Larry Brent Classic 043: Die Monsterburg - Dan Shocker - E-Book

Larry Brent Classic 043: Die Monsterburg E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Schizophrenia - Nächte des Wahnsinns Larry Brent, Morna Ulbrandson und Iwan Kunaritschew ermitteln in Mailand in einem Fall mysteriöser Frauenentführungen. Diese könnten in Zusammenhang stehen mit dem Spuk in einem Palazzo, der einer Familie angelastet wird, deren Tochter augenscheinlich parapsychisch begabt ist. Larry und Iwan sollen Morna in einer Nobeldisco, wo der Kidnapper vermutlich am häufigsten zugeschlagen hat, überwachen. Doch der Entführer ist schneller. Morna Ulbrandson verschwindet spurlos. Monsterburg Höllenstein Das "Monster-Panoptikum", so wird eine Art Touristenattraktion in den Gewölben der Burg Höllenstein genannt. Nur sind die Wesen in dieser Ausstellung alles andere als Puppen. Ein junges Paar wird bei seinem abendlichen Besuch in der Burg zu Opfern dieser sehr reellen Werwölfe, Werlöwen, Vampire und Zombies. Vier Jahre nach diesem Vorfall erhält Jessica Paine einen Brief von einem Anwalt, in dem sie als Alleinerbin der Burg Höllenstein und dem dazugehörigen Hotel bezeichnet wird, wenn sie es schafft vor einer gewissen Ellen Maroth das Gemäuer zu betreten. Diesen Wettlauf hat wohl ihr seltsamer Onkel William Joe Paine anberaumt, um sein Erbe an die beiden einzigen Nachkommen abzutreten. Jessica begibt umgehend nach Deutschland, wo sich die seltsame Burg befinden soll.

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DAN SHOCKERS LARRY BRENT

BAND 43

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Fachberatung: Robert Linder

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

978-3-95719-843-3

Dan Shockers Larry Brent Band 43

DIE MONSTERBURG

Mystery-Thriller

Schizophrenia – Nächte des Wahnsinns

von

Dan Shocker

Prolog

Mit der aufgezogenen Spritze in der Hand näherte er sich der weißen Tür am Ende des langen Korridors. Die Schritte des Pflegers hallten laut und unheimlich durch den Gang. Neonröhren an der kahlen Decke verströmten ihr ungemütliches, kaltes Licht und leuchteten den Flur in der Nervenheilanstalt von Mombello schattenlos aus. Der Verputz an den Wänden war schmutzig und blätterte ab. Der Boden zeigte Risse in den alten, ausgewaschenen und porösen Platten, in denen sich der Schmutz gesammelt hatte.

Hinter der Tür mit der Nummer 23 wurde Paolo Rasolini in Sicherheitsverwahrung gehalten. Rasolini, 28, stammte aus Rom und war von einem Gericht rechtskräftig wegen mehrerer Frauenmorde verurteilt worden. Das Gericht bescheinigte ihm Unzurechnungsfähigkeit und schickte ihn lebenslang in eine Anstalt, um künftig Vorfälle ähnlicher Art auszuschließen. Wer Paolo sah, glaubte nicht, dass er die Verbrechen begangen hatte. Aber den grausamsten Mördern sah man mitunter ihre Veranlagung nicht an. Paolo Rasolini lebte seit drei Jahren in der Zelle, durfte täglich auf dem streng bewachten Hof spazieren gehen und erwies sich als ein ruhiger, nachdenklicher Gefangener, mit dem es eigentlich keine Probleme gab.

Aufkommende Probleme wurden auch dadurch unter Kontrolle gehalten, dass Rasolini aufgrund seiner Krankenakte ständig mit starken, erregungsdämpfenden Mitteln behandelt wurde. Sie veränderten seine Psyche, machten ihn müde und träge. Rasolini war in diesem Haus längst kein Sicherheitsrisiko mehr, das wusste jede Krankenschwester, jeder Pfleger und Wärter, die mit ihm zu tun hatten. Gegen zehn Uhr abends, so stand es auf dem Fahrplan, bekam Rasolini seine letzte Injektion. In dieser Abteilung waren die Türen zweifach gepolstert, und nur direkte Kontaktpersonen besaßen einen Schlüssel. Der Pfleger, der regelmäßig seinen Nachtdienst verrichtete, machte sich bei Rasolini schon lange nicht mehr die Mühe, einen Blick durch das Guckloch zu werfen, um sich einen Eindruck vom Zustand des Kranken zu machen. Der Mann mit der Spritze wusste, dass Rasolini längst schlief!

Schwester Marina, eine hübsche blonde Frau mit langem Haar und dem Gesicht einer Madonna, war die letzte, die mit Paolo gesprochen und ihn versorgt hatte. Ihren allabendlichen Bericht hatte der Pfleger bei Beginn seines Dienstes routinemäßig überflogen. Keine besonderen Vorkommnisse ...

Er schloss die Tür auf. Das Notlicht oben in der Wand brannte schwach und gab dem Eintretenden die Möglichkeit, sich sofort über die Räumlichkeit zu informieren. Ein spartanisch eingerichteter Raum mit Toilette und Waschbecken. Die Wände waren nicht zusätzlich gepolstert. Ein Mann wie Rasolini bekam keine Tobsuchtsanfälle. Der Pfleger überschritt die Schwelle und ... prallte zurück wie vor einer unsichtbaren Wand. Auf dem Bett lag zwar jemand, aber das war nicht Paolo Rasolini, sondern eine Frau!

Die Beine waren weit von sich gestreckt, die Arme hingen schlaff zu beiden Seiten der harten, primitiven Liege herunter. Die Frau trug ihre weiße, blutbesudelte Schwesterntracht. Um wen es sich bei der Toten handelte, war auf den ersten Blick nicht zu erkennen, denn die Leiche hatte keinen Kopf mehr ...

Der Mann stand drei Sekunden wie versteinert.

Dann löste er sich mit einem Ruck aus dem Bann. Der Pfleger lief in den Raum und hielt die Spritze wie eine Waffe umklammert, als wolle er sich gegen einen vermeintlichen Gegner, der sich nur hier verborgen halten konnte, zur Wehr setzen. Aber da war niemand mehr ...

