Larry Brent Classic 023: Die Mordleiche - Dan Shocker - E-Book

Larry Brent Classic 023: Die Mordleiche E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Die Mordfalter Der Unternehmer Daniel Guisgard kommt an jenem Abend sehr spät aus seinem Büro raus. Er mußte noch einige wichtige Arbeiten erledigen. Während seine Frau das Essen zubereitet, macht er noch einen kleinen Spaziergang durch den weitläufigen Garten. Doch zum Essen kommt er nicht mehr, denn - die Mordfalter sind unterwegs, und Guisgard fällt ihnen zum Opfer. Wo kommen die Mordfalter her, und warum töten sie Menschen? Sind sie eine besondere Spezies oder hat ein verrückter Professor sie gezüchtet? Als sich Larry entscheidet, den Dingen auf den Grund zu gehen, hängt sein Leben nur noch an einem seidenen Faden. Die Leiche aus der Kühltruhe Der Gesundheitszustand von Gerome Wallace wird immer schlechter. Bei einer Party auf der er gemeinsam mit seiner fünfundzwanzig Jahre jüngeren Frau Linda erscheint, bricht er unvermittelt zusammen. Geromes Angst vor dem Tod ist so groß, das er sich einem Kryobiologischen Labor anvertraut, das seine Leiche nach seinem Tod einfrieren soll. Er erhofft sich damit die Möglichkeit wieder erweckt zu werden, wenn die Wissenschaft Mittel gefunden hat seine Krankheit zu besiegen. Doch es kommt ganz anders, als Gerome in einem Tiefkühlsarg erwacht und sein Leben nach dem Tod einen grauenvollen Verlauf nimmt.

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DAN SHOCKERS LARRY BRENT

BAND 23

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Fachberatung: Robert Linder

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

978-3-95719-823-5

Dan Shockers Larry Brent Band 23

DIE MORDLEICHE

Mystery-Thriller

Die Mordfalter

von

Dan Shocker

Prolog

»Wollen Sie für heute nicht Schluss machen, Monsieur Guisgard?«, fragte Lisette Susel. »Es ist so herrliches Wetter draußen, und Sie sitzen immer noch hier rum.«

Guisgard zuckte die Achseln. »Es gibt Dinge, die man nicht länger vor sich herschieben kann. In einer halben Stunde bin ich fertig.« Er lächelte der Raumpflegerin zu, während sie sich der Tür näherte.

»Gute Nacht, Monsieur. Ich komme morgen Abend etwas später als sonst.«

»Schon gut, Lisette. Ich werde Sie ja dann sehen.«

Doch in diesem Punkt irrte Daniel Guisgard. Für ihn schlug bereits die letzte Stunde, denn die Mordfalter waren unterwegs.

Mechanisch griff er nach einem farbigen Prospekt, in den er den ganzen Abend schon einen Blick hatte werfen wollen.

Guisgard trug sich mit dem Gedanken, noch in diesem Frühjahr einen größeren Wagen anzuschaffen – einen LKW – um alle Kunden ausreichend zu versorgen. Er war in den letzten drei Jahren zu einem der bedeutendsten Großhändler für künstliche Düngemittel, Insektenvernichtungsmittel, Sämereien und Gartengeräte geworden.

Durch das halbgeöffnete Fenster schwirrte ein großer Nachtfalter, umkreiste zunächst die brennende Schreibtischlampe und steuerte dann genau auf Guisgards Stirn zu.

Mit einer heftigen Bewegung wischte der Mann durch die Luft. Auf dem Handrücken fühlte er den Chitinpanzer. Das getroffene Tier torkelte, fiel zu Boden, kam jedoch wieder in die Höhe, noch ehe Guisgard seinen Fuß auf das Insekt setzen und es zertreten konnte.

Wütend umschwirrte ihn der Falter. Ein zweiter flatterte durch das Fenster, dann ein dritter, offensichtlich durch das Licht angezogen.

Guisgard merkte, dass sich etwas auf seinen Kopf setzte. Er schlug sofort zu und spürte den zermatschten Körper unter seinen Fingern.

»Verdammte Viecher«, murrte der Franzose. Er hatte davon gehört, dass in dieser Umgebung Insekten und große Nachtfalter in der letzten Zeit in besonders starkem Maß aufgetreten waren. Das zeigte sich auch am sprunghaften Anstieg der verkauften Insektensprays und Pulver. Ihm konnte das nur recht sein.

Guisgard musste sich insgeheim eingestehen, dass er Nachtfalter dieser Größe noch nie gesehen hatte. Sie waren daumendick, und ihre dunkelblauen und violetten Flügel schillerten im Licht der Tischlampe.

Es muss sich um eine neue Art handeln, ging es ihm durch den Kopf.

Erst im letzten Sommer war in Paris und Umgebung eine neue Mückenart aufgetreten, die für die Menschen zu einer wahren Plage geworden war. Er selbst hatte es am eigenen Leib gespürt. Mit Freunden hatte er auf dem Balkon gesessen. Niemand hatte eigentlich bemerkt, dass die Mücken in der Nähe auch nur einen von ihnen gestochen hatten. Am nächsten Tag aber zeigten sich die Folgen. Die Haut rötete sich, große Quaddeln bildeten sich, und in einigen Fällen kam es zu bösartigen und langwierigen Entzündungen und Vereiterungen. Sogar die Presse hatte seinerzeit darüber berichtet.

Mit dem zusammengefalteten Prospekt, den er noch immer in der Hand hielt, schlug Guisgard nach den beiden dicken Brummern, ohne sie jedoch zu treffen.

Da fiel der Blick des Franzosen auf die Spraydose, die am Fenster stand. Blitzschnell griff er danach. Dabei schien es ihm, als hätten die Falter seine Bewegung verfolgt und würden begreifen, was er im Schilde führte.

Aber das war doch heller Wahnsinn. Er war überarbeitet und suchte hinter einem alltäglichen Vorfall mystische Elemente.

Wütend drückte Guisgard das Ventil herunter. Die beiden fetten Falter surrten in die hinterste, dunkle Ecke des Büros, und der feine, tödliche Nebel verteilte sich lautlos im Raum.

