht direkt.« Juanita biss sich auf die Lippen. »Aber ...« Sie stockte.

»Raus mit der Sprache, Kleines! Nur keine Angst!«

»Ich möchte nicht hier am Telefon darüber sprechen, versteh das bitte. Können wir uns nicht irgendwo treffen?«

»Wann und wo?«

»Ich habe ab zwei Uhr frei. Ich habe erst heute Abend wieder Dienst. Wir könnten uns unten am Strand treffen, an unserem alten Platz.«

»Einverstanden. Du machst es spannend.«

»Es ist spannend, Jorge! Wenn ich dir sage, was ich erlebt habe, wirst du mir nicht glauben, fürchte ich.«

Zehn Minuten nach zwei Uhr verließ Juanita das Hotel Libertad. Sie trug ein weißes, weit ausgeschnittenes Kleid, das sehr kurz war und glockig fiel. Es endete zwei Finger breit unter ihrem Po. In einer farbig geflochtenen Basttasche trug sie ihre Badeutensilien. Menschen bevölkerten den Strand.

Einheimische und Touristen, viele Kinder und bunte Sonnenschirme belebten den fast weißen Sand. Junge Mädchen und Frauen, mit knappen Bikinis bekleidet, lagen reglos auf dem Boden und ließen sich bräunen. Juanita grüßte einige Bekannte mit einem kurzen Kopfnicken oder blieb ein paar Minuten lang stehen, um einige Worte mit ihnen zu wechseln. Dann näherte sie sich den grün-rot gestrichenen Umkleidekabinen. Unter einem Sonnendach saß Jorge mit ein paar gleichaltrigen Freunden. Sie hatten eisgekühlte Limonade vor sich auf den sauberen Metalltischen stehen.

»Ich bin gleich zurück!«, sagte Juanita strahlend. In der Nähe dieser Menschen fühlte sie sich wohl, und die Bedrückung wich von ihr, als hätte es sie nie gegeben. Juanita brauchte keine zwei Minuten, um das kurze Kleid auszuziehen und Slip und BH mit Bikinihöschen und Halter zu wechseln. Auch der Bikini war weiß. Das war ihre Lieblingsfarbe, und die war auch ein sehr guter Kontrast zu ihrem kaffeebraunen Körper. Solange sie nicht ins Wasser ging, trug sie das schulterlange Haar offen. Mit großem Hallo wurde Juanita empfangen. Es war eine heitere und gelöste Stimmung. Dankbar nickend nahm sie einen eiskalten Drink an, den ihr einer der jungen, braungebrannten und athletisch gebauten Männer reichte. Sie sprachen über alles Mögliche. Sowohl Jorge als auch Juanita vermieden es, das Wesentliche zu streifen. Sie wollten es besprechen, sobald sie allein waren. Nach einer halben Stunde war es so weit, dass Jorge und Juanita sich von den anderen absetzen konnten. Sie spazierten am Strand entlang. Klares Wasser spülte um ihre Füße. Jorge war nur wenige Zentimeter größer als Juanita. Er war schlank, mit breiten Schultern und schmalen Hüften. An seinem Körper gab es kein Gramm Fett zu viel. Jorge war ein Mischling. Spanisches und Eingeborenenblut floss in seinen Adern. Er war ein temperamentvoller, lustiger Bursche, zu jedem Scherz aufgelegt, und er war überzeugt davon, eines Tages ein bekannter Zauberkünstler zu werden, um die Welt zu bereisen und reich zu werden. Sie gingen eine Zeitlang schweigend nebeneinander her. Jorge legte seinen rechten Arm um die Schultern Juanitas, und das Mädchen schmiegte sich an ihn.

»Was war? Erzähl es mir«, sagte er leise zu ihr. »Wenn er dir gedroht hat, dann brech ich ihm sämtliche Knochen im Leib.« Das war vielleicht Jorges einziger Nachteil. Er konnte sehr schnell unbeherrscht werden. Überhaupt dann, wenn jemand Unrecht geschah. Aber andererseits hatte Juanita etwas getan, was nicht legal war. Trotz eines ausdrücklichen Verbots durch die Hotelleitung und Estrello hatte sie die Utensilienkammern aufgesucht. Sie konnte nur zu gut verstehen, dass jeder Magier seine eigenen Tricks eifersüchtig hütete und nichts preisgeben wollte. Juanita erzählte es ihm.