In der winzigen Kammer gab es kein Versteck, in das man kriechen konnte. Selbst unter die hochbeinige Liege fiel beim Eintreten sofort der Blick, und nachdem der Pfleger das furchtbare Bild in sich aufgenommen hatte, suchten die Augen automatisch unter der Liege. Dort hockte aber niemand ...

Er glaubte zu wissen, wer die Tote war. Schwester Marina ... war zuletzt mit Paolo Rasolini zusammengetroffen. Doch dem Pfleger fiel auch sofort der Widerspruch auf. Marina hatte ihren Abschlussbericht noch verfasst und war dann gegangen. Etwas stimmte hier ganz und gar nicht. Der Mann rannte aus dem Zimmer und verschloss es hinter sich, um anderen Insassen der Nervenheilanstalt, die frei herumlaufen durften, keine Gelegenheit zu geben, einen Blick in den Raum zu werfen.

Der große, breitschultrige Mann kehrte in den kleinen Raum zurück, in dem er seine Nachtwache verbrachte. Die Umgebung wirkte nicht weniger kahl, bedrückend und unfreundlich wie der schmutzige Flur, auf den die Türen mündeten. Achtlos warf Nino, der Pfleger, die Spritze auf den Tisch und griff zum Telefonhörer. Mit zitternder Hand wählte der Mann die Nummer der Wohnung von Dr. Giuseppe Falco, des Leiters der Anstalt. Nach dem zweiten Klingelzeichen wurde schon abgehoben.

»Ja?«, meldete sich eine sonore, ruhige Stimme, die sofort Vertrauen einflößte. Falco brütete oft bis in die Nacht hinein über Akten und studierte die Fälle der Menschen, die hier eingeliefert wurden und oft bis zu ihrem Lebensende das Gelände der Anstalt nicht mehr verließen.

»Entschuldigen Sie die Störung, Doktor«, stieß der Anrufer erregt hervor.

»Sie werden einen Grund haben. Wo brennt's, Nino?«

»Es ist etwas Schreckliches passiert ... Zimmer 23 ...«

»Rasolini?«, reagierte der Arzt sofort. Er kannte jeden, ihm brauchte man nicht lange zu erklären. »Was ist mit ihm? Hat er Selbstmord begangen?«

»Ein Mord, Doktor ... es ist ein Mord geschehen! Schwester Marina ... sie muss es sein ... ihre Leiche liegt enthauptet auf Rasolinis Schlafplatz ...«

»Nino! Wissen Sie, was Sie da sagen?«, rief Dr. Falco tonlos.

»Die Wahrheit, Doktor. Rasolini ist spurlos verschwunden ...«

»Kein Wort zu anderen, auch die Polizei nicht alarmieren, Nino! Ich muss das erst mit eigenen Augen gesehen haben ... Ich bin in zwei Minuten drüben.«

1. Kapitel

Dr. Giuseppe Falco war ein stattlicher Mann. Groß, schwarzhaarig, stets gepflegt gekleidet, passte er überhaupt nicht in das düstere, alte Haus, das aus dem vorigen Jahrhundert stammte und stets der Wohnsitz der Anstaltsleiter war. Nicht minder alt und duster wirkte das Ziegelsteingebäude, in dem die Kranken untergebracht waren. Es lag rund hundertfünfzig Meter von der Wohnung des Nervenarztes entfernt. Die Nacht war kühl. Dennoch lief Falco so wie er war ins Freie. Er trug eine dunkle Hose, ein Hemd und eine Hausjacke aus rot-schwarzem Cord.

Der Nachtwind säuselte in den Bäumen.

Falco war Anfang Fünfzig, bewegte sich erstaunlich schnell und kam auf dem Weg zur Anstalt nicht außer Atem. Man merkte dem Mann an, dass er viel Sport trieb. Im Parterre des Gebäudes brannte hinter einigen Fenstern Licht. Falco riss die massive, schwere Holztür auf und stürmte durch den Korridor. Nino kam dem Nervenarzt entgegen, der sich direkt nach Nr. 23 begab.

Er erbleichte, als er die Leiche sah. Das Blut war noch nicht verkrustet, der unheimliche Mörder hatte seine Tat erst vor eineinhalb oder zwei Stunden begangen. Die beiden Männer suchten nach dem Kopf, fanden ihn aber nicht. Dr. Falco schluckte trocken. »So etwas ... hätte auf keinen Fall hier passieren dürfen ... Wie konnte es nur zu einem solch grässlichen Ereignis kommen, Nino? Ich habe die Schwester heute Abend noch gesehen. Sie bereitete alles für ihren Aufbruch vor. Sie müssen ihr doch auch noch begegnet sein, Nino!«

Falco fasste den Pfleger fest ins Auge. »Sie muss Ihnen doch die Arbeit übergeben haben, Nino ...« Der Angesprochene senkte den Kopf. »Normalerweise ist das auch der Fall, Doktor ... aber hin und wieder kam es vor, dass Schwester Marina es eilig hatte.«

»Sie hatte es eilig, früher wegzukommen, noch ehe Sie ihren Dienst angetreten hatten?«, schnaubte Falco. »Ja«, gab der kräftige Mann kleinlaut zu, und man merkte ihm an, wie peinlich es ihm war, darüber zu sprechen. »Einige Male wollte sie früher weg.«

»Und warum?« Achselzucken. »Keine Ahnung ... vielleicht steckte ein Mann dahinter. Ich habe sie nie danach gefragt, und ich habe mir, offen gestanden, auch nichts gedacht, mal zehn oder fünfzehn Minuten später zu erscheinen.«

»Das heißt, dass die Station in dieser Zeit unbeobachtet und unbewacht war?«, fragte Falco tonlos. »Mhm ... Was sollte schon passieren? Alle waren still und zufrieden ... nach den Spritzen herrscht hier immer Totenstille ... da gibt's, wie Sie selbst wissen, stundenlang nichts zu tun.«

»In einem Haus wie diesem, Nino, kann jederzeit etwas vorkommen!«

»Was hätte schon vorkommen sollen und ...« Da deutete der Arzt mit ruckartiger Handbewegung auf die Kopflose. »Es ist etwas vorgekommen, Nino! Genügt Ihnen dieses Beispiel nicht?«

»Aber wie ist es passiert? Ich habe keine plausible Erklärung dafür.«

»Ich weiß es auch nicht«, murmelte der Nervenarzt dumpf. »Sie muss nochmal in Rasolinis Zimmer gegangen sein, nach Abschluss ihres Berichtes.«

