Larry Brent Classic 045: Das Horrorpalais - Dan Shocker - E-Book

Larry Brent Classic 045: Das Horrorpalais E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Schreckensgondel der Schneehexe In einem österreichischen Ski-Gebiet geschehen seltsame Dinge: Ein wandelnder Toter, Menschen aus Schnee, Fliegende Skelette ... Larry und Iwan machen gerade Urlaub dort. Mit Hilfe eines kleinen sensitiven Mädchens findet Larry Brent heraus, daß es eine uralte Schneehexe hier gibt, deren Geist sich verschiedener Menschen bemächtigen kann. Die Skelette sind ihre vier ehemaligen Mörder, die sie verfluchte zu unheiligem Leben. Iwan findet die eingefrorene Leiche der uralten Hexe, legt ein geweihtes Kreuzkettchen auf die fürchterlich aussehende Dame, die einst eigentlich nur Gutes tun wollte für die Menschen. Das Horrorpalais von Wien Iwan Kunaritschew will eine Sendung seines geliebten Tabaks vom Flughafen abholen und muss feststellen, dass besagtes Paket angeblich von ihm selber bereits in Wien in Empfang genommen wurde. Der PSA-Agent fliegt unverzüglich nach Österreich. Dort führt die Spur seines vermeintlichen Doppelgängers zum Cernay-Palais. Boris Rakow, ein russischer Mörder, den Iwan noch vor seiner Zeit als PSA-Agent verhaftet hat, will sich an dem Agenten rächen und hat sich mit der Hexe Marina verbündet. Dieser wiederum ist der Agent X-RAY-11 alias Peter Pörtscher auf den Fersen. Doch Iwan läuft dem Verbrecherpärchen welches immer noch das "Buch der unsichtbaren Zauberwesen" sucht, in die Falle.

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DAN SHOCKERS LARRY BRENT

BAND 45

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Fachberatung: Robert Linder

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

978-3-95719-845-7

Dan Shockers Larry Brent Band 45

DAS HORROR-PALAIS

Mystery-Thriller

Schreckensgondel der Schneehexe

von

Dan Shocker

Prolog

Das letzte Scheit im Kamin verglühte. In dem kleinen Gasthof Alpblick hielt sich nur eine junge Angestellte auf, die die Tische abwischte, die Decken zurechtlegte und die Stühle richtig hinstellte. Es war wenige Minuten vor Mitternacht. Außer dem leisen Knistern des erlöschenden Feuers und dem monotonen Ticken einer alten, handgeschnitzten Uhr an der Holzwand des gemütlichen Lokals war es totenstill.

Christel Burger beeilte sich, um mit ihrer Arbeit fertig zu werden. Der letzte Gast war vor einer Viertelstunde gegangen. Fast zu spät, denn es hatte zu schneien begonnen, und der Schnee fiel inzwischen so dicht, dass man die drei hohen Tannen, die nur zwanzig Meter von dem Berggasthaus entfernt standen, nicht mehr sehen konnte. Mit Einbruch der Dunkelheit stellten die Kabinenbahnen ihren Zubringerdienst ein, damit alle Skiläufer noch ihre Abfahrt hinter sich brachten, ehe es ganz finster wurde.

Das Gasthaus stand in rund tausendfünfhundert Metern Höhe unweit einer Piste, auf der tagsüber reger Betrieb herrschte. Viele Wintersportler machten hier Rast, aßen und tranken etwas und wärmten sich auf. Das Gebäude war tief verschneit und duckte sich hinter einem Abhang. Wenn einer auf Skiern die Piste verfehlte, kam es auch mal vor, dass er das Dach des kleinen Hauses als Sprungschanze benutzte. Mancher im Gelände machte sich einen Jux daraus und tat dies absichtlich.