Anschließend stellte sie die Frage: »Hältst du es für möglich, dass ein Mensch an zwei Orten zur gleichen Zeit sein kann?«

Jorge stieß hörbar die Luft durch die Nase. »Ich bin Realist. Ich glaube nur an das, was ich sehe. Außerdem verstehe ich selbst eine ganze Menge von Zauberei und Tricks, von Illusionismus und all diesen Dingen. Ich weiß, wie das vor sich geht. Auch Estrello kocht seine Suppe nur mit Wasser. Das glaube ich jedenfalls. Obwohl man sich über ihn eine Menge erzählt, das mich eigentlich eines Besseren belehren sollte. Vielleicht ist er doch anders als andere Zauberer. Er selbst besteht auch darauf, dass auf den Plakaten und in den Zeitungsberichten und Interviews, die man über ihn und von ihm bringt, außer seiner Tätigkeit als Illusionist seine Kenntnisse in der Schwarzen Magie erwähnt werden.«

»Glaubst du, er steht mit dem Teufel im Bund?« Die Stimme Juanitas klang wie ein Hauch. Beunruhigt blickte sie zu ihm auf.

»Nein, das glaube ich nicht.«

»Aber Estrello in zweifacher Ausfertigung! So etwas geht doch nicht mit rechten Dingen zu, Jorge.«

»Ein fauler Trick, Darling! Entweder eine mechanische Puppe, die aktiviert wird, sobald man irgendeinen Kontakt berührt – oder ein Spiegelbild.«

»Ausgeschlossen! Estrello stand vor verschlossener Tür, als ich erschrocken hinausrannte.«

»Nun gut, dann eben kein Spiegelbild. Die Puppe ist mir sogar sympathischer, und die Mechanik leuchtet mir ein. Eine Art Alarm, wenn du so willst. Estrello hütet eifersüchtig seine Schätze und seine Kenntnisse. Ich müsste mich selbst mal davon überzeugen können, wie er ...« Jorge unterbrach sich, als er Juanitas angsterfüllten Blick auf sich ruhen sah.

»Tu es nicht, Jorge! Arbeite an deinen eigenen Tricks weiter! Das ist sicherer.«

Er schüttelte den Kopf. »Es ist eine einmalige Chance: Estrello in Südamerika, Estrello in Guayaquil! Das kommt nie wieder vor. Dass er die Tournee und seine Gastspiele im Strandtheater verlängert hat, ist für mich ein Geschenk des Himmels. Das schenkt mir Zeit, wertvolle Zeit, Juanita! Ich wäre nie in der Lage gewesen, außerhalb meines Landes eine Vorstellung Estrellos zu besuchen. Ich vernachlässige im Augenblick meine eigene Arbeit, nur um von ihm zu lernen. Ich lasse keine Vorstellung aus. Auch gestern Abend, da ...«

Sie blieb abrupt stehen. »Gestern Abend? Aber du sagtest doch, dass du an einem Trick gearbeitet hast, der ...«

»Tut mir leid«, erwiderte er leise und lächelte. Seine Zähne schimmerten makellos weiß. »Die kleine Lüge vorhin am Telefon musst du schon entschuldigen. Es geschah in deinem eigenen Interesse. Du konntest mich deshalb nicht erreichen, weil ich zu diesem Zeitpunkt im Theater war. Und danach sah ich mich hinter den Kulissen ein wenig um. Unauffällig, versteht sich.« Als sie nicht antwortete, fuhr er fort: »Ich musste zu dieser kleinen Notlüge greifen. Ich wollte nicht, dass du schon jetzt davon erfährst. Aber wenn du mir dann in die Augen siehst, kann ich nicht anders, als dir die Wahrheit zu gestehen ...« Er sagte es so nett und zärtlich, dass ihr Widerspruch dahinschmolz wie der letzte Schnee in der Frühlingssonne.