»Aber warum? Aus welchem Grund?«

»Wenn ich das wüsste, wäre mir wohler ... Über die ganze Geschichte, Nino, wird noch zu reden sein. Machen wir uns auf den Weg. Lassen wir die Polizei noch aus dem Spiel und suchen nach Rasolini ... Nur er kommt, wie die Dinge liegen, als Täter in Frage. Wie er es angestellt hat, an ein Messer zu kommen und Schwester Marina ins Zimmer zu locken, muss geklärt werden. Zuallererst aber ist es wichtig, Rasolini zu finden. Er kann noch nicht weit sein. Vielleicht versteckt er sich irgendwo auf dem Gelände. Wenn es ihm gelungen ist, die Mauer zu erklimmen, die das Anwesen umgibt, ist sein Ziel der Wald. Also müssen wir auch da suchen.«

»Was ist mit der Polizei, Doktor? Müssen wir sie unbedingt ... einschalten?« Giuseppe Falco glaubte nicht recht zu hören. »Auch ich würde es am liebsten verhindern, das dürfen Sie mir glauben ... Wir können es nur verzögern, Nino ... während der Zeit der Suche nach Rasolini. Das hat im Moment Vorrang. Marina wird davon, dass wir hier herumstehen, nicht mehr lebendig. Wir müssen ihren Mörder fassen, ehe er weiteres Unheil anrichtet! Paolo Rasolini ist eine Gefahr für jeden, der ihm in diesem Zustand begegnet ... Seine wilde, ungezügelte Mordlust ist plötzlich und unerwartet wieder hervorgebrochen, trotz massiv eingesetzter Medikamente, die ihn eigentlich hätten bremsen müssen ... sein Leiden ist nicht gleichgeblieben und nicht besser geworden, wie letzte Kontrolluntersuchungen noch hoffen ließen ... Es hat sich im Gegenteil verschlimmert. Bisher hat Rasolini seine Opfer erwürgt und erstochen, aber ihnen nie die Köpfe abgeschnitten ... in seinem Denken, das uns stets verschlossen blieb, ist eine neue schreckliche Variante hinzugekommen ... Wie immer unsere Suche nach ihm auch ausgehen wird, Nino – es wird einen Skandal geben, der sogar so weit führen kann, dass es zur Schließung dieser Anstalt kommt ... Aber dem müssen wir uns wohl stellen, es hilft alles nichts.«

Dr. Falco forderte den Pfleger, der als einziger in dem Fünfzig-Betten-Haus Nachtwache hatte, auf, Taschenlampen zu besorgen. Außerdem bewaffneten sie sich. Nino mit einem Gummiknüppel. Dr. Falco mit einem Spezialgewehr, das er selbst entwickelt hatte. Falco war begeisterter Großwild-Jäger. Lange Zeit hatte er in Afrika gelebt und dabei auch die Arbeit von Forschungsinstituten kennengelernt, die sich mit der Tierpflege und dem Nachwuchs beschäftigten. Um bestimmte Exemplare ihrer Gattung gefahrlos einzufangen und zu untersuchen, wurden von den Forschern sogenannte Betäubungsgewehre eingesetzt. Eine Patrone mit einem Betäubungsmittel wurde abgefeuert. Beim Eindringen in die Haut geriet die Substanz in die Blutbahn und machte das betreffende Tier bewegungslos und kampfunfähig. Diese Methode verfeinerte Falco. Als er die Leitung der Nervenheilanstalt vor vierzehn Jahren übernahm, entwickelte er ein Gewehr, dessen Wirkungsweise auf der gleichen Basis beruhte. Immer wieder kam es vor, dass hier im abgelegenen Mombello, Anstalts-Insassen flohen und nur unter größten Schwierigkeiten wieder eingefangen werden konnten. Da kam Falco auf die Idee, das Betäubungsgewehr, das er in Afrika kennengelernt hatte, auch bei Menschen einzusetzen. Nur eine Handvoll Mitarbeiter war über diesen Umstand informiert, denn was Falco tat, war nicht legal. Aber der Zweck heiligt die Mittel, lautete seine Maxime. So verschoss er Kapseln, die er selbst herstellte und die mit einem Betäubungsmittel gefüllt waren, auf jene ab, bei denen jeder herkömmliche Versuch, sie wieder einzufangen, versagte. Über den Einsatz des Gewehres wagten alle, die davon wussten, nichts zu sagen. Falco hatte sie zu strengstem Stillschweigen verpflichtet, und worum ein Mann wie Falco bat, das wurde befolgt.

Der Nervenarzt holte das unter Verschluss gehaltene Gewehr aus einem Schrank in seiner Wohnung, zog einen Pullover über und begann mit dem Pfleger die Suche nach dem Verschwundenen. Die beiden Männer untersuchten die kritischen Verstecke im nächtlichen Park. Außer dem Hauptportal gab es zwei hohe Eisentüren, aus deren oberen Drittel spitze Stäbe ragten, um ein Überklettern zu verhindern. Hier kam niemand drüber. Aber das war auch nicht notwendig, wie sie beide gleichzeitig erkannten. Die schmale, eiserne Tür in der rückwärtigen Mauer des Anwesens – war nicht abgeschlossen.

Falco drückte die rostige Klinke herab, und konnte die Tür öffnen ...

»Eine Nacht voller Überraschungen«, murmelte der Nervenarzt. »Je mehr ich darüber nachdenke, desto unwirklicher kommt mir alles vor ... Marina tot ... Rasolini spurlos verschwunden ... er hat es offenbar geschafft, sich ihr Vertrauen zu erschleichen ... kam an die Schlüssel zu seinem Zimmer und zu diesem Eisentor ... ich versteh die Welt nicht mehr, Nino.«

Durch den Hinterausgang verließen sie den Park. Hinter der hohen, oben mit Stacheldraht zusätzlich gesicherten Mauer lag der Wald und ein schmaler Trampelpfad, fast zugewachsen von allerlei Unterholz. »Wir müssen ihn finden, Nino ... und wenn es die ganze Nacht dauert ...«, stieß Falco heiser hervor. »Er trägt etwas bei sich, das wir ebenfalls sicherstellen müssen ... Marinas Kopf!«

Die beiden Gestalten lösten sich aus dem Mauerschatten und liefen in den Wald. Wie riesige Geisterfinger erschienen die Lichtkegel aus den beiden Taschenlampen, mit denen sie den Weg und die dunklen Ecken und Winkel zwischen Büschen, Gräsern, Baumstämmen und Unterholz ausleuchteten. Die Stimmen verebbten, die Lichtkegel wurden schwächer. Jenseits der Mauer, im Innern des parkähnlichen Anstalts-Geländes, rührte sich plötzlich eine dunkle Gestalt, die mitten im undurchdringlichen Dickicht hockte und der die Aufregung der beiden Männer nicht entgangen war. Kaltes Sternenlicht glitzerte in dem Augenpaar, das dem nächtlichen Unternehmen volle Aufmerksamkeit schenkte. Die dunkle Gestalt löste sich aus dem Versteck. Laub und Blätter raschelten, Zweige knickten.