Wie von einem Windstoß gepackt knallten die Falter gegen die Decke und überschlugen sich. Das wirkungsvolle Gift schien sie sekundenlang noch einmal zur Raserei zu treiben, ehe die Lähmung einsetzte. Matt und sich um sich selbst drehend lagen sie auf dem Boden, versuchten vergebens, in die Höhe zu kommen und Spannung in die zittrigen Flügel zu bringen. Wie zerknittertes Pergament hingen sie an den fetten, raupenähnlichen Körpern. Die Fühler zuckten. Die Insektenbeine streckten sich. Einer der Falter fiel bei dem Versuch, die Flügel zu spreizen und sich noch einmal in die Luft zu erheben, auf den Rücken.

Dann war es aus. Der Todeskampf der Kreatur war zu Ende.

Guisgard wusste selbst nicht, warum er diesen Kampf so interessiert und befriedigt verfolgt hatte. Zufrieden nickend stellte er die Spraydose auf die Fensterbank zurück.

Super-Toxin half immer. Selbst gegen die größten Brummer. Damit konnte man einen Ochsen zu Fall bringen.

Erschrocken fuhr Guisgard zusammen, als er draußen vor dem dunklen Fenster direkt in Augenhöhe einen weiteren Nachtfalter sah, noch größer, noch dicker als die, die er bereits zu Boden gestreckt hatte.

Die dunklen, schillernden Facettenaugen schienen ihn vorwurfsvoll anzublicken.

Guisgard öffnete und schloss schnell die Augen, als wolle er den Eindruck verwischen. Als er wieder auf die Stelle am Fenster blickte, war der große Nachtfalter verschwunden.

Dennoch wurde Guisgard das Gefühl nicht los, dass draußen in der Dunkelheit etwas auf ihn lauerte und ihn erwartete.

Er fuhr einen metallicgrünen Citroën, der mit allen Extras versehen war. Bis zu seinem Haus musste Guisgard ungefähr sechs Minuten fahren.

Mechanisch kurbelte er das Fenster an seiner Seite hoch, als es neben seinem Ohr dumpf klatschte. Er wandte den Blick. Neben ihm auf der Scheibe klebten die Reste dessen, was vor Sekunden noch ein fetter Falter gewesen war.

Unwillkürlich schüttelte der Franzose den Kopf.

Die Viecher wurden langsam zur Plage.

Einige flogen mit dem Wagen mit. Guisgard sah sie deutlich im Scheinwerferlicht.

In ihrem Verhalten war so etwas wie System. Instinktiv hielten sie sich so weit von dem Fahrzeug entfernt, dass sie nicht am Kühler oder auf der Windschutzscheibe zerplatzten.

Nach etwa drei Minuten wichen die Falter, die den Wagen begleitet hatten, in das Dunkel links und rechts der Fahrbahn zurück. Guisgard machte sich keine weiteren Gedanken darüber.

Er erreichte sein Haus. Hinter einem kleinen privaten Wald aus Nadel- und Laubgehölzen stand der gepflegte Bungalow. Gleich daneben schloss sich die Garage an. Guisgard fuhr den Citroën durch die offenstehende Tür und ging dann um die Fassade herum. Über die Terrasse betrat er den großen Wohnraum.

Hinter halbgeöffneten Glasschiebetüren tauchte die schattengleiche Gestalt Moniques auf.

Die junge Frau war Mitte zwanzig. Das blonde Haar fiel seidenweich und füllig auf die runden Schultern.

Monique Guisgard trug einen anliegenden, dunkelvioletten Hausanzug. Hauteng umschlossen die Hosen die schmalen, festen Schenkel bis zu den Knien. Von dort abwärts waren die Hosenbeine weit geschnitten. Die Bluse hatte einen tiefen Ausschnitt, und es zeigte sich, dass Monique Guisgard nichts davon hielt, einen BH zu tragen.

Sie zuckte zusammen, als sie den Mann im flackernden Licht des offenen Kamins gewahrte. Dann eilte sie auf Daniel zu.

»Du hast mich ganz schön erschreckt«, sagte sie leise, während sie ihn umarmte und einen Kuss auf seine Nasenspitze hauchte.

Guisgard legte die Arme um seine Frau. »Ich wollte nur herausfinden, ob du auch wirklich allein bist«, lächelte er. »Es hätte ja sein können, dass du deinen Liebhaber heimlich über die Terrasse entlässt.«

Er ließ sie erst gar nicht dazu kommen, auf seine spaßig klingende Anschuldigung zu antworten. Mit einem Kuss verschloss er Moniques schimmernde Lippen.

Zärtlich löste sie sich von ihm.

»Ich hab's mir anders überlegt«, sagte sie.

Er nickte. »Im Kamin ist Feuer. Ich hab's schon bemerkt. Hast du Angst, ich bekäme heute Abend kalte Füße?«

»Ich hab mir gedacht, wir essen Steaks vom offenen Kamin. Aber du musst dich noch ein Weilchen gedulden. Ich habe sie erst vor ein paar Minuten aus der Tiefkühltruhe genommen. Dass ich das Feuer angezündet habe, hatte ursprünglich einen anderen Grund. Der Gestank von den Müllhalden war wieder besonders stark. Wenn das Feuer brennt, riecht man ihn nicht so.«

Daniel Guisgard nickte. »Das war eine gute Idee von dir. Während der Fahrt ist mir der Geruch auch schon aufgefallen. Hoffen wir, dass uns wenigstens Mücken und Falter verschonen. Die Luft ist schwül. Das zieht die Biester an.«

Er blickte sich um. »Auf dem Heimweg haben sie meinen Wagen umschwirrt. Ich habe noch nie so große Falter gesehen.« Er hielt seine Rechte vor Moniques Gesicht. »Mit ausgebreiteten Flügeln war einer so groß wie eine Männerhand.«

Monique Guisgard schüttelte sich.