»Dir sind alle Mittel recht, um dein Ziel zu erreichen«, sagte Juanita mit schwerer Stimme. »Das gefällt mir nicht an dir.«

»Ich will weiterkommen, schnell weiterkommen vor allen Dingen! Der Zweck heiligt die Mittel! Dabei bewege ich mich ein bisschen auf dem krummen Weg, das mag dem Außenstehenden so erscheinen, aber ich sehe das anders. Estrello ist reich und geachtet, aber er ist auch arrogant. Ich habe gestern versucht, ihn nach der Vorstellung zu sprechen. Er war aber nicht interessiert daran, mich überhaupt an sich heranzulassen. Offenbar hielt er das für verlorene Zeit. Aber ich werde dahinterkommen, hinter seinen Degentrick und auch hinter seinen Zylindertrick mit den Großtieren. Er lässt einen Elefanten einfach von der Bühne verschwinden, das ist unheimlich. Ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, wie er das macht, aber ich komme nicht dahinter. Wenn ich nur die geringste Ahnung hätte, wie das vor sich geht, könnte ich einen ähnlichen Trick aufbauen und daraus viele weitere ableiten. An Ideen mangelt es mir nicht. Ich brauche einen Blick in seine Pläne oder in seine Bücher, etwas, was mich weiterbringt. Ich werde mich selbst umsehen, heute Abend, wenn er die Wiederholungsvorstellung gibt. Dann ist niemand im Hotel.«

Juanita biss sich auf die Lippen. Sie versuchte erst gar nicht, Jorge von seiner Idee abzubringen, weil sie wusste, dass es keinen Sinn hatte. Wenn Jorge sich in etwas verbiss, dann hielt er durch. Ausdauer war seine Stärke. »Heute Abend komme ich ins Hotel. Wir brauchen uns nicht zu sehen, man braucht dich und mich nicht miteinander in Verbindung zu bringen. Ich habe nur eine einzige Bitte, Juanita.« In seinem Hirn stand schon alles fest.

»Und die wäre?«

»Du wirst nach Estrellos Verschwinden aus dem Hotel dafür sorgen, dass die Tür nicht verschlossen ist.«

»Aber ...«

»Es ist für uns beide, für ein schönes, sorgloses Leben. Warum soll ich mühsam nach einem Weg suchen, wenn ein anderer mir diesen Weg zeigen kann? Ich würde natürlich aus meinen eigenen Fehlern lernen, Juanita. Doch das kostet viel Zeit. Ich will aber noch zu Geld kommen, solange ich jung bin. Wenn ich erst mal fünfzig bin, habe ich geringere Ansprüche. Jetzt, wo ich fünfundzwanzig bin, will ich nach oben. Du brauchst nur die Tür aufzuschließen. In einem unbemerkten Augenblick. Das ist alles.«

Er sah sie an. Langsam kam Jorge um Juanita herum, und seine dunklen Augen blickten ihr bis tief in die Seele. Seine Hände glitten an ihren braunen, warmen Schultern herab, blieben an ihren Hüften, unmittelbar über den großen Metallringen liegen, welche die Schlaufe des knappen Bikinihöschens hielten. Juanita nickte. Ihre leicht geöffneten Lippen schimmerten verführerisch, und der Duft des dezent aufgetragenen Lippenstifts stieg in die Nase des vor ihr stehenden Mannes.

»Ich tu's, Jorge.« Ihre Lippen fanden sich zum Kuss, und keiner von ihnen störte sich daran, dass andere Badegäste in der Nähe weilten. Ein alter Mann stand grinsend zwei Meter abseits und betrachtete das sich küssende Paar. »Man müsste noch mal zwanzig sein«, murmelte er und seufzte. Seine bessere Ehehälfte, die schräg hinter ihm stand, hatte die gemurmelten Worte zwar nicht gehört, aber sie schien ihren Gatten so gut zu kennen, dass sie sich denken konnte, was jetzt in ihm vorging.