Die kleinen Lampen mit den roten Schirmen spendeten ein gemütliches Licht. Christel Burger löschte eine nach der anderen aus. Die winzigen Flammen im Kamin waren der einzige Schein, der gedämpftes, anheimelndes Zwielicht bewirkte, in dem die Schatten der zahllosen Einrichtungsgegenstände an den Wänden und auf den Regalen ein geisterhaftes Leben führten. Christel Burger zog die Tür zur Gaststube hinter sich zu und wollte die schmale Wendeltreppe nach oben gehen, als sie ein Geräusch hörte. Es war draußen vor der Tür und hörte sich an, als wäre jemand mit einem harten Gegenstand an die Hauswand gestoßen. Dieses Geräusch kannte die junge Frau. Es erfolgte, wenn jemand seine Bretter aufstieß und in den Ski-Ständer stellte. Die Augen der Dunkelhaarigen verengten sich. Dass um diese Zeit, und vor allem bei dem starken Schneegestöber, noch jemand unterwegs war, konnte kaum der Fall sein. Sie blieb atemlos stehen, lauschte und war überzeugt, dass sie sich geirrt hatte.

Plötzlich wurde angeklopft.

»Ja?« Die Frage kam der jungen Frau mechanisch über die Lippen. »Wer ist da draußen?«

»Hallo? Können Sie mir aufmachen?«, tönte es statt einer Antwort draußen vor der Tür, und der pfeifende Wind wehte dem Sprecher die Worte von den Lippen. »Ich brauche Hilfe ... bitte, lassen Sie mich telefonieren.«

Da war jemand nicht mehr rechtzeitig den Berg hinabgekommen. Christel Burger zögerte nicht mehr, die Tür zu öffnen. Während sie dies tat, erschien ihr das alles irgendwie bekannt, als hätte sie die Szene in dieser Nacht schon mal erlebt ...

Auch die Situation war ähnlich. Damals, das lag ungefähr fünf Jahre zurück, war auch jemand zu vorgeschrittener Stunde in das abgelegene Gasthaus gekommen und hatte gebeten, telefonieren zu dürfen.

Damals war die Nacht sternenklar gewesen, und der Skiläufer brach nach dem Telefonat wieder auf. Am nächsten Morgen wurde unten im Ort ein Mann vermisst, und eine großangelegte Suchaktion in die Wege geleitet. Die Wahrscheinlichkeit, dass er vom Weg abgekommen war und sich in der Schneewüste verirrt hatte, war groß. Man fand den Verschwundenen nie.

Christel Burger fand es selbst seltsam, dass sie an diese Dinge denken musste, die schon so lange zurücklagen. Das war damals die Zeit gewesen, als sie gerade ihre Stellung im Alpblick angenommen hatte. Die Begegnung hatte sich ihr eingeprägt, denn die Beobachtungen, die sie in jener Nacht machte, waren als Zeugenaussagen bei der Ortspolizei aktenkundig geworden ...

Der Mann, der die Schwelle übertrat, trug einen roten Sicherheitshelm und hatte die Brille nach oben gezogen. Sein Anzug war flammendrot und mit weißen Schulterstreifen versehen.

»Danke«, sagte der Eintretende leise und klopfte sich den Schnee von den schweren Schuhen. Schnee klebte auch auf seinen Brauen und im Gesicht, und draußen schneite es, dass man kaum noch die Hand vor Augen sah.

»Sie haben Glück gehabt, dass Sie uns in der Dunkelheit und bei diesem Wetter noch gefunden haben«, sagte Christel Burger, während sie die blaue Trachtenschürze zusammenlegte, die sie mechanisch auf dem Weg zur Treppe abgelegt hatte. »Gehen Sie rein in die Gaststube ... es ist zwar nicht mehrgeöffnet, und Übernachtungsmöglichkeiten haben wir hier im Haus auch nicht, wir sind nur eine Gaststätte ... Aber ich kann Sie bei diesem Wetter nicht draußen stehen lassen ... Sind Sie vom Weg abgekommen?«

»Ich hab mich in der Zeit vertan ... keine Sorge, Fräulein, ich werde Ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten. Ich telefoniere und verschwinde schnell wieder.«

Auch diese Worte kamen ihr bekannt vor. Christel Burger war sich ganz sicher, sie schon mal gehört zu haben. Der Mann wischte sich den Schnee von Stirn und Augenbrauen und hob dann sein Gesicht. Die junge Frau, die allein im Haus war, fuhr zusammen, und ein leiser Schreckensschrei kam über ihre Lippen. Dieser Mann ... sie kannte ihn ... das war der Fremde, der in jener Nacht vor fünf Jahren hier aufgetaucht und seitdem spurlos verschwunden war!