»Still! Wenn du davon erzählst, krieg' ich 'ne Gänsehaut. Mach's dir gemütlich. Ich bereite alles vor.«

»Wie lange brauchst du, um die Steaks zuzubereiten?«

»Sie tauen bereits auf. In einer Viertelstunde können wir essen.«

»Okay. Dann mach ich noch einen kleinen Spaziergang durch den Garten und vertrete mir die Beine. In zehn Minuten bin ich zurück. Anschließend dusche ich und ziehe mich um!«

Monique ging ins Haus zurück. Daniel Guisgard stellte seine Aktentasche neben die niedrige Brüstung links neben dem Kamin, zog das Jackett und die Krawatte aus und legte beides über einen bequemen Sessel. Dann spazierte er von der Terrasse herunter und bewegte sich auf den schmalen, dunklen Pfad zu, der sich wie ein Hohlweg zwischen drei Meter hohen Tannen durchzwängte.

Guisgard atmete tief und ruhig. Als er sich außerhalb des Lichtkreises der Wohnungsleuchten befand, verfiel er in einen leichten Dauerlauf, den er zwei Minuten lang durchhielt. Dann ließ er entspannt die Schultern nach vorn sacken, atmete durch die Nase ein und durch den geöffneten Mund aus.

Die Belastung der letzten Stunden fiel von ihm wie eine Haut ab. Jetzt fühlte er sich wieder wie ein Mensch.

Er hatte den äußersten Punkt seines Grundstückes erreicht und wandte sich um.

In den Wipfeln der Laubbäume spielte ein milder Wind, und mit dem Wind kamen die Mordfalter.

Lautlos wie welkes Laub schwebten sie durch die Dunkelheit zwischen den Bäumen heran, senkten sich unbemerkt auf Daniel Guisgards Schultern und krochen über seinen Hemdrücken.

Die Falter waren groß, aber leicht. Sie surrten und summten nicht.

Der Franzose bemerkte das schwache Kribbeln in seinem Nacken, aber er achtete nicht sonderlich darauf.

Ein großes Insekt bohrte seinen Saugrüssel schnell und schmerzlos in eine Porenöffnung. Das lange Werkzeug senkte sich bis ins Mark des Wirbels, ohne dass Guisgard etwas spürte. Die anderen Falter taten es dem ersten gleich.

Auch wenn Guisgard nichts davon bemerkte, die Folgen blieben nicht aus. Plötzlich wurde ihm schwindlig. Der Boden schien auf ihn zuzukommen.

Guisgard taumelte. Seine Glieder wurden schwer wie Blei. Er musste sich an einem armstarken Ast festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

Vor seinen Augen fing es an zu kreisen. Feurige Kringel stiegen empor.

Der kalte Schweiß trat dem Mann auf die Stirn. Er fühlte, wie seine Kräfte von einer Sekunde zur anderen nachließen, aber er wusste noch immer nichts von den Faltern, die rasch und lautlos mit ihren Saugrüsseln sein Rückenmark abzapften.

Guisgards Bewegungen wurden hölzern und lahm. Er taumelte nach vorn, obwohl er sich Mühe gab, sich normal zu bewegen. Aber das gelang ihm nicht mehr.

Er wollte rufen, als er, nur zwanzig Meter von der Terrasse entfernt, Monique wahrnahm, die gerade die Steaks auf den Rost legte. Es zischte und spritzte, als Wasser und Öl in die offene Flamme tropften.

»Monique!« Ein dumpfes Gurgeln kam über die zitternden Lippen Guisgards.

Aber seine Frau hörte ihn nicht.

Atemnot kam auf. Daniel Guisgard röchelte.

Seine Nerven versagten ihm den Dienst. Das Gehirn konnte die Befehle nicht mehr weiterleiten.

Dumpf schlug Guisgard zu Boden. Seine Augen weiteten sich. Am Stamm des gegenüberliegenden Baumes glaubte er einen riesigen Falter zu erkennen, der lautlos und gemächlich mit zuckenden Flügeln den Stamm emporkletterte.

Die Unfähigkeit, klar zu sehen, verzerrte für Guisgard die Perspektive, und er nahm den Falter in riesigen Ausmaßen wahr.

Groß und gewaltig erschien ihm das mattschimmernde Facettenauge, das auf ihn gerichtet war.

Die Insekten hatten ihn besiegt! Sie hatten ihn beobachtet, und jetzt richteten sie ihn zugrunde!

In einem Wirrwarr von Gedanken tauchte Guisgards Bewusstsein unter. Dann schnitten absolute Stille und tiefe Finsternis seine Empfindungen ab.

Daniel Guisgard war tot.

»Du kannst kommen, Cherie.« Monique Guisgard wandte den Blick in Richtung des dunklen Hohlweges. Sie wunderte sich, dass ihr Mann noch nicht zurück war.

Nach weiteren zehn Minuten wurde sie ärgerlich.

Die Steaks auf dem Rost sahen schon ziemlich dunkel aus.

Monique Guisgard ging von der Terrasse herunter und näherte sich dem Hohlweg. »Daniel! Nun komm doch endlich! Was soll der Unfug? Die Steaks sind dahin, kein Mensch kann sie mehr beißen, und ...« Mit gellendem Aufschrei unterbrach sie sich. Auf dem Boden – nur wenige Schritte von ihr entfernt – lag Daniel Guisgard.

Rasch eilte Monique auf ihn zu, bückte sich und drehte ihren Mann auf den Rücken.

»Daniel!«, rief sie aufgeregt, und ihre Stimme klang angsterfüllt. Sie nahm seinen Kopf in beide Hände, hob ihn an und legte ihn dann zurück. Zwei Minuten lang war sie wie erstarrt und unfähig, sich zu bewegen.

Daniel atmete nicht mehr – sein Herz stand still!

Unbarmherzig hatte das Schicksal zugeschlagen. Von einer Minute zur anderen war ihrer beider Leben zerstört.

