Larry Brent Classic 042: Die Verfluchten - Dan Shocker - E-Book

Larry Brent Classic 042: Die Verfluchten E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Verfluchte aus dem Jenseits Auf dem schaurigen Friedhof des Crowden-Hauses muss Sioban Coutrey ihr Leben lassen und verhilft dadurch der seit 1856 verstorbenen Eleonora Crowden zu einer neuen Existenz. Als nächstes Opfer hat sich die Untote den noch immer nach einem Ausweg suchenden Klaus Thorwald ausgeguckt, um ihn letztendlich als Verbündeten zu missbrauchen. Währendessen gerät Siobans Vater James Coutrey in den Bann des unheimlichen Lord Crowden und wird zu dessen neuem Handlanger. Es kristallisiert sich zusätzlich heraus, dass Lord Crowden vielmehr als eine Art Attrappe agiert, denn der wahre Übeltäter ist in der Tat der bereits sehr aktive Philip Hanton. Chopper - Geisterstimme aus dem Jenseits In Düsseldorf wird die junge Frau von einer geheimnisvollen Stimme aus dem Unsichtbaren terrorisiert, die sich als der Chopper zu erkennen gibt. Vor einiger Zeit wurde der Fall eines spukenden Geistes in einer Zahnarztpraxis als Schwindel entlarvt. Doch Chopper existiert wirklich und übernimmt den Körper von Bettina Marlo. Unter dem Bann des Dybuk tötet sie ihre beste Freundin. Zur selben Zeit wird bei dem Totengräber Heiko Baumann eingebrochen. Olschetz soll das Buch "Die Magie der unsichtbaren Zauberwesen" stehlen. Doch als Norbert Olschetz in die Wohnung einsteigt findet er nur die Leiche des Totengräbers in einem fortgeschrittenen Stadium der Verwesung, obwohl Baumann vor zwei Stunden noch quicklebendig war. Unter Schock will Olschetz aus der Wohnung fliehen und läuft direkt Iwan und Larry in die Arme. Die PSA-Agenten sollen den geheimnisvollen Todesfall einer Frau untersuchen, zudem hat ein Nachrichtenagent der PSA zufällig gehört, wie Heiko Baumann damit geprahlt hat, den Chopper beschwören zu können. Doch auch Olschetz kann den Agenten nicht mehr helfen, er stirbt an den Folgen seines Schocks in Larrys Armen.

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DAN SHOCKERS LARRY BRENT

BAND 42

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Fachberatung: Robert Linder

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

978-3-95719-842-6

Dan Shockers Larry Brent Band 42

DIE VERFLUCHTEN

Mystery-Thriller

Verfluchte aus dem Jenseits

von

Dan Shocker

Prolog

Unheimliches geschah.

Es war die Gruft einer Toten. Eleonora Crowden war hier am 23. März beigesetzt worden.

Die Gesetze des Lebens und Sterbens schienen in diesen Minuten ihre Gültigkeit verloren zu haben.

Außer der pergamentartigen, mit Spinnweben überzogenen Leiche hielt sich eine zweite Person in der gemauerten Grube auf, deren schwere Abdeckplatte verschoben war, so dass eine breite Öffnung gähnte, durch die bequem ein Mensch einsteigen konnte.

Das hatte jener zweite Mensch offensichtlich getan ... Er war ebenfalls eine Frau, jung, gutaussehend, voller Leben ...

Voller Leben?

Sie konnte kaum noch auf den Beinen stehen, während das Blut aus einer Fingerwunde rann und auf die Mumienhaut der Leiche tropfte, die sich zu bewegen begann!

Mit jedem Tropfen, der aus dem Finger quoll, wurde die junge Frau schwächer.

Sie konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten und musste sich an der Seitenwand der Gruft abstützen. Spinnweben blieben an ihren Fingern haften.

Sioban Coutreys Atem wurde flacher. Wie in Hypnose, langsam und bedächtig, ging sie in die Knie.

Der Glanz in ihren Augen verlor sich, ihre Bewegungen wurden zusehends matter, während sie immer noch die blutende Hand über die ausgemergelte Leiche der Eleonora Crowden hielt, ohne zu merken, dass die Tote unter den uralten Spinnwebschleiern sich regte ...

Das Ganze war wie ein Alptraum.

Etwas von der Unwirklichkeit und Ungeheuerlichkeit des Geschehens drang noch bis in ihr Unterbewusstsein, das einem anderen Willen gehorchte.

Ich darf nicht hier sein, hämmerte es in ihrem fiebernden Hirn ... Was tu ich hier? Warum bin ich nicht im Gasthaus? Da gehöre ich doch hin!

Die Schmerzen in meiner Hand ... das Blut ... warum ist das alles so ...?

Eine Sekunde schien es, als wolle sie sich von dem Grauen losreißen.

Ein klarer Blick trat in ihre Augen, die sich gleich darauf schon wieder verschleierten.

Die Macht der Hypnose, die in sie gepflanzt worden war, ergriff sie wieder voll.

Die seit über hundert Jahren in dieser Gruft liegende Leiche erhob sich. Die eingefallenen Augen begannen auf unheimliche, unerklärliche Weise zu pulsieren, als würde dahinter ein Herz schlagen ...

Blubbernd wurden die eingesunkenen, vertrockneten Lider nach vorn gedrückt, die welke, pergamentartige Haut wurde straffer und glatter, die ausgedörrten Adern bekamen wieder Volumen. Das Blut Sioban Coutreys floss jetzt in ihnen. Jeder Tropfen war durch die brüchige Haut in den Körper der Leiche gesickert.

Sioban Coutrey sank leblos zurück, während Eleonora Crowden mit satanischem Grinsen um die harten Lippen in die Höhe kam.

»Leben ...«, kam es dann wie ein Hauch aus dem Mund der Alten. »Ja ... Leben ... die Toten werden leben, und die Lebenden auf der Strecke bleiben. Es lebe die Macht der Crowdens, die Macht der Dämonensonne!«

Sie zerriss die Spinnweben, und ihre Augenlider klappten in die Höhe. Da erst war zu sehen, dass sich dahinter keine Augäpfel befanden, sondern Löcher, in denen eine geheimnisvolle Schwärze pulsierte, die nicht zu enden schien ...