Aber da war jetzt niemand mehr, der die einsame, unbekannte Gestalt beobachtet hätte. Sie folgte dem Nervenarzt und seinem Begleiter nicht. Geduckt lief sie zwischen den dunklen Stämmen auf das düstere Ziegelsteingebäude zu, in dem die Nervenkranken untergebracht und ohne Bewachung zurückgelassen worden waren. Ein leises Kichern drang aus der Kehle des Fremden, als er im unbeleuchteten Haus verschwand.

Sie spürte seine Hände, die ihr Haar zerwühlten, über ihre Schultern glitten und ihr die Bluse abstreiften. Ginas Atem wurde schneller, sie erwiderte die Küsse des Mannes, der mit ihr den kleinen Raum des Fiat teilte. Liebe im Auto war nicht sehr bequem, aber hier, am Rand eines Waldweges unweit von Mombello, hatten sie wenigstens die Gewissheit, sich ungestört lieben zu können. Zu Hause war so etwas nicht möglich. Bei zwölf Personen, in einer Dreizimmer-Wohnung war ständig jemand auf Achse, rief oder wollte etwas oder stürzte gar ins Zimmer. Da gab's keine ruhige Ecke.

Hier am Waldrand aber waren sie allein. Gina lag in den Armen des Mannes und tauschte Zärtlichkeiten aus. Draußen war es stockfinster. Die dichtbelaubten Wipfel der Bäume, in denen leise der Wind säuselte, ließen das Sternenlicht nicht durchdringen.

»Ich finde es schön, mit dir hier zu sein«, flüsterte das Mädchen. »Und es macht dir nichts aus, dass es so eng im Wagen ist?« Sie lachte. »Raum ist in der kleinsten Hütte und im kleinsten Auto ... Wobei ich natürlich darauf spekuliere, dass du eines Tages einen größeren Wagen fährst und vor allem eine eigene Wohnung hast.«

»Beides kann ich dir versprechen. Und wo möchtest du gern wohnen?«

»Am liebsten in Mailand. Das ist groß, das Leben ist abwechslungsreich, und es ist nicht so weit von Mombello weg, in das ich hin und wieder ohne große Anreise zurück möchte.«

»Das sind alles Wünsche, die ich dir erfüllen werde.«

Er zündete sich eine Zigarette an und rauchte sie gemächlich zu Ende. Aus dem Autoradio drang leise Musik. »Elf-Uhr-Klänge«, flüsterte Gina und lehnte an der Schulter ihres Freundes. »Die richtige Musik zur richtigen Stimmung ... aber gleichzeitig auch das Zeichen, dass wir an den Aufbruch denken müssen. Ich muss morgen in aller Frühe wieder raus.« Sie arbeitete als Verkäuferin in einer Bäckerei. »Dann brechen wir also auf«, nickte Antonio und drückte die Kippe im Ascher aus.

Er drehte den Zündschlüssel. Der Motor sprang stotternd an. Das verwunderte die beiden Leute, denn der Fiat war bestens in Schuss. Antonio arbeitete als Automechaniker in einer Werkstatt und legte großen Wert darauf, dass sein Wagen stets gepflegt und technisch in einwandfreiem Zustand war. Nach nur wenigen, unruhigen Umdrehungen erstarb der Motor wieder. Der junge Italiener startete erneut. Er schaltete das Radio aus, um die volle Energie der Autobatterie beim Startvorgang zur Verfügung zu haben. Auch das half nicht. Der Motor sprang nicht mehr an.

»Das darf doch nicht wahr sein«, entfuhr es Antonio, als er einen Blick auf den Tacho warf. »Die Benzinuhr ... steht auf Null!«

Gina sah ihn erschrocken an.

Er schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Ich wollte heute Abend noch tanken, hab's aber dann vor lauter Eile, weil ich so spät dran war, vergessen.«

»Du hast doch einen Ersatzkanister, nicht wahr?«

»Klar. Bitte, Signorina, fassen Sie sich ein wenig in Geduld. Der Schaden ist sofort behoben ...«, scherzte er. »Ich warte, Signore«, sagte Gina mit geschlossenen Augen und lehnte sich seufzend zurück. »Wenn der Wagen wieder startbereit ist, wecken Sie mich bitte. Ich leg einstweilen meinen Schönheitsschlaf ein.«

Antonio löste im Kofferraum den Ersatzkanister aus der Halterung und fuhr zusammen. »Oh, nein!«, stöhnte er laut genug, dass auch Gina es im Innern des Fiat noch hörte. »Was ist denn jetzt schon wieder?«, beugte sich die hübsche Verkäuferin halb aus dem Wagen. »Hast du ein Loch im Kanister?«

»Nein. Aber kein Tropfen Benzin.« Er schüttelte den Behälter kräftig. Und plötzlich war ihm nicht mehr zum Scherzen zumute. »Francesco, mein Bruder ... diese Kanaille ... er hat sich mal wieder an meinem Benzinvorrat vergriffen und den Kanister nicht mehr aufgefüllt. Immer wenn er knapp bei Kasse ist, füllt er seinen Tank mit dem Ersatzbenzin. Dabei hab ich ihm schon tausendmal gesagt, den Kanister spätestens am nächsten Tag wieder aufzufüllen.«

»Wahrscheinlich ist morgen der nächste Tag«, seufzte Gina und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Nehmen wir an, er hat sich genau an deine Anordnungen gehalten. Morgen kann der nächste Tag sein ... das hilft uns aber jetzt nicht weiter. Was machen wir?«