Schluchzend und zitternd riss sie sich vom Anblick des maskenhaft bleichen Gesichtes los. Monique eilte ins Haus. Tränen rannen haltlos über ihre Wangen, als sie mit zitternder Hand nach dem Telefonhörer griff, dann die Wählscheibe drehte und innehielt, weil sie vor Aufregung die Rufnummer des Arztes vergessen hatte. Monique musste erst nachschlagen, und wertvolle Minuten vergingen. Dann meldete sich die Frau des Arztes.

Der Doktor sei noch unterwegs, hieß es. Aber er würde zwischendurch immer wieder anrufen. So lange wollte Monique Guisgard jedoch nicht warten. Sie ließ sich den Notdienst geben. Der diensthabende Arzt versprach, sofort vorbeizukommen. Aber auf jeden Fall würden fünfzehn bis zwanzig Minuten vergehen. Zuviel Zeit, wie ihr schien.

Sie verbrachte die Wartezeit neben ihrem reglosen Mann. Sie hätte so gern geholfen, aber sie wusste nicht, was sie anfangen sollte, und sie hatte das Gefühl, dass hier jede ärztliche Hilfe zu spät kam.

Die Minuten flossen träge dahin. Die Zeit schien nicht zu vergehen. Monique Guisgard kam es wie eine Ewigkeit vor, ehe endlich aus weiter Ferne die Türklingel anschlug.

Die verweinte junge Frau hastete zum Haus zurück und öffnete die Tür. Zwei Männer standen vor ihr. Es waren der diensthabende Notarzt und Dr. Chagull, der Hausarzt des Ehepaares.

Dr. Chagull und der Notarzt waren fast zur gleichen Zeit in der Siedlung eingetroffen.

»Sie hatten gerade aufgelegt, als ich meine Frau anrief«, erklärte Chagull. Er war Endvierziger mit leicht graumeliertem Haar, sportlich und seriös. Ein Mann, zu dem man sofort Zutrauen haben konnte. »Als ich von Ihrem Anruf erfuhr, bin ich natürlich sofort hierhergefahren. Wo ist Ihr Mann, Madame?«

»Kommen Sie, Doktor«, flüsterte Monique Guisgard. Sie machte sich nicht erst die Mühe, die Haustür wieder zu schließen. Sie durchquerte den luxuriös eingerichteten Wohnraum, dann die Terrasse und führte die beiden Ärzte zu der Stelle, wo ihr Mann noch immer lag.

Dr. Chagull und der Notarzt sahen auf den ersten Blick, dass hier nicht mehr viel zu machen war. Dennoch taten sie alles in ihrer Macht Stehende.

Nach der ersten Untersuchung begann Chagull mit einer Herzmassage; der Notarzt schloss das künstliche Atemgerät an. Eine halbe Stunde lang bemühten sich die beiden Männer, den Chemiker ins Leben zurückzurufen. Aber alle Mühe war vergebens.

Dr. Chagull nahm Monique Guisgard zur Seite, während der Notarzt ins Haus ging, um dort ein Telefongespräch zu führen.

»Es tut mir leid, Madame«, sagte Dr. Chagull mitfühlend. »Aber auch unsere Mittel sind leider begrenzt. Ihr Mann ist tot!« Monique hörte die Stimme wie aus weiter Ferne. Sie war blass, und ihre rotgeränderten Augen wirkten stumpf und leer. »Ihr Mann war erst vor wenigen Tagen bei mir in der Praxis. Das wissen Sie sicher?«

Wortlos nickte Monique Guisgard.

»Er klagte schon die ganze Zeit über Beschwerden. Sein Herz mache ihm zu schaffen, er fühle sich schlapp und wie zerschlagen und litt unter Atembeschwerden. Das Rauchen hat er seit geraumer Zeit unterlassen. Aber er verlangte sich zu viel ab, Madame. Es tut mir leid, dass ich nichts mehr für ihn tun kann. Der Herztod fordert täglich viele Opfer in Paris. Es sind nicht nur ältere Menschen, die jetzt sterben, jahreszeitlich bedingt. Auch erstaunlich viele junge Männer sind darunter.«

Monique Guisgard hörte das alles, aber sie konnte nicht antworten. Dr. Chagull führte sie ins Haus zurück und gab ihr dort eine Beruhigungsspritze. Er fragte, ob er jemanden benachrichtigen könne, aber Monique Guisgard verneinte. Die Familienangelegenheiten wollte sie später erledigen, nicht jetzt. Sie fühlte sich außerstande dazu.

Ein Bestattungsunternehmen wurde benachrichtigt, das noch in der gleichen Stunde den Toten abholte. Dr. Chagull hatte inzwischen den Totenschein ausgestellt.

Die Todesursache war mit plötzlichem Herzversagen angegeben.

1. Kapitel

»Ich lass die Hose runter!«, sagte der Dunkelblonde eiskalt.

»Was, schon wieder?« Die Frage kam von einer zierlichen Blondine, die einen knappen Pulli trug, unter dem sich ihre weiblichen Formen scharf und detailliert abzeichneten.

Larry Brent, als dritter am Tisch, grinste von einem Ohr zum anderen. »Dann wollen wir mal sehen, was der Bursche uns zu bieten hat.«

Mit diesen Worten legte der Amerikaner sein noch komplettes Blatt auf dem Tisch ab. Seine Partnerin in diesem Spiel tat es ihm gleich. Der dritte Skatspieler, der Mann der zierlichen Anne, genoss diesen Augenblick offensichtlich in vollen Zügen. Eine Karte nach der anderen legte er ab, wobei er mit der Hand jedes Mal kräftig auf die Tischplatte klopfte, so dass sich die Männer an den Nachbartischen erstaunt umdrehten.

Larry winkte ab. »Wenn die Dinge so stehen, dann können wir nicht gewinnen.«

X-RAY-3 schrieb auf, während Anne die Karten mischte. Sie war eine der wenigen Frauen, die Skat perfekt beherrschten.

Sie war es auch gewesen, die George Whiat, ihrem Mann, das Skatspielen beigebracht hatte. Während seiner Zeit als Soldat in Deutschland hatte George Anne in Frankfurt kennen und lieben gelernt. Die beiden hatten kurz darauf geheiratet. Larry Brent, damals selbst noch Angehöriger der US-Streitkräfte, war ihr Trauzeuge gewesen.