Sie starrte ihn an wie einen Geist.

»Wo ... kommen Sie her?«, fragte sie mit brüchiger Stimme und bemühte sich, Erregung und Angst nicht merken zu lassen.

»Aus den Bergen ...« Er lächelte sie an. Sein schmales Gesicht war leicht gerötet, die Spitze der gebogenen Nase ebenfalls. Auf den Oberlippen zeigte sich ein weicher, dunkler Flaum.

Das war der Mann ... sie erinnerte sich sogar an seinen Namen: Horst Seibel hatte er geheißen, nein, hieß er ... er war nicht tot, sondern lebte und war nach fünf Jahren Abwesenheit wieder zurückgekehrt.

»Wie lange waren Sie unterwegs?« Sie musste einfach reden, um die Furcht niederzukämpfen, die ihr Herz bedrohte. Christel Burger wäre es wohler gewesen, wenn sie jemand hätte rufen können. Aber ausgerechnet heute Nacht war sie allein im Haus. Das Wirts-Ehepaar nahm unten im Dorf an einer Familienfeier teil, und Monika, das zweite Mädchen, das normalerweise hier Dienst tat, lag mit einer Blinddarmentzündung im Krankenhaus. Vorbereitete Essen standen in der Küche und mussten nur aufgewärmt werden. Für kurze Zeit konnte man gut allein zurechtkommen, wenn man etwas vom Betrieb verstand. Und das war bei Christel Burger der Fall.

Heute hatte sie gezeigt, dass sie den Laden schmiss, wenn es darauf ankam. Es machte ihr auch nichts aus, im Haus allein zu sein und zu schlafen. Nur heute empfand sie Furcht bei dem Gedanken, sich auf niemand berufen zu können. Die Ankunft dieses Horst Seibel, der vor Jahren für so viel Aufregung gesorgt hatte, brachte sie verständlicherweise völlig durcheinander.

Der Mann nahm seinen Helm ab und fuhr sich durch das dicht anliegende, schwarze Haar. »Seit den frühen Morgenstunden«, antwortete er. »Ich war auf der anderen Seite des Berges.«

»Sind Sie sicher, dass ... Sie erst seit den frühen Morgenstunden unterwegs sind?«, fragte das Mädchen vorsichtig. Der Fall von damals lag so, dass Horst Seibel auch in den frühen Morgenstunden aufgebrochen war, um den ganzen Tag über auf Skiern unterwegs zu sein. Es gab zahllose Bergstationen und Abfahrten, und die Menschen, die in die Vorarlberger Alpen kamen, nutzten die oft nur kurze Anwesenheit weidlich aus.

Christel Burger hatte schon gehört, dass Leute manchmal ihr Zuhause verließen, einen plötzlichen Gedächtnisverlust durchmachten und dann ziellos durch die Gegend irrten. Oft verschwanden auf diese Weise Menschen wochen-, monate-, oder jahrelang. Manchmal auch für immer. Es konnte sein, dass in weit entfernten Orten die Polizei die Unglücklichen auftrieb, oder dass derjenige selbst plötzlich wieder zur Besinnung kam und nach Hause zurückfand. Aber in den tiefverschneiten Bergen, in der Einsamkeit und Abgeschiedenheit war einer, der einen solchen Gedächtnisverlust bekam, verloren.