»Die Stunde, auf die ich gewartet habe, ist gekommen ...«, wisperte es aus der Kehle der von den Toten Auferstandenen wie böses Raunen an einem unheiligen Ort. Mehr als hundert Jahre hat es gedauert ... doch nun kann geschehen, was einst verschoben werden musste. »Ich, Eleonora Crowden, habe die Signale von drüben verstanden ... Ich werde bereit sein.«

Sie verließ den Platz, auf dem ihre Hülle seit 1856 gelegen hatte.

Sioban Coutrey merkte von alledem nichts mehr.

Totenbleich lag sie in der Ecke neben der Ruhestätte der Toten.

Die Spinnweben, die Eleonora Crowden von sich abstreifte, klebten zum Teil auf der jungen Irin. Die Gruft war zu Siobans Grab geworden. Eleonora Crowdens morsches, zerschlissenes Totengewand raschelte, als sie durch die Gruft ging, in der sie bequem aufrecht stehen konnte. Sie kletterte nicht nach oben durch den bestehenden Spalt, sondern ging direkt auf die Wand zu, die die Gruft am Fußende des steinernen Sarges begrenzte. Die Steine waren grob und die Fugen dazwischen unregelmäßig und schief. Eleonora Crowden richtete ihre leeren Augenhöhlen auf eine Mauerfuge, in der vor langer Zeit, rein zufällig wie es schien, einige tiefe Kerben geraten waren. Diese Kerben aber waren nichts anderes als Zeichen. Sie hatten eine bestimmte Bedeutung und waren von geheimnisvollem, magischem Leben erfüllt. Zwischen den Linien in dem alten Mörtel und der Blickrichtung der toten, leeren Augen entstand ein ganz bestimmter Winkel. Dunkelrot war die Linie, die plötzlich zwischen Eleonora Crowdens Augen und der unteren Gruftwand erschien. Ein Strahl aus dem Nichts! Es war ein Strahl aus der schwarzen Tiefe der leeren Augen. Er bewirkte, dass weitere merkwürdige Dinge passierten.

Ein dumpfes, hartes Knirschen lief durch die Wände.

Die seltsamen, bizarren Zeichen in dem Mörtelstreifen begannen in unwirklichem, fahlem Licht zu leuchten.

Es sah aus, als würden sich winzige dünne Arme gierig aus den Linien recken. Das fahle Licht wurde von dem roten Strahl aus den leeren Augenhöhlen aufgesogen.

Die ganze Wand bewegte sich knirschend.

Die harte Erde um die unteren Steinblöcke platzte weg wie sprödes Glas. Das Spinngewebe über den Quadern zerriss.

Die Wand drehte sich langsam nach innen und gab den Weg in einen stockfinsteren Stollen frei, der sich der Gruft anschloss.

Eleonora Crowden ging in diese Dunkelheit ...

Der Tunnel war gerade so hoch, dass sie sich ohne zu bücken darin bewegen konnte. Hinter ihr schloss sich hart die schwere, bewegliche Mauer wieder, die den Geheimstollen von der Gruft trennte.

Der Tunnel führte unter der Oberfläche des ungepflegten Gartens hindurch, der von Steinen und Unkraut übersät war, und in dem weitere Gräber lagen, deren Abdeckplatten teilweise mit Moos und Gras überwachsen waren.

Die lebende Leiche kam an eine weitere Abtrennwand. Der Stollen war zu Ende.

Wieder öffneten sich die Augenlider, wieder wurden die schwarzen Löcher anstelle der Augäpfel sichtbar.

Dünn und rot wie Blut war der Strahl, der aus der Tiefe schoss und die magischen Zeichen in der Mörtelfuge aufleuchten ließ. Wieder waren es winzige, gummiartig sich verziehende dünne Arme, die im Mörtel plötzlich zu eigenständigem, gespenstischem Leben zu erwachen schienen.

Die Wand drehte sich seitlich weg und gab den Weg in den Keller des Crowden Hauses frei, von dem man sich so viel erzählte.

Der Raum hinter der Wand war nicht eckig, sondern kreisrund.

Ungewöhnlich für einen Keller ...

Boden und Wände waren schwarz. Die Flächen begannen jedoch auf rätselhafte Weise fahl zu glühen, als Eleonora Crowden auftauchte. Die Aura dieses Raumes und die Aura, die die durch das Blut Sioban Coutreys wiederbelebte Tote umgab, verschmolzen miteinander.

Rings um die schwarzen Flächen schimmerte es krankhaft blass. Dünne Arme reckten sich, als würde etwas Unheimliches, Gespenstisches, etwas, das lange geschlafen hatte, zu neuem Leben erwachen ...

Eleonora Crowden hob ihre ausgemergelten Arme, die durch das zerschlissene Totengewand schimmerten. Sie bewegte diese im gleichen traumhaften Rhythmus wie die Gebilde, die aus der bleichen Aura um die schwarzen Flächen ragten.

»Dies ist ein neuer Anfang«, kam es wie ein Hauch über die schmalen, blutroten Lippen der Wiedererweckten.

»Die Stunde der Crowdens ist gekommen, und die Macht einer anderen Welt wird sich zeigen. Die Lebenden werden den Toten weichen ...«

Als diese Worte kalt und roboterhaft über ihre Lippen drangen, schien die Bewegung der dünnen Geisterarme noch schneller und hektischer zu werden.

Eleonora Crowden wollte weitersprechen, hielt jedoch abrupt inne.

Sie spürte und hörte etwas.

Auf der anderen Seite der Wand zu den Innenräumen des Kellers … war etwas.

Klopfgeräusche ...

Es hörte sich an, als versuche auf der anderen Seite der Mauer jemand auf sich aufmerksam zu machen oder am Ton herauszufinden, ob es hohle Stellen gab.

Außer Eleonora Crowden hielt sich noch jemand in dem nächtlichen Haus auf. Im Gegensatz zu ihr, die dort hinein wollte, versuchte der andere offensichtlich mit Gewalt dort herauszukommen ...

Die lebende Leiche ließ die dürren Arme sinken. Im gleichen Moment erlahmten auch die Bewegungen der Geisterarme in der Aura, sanken in sich zurück, und der blasse Lichtschein rings um die kreisrunden schwarzen Flächen wurde zu einem dünnen, kaum mehr wahrnehmbaren Pulsieren.

Um Eleonora Crowdens Lippen spielte ein teuflisches Grinsen.

Da war jemand, der sich als Gefangener im Haus aufhielt und fliehen wollte. Sie würde ihm eine Überraschung bereiten ...