George und Anne waren in Deutschland geblieben. George hatte die Arbeit in einer Bank angenommen. X-RAY-3 war in die Staaten zurückgekehrt und nach einem kurzen Gastspiel beim FBI schließlich von der PSA entdeckt worden.

All die Jahre hindurch verkehrte das junge Paar brieflich mit Larry Brent. Larry selbst war in dieser Zeit oft in Europa. Sein ungewöhnlicher Job ließ ihn zum Weltreisenden Nummer Eins werden, und diesmal war ein echter Zufall mit im Spiel.

X-RAY-3 war am späten Nachmittag von X-RAY-1 nach Paris dirigiert worden. Unmittelbar nach seinem gefahrvollen Auftrag in Miami hatte der Leiter der PSA ihn nach London beordert. Hier sollte X-RAY-3 weitere Nachricht übernehmen. Doch unerwartet war dann alles anders gekommen. X-RAY-1 in New York hatte aufgrund der Daten, welche die beiden Hauptcomputer ›Big Wilma‹ und ›The clever Sofie‹ ausgeworfen hatten, für Larry Brent einen neuen Auftrag. In Paris sollte er einen Mann namens Landrue treffen, und zwar in einem Bistro mitten in der Stadt, wo einfache Leute verkehrten. In Jeans Bistro ...

Unmittelbar nach seinem Eintreffen waren George und Anne angekommen, die ein verlängertes Wochenende in Paris verbrachten und einen Stadtbummel unternahmen. Das Wiedersehen zwischen den Freunden war mit einem Drink begossen worden. Man hatte sich viel zu erzählen, und Larry hatte den Wunsch geäußert, wieder einmal einen zünftigen Skat zu spielen. In seiner Heimat gab es nur wenige, die das Spiel beherrschten.

Erfreut war Larry auch über die Gelegenheit, seine Deutschkenntnisse aufzufrischen. Anne hatte ihrem Mann die deutsche Sprache beigebracht, obwohl sie selbst über ausgezeichnete Englischkenntnisse verfügte. George redete bereits wie ein waschechter Frankfurter.

Anne gab das neue Spiel. Während Larry seine Karten aufnahm, behielt er den Eingang stets im Auge, um die Ankunft Landrues nicht zu verpassen.

X-RAY-3 war dem Mittelsmann der PSA nie zuvor begegnet. Er hatte jedoch ein Funkbild erhalten, und ihm war die genaue Beschreibung des ehemaligen Kommissars bekannt, der in der Pariser Sûreté tätig gewesen war. Landrue sollte Larry Brent mit weiteren Details versorgen. X-RAY-3 hatte bis zur Stunde keine Ahnung, worum es ging und warum er sich in Paris aufhielt.

George wollte gerade einen Trumpf zücken, doch dazu kam er nicht mehr. Mit heulenden Sirenen passierten mehrere Polizeifahrzeuge die Straße vor dem Bistro. Durch die verhangenen Fenster sah man die rotierenden Lichter auf den Autos.

Einige Gäste eilten blitzschnell aus der Tür, um einen Blick nach draußen zu werfen. Da die Sirenen nicht leiser wurden, musste ganz in der Nähe etwas vorgefallen sein. Eine Armada von Polizeifahrzeugen war unterwegs.

Auch Larry Brent, Anne und George gingen nach draußen, um zu sehen, was los war. Gruppen standen beisammen und diskutierten. An der Straßenecke auf der gegenüberliegenden Seite der Straße war das Bankgebäude in grelles Scheinwerferlicht getaucht.

Jemand sagte etwas von einem Überfall, aber Genaues wusste niemand. Die Polizeifahrzeuge verließen bis auf eines wieder die Straße, offenbar auf der Suche nach den geflohenen Tätern.

Sie rasten mit dem gestohlenen Wagen kilometerweit an der Seine entlang, ehe Floir die Pont des Arts passierte.

Zwei Männer saßen in dem Peugeot. Hinter ihnen auf den Rücksitzen lagen verplombte Geldsäcke, und selbst in die Aktentaschen waren die Notenbündel gepresst und beulten die weiche Lederhaut aus.

Der neben Floir sitzende Henri-Claude Beran warf einen Blick zurück, als müsse er sich vergewissern, ob das Geld noch da war.

»Der Fischzug hat sich gelohnt, Floir«, sagte er mit erregter Stimme. »Wir haben es geschafft. Wir werden in den besten Restaurants speisen, uns neu einkleiden, und ich werde mir einen Wunsch erfüllen, den ich schon als Junge hatte: einen Jaguar zu fahren. Ich habe ihn mir schon angesehen!«

»In der nächsten Zeit wirst du schön deine Finger von all diesen Dingen lassen. Du wirst so weitermarschieren wie bisher, ist das klar?« Floir wandte nicht den Blick. In seinen kalten, unbarmherzigen Augen glomm kein Funke Mitleid oder Verständnis. Floir war ein herzloser Mensch, der auch vor einem Mord nicht zurückschreckte. »Vorerst verschwinden die Papierchen in der Versenkung, und dann werden wir sehen, wie Endor das Spielchen mitmacht.

Wenn er uns einen hieb- und stichfesten Gewinn beim Pferderennen nachweisen kann, dann riskieren wir es, ein bisschen auf die Pauke zu hauen. Aber bis dahin ist das Geld tabu! Kapiert?«

Beran nickte.

»Schau dich lieber um, ob uns jemand auf den Fersen ist«, knurrte Floir. Er warf einen Blick in den Rückspiegel. Normaler Verkehr. Kein Blaulicht, kein Polizeihorn.

»Wir schaffen es«, sagte Beran erregt. Sein Gesicht glühte. Er war der Kleinere der beiden. Aber im Sitzen fiel das nicht auf.

Floir umrundete den Louvre. Der mächtige, alte Gebäudekomplex war von Scheinwerfern angestrahlt.