Der Gedanke daran, durch den nächtlichen Wald nach Hause laufen zu müssen, behagte ihr gar nicht. Das bedeutete einen Fußweg von rund zwei Stunden. »Unweit der Kreuzung habe ich auf der Herfahrt eine Tankstelle gesehen«, antwortete Antonio. »Ungefähr eine Viertelstunde von hier.«

»Du glaubst doch selbst nicht, dass du um diese Zeit dort noch tanken kannst.«

»Ich werde den Besitzer herausklingeln.«

»Er wird toben.«

»Wenn ich ihm erklär, was los ist, wird er Verständnis zeigen. Ich sag ihm einfach, dass meine zukünftige Frau hochschwanger ist ... und auf dem Weg zum Krankenhaus ist uns das Benzin ausgegangen. Nun brennt's natürlich in allen Ecken, und wenn er nicht will, dass mein Sohn mitten in einer kühlen Nacht auf der Straße geboren wird, muss er mir fünf Liter verkaufen. Damit kommen wir auf alle Fälle schon mal nach Hause ...«

Sie lachten beide.

Gina blieb im Auto zurück. Sie fröstelte, hatte aber nur eine dünne Jacke dabei, die sie überzog. »Drück die Sicherungsknöpfe an den Türen herunter«, forderte Antonio sie auf. Die Zweiundzwanzigjährige nickte. »Beeil dich«, bat sie ihn. Eine halbe Stunde allein im Dunkeln zu sitzen, behagte ihr nicht so recht. Aber mitgehen wollte sie auch nicht.

»Ich setze meinen Schönheitsschlaf fort«, rief sie fröhlich hinter ihm her und blickte ihm nach. Antonio verschwand zwischen den Bäumen. Einige Sekunden danach hörte sie noch seine knirschenden Schritte auf dem Waldboden.

Dann herrschte Totenstille.

Gina blieb drei Minuten gedankenversunken in dem dunklen Fahrzeug sitzen, schaltete dann wieder das Radio ein und lauschte der leisen Musik. Sie lehnte sich in den Sitz zurück und starrte hinaus in die Dunkelheit. Sie war undurchdringlich. Einmal glaubte die junge Frau einen Schatten zu sehen, sagte sich aber dann, dass dies wohl eine Täuschung gewesen sein musste. Wer sollte sich um diese Stunde noch im Wald aufhalten? Da kamen nur Tiere in Frage. Dann hörte Gina, wie ein Ast brach. Sie fuhr in die Höhe, und ihre Hand zuckte zum Schalter. Abrupt stellte sie die Musik ab. Totenstille umgab sie. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in die Nacht hinaus. Da war es wieder ...

Ein hartes, trockenes Knacken, als wäre jemand auf einen Zweig getreten. Es war jemand in der Nähe! Gina schluckte. Ihr Herz begann schneller zu pochen, und sie merkte, wie ihre Handinnenflächen feucht wurden.

Die Türen!

Eigentlich fand sie es kindisch, die Sicherungsknöpfe herunterzudrücken. Aber jetzt tat sie es doch. Sie hielt unwillkürlich den Atem an und starrte angespannt in die Dunkelheit.

War Antonio noch mal zurückgekommen?

Sie wandte den Kopf und blickte durch das kleine Rückfenster.

Nichts zu sehen ...

Aber da war etwas. Instinktiv spürte sie es: Sie wurde beobachtet!

Gina verhielt sich vollkommen still und fühlte sich in dem abgeschlossenen Auto einigermaßen sicher. Aber, war sie das auch wirklich? Wie ein langsam schleichendes Gift machten sich mit einem Mal Zweifel in ihr bemerkbar. Scheiben konnte man einschlagen. Mit einem harten Gegenstand. Wenn irgendein Kerl hier in der Dunkelheit herumstrich und Liebespaaren auflauerte ...

Ihr wurde plötzlich heiß und kalt, und ihre Angst nahm zu. Sie wollte den Gedanken nicht weiterspinnen. Aber immer wieder hörte und las man schließlich von solchen Dingen. Ginas Augen begannen zu brennen, so angestrengt versuchte sie mit ihren Blicken die Finsternis zu durchdringen.

Da, ein leichter Stoß gegen das Fahrzeug. Das Auto wackelte.

Panik erfasste Ginas Herz. Was war das? Wer war da?

Mit fiebrig glänzenden Augen blickte sie nach allen Seiten.

Antonio, schrie sie stumm. Komm zurück ... schnell ... ich habe solche Angst.

Da ist jemand ...

Der junge Mann, mit dem sie in den Wald gefahren war, war kaum zehn Minuten weg. Aber schon kam ihr die Zeit vor wie eine Ewigkeit. Noch mindestens zwanzig bis dreißig Minuten musste sie bis zu Antonios Rückkehr warten.

Dann begann das Klopfen ...

Einmal ... Leicht und leise. Direkt über ihr. Gina starrte zum Dach empor.

Wupp ... wupp ... wupp ...

Dreimal hintereinander. Hart und trocken, als würde eine Faust darauf schlagen. Gina begann leise zu schluchzen. Was ging hier vor?

Wupp ... wupp ... wupp ...

Ununterbrochen, hart und rhythmisch erfolgten nun die Schläge.

Gina kauerte sich ängstlich zusammen und presste die geballte Faust gegen die Lippen, um nicht laut schreien zu müssen. Ihre Nerven wurden auf eine harte Zerreißprobe gestellt. Am liebsten hätte sie die Tür aufgerissen und wäre schreiend den nächtlichen Waldweg entlanggerannt. Aber wie gelähmt blieb sie in dem kleinen Auto sitzen. Die Zeit wurde endlos lang.

Wupp ... eine Sekunde war vergangen ... wupp ... eine weitere Sekunde.

Die Schläge hörten nicht auf. Die in dem Fahrzeug Eingeschlossene presste die Hände gegen die Ohren, um die harten Schläge nicht mehr hören zu müssen. Doch das brachte nicht viel. Gedämpft nahm sie die Schläge nach wie vor wahr ...

Da sah Gina auch etwas.

Ein dünnes Rinnsal lief dunkel über die Frontscheibe.

Die erschrockene Frau beugte sich unwillkürlich weiter nach vorn. Die Flüssigkeit lief zäh und dunkel quer über die Scheibe in Höhe des Fahrersitzes.

Sie sah aus, wie Blut ...

Gina schnappte nach Luft.