1. Kapitel

Noch ein einziger Gast hielt sich in der Kneipe von James, the Irish auf.

Das Lokal war längst geschlossen, laut Gesetz wurde nach dreiundzwanzig Uhr kein Alkohol mehr ausgeschenkt, doch der letzte Gast und der Wirt schienen die Vorschrift und die Zeit vergessen zu haben.

Der bärtige Mann am Ecktisch neben dem verhangenen Fenster hob sein Glas und leerte den letzten Rest Whisky, der sich noch darin befand.

»James«, sagte der Gast mit dem Bart mit unsicherer Stimme. »Dafür, dass dein Whisky so ... billig ist, ... ist er verdammt ... gut ... ich würde sagen ... du lässt nochmal die Luft aus dem Glas und ...«

Der rothaarige Wirt schüttelte den Kopf. »Das hast du vorhin auch schon gesagt, Thomas ... und davor auch schon mal.«

Der Bärtige winkte ab. »Da war's auch nicht das letzte Mal, James ...« Der Sprecher sah sich mit wässrigen Augen um. »Sioban«, brüllte er. »Dein Vater hat etwas gegen mich.«

»Du hast genug, Thomas ...« Obwohl auch James Coutrey schon einige Doppelstöckige verkonsumiert hatte, bekam er alles genau mit, und man merkte ihm den genossenen Alkohol nicht an.

Der Wirt stellte demonstrativ die verkorkte Flasche auf die Theke. »Morgen Abend, Thomas, geht's weiter. Da spendier' ich dir einen Begrüßungsdrink ... Ich weiß überhaupt nicht, was heute mit dir los ist ... du bist zwar meistens der letzte Gast, aber solange hast du's noch nie ausgehalten. Das hat doch seinen Grund ...«

Thomas Malone nickte eifrig und drehte das leere Glas zwischen seinen Fingern. »Hat es auch ...« Er grinste breit, fast von einem Ohr zum anderen. »Ich glaub, ich bin da einer großen Sache auf der Spur ...« Er verdrehte die Augen.

»Einer großen Sache? Was soll das heißen?«, fragte James Coutrey verwundert.

»Ich sag nur eins: Sioban ...«

»Sioban? Was hat das denn mit ihr zu tun, dass du jetzt noch hier bist?« James Coutrey rieb sich seine große Nase.

Sein Gegenüber schüttelte bedächtig den Kopf. »Vielleicht kommt's noch zu einer Überraschung, James. Ich habe da so ein ganz komisches Gefühl ...«

»Tut mir leid, verstehe ich nicht.«

»Deine Tochter war heute Abend nicht sehr oft im Lokal. Soviel wie heute hast du noch nie selbst tun müssen. Dabei ... ist das doch nicht Siobans freier Tag, wenn ich recht informiert bin.« Er war recht informiert. Er kannte die Gepflogenheiten genau. »Sioban ist oft nach draußen gelaufen heute Abend.«

»Sie hat einen schlechten Tag erwischt und fühlt sich heute nicht ganz wohl ... So was kann passieren. Da muss man halt mal raus, um frische Luft zu schnappen.«

»Das Luftschnappen dauert ziemlich lange.« Thomas Malone kicherte. »Sie ist schon mindestens zwei Stunden weg ... Komm, James, lass die Katze aus dem Sack. Mir kannst du's anvertrauen, da steckt mehr dahinter ... Sioban ist plötzlich in festen Händen ... die jungen Burschen im Ort waren wild nach ihr, aber keiner war ihr recht. Da taucht dieser Fremde auf ... wie war doch noch sein Name?«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst!«

»Tu nicht so scheinheilig, alter Gauner! Du weißt sehr wohl, um was es geht ... Sioban ist verdammt hübsch. Und diesmal scheint es bei ihr gefunkt zu haben ... Wann wird Verlobung gefeiert, James?«, fragte der Bärtige direkt.

»Thomas, du bist ja wirklich ... betrunken ...« Coutrey schlug sich auf den Oberschenkel. »Du hörst wohl die Flöhe husten, wie? Verlobung ...? Sioban und ... der Fremde? Dieser Deutsche, der erst seit ein paar Tagen im Land ist und droben die alte Fischerhütte auf den Klippen erworben hat? Du siehst Gespenster ...«

»Ich hab Augen im Kopf, James ... Sioban hat's erwischt. Warum auch nicht? Selbst wenn's ein Fremder ist, der sie zum Traualtar führt: die Hauptsache ist doch, die beiden verstehen sich.«

»Sie kennen sich kaum, Thomas. Zugegeben, Sympathien mögen vorhanden sein ... aber so weit wie du, möchte ich doch nicht gehen ...« Mit diesen Worten erhob sich Coutrey vom Stuhl. »Sie ist draußen vor dem Haus, Thomas ... und nicht oben in der Hütte, wenn du das meinst. Außerdem ist dieser Mister Thorwald schon den ganzen Tag weg, er war heute Abend noch nicht zurück ...«

»Wie gut du über diese Dinge informiert bist«, kicherte der Mann und erhob sich ebenfalls. Mit unsicheren Schritten schlurfte er hinter Coutrey her. James Coutrey schalt sich im stillen einen Narren und war plötzlich wieder völlig nüchtern, obwohl er nicht viel weniger als Malone getrunken hatte.

Während des Gesprächs war ihm nicht aufgefallen, wie viel Zeit vergangen war. Schon zwei Stunden war Sioban draußen? Das konnte er kaum glauben.

Er riss die Tür auf. Die kühle Nachtluft, gesättigt mit Feuchtigkeit vom nahen Meer, fächelte sein erhitztes Gesicht.

»Sioban?«, fragte er in die Dunkelheit. Die Straße lag einsam vor ihm. Häuser in direkter Nachbarschaft gab es nicht.

Die Straße war überschaubar, von Sioban war keine Spur zu sehen ...

Thomas Malone klopfte dem Wirt jovial auf die Schultern. »Ich nehm' dein Angebot für den Abend zu einem Begrüßungsdrink bei dir an, James. Ich krieg das komische Gefühl nicht los, dass deine Sioban doch eine Überraschung für uns alle parat hält. Nicht nur für dich ... Bis zum Abend dann ... Sioban wird bei dem blonden Mann in der Hütte sein ... ja, ja, die Liebe ... dagegen, James, ist noch kein Kraut gewachsen.«

Er zuckte die Achseln und wankte die dunkle Straße entlang. Bevor James Coutrey ihn ganz aus den Augen verlor, drehte Malone sich noch mal um und winkte fröhlich zurück. Dann tauchte er in der Nacht unter.