»Da denkste wohl wieder an alte Zeiten, wie, Schlumpi?« Warum sie ihn Schlumpi nannte, das mochte der Himmel wissen. Es gab Geheimnisse zwischen Ehepaaren, die nie ans Licht der Öffentlichkeit drangen. »Aber da warste auch nicht besser!« Die alte Dame stampfte resolut durch den Sand und griff nach dem Arm ihres beleibten Gatten. Beide waren amerikanische Touristen und wohlgenährt. Das zeichnete sich auch unter dem dunkelblauen Badeanzug ab, der aus allen Nähten zu platzen drohte. Schlumpi seufzte und wandte sich um, indem er mit den Achseln zuckte. »Du missgönnst einem aber auch die kleinste Erinnerung.«

»Du bist doch kein Spanner, Dickerchen«, murrte sie und strahlte ihn an. Ihre Goldzähne blitzten in der Sonne. »Schau mich an, dann weißt du, was du hast!«

»Genau das ist es, was ich vergessen wollte«, entgegnete Schlumpi und trottete neben seiner kugeligen Frau her, ohne noch einen Mucks von sich zu geben.

Juanita und Jorge verbrachten den ganzen Nachmittag am Strand. Sie lagen in der Sonne oder, wenn es ihnen zu heiß wurde, unter dem Sonnenschirm. Hin und wieder stürzten sie sich in die Fluten und schwammen ein paar hundert Meter allein. Rein und wolkenlos spannte sich der blaue Himmel über der Bucht. Um Mittag war es für eine Zeitlang etwas ruhiger geworden.

Es hielten sich nicht mehr so viele braune Menschen am Strand auf. In der Überzahl befanden sich jetzt die Touristen, die mit Gewalt schmorten, um die ersehnte Bräune zu erlangen. Dann kehrten Juanita und Jorge wieder zu den Decken zurück, unterhielten sich und tauschten Zärtlichkeiten aus. Am späten Nachmittag vertauschte Juanita den wie angegossen sitzenden Bikini wieder mit ihrer feinen Unterwäsche und dem weißen Super-Minikleid und machte sich auf den Weg zurück ins Hotel, das nur wenige hundert Meter vom Strand entfernt lag.

Um sechs Uhr begann wieder ihr Dienst. Sie hatte mit Jorge alles abgesprochen. Unmittelbar nach dem ersten Auftritt Estrellos wollte Jorge im Lieferanteneingang auftauchen und sich die drei Utensilienkammern des Illusionisten näher ansehen. Viel würde er nicht zu sehen bekommen, da zu diesem Zeitpunkt der Magier alle benötigten Gegenstände auf oder hinter der Bühne hatte. Juanita war aufgeregt, als sie im Hotel ankam und ihre Bedienungskleidung anzog.

Für heute war die Südamerikanerin wieder bereit, die Wünsche von Zimmergästen entgegenzunehmen und auszuführen. Drinks, ein Eis oder Tee und Kaffee wurden bestellt. Hin und wieder auch ein ausgefallener Wunsch. Jemand benötigte ein Stück Seife oder ein Schaumbad, ein anderer wollte diese oder jene Zeitung auf seinem Zimmer haben. Alles wurde erledigt. Der Service im Libertad ließ in keiner Weise zu wünschen übrig. Nach den ersten Dienstleistungen legte sich ihre Aufregung wieder. Sie dachte nicht mehr so intensiv an die Gespräche, die sie im Lauf des Tages mit Jorge geführt hatte. Es war gegen halb sechs, als der Barkeeper sie zu sich rufen ließ.

»Einen Cocktail old fashioned«, sagte der Kraushaarige hinter dem Tresen, während er den Shaker bereitstellte, einen Bourbon Whisky, Zucker, Angostura und verschiedene Früchte mixte und kräftig durchschüttelte. Er goss den Drink in ein Glas und gab einige Eisstücke hinzu. »Für Senor Estrello, Juanita. Zimmer 116.« Das Mädchen glaubte, eine eisige Hand würde nach ihm greifen. Der Name Estrello genügte, um eine Art Panikstimmung in Juanita auszulösen. Dem Barmann war die Reaktion nicht entgangen.

»Nanu?«, fragte er. »Fühlst du dich nicht ganz wohl?«

»Nein, warum?« Juanita versuchte ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. Doch es gelang ihr nicht. Sie wollte sich jedoch auf keine weitere Diskussion einlassen, griff nach dem Tablett und verschwand hinter der Schwingtür. Nachdenklich blickte der Barkeeper dem schlanken Mädchen nach, wie es zum Lift ging. Juanita spürte ihr Herz bis zum Hals pochen. Estrello verlangte nach ihr.