Deshalb ärgerte sie sich über die Frage, die ihr so unerwartet schnell über die Lippen gerutscht war. Wenn es sich bei diesem Mann um den Verschwundenen handelte, musste er sich irgendwo aufgehalten und eine feste Unterkunft gehabt haben. Er hatte essen und trinken müssen, und das musste hier in den Bergen von weit herangeschafft werden. Da gab's nur bestimmte Möglichkeiten. Während der Winterzeit funktionierte der Betrieb zum Beispiel nur mit den Kabinenbahnen. Lebensmittel wurden vom Tal hochtransportiert und an die betreffenden Betriebe und Familien geliefert. Ein einzelner kam da ohne fremde Hilfe nicht durch, er musste auffallen. Je mehr Christel Burger über die Dinge nachdachte, desto weniger verstand sie die Zusammenhänge.

»Ja, heute Morgen ...«, antwortete der Mann auf ihre Frage und schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein. Er zupfte die gefütterten Handschuhe ab und legte sie achtlos auf eine Holzbank im Korridor. Christel Burger beobachtete jede seiner Bewegungen und wurde doch überrascht, als es geschah ...

Die Rechte des nächtlichen Besuchers sauste blitzschnell vor. Christel Burger schrie auf, als die kalte Hand plötzlich ihr Armgelenk umklammerte und sie nach vorn zog.

»Hilfe!« Der Schrei hallte durch das stille Haus, in dem niemand sie hörte. Und das schien der andere zu wissen. Die Angegriffene reagierte in ihrer Angst dennoch sofort und ziemlich heftig. Ruckartig stemmte sie sich gegen die Ziehbewegung des anderen und warf sich herum. Es raschelte trocken, im ersten Moment begriff Christel Burger dieses Geräusch nicht und wusste nicht, wo es herkam. Sie taumelte zurück und wurde nicht weiter auf den Mann zugerissen. Das war die Hauptsache. Aber sie fühlte noch immer die Umklammerung, wahrscheinlich als Nachwirkung. Die junge Frau blickte an sich hinunter, dann kam ein markerschütternder Aufschrei über ihre Lippen, der die Luft im Korridor erzittern ließ.

Die Hand des Fremden, hing an ihrem Armgelenk! Sie hatte sie ihm abgerissen ...

Sie wurde totenbleich, und alles in ihr sträubte sich gegen das, was sie sah.

»N-e-i-n ... das ist nicht wahr!«, röchelte sie.

Die Hand, musste eine Attrappe sein! Sie war braun und trocken und blutete nicht. Christel Burger starrte den Eindringling an und wich zurück. Die Hand fehlte tatsächlich, und an der Bruchstelle zeigte sich ebenfalls braunes, welkes Gewebe. Wie bei einer Mumie, die durch eine unachtsame Bewegung beschädigt war.

Dieser Mensch, lebte nicht mehr. Er war so etwas wie eine Mumie!

Die Siebenundzwanzigjährige versuchte die verdörrte Hand abzuschütteln. Sie hing an ihrem Armgelenk wie eine Klette, und es blieb Christel Burger nichts anderes übrig, als die Finger ihrer anderen Hand unter das Anhängsel zu schieben und die leblosen, mumifizierten Finger abzulösen. Der nächtliche Besucher, der sich unter einem Vorwand offensichtlich Zugang zum Gasthaus verschafft hatte, kam mit einem schnellen Schritt auf sie zu. Die verdörrte Hand fiel zu Boden und platzte auseinander. Das dabei entstehende Geräusch hörte sich an, als würde jemand trockenes Laub zwischen seinen Fingern zerreiben. Christel Burger agierte noch ehe der zweite Angriff erfolgte, überwand das Grauen, das sie erfüllte und versuchte mit der unheimlichen Situation so gut wie möglich fertig zu werden. Sie griff kurzerhand nach der Schneeschaufel, die an der Wand neben der Treppe stand, riss sie empor und ließ dann mit voller Wucht die Schaufel auf den ungeschützten Kopf herabsausen. Das dabei entstehende Geräusch erinnerte an entweichende Luft aus einem aufblasbaren Schwimmtier.