James Coutrey zerdrückte einen Fluch zwischen den Zähnen. »Sioban«, murmelte er im Selbstgespräch vor sich hin. »Das passt doch gar nicht zu dir ... mich einfach im Stich zu lassen und nichts zu sagen ... mach mir keine Schande, Kleine! Wenn du ihn magst, dann ist das okay, und ich lege dir keine Steine in den Weg, das weißt du ... aber halt wenigstens gewisse Regeln ein ...«

Er strich das Haar aus der Stirn, und seine Augen verengten sich plötzlich, als er aus Richtung Traighli etwas sich nähern sah.

Ein Auto!

Mit abgeblendeten Scheinwerfern kam es die Straße entlang. Es war weiß und hatte ein schwarzes Dach. Ein Sportwagen. Jeder hier in der Gegend kannte dieses Auto. Es gehörte dem Deutschen Klaus Thorwald, der seit einigen Tagen hier in der Bucht wohnte und von Beruf Schriftsteller war. In der selbstgewählten Einsamkeit auf den Klippen glaubte er ungestörter arbeiten zu können. Thorwald liebte die Grüne Insel und war bei allen Bewohnern in der Umgebung wegen seines sympathischen Wesens und seines lauteren Charakters angesehen.

»Na, warte«, knurrte Coutrey in seinen Bart und stellte sich demonstrativ an den Straßenrand, die Hände in die Hüften gestemmt. »Da scheint Thomas doch mehr gemerkt zu haben als ich. Du verlässt, noch während die Gäste da sind, einfach das Lokal, um mit dem Kerl eine Spritztour zu machen. Sioban, das geht zu weit!«

In Gedanken legte er sich schon zurecht, was er ihr alles sagen wollte, als ihm plötzlich der Atem stockte.

Die Lautlosigkeit, mit der der Wagen auf ihn zukam, war gespenstisch.

Coutrey hörte kein Motorengeräusch.

Der Wirt schluckte und wankte zwei, drei Schritte vom Straßenrand zurück.

Da war der Porsche auf seiner Höhe.

James Coutreys Kehle entrann ein gequältes Stöhnen.

Der Wagen fuhr gar nicht richtig! Die Räder berührten nicht den Boden ...

Der Porsche schwebte lautlos etwa fünfzehn Zentimeter über dem Boden, und an ihm vorüber ...

James Coutreys Augen traten aus den Höhlen. Er misstraute seinen Sinnen.

»Das ...«, stieß er hervor, »gibt es ... doch nicht ...!«

Seine Blicke saugten sich an dem Fahrzeug fest. Er erlebte einen Spuk, ganz ohne Zweifel!

Die Personen in dem Auto ... Thorwald und Sioban ... wo waren sie?

James Coutrey bekam es mit der Angst zu tun. In dem Porsche saß kein Mensch!

Er raste ohne Motorengeräusch, ohne dass die Räder den Boden berührten und führerlos durch die Nacht Richtung Klippen ...

Das war nicht wahr! Er träumte ...

James Coutrey war in diesem Land groß geworden, er glaubte an Spukhäuser und Wahrträume. Aber er glaubte nicht an schwebende Autos, die lautlos fuhren und ohne Fahrer durch die Nacht rollten!

Etwas stimmte mit seinen Sinnen nicht.

Hatte er doch zu viel getrunken?

Die Angst verstärkte sich.

Er musste an den alten O'Haily denken. Jahraus, jahrein hatte er seinen selbstgebrannten Whisky fabriziert und getrunken. Ein Mann wie ein Bär, aber immer betrunken. Er konnte nicht mehr ohne Alkohol leben. Wer ihn vor den Folgen warnte, den verlachte er.

Aber dann kam doch der Tag, an dem O'Haily weiße Elefanten und Fledermäuse sah. Er lief schreiend vors Haus, die ganze Ortsstraße entlang, und schlug wie von Sinnen um sich.

»Sie sind hinter mir her! Sie fressen mich auf«, schrie er immer wieder. Die Elefanten waren riesig, die Fledermäuse blutrünstig. Man konnte ihm nicht mehr helfen. Er kam noch in eine Trinkerheilanstalt, aber das nützte nichts mehr. Er starb vier Monate später. Bis zuletzt wurde er von den Vampir-Fledermäusen und den Elefanten attackiert.

»Ein weißes Auto ohne Fahrer, das ist eine ganz neue Version ...«, murmelte Coutrey für sich. »Wenn ich das jemandem erzähle, glaubt es mir kein Mensch ... Ich muss der Sache nachgehen, ich muss wissen, was hier vorgeht ...«

Er starrte die Straße entlang, die zu den Klippen führte. Von dem Geister-Porsche war nichts mehr zu sehen. Der Wagen schien sich inzwischen in Luft aufgelöst zu haben.

Coutrey ging einfach in die Nacht und machte sich nicht die Mühe, die Tür seiner Wirtschaft noch abzuschließen. Um diese Zeit war ohnehin kein Mensch mehr unterwegs.

Höchstens noch Gespensterautos ...

James Coutrey wusste nicht, was er über diese merkwürdige Sache denken sollte.

Ich habe nicht zu viel getrunken, redete er sich ein, nicht mehr als sonst auch! Ich bin stocknüchtern und weiß, was ich denke, sehe und höre ...

Er wischte sich mit einer fahrigen Geste über die Augen. Seine Hände zitterten vor Erregung. Wurde er krank? Kündigte sich vielleicht eine Verwirrung seiner Sinne an? Er lauschte in sich hinein, als erwarte er eine Antwort, oder als würde er etwas feststellen, das sonst nicht da war.

Da fuhr er zusammen und wich mit gedämpftem Schrei zurück.

Mitten auf der nächtlichen Straße stand wie aus dem Boden gewachsen eine Gestalt.

Sie war dunkel gekleidet. Es handelte sich um einen Mann, und er trug eine Brille mit schwarzen Gläsern.

Ein – Blinder?

Ehe Coutrey sich von seiner Überraschung erholte, sprach ihn der andere schon an.