Wusste er, dass sie jetzt Dienst hatte? Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass der Magier in den vergangenen Tagen auch nur ein einziges Mal nach dem Dienstpersonal gerufen hätte. Juanitas Hände fingen an zu zittern. Die Eiswürfel klapperten gegen die Innenwände des Glases. Zimmer 116 – schlug es im Bewusstsein der Südamerikanerin Alarm. Das war eines der Utensilienzimmer, wie die Räume scherzhaft von den Hotelangestellten genannt wurden. Die Angst nahm zu, je höher der Lift stieg. Juanita schloss die Augen, als der Aufzug stehenblieb.

Du bist verrückt, sagte sie sich im Stillen. Du bist total übergeschnappt. Du hast Angst – wovor eigentlich?

Vor seinen Augen! Sie musste wieder an Estrellos kalten, abschätzenden, vernichtenden Blick denken, den sie nie vergessen würde. In Augen konnte man lesen. Sie jedenfalls war davon überzeugt. Aber sie würde sich lächerlich machen, spräche sie jetzt mit irgendjemand über ihre Sorgen und Probleme, die in den Augen der anderen überhaupt keine waren! Ihre Glieder bewegten sich, als flösse Blei durch die Adern, als sie die Tür des Lifts aufschob und langsam den Gang entlangging. Mechanisch wie ein Roboter näherte sie sich der Tür. Dann stand sie vor Nr. 116. Es kann ja gar nichts schiefgehen, redete sie sich ein. Du bist mitten unter Menschen, in einem Hotel. Wenn sie dich unten vermissen, dann ...

Sie schüttelte den Kopf und schalt sich im Stillen eine Närrin, weil sie so verrücktes Zeug dachte. Juanita atmete noch mal tief durch. Es war alles ganz einfach. Sie brauchte den Drink nur abzugeben und wieder zu verschwinden. Sie klopfte an.

»Ja, herein bitte!« Die volltönende Stimme war laut und deutlich zu hören. Juanita drückte die Klinke. Dämmerung fiel ihr sofort auf. Genau wie beim ersten Mal, als sie ins Zimmer gekommen war.

Vor dem Fenster stand eine Sitzgruppe, davor ein paar Kästen und ein hohes Gestell. Nicht mehr so viele Gegenstände wie gestern. Ein Teil davon befand sich im Theater. Offenbar handelte es sich hier um Ersatzstücke oder um Sachen, mit denen der Magier neue Nummern einstudierte. Estrello zog den einen Vorhang zur Hälfte zurück, um etwas Tageslicht hereinzulassen. Das war schon angenehmer. Der Magier trug seinen dunklen Umhang. Niemand hatte ihn je anders gesehen. Zivilkleidung schien er entweder nicht zu besitzen, oder er trug sie nur, wenn er sich ganz privat gab. Durch sein Gehabe erweckte es beinahe den Anschein, als wolle er ein gewisses Image pflegen.

»Na, treten Sie mal näher, liebes Kind!« Estrello lachte. Seine schmalen Lippen öffneten sich kaum. Unwillkürlich drängte sich Juanita ein Vergleich auf. Sie musste an den berühmt-berüchtigten Grafen Dracula denken: Estrello hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm. Bleich und hager, stechende, lauernde Augen, und etwas Unheimliches und Anziehendes zugleich gingen von diesem seltsamen Mann aus. Estrello trug diesmal keinen Zylinder. Der Magier sah ohne Kopfbedeckung älter aus. Sein schütteres Haar bedeckte kaum mehr den eiförmigen Schädel.

»Ihr Drink, Senor! Sie hatten einen Old fashioned bestellt!«, sagte Juanita und bemühte sich um ein servicefreundliches Lächeln. Estrello nickte bedächtig und lächelte ebenfalls.

»Stellen Sie ihn bitte hier auf den Tisch!«, sagte er, kam von der Seite her auf Juanita zu, ließ sie ein und schloss die Tür. Juanita bemühte sich, ruhig und gelassen zu bleiben. Ihre Hand zitterte kaum, als sie das Tablett mit dem Glas auf den Tisch stellte.