Der Kopf flog auseinander, war dünn wie vergilbtes Papier, leer und hohl. Das dünne, zerrissene Gespinst wirbelte durch die Luft, und Christel Burger begann an ihrem Verstand zu zweifeln. Das war ein Alptraum, aus dem sie nicht erwachen konnte ...

Der Unheimliche, der allen physikalischen Gesetzen zum Trotz nicht leben konnte und doch aktiv war, setzte seinen Weg fort, als sei nichts geschehen!

Für Christel Burger war dies alles zu viel. Sie sah den Kopflosen vor sich, war einen Moment lang wie erstarrt, und diese Sekunden genügten, dass ihr unheimlicher Widersacher mit der noch vorhandenen Hand zupacken und ihr die Schneeschaufel entreißen konnte, ehe sie zu reagieren vermochte. Umso schneller war diesmal der Mumifizierte.

Mit ruckartiger Bewegung riss er den langen Stiel herum, und Christel Burger bekam ihn voll gegen den Kopf. Sie hatte das Gefühl, als hätte sie ein Pferd getreten. Sie taumelte, verlor den Halt und konnte sich eben noch am Treppengeländer stützen und dadurch einen Sturz verhindern. Ihr Schädel dröhnte. Sie handelte mechanisch, als sie instinktiv beide Hände emporriss, um einen erneuten Schlag abzuwehren. Gleichzeitig taumelte sie auf der Treppe. Dort unter dem Dach lag ihr Zimmer. Sie musste sich in Sicherheit bringen und vor dem Monster verbarrikadieren.

Sie hörte das Zischen, als die Schneeschippe durch die Luft gezogen wurde, und sie um Haaresbreite verfehlte. Halb benommen vor Angst und Schmerz torkelte Christel Burger nach oben. Der unheimliche Mumien-Mann heftete sich an ihre Fersen. Die Fliehende warf keinen Blick zurück, aus Furcht, durch den Anblick des Verfolgers erneut einen Schock zu erleiden und wertvolle Sekunden zu verlieren. Es ging um Leben und Tod. Christel Burger handelte nur noch, ohne zu überlegen. Sie riss die Tür zu ihrem Zimmer auf, knallte sie sofort wieder ins Schloss und drehte mit zitternder Hand den Schlüssel herum. Der andere war jenseits der Tür! Damit gab es erst mal eine Barriere zwischen ihnen.

Schwer atmend und mit pochendem Puls blieb sie stehen und lehnte ihren heißen Kopf gegen die Tür. Wie unter einem Peitschenhieb fuhr Christel Burger zusammen, als von draußen gegen die Tür geschlagen wurde. Die Frau stieß sich ab. Ihre Hand zuckte zum Lichtschalter neben der Tür. Hell flammte die tiefhängende Deckenleuchte auf. Das Licht vertrieb die Schatten aus dem Zimmer, vermochte aber nicht, das Unheimliche und Gespenstische der ganzen Situation zu beseitigen. Mitten in dem freundlich eingerichteten Zimmer stand ein Tisch. Den packte Christel Burger zuerst, zog ihn herum und schob ihn vor die Tür. Nicht genug damit.

Sie musste sich verbarrikadieren und dem unheimlichen nächtlichen Gast so viel Hindernisse wie möglich entgegensetzen, um sein Eindringen zu erschweren ... denn, das war seine Absicht. Harte Schläge mit der Schaufel und schwere Tritte gegen die Tür zeugten davon. Christel Burger machte sich an dem kleinen Schrank neben der Tür zu schaffen. Er enthielt Wäsche und war zu schwer, um ihn hochzuwuchten. Da zog sie die Schubladen heraus, warf die zusammengelegte Wäsche auf den Boden und hob den Schrank dann auf den Tisch. Nach dreimaligem Ansetzen schaffte sie es. Laut und furchterregend hallten die Schläge und Tritte gegen die Zimmertür. Die Klinke wurde mehrmals bewegt. Mit Gewalt wurde an ihr gerissen, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis der unheimliche Verfolger die Tür aufbrach. Die Frau lief zum Telefon um Hilfe herbeizurufen. Bis die Polizei hier oben war, würde zwar einige Zeit vergehen, aber es gab immerhin jemand außer Haus, der über ihre prekäre Lage unterrichtet war. Und das war schon viel wert ...