»Es hat keinen Sinn, weiterzugehen.«

Coutrey glaubte nicht recht zu hören. Dass er so angesprochen wurde, missfiel ihm. »Woher wollen Sie wissen, was für mich einen Sinn hat oder nicht?«

»Ganz einfach«, lautete die überraschende Antwort. »Weil ich mir denken kann, wohin Sie wollen ...«

»Das kann sich jeder denken«, sagte Coutrey hart. »Der Weg ist eine Sackgasse und endet draußen an den Klippen.«

»Oder beim Haus der Crowdens ...«

Als der Name fiel, den jeder im Ort fürchtete, weil die Crowdens sich mit seltsamen Praktiken und unbeschreiblichen Dingen befasst hatten, fuhr James Coutrey erneut zusammen.

»Was soll ich bei dem alten Haus?«, fragte er rau. Die nächtliche Begegnung mit dem vermeintlichen Blinden berührte ihn unangenehm.

»Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte er kurzentschlossen. »Sie sind fremd hier, kennen den Weg nicht und Sie haben etwas mit den Augen, wenn ich es richtig sehe und ...«

»Nein«, fiel ihm der Dunkle ins Wort. »Das sehen Sie nicht richtig. Ich weiß sehr wohl, wo ich mich befinde. Mit meinen Augen stimmt allerdings in der Tat etwas nicht ...« Als er dies sagte, ließ er seinen Worten ein leises Kichern folgen. »Doch auf eine andere Weise, als man glauben machte. Es ist nicht empfehlenswert, einen Blick in sie zu werfen ...«

James Coutrey konnte nicht verhindern, dass er merklich zusammenzuckte. Ein furchtbarer Verdacht kam ihm.

Die Augen!

Die Crowdens, die jahrelang in dieser Gegend gelebt hatten, sollten angeblich etwas mit den Augen gehabt haben. Der Blick in die Dämonensonne hatte ihre Pupillen verändert. Ein Blick aus den Augen eines Crowden, so hieß es, würde den sicheren Tod bedeuten ... Alles nur dumme Geschichten? Oder war etwas dran? Zumindest mied man das Haus auf dem Steilfelsen. Niemand aus dem Ort näherte sich ihm. Jeder fürchtete die unheimliche Atmosphäre dieses Platzes. Das Crowden-House war für die Anwohner ein rotes Tuch. Fremde, die von den geheimnisvollen Geschichten hörten, dachten da meistens anders. Sie nahmen die Sache nicht ernst.

Sie suchten das Haus auf, betraten es, rannten durch die düsteren Räume, und ganz besonders Mutige schlossen Wetten ab, dass es ihnen nichts ausmache, die Nacht in dem als Höllenhaus verschrienen Gebäude zu verbringen. In den letzten Jahren hatte es immer wieder welche gegeben. Man sagte, dass einige dieser Menschen sich nach dem Aufenthalt dort verändert hätten. Doch genaues wusste niemand.

»Lassen Sie mich durch«, bat Coutrey unvermittelt den Mann, der ihm gegenüberstand. »Ich muss weiter ...« Der Dunkle schüttelte den Kopf. »Irrtum! Du musst dorthin zurück, woher du gekommen bist ...«, sagte er plötzlich in vertraulichem Tonfall.

Coutrey schluckte und ballte seine Hände zu Fäusten. So hatte noch niemand gewagt, mit ihm zu sprechen!

»Ich gehe hin, wohin ich will!«, stieß er aufgebracht hervor. Noch während er das sagte, machte er einen schnellen Schritt nach vorn, auf die dunkle Gestalt zu. Die reagierte noch eine halbe Sekunde schneller. In der Rechten seines Gegenübers blitzte etwas Metallisches.

Ein Dolch!

Coutrey veränderte blitzschnell seine Stoßrichtung und riss den Arm hoch, um die gezückte Waffe zurückzuweisen.

Genau in diesem Moment passierte es.

Die Klinge durchstieß einen Jackett-Ärmel und ritzte seine Haut.

Blut sickerte aus der flachen Wunde. Sie war weder bedrohlich noch besonders schmerzhaft, und Coutrey, der sein Gegenüber um Haupteslänge überragte, hätte jetzt noch immer die Gelegenheit gehabt, den Messerstecher mit gezieltem Faustschlag niederzustrecken oder ihm die Waffe zu entwinden, ehe der einen zweiten Angriff starten konnte.

Doch weder das eine noch das andere trat ein.

Coutrey verhielt sich urplötzlich so still, als sei überhaupt nichts geschehen, und der Dunkle schien nicht mehr daran interessiert, die Auseinandersetzung mit Gewalt fortzusetzen.

Er verzog die schmalen Lippen, und der Dolch, der wie durch Zauberei in seiner Hand aufgetaucht war, verschwand ebenso schnell und unauffällig wieder.

»Ich habe es gewusst, dass wir gute Freunde werden«, kam es spöttisch aus dem Mund des Brillenträgers. »Es hat keinen Sinn, Coutrey, sich gegen das Schicksal zu stellen. Die Weichen sind bereits gestellt ... Und da ich es für unnötige Zeitverschwendung halte, dass du zu so später Stunde bis zu den Klippen läufst, ist es besser, du tust das, was ich von dir verlange ... Du kannst mich gut verstehen, nicht wahr?«

»Ja ...«

»Wunderbar«, erwiderte der Dunkle, und es klang spöttisch. »Dann gibt es keinerlei Probleme mehr. Geh nach Hause, James Coutrey! Wegen deiner Tochter brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Die befindet sich in bester Gesellschaft ...«

Sioban? echote es in Coutrey. Richtig, da war doch etwas, dem er auf den Grund gehen wollte. Was war das nur?

Er vergaß es in dem Augenblick wieder als er intensiver darüber nachdachte. Er blickte auf die dunkle Gestalt und wusste, dass er von nun an nur noch das tun würde, was sie von ihm verlangte. Er war auf rätselhafte Weise unter den Willen des Dunklen gezwungen worden.