»Wenn Sie noch irgendwelche Wünsche haben, Senor, brauchen Sie nur durchzuläuten«, sagte sie beiläufig, richtete sich wieder auf und wollte gehen.

»Sie sind doch die Senorita, die sich gestern so interessiert für dieses Zimmer hier gezeigt hat, nicht wahr?« Estrellos Stimme klang verhältnismäßig ruhig.

Juanita nickte. »Ja, Senor. Das war ich. Es tut mir leid. Ich war neugierig. Ich danke Ihnen, dass Sie der Direktion nichts ...«

Der Illusionist winkte ab. »Aber Senorita! Ich bitte Sie! Ich kann Sie nur zu gut verstehen! Man will wissen, was wirklich hinter den Dingen steckt, nicht wahr?« Er lachte wieder. Aber dieses Lachen gefiel Juanita nicht. Dennoch machte sie gute Miene zum bösen Spiel. »So ist es, Senor! Sie wissen genau, was in mir vorging.« Sie wollte weitergehen, aber er stellte sich ihr in den Weg.

»Ich weiß immer, was in den Menschen vorgeht. Ich kann auch hellsehen!«

Juanita schluckte. Das Lächeln gefror auf ihren Lippen. »Hellsehen?«, sagte sie stockend. Sie erschrak vor ihrer eigenen Stimme. Sie klang unsicher und schleppend.

»Ich werde Ihnen etwas zeigen, und Sie werden erkennen, dass alles mit rechten Dingen zugeht!« Estrello gab sich plötzlich völlig anders. Er wurde leutselig. »Kommen Sie her, sehen Sie sich an, wovor Sie gestern erschrocken sind! Sie werden heute darüber lachen.«

»Aber ich kann mich nicht länger aufhalten, Senor! Ich werde unten gebraucht. Wir sind nur zu zweit im Service. Und es sind sehr viele Gäste im Hotel, wenn ...«

»Papperlapapp!«, sagte Estrello einfach. Mit einer großartigen Geste hob er die Hände. »Was bedeutet schon Zeit? Was heißt es schon, wenn Sie zwei Minuten länger hier oben bleiben? Machen wir es doch so: Sie haben mir den Drink gebracht, und dabei ist Ihnen ein kleines Missgeschick passiert, so dass Sie etwas länger hier verweilen mussten.«

»Missgeschick? Welches Missgeschick, Senor?«

»Nun, dies hier ...« Mit diesen Worten durchquerte der Illusionist mit einem schnellen Schritt den Raum, stieß mit der Hand gegen das randvoll gefüllte Cocktailglas und warf es um. Der Old fashioned ergoss sich über den Tisch, die Früchte lagen auf dem Tablett, die Eiswürfel kullerten über die Tischplatte und verursachten ein Geräusch, als würde ein zahnloses Gespenst sein Gebiss einsetzen. Der Drink tropfte zu Boden. Mit weitaufgerissenen Augen starrte Juanita auf die Szene und begriff sie nicht.

»Das ist ein Grund, um länger hier zu bleiben. Schließlich müssen Sie die Reste des Missgeschicks auch noch beseitigen, nicht wahr?« Estrello wies auf den mannsgroßen Kasten. Es war der gleiche, den sie gestern Abend berührt hatte und hinter dem der Magier lautlos und gespenstig aufgetaucht war.

»Passen Sie genau auf«, sagte er mit einer gewissen Spannung in der Stimme. »Jetzt!« Estrello trat zur Seite. Er stand links neben der Kiste. Geisterhaft wuchs aus dem Boden rechts neben der Kiste etwas Dunkles empor, schnellte in die Höhe und entfaltete sich im Bruchteil einer Sekunde zu einer mannsgroßen Gestalt, zu einem Ebenbild des Magiers Estrello! Juanitas Blicke irrten von einer Gestalt zur anderen. Auch das gerade aufgetauchte Ebenbild bewegte sich, als würde es atmen, hob sogar die Hände, lächelte und hatte stechende, kalte Augen.