Die Fahrt durch die Avenue de l'Opera ging nicht so schnell vonstatten, wie sie sich das erhofft und geplant hatten. Es kam zu einem Verkehrsstau.

Beran, sonst ein ruhiger, überlegener Typ, wurde nervös. »Ob die Schnüffler bereits Wind bekommen haben?« Er warf einen fragenden Blick auf Floir. Der drehte nur kurz den Kopf, und aus eisigen Augen traf Beran ein kalter Blick.

Floir zuckte die Achseln. »Ich hoffe nicht. Kleiner Verkehrsstau. Wenn der sich als länger erweisen sollte, wird es allerdings brenzlig. Wir müssen unseren schönen Plan dann umwerfen. Je länger es dauert, desto größer wird das Risiko, dass die Polente die Ausfallstraßen sperrt. Dann sitzen wir in Paris wie die Maus in der Falle fest.«

Doch dazu kam es nicht. Nach fünf Minuten Schritttempo ging es wieder flotter voran. Die beiden Bankräuber passierten einen funkelnagelneuen amerikanischen Straßenkreuzer, der mitten auf der Straße stand.

Floir grinste. »Dem ist der Motor sauer geworden. Auf ein neues Auto kann man sich nicht unbedingt verlassen. Besser ist da ein Gebrauchtwagen. Die sind in Schuss.« Er tätschelte das Lenkrad wie den Hals eines Pferdes, als wolle er damit sein Lob für die Zuverlässigkeit des Peugeot zum Ausdruck bringen.

Floir lenkte den Wagen anschließend durch einige schmale, dunkle Gassen, an Antiquitätengeschäften, Gemüseläden und Lebensmittelbetrieben vorbei. Neben der Ausfahrt einer Auslieferungsfirma für Elektroartikel stoppte Floir den dunkelblauen Peugeot.

Alles lief wie am Schnürchen.

Der Motor wurde ab- und die Scheinwerfer ausgeschaltet. Auf dem Parkplatz neben dem Auslieferungslager stand eine Anzahl geparkter Wagen.

Floir sah blitzschnell in die Runde. Alles war still. Kein Mensch in der Nähe. Das Leben spielte sich mehr in der Parallelstraße ab, wo es Kabaretts, Bistros, Restaurants und Kinos gab.

»Du bleibst hier. Ich seh nach, ob unser Ersatzwagen noch bereitsteht. Wenn etwas schiefgehen sollte, fährst du weiter zu dem verabredeten Punkt. Verstanden?« Floir drückte die Tür nach draußen, während Beran schwach nickte.

Die Anstrengung und Nervenbelastung der letzten dreißig Minuten machten sich bemerkbar.

Floir huschte davon, während Beran wie verabredet zur Vorsicht hinter dem Steuer Platz nahm und nach dem Zündschlüssel griff, um sofort starten zu können, wenn die Situation es erfordern sollte.

Doch es ging alles glatt. Der orangefarbene Fiat, den Floir heute Vormittag einhundertfünfzig Kilometer von Paris entfernt in einem kleinen Nest gestohlen und hier abgestellt hatte, rollte über den Parkplatz. Beran startete, fuhr hinüber und kam neben dem Fiat zum Stehen. Das Umladen nahm kaum eine Minute in Anspruch. Beran machte sich sogar noch die Mühe, den Peugeot in die Parklücke zu rollen, die nach der Abfahrt des Fiat entstanden war.

Das ganze Manöver nahm genau zweieinhalb Minuten in Anspruch.

Beran nahm wieder neben Floir Platz, und ohne übermäßige Eile fuhr der Bankräuber davon.

»Wenn einer etwas von einem blauen Peugeot zu erzählen weiß«, grinste der Mann hinter dem Steuer, »dann wird man jetzt wohl kaum auf einen grellorangefarbenen Fiat achten.«

Weiter ging die Fahrt über die Rue de Clichy, schnell und gleichmäßig. Die Straße verbreiterte sich, wurde zur Avenue de Clichy und führte über eine Straßenkreuzung hinweg durch die Porte de Clichy direkt in den Stadtteil hinein.

Alte Häuser, schmutzige Straßen und Gassen nahmen sie im Vorbeifahren wahr.

Nach einer halben Stunde befanden sie sich auf der Landstraße, die endgültig von Paris wegführte.

Henri-Claude Beran atmete auf. Die Spannung fiel von ihm ab. Jetzt konnte so gut wie nichts mehr schiefgehen.

Floir spitzte die Lippen und pfiff einen Gassenhauer, ein Beweis dafür, dass auch er unter stärkerer Spannung gestanden hatte, als ihm anzusehen gewesen war.

Außerhalb der Stadt ging es flotter voran. Floir kam rasch vorwärts. Nach einer Fahrt von weiteren zehn Minuten erreichten sie ihr Ziel.

Sie befanden sich in der Nähe der Müllgruben. Es roch nach Rauch und faulenden Abfällen. An der Baumgrenze, die als natürlicher Wall die Müllgrube verbarg, hielt Floir. Er lehnte sich in den Sitz zurück und grinste.

»Jetzt gibt's noch ein bisschen Arbeit, aber das ist kaum mehr der Rede wert«, meinte er. »Machen wir uns gleich dran, Beran. Dann haben wir's hinter uns.«

Die beiden Männer kannten sich hier genau aus, was darauf schließen ließ, dass sie schon mehr als einmal in der Gegend gewesen waren.

Nicht weit von den Müllgruben entfernt, auf der anderen Seite des Grüngürtels, lag ein Hof, der Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Raststätte für Pferdedroschken geworden war. Später waren dort die Fernfahrer ein- und ausgegangen, hatten gegessen und getrunken. Nachdem die schmale Straße jedoch außer Betrieb gesetzt und ein paar hundert Meter entfernt eine neue gebaut worden war, lag die Kneipe einsam und verlassen in dem verwilderten Landstrich. Nur ein paar Eingeweihte und alte Stammgäste verkehrten dort noch. Was die an Geld daließen, reichte nicht zum Leben und nicht zum Sterben. Aber der Wirt – von Freunden nur Grenouille, »Frosch«, genannt – kam scheinbar ganz gut über die Runden.