»Das Crowden-House, James Coutrey, ist im Moment völlig unwichtig für dich. Du brauchst nicht dorthin zu gehen ... warte zu Hause auf das, was kommen wird. Du wirst bestimmt von mir hören, denn ich habe einiges mit dir vor ... Du bist ein Rädchen in einem gewaltigen Räderwerk, James Coutrey. Du wirst dich nur noch so drehen, wie ich es für richtig halte. Nicht mehr dein Wille ist maßgebend, sondern der unsere. So war es seit langem geplant, und so wird es geschehen. Ich bin ein Crowden, James Coutrey ... Lord Crowden ... ein Schatten aus einer jenseitigen Welt, und doch stofflich ... Vom Haus der Crowdens wird einiges ausgehen, das die Welt verändern wird ... Warte, bis du meinen Ruf hörst. Du bist von nun an mein Werkzeug, wie es Sioban wurde ... aber das, James Coutrey, interessiert dich von Stunde an nicht mehr!«

Der Dunkle, der sich Lord Crowden nannte, hatte recht. Der Wirt hatte vergessen, mit welcher Absicht er gekommen war.

Das weiße Auto interessierte ihn nicht mehr, er wollte nicht mehr wissen, ob sich Sioban und Klaus Thorwald oben in der Hütte befanden.

Alles war unwichtig geworden.

Doch dieser Eindruck war eine tödliche Täuschung.

Alles war wichtiger als je zuvor!

Denn die unheimliche Macht der Crowdens, die sich bisher nur innerhalb der Wände eines verfluchten Gebäudes bemerkbar gemacht hatte, griff wie die fahlen Geisterarme der Dämonensonne nach den Menschen ... Und mit der Dämonensonne hatte es zu tun. Doch davon ahnte James Coutrey nichts mehr.

Er machte auf dem Absatz kehrt und lief die nächtliche Straße entlang, ohne noch mal einen Blick zurückzuwerfen. Die dunkle Gestalt des Mannes, der sich Lord Crowden nannte, verschwand von einem Augenblick zum anderen. Wie ein Spuk ...

Ein leises, teuflisches Lachen war noch zu hören, wurde vom Wind mitgetragen und verebbte.

Lord Crowden war als Geist gekommen und als Geist gegangen. Aber er hatte etwas hinterlassen.

James Coutrey war für alle, die von nun an mit ihm zu tun bekamen, zu einer Zeitbombe geworden ...

In dem Keller stand eine Liege und an der Wand hing eine tief herabgebrannte Fackel, die kurz vor dem Erlöschen schien.

Klaus Thorwald hatte sie wieder in die rostige Halterung gesteckt.

Es war ihm gelungen, sich zu befreien. Dem ersten Gefühl des Triumphes waren Resignation und Ratlosigkeit gefolgt.

Er war frei, und blieb doch Gefangener. Die Fesseln allein, die er hatte abstreifen können, machten es nicht aus. Nach wie vor war er in diesem fenster- und türlosen Raum eingesperrt. Das Schlimmste war, dass es keine Tür gab!

Thorwald war geschwächt. Man merkte es seinen Bewegungen an. Jener seltsame, dunkelgekleidete Zeitgenosse, der sich ihm als Lord Crowden vorgestellt hatte, machte ihn zum Gefangenen dieser düsteren Welt. Dass es keine Tür gab, irritierte ihn am meisten.

Auf irgendeine Weise musste er schließlich hierher gekommen sein! Gab es eine Geheimtür, einen geheimen Stollen?

Thorwalds Versuch, die PSA in New York über den Minisender in seinem Ring zu verständigen, war fehlgeschlagen.

Dieser Keller stand nicht unter einer normalen Atmosphäre. Die Botschaft, die Thorwald mit dem Ring auf den Weg bringen wollte, schlug auf ihn selbst zurück. Die Worte sprangen ihn an wie Tiere und konnten den Raum nicht verlassen, der offensichtlich durch magische Manipulationen verändert war. Dinge, die einem anderen lächerlich oder seltsam vorgekommen wären, für Klaus Thorwald existierten sie. Er war Agent der unkonventionell agierenden PSA, einer besonderen Institution, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, das außergewöhnliche und durch übernatürliche Aktivitäten zustande gekommene Verbrechen zu bekämpfen.

Thorwald hatte die Spur der Dämonensonne entdeckt. Als er schon glaubte, einen entscheidenden Schritt vorwärtsgekommen zu sein, schlug die Falle zu.

In der Wohnung eines Antiquitätenhändlers wartete die geheimnisvolle Gestalt auf ihn, die sich Lord Crowden nannte. Von dem wurde behauptet, dass er einst in der Region eines höllischen, dämonenverseuchten Jenseits gewesen sei, um dort Geheimnisse für sich zu entdecken. Lord Crowden, ein Name, der ihm seit einiger Zeit im Kopf herumspukte. Dieser Crowden hetzte auch die Ratten auf ihn, die irgendwo im Verborgenen dieses weiträumigen Kellers lauerten und jederzeit wieder auftauchen und ihn erneut anfallen konnten.

Auch diese Angst steckte noch in ihm.

Einmal hatte er es erlebt. Die Spuren davon waren überall an seinem Körper sichtbar. Lord Crowden hatte versucht, mehr über seine Mission zu erfahren. Schließlich war es kein Zufall, dass ein Fremder wie Thorwald an der Westküste unweit von Shovernon auftauchte, und in unmittelbarer Nachbarschaft des verrufenen Höllenhauses die Hütte eines Fischers erwarb, um dort in der Einsamkeit der Felsen und des Meeres zu leben. Und es war erst recht kein Zufall, dass Klaus Thorwald nach einem Bild der Dämonensonne gesucht hatte und auch fand. Im Haus des Antiquitätenhändlers John White ...

Bei dem Versuch, das Ölgemälde mit dem rätselhaften und ungewöhnlichen Motiv abzuholen, kam es zu einem Überfall, dessen Hergang im Einzelnen von Thorwald nicht verfolgt werden konnte. Erst in diesem finsteren Keller tauchte er wieder auf, und jener Lord Crowden stand bei ihm und rief die Ratten ...

Die Gedanken, dass die Quälgeister erneut kommen und sich diesmal nicht mit einer Warnoperation zufrieden geben würden, sondern ihm endgültig den Garaus machten, zwangen ihn zu verstärktem Handeln.

Immer wieder lief er an den feuchten, klobigen Wänden entlang und klopfte sie in der Hoffnung ab, hinter einem Quader vielleicht doch einen Hohlraum oder einen Mechanismus zu finden, der den Weg in die Freiheit ermöglichte.

Da hörte er das Geräusch ...

Ein dumpfes, hohles Knirschen ... in der Mauer vor ihm!

Thorwald hielt den Atem an und wich in die Dunkelheit zurück. Er war einzige, gespannte Aufmerksamkeit.