Der Griff zum Telefon und die Notrufnummer mit der anderen Hand wählend, waren eins. Aber Christel Burger hörte kein Freizeichen und keinen Wählton. Die Leitung war tot! Bei der herrschenden Witterung konnte es passieren, dass die Verbindung ins Tal gestört war. Christel Burger begann zu schluchzen. Sie war von der Umwelt abgeschlossen und völlig auf sich allein gestellt.

Plötzlich begann die Deckenleuchte zu flackern.

Die Frau stand wie erstarrt. »Nein«, kam es über ihre Lippen. »Nicht ... auch das noch ...« Der zur Wirklichkeit gewordene Alptraum ging weiter ...

Die Glühbirne erlosch, schlagartig war es stockfinster. Dass im gleichen Augenblick auch die Zimmertür splitternd aufflog und gegen das von Christel Burger errichtete Hindernis knallte, wollte die an die Grenzen ihrer nervlichen Belastbarkeit geratene Frau schon nicht mehr glauben. Hier griff eins ins andere. Das kopflose, mumienhafte Geschöpf, das die Verfolgung nicht aufgab, schlug die Tür ein, und der lange Stiel der Schneeschaufel stocherte durch den entstandenen Spalt und schob den Schrank über die Tischplatte. Mit ohrenbetäubendem Krachen stürzte das Möbelstück vom Tisch. Der Glasaufsatz zersprang in Scherben. Der leichte Tisch reichte nicht mehr aus, um den Eindringling zu stoppen.

Er drückte den Tisch beiseite und drang ins Zimmer.

1. Kapitel

Wenige Minuten nach Mitternacht ...

Während Christel Burger namenloses Grauen erlebte, näherte sich über die Flexenstraße in langsamer Fahrt ein Auto. Im Licht der aufgeblendeten Scheinwerfer tanzten weiße Flocken. Das Schneegestöber war ungewöhnlich dicht. Rechts und links der schmalen Passstraße ragten weiße Hänge auf. Ein Teil der gefallenen weißen Pracht wurde durch hölzerne Aufbauten gestützt, um das Auslösen einer Lawine oder das Herabstürzen der Schneemassen auf die Straße zu verhindern. Die Frau, die ihren hellblauen VW in die Bergwelt lenkte, fühlte sich nicht ganz wohl in ihrer Haut. Bis Lech waren es noch einige Kilometer. Sie war praktisch in einen Wetterumsturz geraten, und wenn sie sich nicht beeilte, konnte es ihr passieren, dass in der nächsten halben Stunde die Zufahrt verschneit war und sie weder vor noch zurück konnte. Wegen einer Panne war sie später unterwegs. Am frühen Abend wäre sie normalerweise an ihrem Reiseziel angekommen, aber der unerwartete Aufenthalt in Bregenz hatte sich längere Zeit hingezogen.

Sie fuhr etwas schneller auf der kurvenreichen Strecke und kam sich auf der Straße, die sich an Felsen entlangzog, einsam und verlassen vor. Hinter der nächsten Kurve begann ein überdachter Abschnitt der Passstraße. Links zwischen den Säulen hingen hohe Schneewände, die den Blick ins Tal versperrten. Der Untergrund war holprig, die Straße beschädigt, und die Frau aus Hamburg musste mit der Geschwindigkeit noch weiter heruntergehen.

Plötzlich sah sie etwas Helles auf dem Boden liegen. Direkt vor dem Wagen. Sie reagierte instinktiv, bremste und hielt.