Was für dunkle Geschäfte in seiner Kneipe gemacht wurden, das konnte man sich denken. Das ahnte auch die Polizei. Aber bis zur Stunde war es ihr nicht gelungen, auch nur den geringsten Beweis für ihre These zu bekommen.

Fest stand, dass einige Dämchen in der Kneipe mitmischten, um die Einnahmen des Wirtes zu verbessern. Aber weder der Hehlerei noch der Kuppelei noch der Zuhälterei konnte man den Wirt bezichtigen, weil man nicht das Geringste gegen ihn in der Hand hatte.

In einem undurchsichtigen Plastikbeutel unter dem Rücksitz lagen die Geräte, die Floir und Beran noch am frühen Vormittag gekauft hatten. Es handelte sich um zwei funkelnagelneue Spaten.

Jeder der beiden Bankräuber nahm einen zur Hand. Der Plastiksack blieb im Auto zurück. Floir machte sich nicht die Mühe, den Fiat abzuschließen. Er wusste, dass um diese Zeit kein Mensch in der Nähe war.

Floir und Beran gingen einige Meter schweigend nebeneinander her. Beran war einen Kopf kleiner als der hagere, wendige Floir. Beran wirkte eher untersetzt und schwerfällig. Aber bei seiner Arbeit bewies er, dass er das nicht war. Er gab sich flink wie ein Wiesel.

Beran war Spezialist für Tresore und Alarmanlagen. Er hatte jahrelang an entscheidender Stelle in einem Herstellungswerk für Sicherungseinrichtungen gearbeitet, und seine Kenntnisse waren unbezahlbar. Nur aufgrund dieser Kenntnisse war es überhaupt möglich gewesen, diesen Coup zu landen. Henri-Claude Beran hatte ihn lange vorbereitet. Aber allein hätte er es nie fertiggebracht, das Unternehmen zu starten. Dazu war er zu feige und zu sehr von der Hilfe und Unterstützung anderer abhängig.

Er hatte sich vorgenommen, der Gesellschaft, in der er lebte, einen Schlag zu versetzen. Einmal in seinem Leben wollte er alles vergessen und wie ein Fürst leben.

Er wusste, dass er nur noch kurze Zeit zu leben hatte. Der Arzt hatte Prostatakrebs bei ihm festgestellt und ihm dringend eine Operation empfohlen. Aber vor dieser Operation fürchtete er sich. So ließ er die Geschwulst weiterwachsen und redete sich ein, dass es vielleicht doch nichts sei und sich der Arzt geirrt hatte. Aber tief in seinem Innern wurzelte eine elementare Angst, dass er etwas vom Leben versäumt hätte, dass es bei ihm einen Nachholbedarf gab. Und nur die Tatsache, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, hatte ihn dazu verleitet, sein Wissen und seine Kenntnisse in den Dienst eines Verbrechens zu stellen.

Floir hatte mit dem ihm eigenen Blick sofort erkannt, dass dieser Mann nur eines Anstoßes bedurfte. Er, der nie einer geregelten Arbeit nachgegangen war, der schon in früher Jugend gelogen, betrogen, gestohlen und Leute überfallen hatte, hatte sich zu einem Profi gemausert, vor dem man sich in acht nehmen musste. Floir war ein gefährlicher Typ.

Beran leckte sich über die Lippen und rümpfte die Nase.

»Stinkt erbärmlich hier«, maulte er. Er schob das tiefhängende Geäst zur Seite und bückte sich, um durchzukommen. Sie näherten sich von westlicher Richtung dem stinkenden Müllberg, von dem kleine Rauchfahnen gen Himmel wehten. Papier und Abfälle brannten hier Tag und Nacht. Die Grube war längst mehr als voll, und ein gewaltiger Berg türmte sich von der Seite her in die Höhe. Vor ihnen raschelte es: Ratten, fette Tiere, die nicht davonhuschten, als die beiden nächtlichen Besucher aufkreuzten. »Was meinst du, wie viel wir zusammengebracht haben?«, fragte Beran unvermittelt.

»Beim Einpacken habe ich anfangs noch mitgezählt«, grinste Floir. Seine schmalen Lippen hielten eine halbgerauchte Zigarette fest, an der er zog, ohne sie in die Hand zu nehmen.

»Ich war bei anderthalb Millionen angelangt. Dann habe ich aufgehört.«

»Wenn wir's vergraben, zählen wir genau nach.«

Floir nickte.

»Aber du darfst mich nicht zu lange warten lassen«, warf Beran noch mal ein. »Ich habe keine Lust, den Zaster in der Nähe zu wissen und nichts damit anfangen zu können. Geld ist nur dann von Nutzen, wenn man es auch ausgeben kann.«

»Wir haben uns nicht nur an die großen Scheine gehalten«, entgegnete der finster dreinblickende Floir. »Es sind auch genügend kleine dabei, deren Nummern sich kein Mensch aufgeschrieben hat. Dir ist es zu verdanken, dass die Sache so glatt und rasch über die Bühne ging. Das soll auch belohnt werden. Ich habe nichts dagegen, wenn du zwei- oder dreihundert Franc in kleinen Scheinen ausgibst.«

Beran stieß hörbar die Luft durch die Nase, als er das vernahm. »Das ist nett von dir, Floir«, sagte er leise. »Es kann eigentlich auch gar nichts schiefgehen.«

Sie erreichten den letzten Baum. Hier blieb Floir stehen, nahm sein Messer aus der Tasche und schnitt einen Zweig an, brach ihn dann ab und warf ihn weit von sich.

»Das sollten wir uns merken«, murmelte Floir. Von dem gekennzeichneten Baum aus ging er kerzengerade auf den Müllberg zu, bog dann nach rechts ab und zählte seine Schritte bis zum Beginn der Grube, wo der stinkende Abfall in die Tiefe fiel.