»Ein neuer Trick von mir«, sagte Estrello rechts neben der Kiste, es war derjenige, der Juanita eingelassen hatte. »Noch nicht vollendet. Ich muss noch intensiver daran arbeiten. Eine simple Mechanik, aber es lässt sich eine ganze Menge damit anfangen, Senorita! Man könnte glauben, es handele sich um meinen Zwillingsbruder, nicht wahr?«

Die Südamerikanerin nickte. Sie fing an zu schwitzen. Die Illusion war perfekt. Der andere Estrello, der wie ein Spuk aus der Hölle aufgetaucht war, blinzelte ihr zu.

»Aber es ist nicht mein Zwillingsbruder. Es gibt nur einen Magier Estrello! Das ist eine Puppe, mir zur Vollendung nachgestaltet. Ein Roboter, der seine Gesichtszüge verändern, der sich bewegen kann wie ich. Ich bin mit ihm verbunden, durch feinste Sensoren. Über eine Funkbrücke werden diese Sensoren aktiviert. Ich habe festgestellt, dass ich mich fast eine Meile von der Puppe entfernen und sie noch immer nach meinen Vorstellungen lenken kann. Das ist ganz einfach, wenn man etwas von Kybernetik versteht. Jede Bewegung, die ich mache, vollzieht der Roboter nach. Selbst sprechen kann er! Allerdings wird das eine vorher aufgenommene Tonbandnachricht sein.«

Juanita fiel plötzlich etwas auf. »Sie können die Puppe steuern, das leuchtet mir ein, wenn ich auch die Zusammenhänge nicht klar erkenne. Aber ich begreife nicht, wie Sie gestern wissen konnten, dass ich mich in diesem Zimmer aufhielt, und ...«

Estrello lächelte wieder. »Erst noch etwas anderes, Senorita. Dann werde ich auch das erklären, damit Sie wieder beruhigt schlafen können ...«

Woher wusste er, dass sie unruhig geschlafen hatte? Je länger sie sich in Estrellos Nähe aufhielt, desto unheimlicher kam ihr dieser Mann vor. »Sehen Sie sich das an, Senorita«, sagte er mit geheimnisvoller Stimme. Er näherte sich dem Gestell, das aussah wie ein mit einem schwarzen Tuch verhangenes Tor. Unmittelbar hinter dem Gestell erkannte Juanita die Umrisse einer großen Truhe. Estrello näherte sich dem Vorhang, teilte ihn und blieb unter dem torbogenähnlichen Gestell stehen. Juanita kannte dieses Utensil aus den Vorführungen des Magiers. Sie hatte bereits eine gesehen. Die Partnerin Estrellos, die wunderschöne Anja, stand bei dieser Vorführung auf der obersten Stufe unterhalb des Bogens. Hinter ihr eine schwarze Wand, nichts weiter. Dann lässt Anja den seidenen Vorhang vor sich herabfallen. Deutlich erkennbar zeichnen sich im Scheinwerferlicht der Bühne die vollendeten Körperumrisse der Frau hinter dem Stoff ab. Und dann greift Estrello zu einem der langen und spitzen Degen, die er auf einem Tablett vor sich liegen hat. Es sind insgesamt zehn. Und jeden einzelnen stößt er durch den schwarzen Stoff, dass man das Gewebe reißen hört und in den schemenhaften Umrissen erkennt man, dass sich die Spitzen der Degen in den Körper Anjas bohren.

In diesen Sekundenbruchteilen stand vor dem geistigen Auge Juanitas das Bild dieser Szene. Die Südamerikanerin fühlte Angst in sich aufsteigen, als sie Estrello, der wie ein Herr und Meister auf sie herabblickte und ihr zunickte, auf der Stufe stehen sah. »Nun kommen Sie schon! Ich bin bei bester Laune, Senorita! Sie haben die Chance, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Lassen Sie sich das nicht entgehen! Ein zweites Mal bin ich nicht so bereitwillig!« Wie unter einem inneren Zwang näherte sich Juanita der untersten Stufe des Gestells, begriff selbst nicht, ob sie es aus freiem Willen tat oder ob Estrello hypnotischen Einfluss auf sie ausübte.