Was sie gesehen hatte, erinnerte sie an einen mit Goldbronze gestrichenen Korb. Der Deckel war verschoben, und es hing etwas heraus, das wie eine Perlenkette aussah. Da hatte jemand sicher etwas verloren.

Die aschblonde, sportliche Frau riss die Tür auf, stieg aus und ging um das Fahrzeug herum. Es war tatsächlich ein goldfarbenes, geflochtenes Körbchen, aus dem eine Kette heraushing. Noch ehe Angelika Haas sich danach bückte, registrierte sie jedoch aus den Augenwinkeln etwas anderes.

Eine schattenhafte Bewegung! Die junge Deutsche, die einen zweiwöchigen Urlaub in Lech verbringen wollte, wandte instinktiv den Kopf und sah aus dem Schatten neben der Einfahrt zum tunnelartigen Aufbau eine Gestalt auf sich zueilen. Gefahr, war ihr erster Gedanke. Eine Falle! Überfall. Da handelte die Frau nur noch, warf sich ans Steuer, gab Gas und warf mit Wucht die Tür an ihrer Seite zu. Der Motor des VW heulte auf, der Wagen schoss nach vorn. Steine wurden gegen die abstützenden Betonpfeiler geschleudert. Angelika Haas beschleunigte schnell und wurde in ihrem Fahrzeug durchgeschüttelt, dass sie das Gefühl hatte, auf einer speziellen Prüfstrecke zu sein.

Das Herz der jungen Frau schlug wie rasend, Schweiß perlte auf ihrer Stirn. Sie durchfuhr die Schlaglöcher, ohne die Geschwindigkeit zu drosseln und wünschte sich im Stillen, dass die Achsen des zehn Jahre alten Gefährtes dieser Beanspruchung standhielten.

Die Angst saß der Frau im Nacken. Sie warf einen schnellen Blick in den Rückspiegel, ohne jedoch etwas oder jemand wahrzunehmen.

Hatte sie sich getäuscht? War die Phantasie mit ihr durchgegangen?

Sie spürte ihr Herz bis zum Hals schlagen und gewann nur langsam die Fassung zurück. Der tunnelartige, nach einer Seite offene Anbau kam ihr endlos lang vor. Angelika Haas rechnete damit, verfolgt zu werden und dass jeden Augenblick jemand neben ihr auftauchte und die Tür aufriss. Diese Zwangsvorstellung veranlasste sie, trotz der riskanten Fahrbahn noch mehr Gas zu geben. Das wurde ihr schließlich zum Verhängnis.

Hinter der Überdachung folgte eine Kurve, und Angelika Haas, die in diesem Augenblick noch mal einen Blick in den Rückspiegel warf, bemerkte den Straßenverlauf drei Sekunden zu spät. Sie trat auf die Bremsen. Der Wagen rutschte um die Kurve, ohne dass seine Geschwindigkeit herabgesetzt war. Der frische Schnee auf der Fahrbahn war die Ursache dafür. Rund zwanzig Meter hinter der Kurve stand ein anderes Auto am Fahrbahnrand und hatte Blinklichter gesetzt.

»Verdammt! Auch das noch«, stieß die junge Hamburgerin hervor. »Muss der Kerl ausgerechnet da parken ...«

Sie erkannte, dass es zwei Kerle waren, und sie parkten nicht, sondern hantierten am Fahrzeug. Der eine Mann löste sich gerade davon und kam mit einem Warndreieck in der Hand um den Wagen herum. Angelika Haas steuerte augenblicklich gegen, konnte aber die Richtung nicht mehr beeinflussen. Sie rutschte genau auf das vor ihr stehende Auto zu. Die beiden Männer hatten die Gefahr längst erkannt und brachten sich mit kühnem Sprung zur Seite in Sicherheit. Sie landeten auf der entgegengesetzten Fahrbahn in einer hohen Schneeverwehung. Durch die Heftigkeit des Sprungs geriet ein Teil der weißen Pracht in Bewegung und rutschte auf die Straße.