Es wurde ihr heiß, und der Sauerstoff in dem kleinen, niedrigen Innenraum des Fiat schien abzunehmen. Vor den Augen der jungen Frau begann es zu flimmern. Ihre Hand tastete mechanisch zum Sicherungsknopf, um ihn in die Höhe zu ziehen und dann die Tür nach außen zu stoßen. Aber das alles blieb nur ein Gedanke. Sie musste die zermürbende Situation weiter ertragen und konnte sich nicht zu einer überhasteten, plötzlichen Flucht entschließen. Bis jetzt war ihr nichts geschehen. Sie saß unangetastet im Auto und musste Antonios Rückkehr abwarten. Gina zitterte am ganzen Körper wie Espenlaub. Wie ein in die Enge getriebenes Tier kauerte sie auf ihrem Sitz und wartete darauf, dass Antonio sie aus dieser merkwürdigen Lage befreite.

Mitten in das Klopfen hinein grellten plötzlich Lichtkegel auf. Sie stießen zwischen den Stämmen hervor und tauchten die nähere Umgebung und den Platz, auf dem der Fiat stand, in gleißende Helligkeit. Gina schloss geblendet die Augen.

Draußen war der Teufel los ...

Dumpfe Schritte ließen den Waldboden erzittern. Rufe schallten durch die Nacht.

»Da ist er!«

»Gebt ihm keine Chance, wieder zu entkommen!«, brüllte eine zweite Stimme.

»Achtung!«

Da krachte es.

Ein Schuss zerriss die Stille der Nacht. Das Klopfen auf dem Dach des Fiat brach abrupt ab.

Etwas rutschte hinten herunter und etwas vorn. Das sah die junge Frau vor sich: Ein Gesicht mit aufgerissenen Augen und unnatürlich bleicher Haut starrte durchs Fenster.

Ein Kopf, der zwei Sekunden in Augenhöhe vor ihr hängen blieb und dann über die Kühlerhaube auf den Waldboden rollte.

Gina schrie. Sie glaubte, ihren Augen nicht trauen zu dürfen. Das war ein furchtbarer Alptraum und konnte keine Wirklichkeit sein. Das Gesicht, das mit gebrochenen Augen einige Sekunden durch die Windschutzscheibe starrte, war Antonio!

Das alles war zu viel für sie. Gina hörte sich schreien, aber all die kleinen Handlungen, die sie beging, wurden ihr nicht mehr bewusst. Sie riss den Sicherungsknopf am Fenster aus der Versenkung. Dies tat sie mit einer solchen Kraft, dass der Knopf sich vom Dorn löste und auf den Vordersitz fiel. Gina warf sich gegen die Tür. Mehrere uniformierte Beamte umstanden den Fiat.

Carabinieri ...

Hilfreiche Hände streckten sich ihr entgegen.

Die junge Frau schluchzte und schrie, stellte Fragen, blickte sich gehetzt um und hatte das Gefühl, als hätte sie Pudding in den Beinen. Ihre Knie gaben nach. Sie sah zwei Carabinieri, die sich über eine reglose Person beugten, die hinter dem Auto auf dem Boden lag.

»Antonio?!«, gellte ihr Schrei durch die Nacht. Sie wollte sich losreißen, trat und schlug um sich, wusste aber nicht genau, was sie im Einzelnen tat.

»Beruhigen Sie sich«, sagte eine sanfte, ruhige Stimme. Der Mann, der sie ansprach, hielt ein Gewehr in Händen. Er war groß, breitschultrig, Anfang Fünfzig und trug eine dunkle Hose, dazu einen salopp fallenden Pullover.

Kein Carabiniere ...

»Ich bin Dr. Falco. Sie brauchen keine Angst mehr zu haben.«

»Was ist geschehen? So sagen Sie mir doch endlich, was hier los ist?«

»Keine Bedenken ... Sie brauchen keine Bedenken zu haben«, hörte sie seine Stimme wie aus weiter Ferne. »Wir haben ihn gefunden ... er wird Ihnen nichts tun ... Ich bewundere Ihren Mut, Signorina. Sie müssen Todesängste ausgestanden haben ... mindestens zwei Stunden hat er Sie auf diese Weise attackiert.«

»... ein Verrückter, Kommissar ... ist aus der Nervenheilanstalt Mombello entflohen ... ein wahnsinniger Mörder«, vernahm sie eine leisere Stimme in der Nähe. Ein Carabiniere sprach in ein Funkgerät. »Wir haben ihn gestellt ... leider mussten wir von der Schusswaffe Gebrauch machen. Davor kam es bedauerlicherweise noch zu einem Zwischenfall: Ein junger Mann ist ihm in die Arme gelaufen ... er hat ihn getötet, indem er ihm den Kopf abschnitt.«

Mehr bekam Gina nicht mehr mit. In ihren Ohren rauschte das Blut so vehement, dass alle anderen Geräusche übertönt wurden. Der Berichterstatter sprach von Antonio ... Aus den Worten konnte Gina entnehmen, wie das ständige Klopfen auf dem Dach des Fahrzeuges zustande gekommen war. Der Wahnsinnige hatte mit dem Kopf gespielt wie mit einem Ball ...

Das alles war zu viel für die junge Frau. Ihre überstrapazierten Nerven und ihr Organismus versagten ihr den Dienst. Es wurde schlagartig schwarz vor ihren Augen, und Gina sackte in die Knie. Ein Carabiniere fing sie auf ...

Die beiden Männer kehrten auf dem gleichen Weg zur Nervenheilanstalt zurück, wie sie sie verlassen hatten. Dr. Falcos Gesicht war gerötet, er atmete schwer.

»Der ganze Aufwand war umsonst, Nino«, sagte er leise. »Nichts ... weit und breit keine Spur von ihm. Jetzt fängt der Ärger erst an.« Man hörte seiner Stimme an, dass der Vorfall ihn bedrückte. Er legte den Riegel wieder vor.

»Wir müssen die Polizei verständigen ... es bleibt uns nichts mehr anderes übrig. Jetzt nicht mehr! Rasolini ist ausgebrochen, und solange er nicht gefasst ist, stellt er eine permanente Gefahr für andere dar. Der Mord an Schwester Marina ist möglicherweise der Auftakt zu einer Kette von Ereignissen, die ich mir nicht auszudenken wage.« Er seufzte und wischte sich über seine schweißnasse Stirn.