Hier fingen sie beide an zu graben. Zunächst schippten sie die Oberschicht des Mülls auf die Seite. Sie stießen auf übelriechende Speisereste, auf Konservendosen, in denen es von Maden und Würmern wimmelte. Beim Graben scheuchten sie Schwärme von Mücken und anderes kriechendes Getier auf. Je tiefer sie gruben, desto penetranter wurde der Gestank.

Floir atmete nur flach, um die übelriechende Luft nicht einatmen zu müssen.

Ein großes Loch entstand am unmittelbaren Rand des Schuttberges.

»Eine bessere Idee hätte uns nicht kommen können, Beran«, sagte Floir, während er eine kleine Pause einlegte, sich eine neue Zigarette anzündete und sie lässig im Mundwinkel festklemmte. »Hier unter dem Dreck sucht kein Mensch. Niemand außer uns beiden kennt das Versteck. Wir werden danach das Loch mit einem Berg aus Abfall zudecken, und wenn der Zeitpunkt gekommen ist, dass wir an das Geld können, holen wir es uns. Dann bekommst du auch deinen Jaguar.«

Floirs Worte stachelten Beran an. Er brauchte immer etwas, was ihm wieder Auftrieb gab.

Dann war das Loch tief genug, und die beiden Räuber holten den festen Plastiksack und steckten die Notenbündel fein säuberlich hinein. Sie nahmen sich die Zeit, das Geld zu zählen und kamen auf den erstaunlichen Betrag von zwei Millionen fünfhundertsechzigtausendzweihundertfünfzig Franc.

Aus verschiedenen Bündeln mit kleinen Scheinen durfte sich Beran dreihundert Franc herausnehmen. Dann verschlossen sie den Sack und legten ihn in das Loch. Es war so tief, dass sie das obere Drittel noch mit alten Konservendosen und feuchter Erde ausfüllen mussten.

Während der Arbeit hob Floir mehrmals den Kopf und lauschte. Doch außer dem Rascheln von Ratten und Mäusen und dem Summen der Insekten und Mücken unterbrach kein Laut die Stille. Auch näherte sich aus der Ferne kein Sirenengeheul eines Polizeiwagens.

Das bedeutete, dass man ihre Spur verloren hatte.

Floir musste daran denken, dass ihr detailliert eingefädelter Plan beinahe im letzten Moment vereitelt und verraten worden wäre. Einem zufällig vorbeigehenden Passanten war ein schwacher Lichtschein im Bankgebäude aufgefallen, und das hatte ihn stutzig werden lassen. Um sich jedoch nicht zu blamieren, hatte dieser Mann im dunklen Eingang eines gegenüberliegenden Hauses das Herauskommen von Floir und Beran abgewartet. Unmittelbar nach dem Einsteigen in den bereitstehenden Peugeot hatte der Mann die Polizei informiert. Schon während die Bankräuber flohen, hatten sie in der Ferne das Sirenengeheul der sich nähernden Wagen registriert. Doch eine Verfolgungsjagd durch die nächtlichen Straßen von Paris hatte sich nicht entwickelt.

Floir schlug um sich, als ein fetter Nachtfalter seinen Kopf umkreiste. Das Insekt wurde vom Handrücken des Gangsters getroffen und auf die rauchende Müllhalde geschleudert.

Die Arbeit war beendet.

»Zwei Stunden hart geschuftet«, murmelte Floir. »Zweieinhalb Millionen verdient. Das ist ein Stundenlohn, den ich mir gefallen lasse.«

Im Widerschein der kleinen Feuerchen auf dem Müllberg und in der Grube überprüfte er ein letztes Mal das Werk, um sich zu vergewissern, ob auch alles seine Richtigkeit hatte und sie keine verräterischen Spuren hinterlassen oder geschaffen hatten.

Ein fast ein Meter hoher Berg aus Abfall, Konservendosen, faulendem Holz und feuchtem Papier bedeckte die Stelle, wo der Sack mit dem Geld zwei Meter tief im Boden vergraben war.

Beran seufzte. »Jetzt kann ich einen Sargnagel brauchen, Floir.« Er streckte die Hand aus, und Floir gab ihm eine Zigarette. Der hagere Franzose hielt Beran das glimmende Ende seines Stäbchens hin, und Beran entzündete daran seine Zigarette, sog gierig und inhalierte tief.

Als Henri-Claude Beran wieder aufblickte, glaubte er seinen Augen nicht trauen zu können.

Im Schein der glitzernden Sterne schimmerte matt das Metall einer langläufigen Waffe. Beran starrte in die dunkle, drohende Öffnung.

»Was soll der Quatsch, Floir?«, fragte er mit heiserer Stimme und nahm die angebrannte Zigarette aus dem Mund.

»Ich habe mir über alles eingehende Gedanken gemacht, Beran«, antwortete Floir messerscharf. Seine Stimme klang leise, aber gefährlich. »Du bist zwar ein Mensch, mit dem man ein Ding drehen kann. Aber du bist nicht der Richtige, der dann dichthält. Ich habe dich als Quatschbase kennengelernt, mein Lieber. Und warten kannst du auch nicht. Das weiß ich!«

Knackend spannte Floir den Hahn.

Schweiß perlte auf der Stirn des untersetzten Bankräubers. Beran ließ die Zigarette auf den Müll fallen.

»Lass den Unsinn! Du weißt, dass du dich auf mich verlassen kannst. Und nun steck die Kanone weg!« Henri-Claude trat einen Schritt vor.

Nachdrücklich hob Floir die langläufige Waffe, auf der ein Schalldämpfer saß, in die Höhe. Die Mündung wies genau auf Berans Herz.

»Eben weil ich weiß, dass ich mich nicht auf dich verlassen kann, mache ich einen Strich unter die Rechnung. Außer dir und mir kennt niemand das Versteck. Das ist gut so. Ich weiß in spätestens zehn Sekunden nur noch allein davon. Und das ist noch besser!«

»Wir haben alles gemeinsam gemacht«, stieß Beran zwischen den Zähnen hervor. Er merkte, wie ernst es plötzlich wurde. »Ohne mich wärst du aufgeschmissen gewesen, das weißt du. Wir haben das Ding gemeinsam geplant und durchgeführt.«