»Ein einfacher Trick, wie Sie gleich sehen werden. Er gehört aber mit zu meinen wirkungsvollsten!« Der Zauberer kicherte, und seine breiten, buschigen Brauen über den stechenden Augen hoben sich. »Jedermann sieht, wie Anja durchbohrt wird, und doch tritt sie wenige Minuten nach den tödlichen Stichen unversehrt und lächelnd hinter dem Vorhang heraus, bedankt sich beim Publikum für den begeisterten Applaus. Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wie das geht! Und dann wird Ihre Neugierde hoffentlich ein für allemal befriedigt sein!«

Diese Worte klangen keineswegs mehr so freundlich wie die anderen, welche Estrello die ganze Zeit über gesprochen hatte. Juanita hätte gewarnt sein sollen. Aber sie wollte sich diese Blöße nicht geben. Sie sagte sich, dass ihr hier nichts geschehen konnte. Jedermann unten wusste schließlich, zu wem sie gerufen worden war. Estrello konnte ihr höchstens das Leben in diesem Haus zur Hölle machen. Aber mehr konnte eigentlich nicht passieren. Der Magier nahm sie bei der Hand.

»Fürchten Sie sich?«, fragte er schnell.

Juanita reagierte mit einem heftigen Kopfschütteln. »Wovor sollte ich mich fürchten?«

»Na, das sage ich mir auch. Ich hatte allerdings gestern den Eindruck, als Sie fluchtartig mein Zimmer verließen!« Er fing immer wieder davon an. »Einen zweiten Trick will ich Ihnen verraten«, fügte er unvermittelt hinzu.

»Und warum tun Sie das?«

»Aus Spaß an der Freude! Hin und wieder packt mich so eine Laune. Und da Sie nun mal hier sind ...« Juanita stand jetzt auf der obersten Stufe neben ihm. Estrello löste sich von ihr, ging hinab und griff nach dem schwarzen Seidenvorhang.

»Sie werden jetzt bis zehn zählen, ganz langsam«, sagte er mit ruhiger Stimme. Seine Augen funkelten. Juanitas Blick hing wie gebannt an diesen kalten, sezierenden und bis tief in ihr Innerstes sehenden Augen. »Ich lasse den Vorhang herunter. Dann schauen Sie einfach geradeaus auf den schwarzen, unbewegten Stoff ...« Estrellos Stimme wurde ganz leise, aber dennoch vermochte die Südamerikanerin jedes einzelne Wort zu verstehen. Sie vernahm ein Rascheln, kurz nachdem der schwarze Vorhang gefallen war. Juanita war unfähig, sich zu rühren. Bewusst bekam sie jede Einzelheit mit, aber sie begriff nicht, dass sie den hypnotischen Fähigkeiten Estrellos bereits zum Opfer gefallen war, dass sie normalerweise ganz anders reagiert hätte.

Die Neugierde in ihr wurde größer, während die Furcht schwand. Juanita wusste genau, was Estrello vorführen wollte, er erklärte es ihr sogar. Der Magier öffnete die Kiste zu seiner Linken, in der die blitzenden, sauber geputzten Degen lagen. »Sie werden sehen, dass alles nur ein Trick ist. Die meisten, eigentlich alle, wenn man so will, sind fasziniert, wenn Sie sehen, dass ich mit den Degen Stoff durchstoße. Es gibt Zauberkünstler, die ähnliche Vorführungen mit Kisten unternehmen. Sie verbergen die gefesselte Partnerin darin und stoßen dann an genau präparierten Stellen Messer und Dolche durch kleine, sichtbare Löcher. Diese Herren machen es sich einfach.

Die Dolche und Messer sind ineinanderschiebbar. Sie schrumpfen sozusagen in dem Augenblick, wo die scharfe Spitze eingeführt wird, und die Schneide verschwindet im Schaft, ohne dass der Zuschauer es bemerkt. Aber bei meinen Degen kann nichts im Schaft verschwinden. Der Griff ist nur etwa handgroß, und der Degen ist über sechzig Zentimeter lang.« Juanita hörte das alles, während sie angefangen hatte, mechanisch zu zählen. Sie war jetzt bei Sechs.

»Und er bohrt sich tatsächlich in den Körper von Anja, nur ist es so, dass kein Zuschauer weiß ...«

Juanita war bei Neun