Sie durchquerten den ungepflegten nächtlichen Park, und betraten das dunkle Haus. Dr. Falco steuerte sofort auf das Büro zu, um zu telefonieren. Der Pfleger durchquerte den Korridor, weil er noch mal einen Blick in das Mordzimmer werfen wollte. Er musste zweimal hinsehen, schluckte dann heftig, rieb sich die Augen, als könne er nicht glauben, was er sah, und machte dann auf dem Absatz kehrt.

»Doktor Falco!«, brüllte er, so dass es durch den Gang schallte. »Schnell, kommen Sie schnell ...«

Giuseppe Falco drehte gerade die Wählscheibe, als er den Ruf hörte. Er unterbrach den Wählvorgang und blickte verwundert zur Tür, wo der bleiche Krankenpfleger auftauchte. »Nino!«, entfuhr es dem Nervenarzt. »Was ist denn los mit ihnen? Sie sehen aus, als ob Sie einem Gespenst begegnet wären.«

»Vielleicht ... bin ich das auch ... Im Zimmer ... Paolo Rasolinis ... Marina ...«

»Was ist denn los, Nino? Warum stottern Sie so herum?«

»Sehen Sie selbst, Doktor«, stieß der Mann hervor, der schon so viel in dieser Anstalt erlebt hatte und davon überzeugt war, dass ihn so schnell nichts mehr aus der Fassung bringt. »Sehen Sie es sich selbst an ... Ich kann's nicht glauben ... Ich will wissen, ob Sie dasselbe sehen.«

Falco lief los.

»Warum haben Sie denn die Tür abgeschlossen?«, fragte er rau, als er sah, dass der Raum, in dem sie die Leiche der Krankenschwester gefunden hatten, versperrt war.

»Damit ... er ... nicht davonläuft, Doktor.«

»E – r ?«, dehnte Falco das Wort und blickte seinen Mitarbeiter entgeistert an. Der Mann drehte ruckartig den Schlüssel herum und riss mit harter Hand die Tür auf. »Sagen Sie mir, was Sie sehen, Doktor ...«

Doktor Giuseppe Falco wollte ins Zimmer stürmen, als er wie vor einer unsichtbaren Wand zurückprallte. Im Bett lag nicht mehr die Leiche. Ein Mann schlief darin, tief und fest ...

»Rasolini?« Giuseppe Falcos Stimme war nur ein Hauch.

Sekundenlang stand er wie zur Salzsäule erstarrt. Er schloss die Augen und öffnete, sie wieder. Der Eindruck aber blieb. Falco gab sich einen Ruck, durchquerte das kleine Zimmer und stand im nächsten Moment vor dem Bett. Er starrte den Schläfer an und zog ihm die Bettdecke weg.

Keine Blutflecke auf Decke und Laken ...

Die Leiche der Krankenschwester war verschwunden. Paolo Rasolini, den sie seit Stunden wie die Nadel im berühmten Heuhaufen gesucht hatten, lag schlafend in seinem Bett, als hätte er es nie verlassen ...

Giuseppe Falco fasste den Schläfer an beiden Schultern und rüttelte ihn wach. Paolo Rasolini schlug die Augen auf. Er blickte Dr. Falco hellwach an. Da merkte der Nervenarzt, dass Rasolini sich nur schlafend gestellt hatte. »Was ist passiert?«, fragte Falco rau. Die dunklen Augen des sich langsam aufrichtenden Mannes musterten ihn.

»Passiert? Was sollte passiert sein, Doktor?«

»Das, Rasolini, fragte ich gerade Sie ...« Falco gab seinem Begleiter einen Wink.

Nino riss die Spindtür auf, wühlte in den hängenden Kleidern und sah sich die im untersten Fach stehenden Schuhe an. Krumige, dunkle Erde klebte daran. Sie war frisch.

»Er ist draußen gewesen, Doktor, sehen Sie selbst.«

Falco warf nur einen flüchtigen Blick auf die Schuhe. »Sie waren weg, Rasolini«, bemerkte der Mediziner. »Ich bin jeden Tag einmal draußen«, antwortete der Zellen-Insasse. Seine Stimme klang frisch, obwohl er sich bemühte, schleppend zu reden. Blitzschnell hob Falco das rechte Augenlid des Mannes. Rasolini stand nicht unter dem Einfluss des Medikamentes, das ihm jeden Abend in zwei Etappen gespritzt wurde. Die Dosis am Nachmittag, für die noch Schwester Marina zuständig gewesen war, hatte man ihm nicht gespritzt. Zur zweiten Injektion, für die der Krankenpfleger verantwortlich zeichnete, war es nicht gekommen, weil Rasolini aus seinem Zimmer verschwunden war.

»Ich spreche nicht von Ihrem alltäglichen Spaziergang, Rasolini.« Falco wandte den Blick nicht von dem Mann, der wegen seiner Triebverbrechen lebenslang in diese Anstalt eingewiesen worden war und unter ständiger Medikamentenwirkung gehalten wurde. »Wo waren Sie vorhin?«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Doktor«, reagierte der Angesprochene überrascht. Giuseppe Falco blieb völlig ruhig »Von Ihrem nächtlichen Spaziergang, Rasolini ...« Der Mann lachte leise. »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen, Doktor? Ich habe geschlafen ... bis vorhin, als Sie eintraten und mich weckten ...«

»Sie haben nicht tief geschlafen. Sie waren sehr schnell wach, als ich Sie anfasste ...«

»Manchmal schläft man besser, manchmal weniger gut.«

»Packen wir's von der anderen Seite an, Rasolini. Wo haben Sie die Leiche versteckt?« Rasolinis Augen wurden groß wie Untertassen. »Leiche? Welche Leiche, Doktor?«

»Die Schwester Marina Ordelli. Sie lag vorhin in Ihrem Bett, Rasolini.«

»Ich nehme an, ich träume«, bemerkte der Frauenmörder kopfschüttelnd.

»Ist das der Teil eines neuen Tests, den Sie mit mir durchführen wollen? Was soll das, mitten in der Nacht?«

Das Gespräch drehte sich im Kreis. Man merkte Giuseppe Falco Unsicherheit an. Im Zimmer gab es keine Spuren, die auf die Anwesenheit einer Leiche schließen ließen. Unverrichteterdinge verließen Falco und der Krankenpfleger das Zimmer. Der Nervenarzt sah, wie Nino sorgfältig die Tür verriegelte.