Das Knirschen im Gemäuer dauerte an.

Kehrte Lord Crowden zurück?

Dann wurde es kritisch. Thorwald fühlte sich nicht in der Verfassung, jetzt eine Auseinandersetzung zu führen. Er war körperlich zu schwach ... Er würde unterliegen, wenn dieser unheimliche Crowden erneut auftauchte und ihn zum Kampf forderte.

Mit der Wand, die ihm gegenüberlag, geschah etwas.

Der Schatten darauf wurde länger und kippte zur Seite weg, als die Mauer langsam ins Rutschen geriet.

Außer dem Gedanken an eine Gefahr, war Klaus Thorwald aber gleichzeitig auch von neuer Hoffnung erfüllt.

Beim Hantieren und Klopfen gegen das Mauerwerk musste er unbewusst etwas berührt haben. Einen Mechanismus, der einen verborgenen Zugang freilegte oder schloss, je nachdem ...

Thorwald lief zur zurückweichenden Wand, an der die fast heruntergebrannte Fackel hing. Sie spendete nur noch spärliches Licht.

Falls es sein Gegner sein sollte, wollte Thorwald seine Haut so teuer wie möglich verkaufen. Mit der heruntergebrannten Fackel in der Hand war er immerhin nicht gänzlich unbewaffnet.

Feuer konnte unter Umständen sehr wirksam sein.

Klaus Thorwald alias X-RAY-5 wartete ab.

Die Wand schwang so weit nach außen, dass der Spalt groß genug wurde, um einen erwachsenen Mann bequem durchzulassen.

Thorwald blieb hinter der zurückgeschwenkten Mauer stehen.

Kam jemand?

Eine halbe Minute verging, eine ganze. Sie kam ihm vor wie eine Ewigkeit.

Nichts geschah ...

Stimmte seine erste Vermutung, dass er selbst den Mechanismus unbewusst ausgelöst hatte?

Es schien tatsächlich der Fall zu sein.

Vorsichtig kam er um den Mauervorsprung herum. Auch jetzt noch rechnete er mit einem Angriff, mit einem Hinterhalt.

Aber alles blieb ruhig.

Thorwald streckte die Hand aus, die die Fackel hielt, um die Dunkelheit jenseits des offenen Gemäuers ein wenig aufzuhellen.

Ein weiterer Kellerraum lag vor ihm.

Aber was für einer!

Er war kreisrund, und die einzelnen Flächen waren pechschwarz, als hätte sie jemand mit entsprechender Ölfarbe angestrichen.

Die Wände waren so rund und schwarz wie der Boden und die Decke.

Aber etwas in dieser Schwärze bewegte sich und schien wie ein gut getarntes, gefährliches Tier zu leben und – zu atmen!

X-RAY-5 war in tausend Gefahren geschult und wie die meisten seiner Kolleginnen und Kollegen schon mit den unwahrscheinlichsten Situationen konfrontiert worden.

Gefahr!

Er spürte sie beinahe körperlich. Die Atmosphäre in diesem ebenfalls fensterlosen Kellerraum war dicht und beklemmend, legte sich wie ein Zentnergewicht auf seine Brust und erschwerte ihm das Atmen.

Er wollte zurückweichen und wieder in den Raum, aus dem er gekommen war.

Thorwald erkannte, dass er vom Regen in die Traufe geraten war.

Dieser runde Raum enthielt zusätzlich noch etwas, das dem anderen fehlte. Jenes kalte Grauen, das anwesend war, in jeder Ecke zu hocken schien und ihm körperlich zu schaffen machte.

Die Atmosphäre des Bösen! So intensiv und auffällig hatte er sie noch nie wahrgenommen.

Das Crowden-House war als unheimlicher Ort verschrien. Hier war der Teufel angebetet worden, hier hatte man Schwarze Magie getrieben ... welche Praktiken die Anbeter Luzifers und der Dämonen noch angewendet hatten, entzog sich seiner Kenntnis.

Aber jetzt, in diesem Moment, als er fliehen wollte und er das Gefühl hatte, Wurzeln geschlagen zu haben und nicht mehr fort zu können, wusste er, was hier passiert war.

Es war wie ein Alptraum, der ihn in Klauen hielt und nicht mehr losließ. Er rannte wie von Sinnen, immer auf der Stelle, kam keinen Millimeter vom Fleck, und hinter ihm schloss sich die Mauer wieder.

Doch das war noch nicht alles.

Aus den Wänden kamen bleiche, lange Arme und Hände, die gierig nach ihm griffen.

Er konnte nicht ausweichen und nichts gegen sie tun. Die Fackel wurde ihm entrissen und auf den Boden geschleudert.

Sie erlosch. Aber es wurde nicht finster, wie erwartet. Das fahle, krankhafte Licht um die riesigen schwarzen Sonnen pulsierte, kam auf ihn zu, durchdrang ihn, und dann merkte Klaus Thorwald alias X-RAY-5, dass er nicht mehr allein war ...

Der Mann mit dem wilden, roten Bart saß am Fenster des kleinen Teehauses. Der Blick ging hinaus auf die Nordsee, die an die Gestade der kleinen schottischen Stadt Montrose spülte.

Es war früh am Morgen.

Der Mann war der einzige Gast.

Vor ihm stand eine riesige Kanne Kaffee.

Der Mann sah übernächtigt aus, man sah ihm an, dass Strapazen hinter ihm lagen. Er hatte in der vergangenen Nacht kaum ein Auge geschlossen. Er gähnte verhalten und trank seinen Kaffee. Vom Frühstück hatte er noch nichts angerührt.

Iwan Kunaritschew alias X-RAY-7 hatte keinen Hunger. Sein Gesicht war maskenhaft starr, wie aus Stein gemeißelt. Zu viele Dinge gab es, die in den vergangenen vierundzwanzig Stunden passiert waren, und mit denen er sichtlich noch zu kämpfen hatte.

Der Russe zückte das flache, silberne Zigaretten-Etui und nahm eine der Selbstgedrehten heraus. Gedankenverloren steckte er die Zigarette, deren Tabak schwarz wie Kohlenstaub war, zwischen die Lippen.

In dem Moment, als er geistesabwesend nach den Streichhölzern griff, nahm er aus den Augenwinkeln eine Bewegung an der Tür wahr.

Noch ehe er hinsah, wusste der russische PSA-Agent, wer da kam.