»Mysteriös«, sagte der Mann im weißen Kittel. »Was geht hier vor, Doktor?«

»Würden Sie diese Frage nicht an mich richten, Nino, ich würde sie Ihnen stellen. Erleben wir diese Minuten bewusst wie die anderen, hinter uns liegenden, oder träumen wir nur? Paolo Rasolini nicht verschwunden! Keine Leiche ... dann brauchen wir auch keine Polizei. Es ist nichts geschehen, Nino wir haben uns das alles nur eingebildet ...«

»Aber so etwas gibt es doch nicht!«, entfuhr es dem anderen. Giuseppe Falco lächelte abwesend. »Haben Sie eine Ahnung, was es auf dieser Welt alles gibt und wie verrückt das menschliche Hirn unter extremen Ereignissen reagieren kann ... Vielleicht werde ich es Ihnen mal erklären. Nicht jetzt, dazu bin ich zu müde. Morgen ... oder in den nächsten Tagen. Ich muss über alles erst gründlich nachdenken ...« Seine Stimme klang bedrückt und schwer, und er rieb sich die brennenden, geröteten Augen. »Eines sollten wir allerdings abwarten: die Ankunft von Schwester Marina morgen früh.« Er nickte dem Pfleger flüchtig zu und verließ dann die Anstalt. Er schlug den Weg zu dem alten, blatternarbig aussehenden Haus ein, in dem er lebte. Dr. Falco war erfüllt von zahllosen Gedanken, konnte aber keinen richtig erfassen. Er war aufgewühlt und müde zugleich, entdeckte in allem keinen Sinn. Aber tief in seinem Innern breitete sich ein Gefühl aus, das ihm sagte, dass in dieser Nacht etwas unaussprechlich Böses und Unerklärliches passiert war und ihm eine ungeheuerliche Entdeckung noch bevorstand. Woher diese Gewissheit kam, konnte er sich jedoch nicht erklären ...

Der grüne Ford raste über die nächtliche Straße. Am Steuer saß ein Mann in Jeans und weicher Lederjacke. Er hatte gewelltes, schwarzblaues Haar, eine gerade, aristokratische Nase und buschige Augenbrauen. Am Ringfinger seiner linken Hand prangte in einer schmalen Fassung eine goldene Weltkugel, durch die stilisiert das Gesicht eines Menschen schimmerte. In der Fassung waren die Worte eingraviert: Im Dienste der Menschheit X-RAY-9.

Der Mann, der zu vorgerückter Stunde Richtung Mailand fuhr, war PSA-Agent. Sein ziviler Name: Juan y Ramonez. Herkunftsland: Spanien.

Ramonez hatte die drahtige, biegsame Gestalt eines Stierkämpfers, und in der Tat hatte er in Sevilla einige Jahre diesen Beruf ausgeübt, ehe er von einem Nachrichtenmann der PSA abgeworben und zur Mitarbeit gebeten wurde. Ramonez war seither hauptsächlich in Südeuropa und Südamerika eingesetzt worden.

In Mailand wollte er sich mit seinen Kollegen Larry Brent und Iwan Kunaritschew treffen, die am späten Vormittag des neuen Tages mit einer Maschine aus New York eintreffen sollten. Larry Brent alias X-RAY-3 und Iwan Kunaritschew alias X-RAY-7 wollten in einem alten Palazzo einem Spukfall nachgehen, der seit Wochen die Behörden beschäftigte. Die Phänomene waren offensichtlich auf eine Familie gezielt ausgerichtet, die sich verängstigt in ihrer Wohnung verbarg, aber auch dort nicht mehr vor den Erscheinungen und Nachstellungen eines Geistes sicher war, der sich angeblich sogar schon aus dem Mund eines siebenjährigen Mädchens gemeldet hatte.

Ramonez, der sich zufällig in der Nähe von Mailand aufhielt, weil er dort seinen Urlaub verbracht und einige alte Freunde besucht hatte, entschloss sich spontan, die Freunde und Kollegen von der PSA zu unterstützen. Denn was sich bisher in dem Palazzo getan hatte, erwies sich als ein hartnäckiger Spukfall, der sogar von einer Sonderkommission der Mailänder Kripo nicht geklärt werden konnte. Deshalb wollte man massiert an den Fall herangehen. Die Spezialisten der PSA, die vor keiner Aufgabe zurückschreckten, waren entschlossen, dem Treiben in dem alten Palazzo in der Mailänder Innenstadt ein Ende zu bereiten und der verängstigten Familie ihre Ruhe und ihren Frieden wieder zu geben. Ein Spezialist der PSA, der die Vorarbeit geleistet hatte, war der festen Ansicht, dass das Spukphänomen wahrscheinlich von einem Familienmitglied selbst ausgelöst wurde. Inzwischen wurden die Angriffe auf einzelne Mitglieder so massiv, dass sie um ihr Leben fürchten mussten. Drei Personen standen im Mittelpunkt gespenstischer Ereignisse, drei Agenten waren beauftragt, sich um die Personen, der sie zugeteilt waren, zu kümmern.

Die Straße wurde kurvig, und der Belag war so schlecht, dass Ramonez mit der Geschwindigkeit heruntergehen musste. Außer seinem Fahrzeug gab es weit und breit kein anderes. Es war weit nach Mitternacht, und die einsame, durch einen Wald führende Straße war menschenleer.

Da sah er die Gestalt am rechten Straßenrand ...

Sie schleppte sich mühsam Schritt für Schritt weiter, ging gebückt und blieb stehen, als das Licht der Autoscheinwerfer die Straße in ihrer ganzen Breite ausleuchtete. Ramonez sah das bleiche, von Entsetzen gezeichnete Gesicht eines jungen Mädchens, das müde die Hand hob und ein Zeichen zum Anhalten gab.

Es hätte dieser Geste nicht bedurft. Als Ramonez alias X-RAY-9 die späte, einsame Spaziergängerin entdeckte, entschloss er sich sofort zu stoppen. Er fuhr dicht an den Straßenrand heran. Die Unbekannte taumelte den einen Schritt, der sie noch von dem Fahrzeug trennte, darauf zu. Das Mädchen war am Ende seiner Kraft. Wirr hing ihm das schwarze Haar in die schweißnasse Stirn.