Eine gutaussehende Frau betrat die Teestube.

Blond, langbeinig, mit dem wiegenden, unnachahmlichen Gang, der typisch für ein Mannequin war. Wenn diese Frau die Straße überquerte, folgten ihr die Blicke der Männer.

Iwan Kunaritschew erhob sich.

Die Frau, die an diesem Morgen wenige Minuten nach sieben Uhr die Teestube betrat, stammte aus Schweden.

»Hallo, Morna!«, sagte Kunaritschew und streckte seiner Kollegin die Hand entgegen. Er zog einen Stuhl am Tisch zurück und ließ die Dame Platz nehmen.

»Hallo, Towarischtsch Iwan«, sagte X-GIRL-C leise, und ein flüchtiges Lächeln spielte um ihre Lippen. Aber dann war sie gleich wieder ernst, wie man auch sie sonst nicht oder nur selten kannte. »Gibt es ein Lebenszeichen von ihm? Ist inzwischen etwas über sein genaues Schicksal bekannt?«, waren ihre weiteren Worte.

»Leider nein«, schüttelte Kunaritschew den Kopf.

Morna atmete tief durch und verbarg dann sekundenlang ihr Gesicht in beiden Händen, als müsse sie sich zum Nachdenken abschirmen. Bevor sie etwas auf Kunaritschews Worte erwidern konnte, trat die Bedienung bereits an den Tisch.

»Was darf es sein, bitte?«, fragte die dunkelhaarige Schottin höflich.

»Einen Kaffee, bitte.«

»Möchten Sie auch frühstücken? Haben Sie einen besonderen Wunsch?«

»Nein, danke.«

Auch Morna waren die Ereignisse, von denen sie fernmündlich aus der PSA-Zentrale unterrichtet worden war, auf den Magen geschlagen.

»Du hast noch nichts zu dir genommen, nicht wahr?«

»Nein. Aber ich kriege nichts hinunter, solange ich nicht weiß, was aus ihm geworden ist ... Ich kann immer noch nicht glauben, dass es so ist, wie du es geschildert hast.«

»Jedes Wort, Morna, ist die reine Wahrheit, auch wenn es sich noch so unglaublich und phantastisch anhört! Aber bevor wir das Problem gemeinsam in Angriff nehmen, sollten wir uns klar darüber sein, dass es mit einer Hungerkur nicht getan ist. Damit helfen wir ihm bestimmt nicht. Und bei deiner Figur ist es nicht ratsam, auf die morgendlichen Brötchen zu verzichten ...«

»Wie ich sehe, hast du auch noch nichts gegessen.«

»Das ist etwas ganz anderes. Ich mach gerade eine Abmagerungskur. Ein paar Pfund weniger auf den Rippen bekommen mir, im Gegensatz zu dir ganz gut ...«

»Einigen wir uns also beide auf ein bescheidenes Frühstück und sprechen dabei über alles Anstehende in Ruhe, einverstanden?«

»Choroschow, gut«, nickte Iwan.

So machten sie es.

»Erzähl mir von der Gespenster-Villa, von Lord Shannon, von den Dingen in Shovernon und Traighli in West-Irland und von Builth Wells in der Grafschaft Wales in England. Ihr seid ja in den letzten beiden Tagen ziemlich weit herumgekommen.«

»Das kann man wohl sagen, Morna. Angefangen hat es an der Westküste Irlands, im oder am Crowden-House. Unser Kollege X-RAY-5 erhielt den Auftrag, das Haus der Crowdens und die Umgebung im Auge zu behalten und vor allen Dingen nach einem Bild zu fahnden, das existieren sollte. Diese Vermutung hat sich bestätigt.«

»Klaus Thorwald entdeckte das Bild bei einem Trödler in Traighli, nicht wahr?«

»Richtig ... Er ging auch dorthin, offensichtlich, um es abzuholen. Aber dazu kam es nicht mehr. Thorwald wurde überfallen und verschleppt. Larry fand bei einem Besuch im Antiquitäten-Laden heraus, dass Thorwald und das Bild gleichzeitig verschwanden. John White, so hieß der Inhaber des Ladens, konnte Larry noch von einem geheimnisvollen Gast berichten, der nur auf Thorwalds Ankunft wartete. Whites Wohnung wurde in Brand gesetzt. Nicht mit offenem Feuer und Benzin, sondern mit einem Blick aus den Augen des unheimlichen Gastes!«

»Was beweist, dass es noch mindestens einen weiteren Crowden gibt, von dem wir bisher nichts wussten ...«

Iwan nickte und schenkte sich eine weitere Tasse Kaffee ein. »Wahrscheinlich gibt es noch mehr Abkömmlinge der dämonischen Familie mit dem bösen Blick, der so schlimm ist, dass er nicht nur böse ist, sondern tödlich ... Mordaugen! Das sind typische Zeichen für die Crowdens, von denen man immer annahm, sie wären ausgestorben. Im Moment scheinen sie es für richtig zu halten, recht aktiv in Erscheinung zu treten. Es gibt zumindest einen, der sich direkt John White gegenüber als Lord Crowden bezeichnete.

Im Zusammenhang mit dem Verschwinden Klaus Thorwalds gehen einige sehr merkwürdige Dinge Hand in Hand. Nicht weit von Shovernon entfernt steht ein altes Haus, das von einem Mann namens Fred McPherson bewohnt war. McPherson war Liebhaber und Sammler antiker Möbel und Kunstgegenstände, unter anderem auch alter, wertvoller Gemälde.

Im Haus ist dann etwas Schlimmes passiert. McPherson wurde ermordet, und ein anderer hat dort seine Stelle und seine Rolle eingenommen. Perfekt getarnt, wie selbst die Polizei und Nachbarn bestätigen mussten. Der echte McPherson wurde mit Benzin übergossen und verbrannt, aber eine Identifizierung seiner Leiche war dennoch möglich ...«

Morna Ulbrandson nickte und setzte Iwans Rekapitulation fort. »Alles weist darauf hin, dass ein Mann namens Philip Hanton den Mord an Fred McPherson begangen hat. Dabei ist nachgewiesen, dass Philip Hanton in der Mordnacht gar nicht in McPhersons Haus gewesen sein kann, weil er zu diesem Zeitpunkt nach einer schweren Operation in einem Krankenhaus lag, das rund dreihundertfünfzig Meilen vom Tatort entfernt liegt.«