Es rumste, als Angelika Haas Fahrzeug mit dem linken Kotflügel ans Heck des anderen Autos stieß. Das war auch ein VW, wie ihr eigener mit einem Dachträger bestückt und mit Skiern beladen. Die beiden Fremden liefen auf sie zu, als sie die Tür aufriss und nach draußen sprang.

»Alles okay, Miss?«, fragte der große Mann, der ihr auf Anhieb sympathisch war. Er hatte etwas an sich, das an einen großen, unbeschwerten Jungen erinnerte. Er trug eine gefütterte Lederjacke und eine blau-weiß gestreifte Pudelmütze, unter der blondes Haar hervordrang.

»Ja, alles okay«, antwortete Angelika Haas schnell. »Sie haben sich einen verdammt ungünstigen Platz ausgesucht.«

Während sie das sagte, ging sie schon um den Wagen herum und wollte sich einen Eindruck vom Umfang des Schadens machen.

»Sie fahren einen heißen Reifen, Towarischtschka«, schaltete der Begleiter des Blonden sich ein. Er hielt das Warndreieck noch in der Hand. Der Mann hatte einen roten Vollbart und nicht minder dichtes, rotes Haar, das wie eine Flut unter seiner Pudelmütze hervorquoll. Die war giftgrün und bestand aus dicker Wolle. Offenbar war die gute Kopfbedeckung mit viel Liebe selbstgestrickt worden. Der Mann sprach Deutsch mit russischem Akzent.

»Tut mir leid!« Angelika Haas zuckte die Achseln, während der Mann mit dem Bart zurücklief, um in angemessener Entfernung von der Unfallstelle nachfolgende Fahrzeuge aufmerksam zu machen. Angelika Haas seufzte. »So schnell wollte ich eigentlich nicht fahren ...« Der auffrischende Wind trieb ihr dichtes Schneegestöber ins Gesicht. »Heute geht aber auch alles schief ... Der Urlaub fängt schlecht an ...«

»Alles halb so wild«, meinte der blonde Mann, der akzentfreies Deutsch sprach. »Es hätte ärger kommen können. Vielleicht schickt Sie uns das Schicksal.«

»Das versteh ich nicht.«

»Ganz einfach, Miss ...«

»Angelika«, stellte sie sich vor.

»Okay. Ich heiße Larry.«

»Sie sind Engländer oder Amerikaner?«, fragte sie überrascht.

»Amerikaner.«

»Aber Sie sprechen akzentfrei meine Sprache.«

»Ich hab fleißig gelernt ... Das hier ist Iwan«, sagte Larry Brent, als der breitschultrige Mann um die Kurve wieder herumkam und sich näherte.

»Russe?«

»Erraten, Towarischtschka«, nickte Kunaritschew. »Dabei sprech ich auch akzentfrei ... Ich steh vor einem Rätsel, wie Sie das bemerkt haben.« Er streckte ihr die Hand entgegen. Angelika Haas kleine Rechte verschwand zwischen den mächtigen Fingern des Russen. Die Hamburgerin erwartete, dass er ihr mit einem Griff die Finger quetschen würde. Aber der Druck seiner Hand war sanft.

»Sie brauchen nicht das Gesicht zu verziehen«, meinte Iwan, dem der Ausdruck nicht entgangen war. »Wenn ich Damen begrüße, tue ich das immer zurückhaltend. So, nun wollen wir mal sehen, was Sie alles angestellt haben, und wie wir den Schaden zur beiderseitigen Zufriedenheit beseitigen können.«

Angelika Hass wandte sich an Larry Brent. »Was haben Sie vorhin gemeint, als Sie sagten, dass ich eine schicksalhafte Bedeutung für Sie beide haben könnte?«

X-RAY-3 lächelte. »Kurz vor Ihrem Auftauchen blieb uns der Motor stehen. Der Verleiher des Fahrzeugs hatte zwar seine Bedenken, als er es uns überließ, aber er hatte kein neueres Auto in seinem Wagenpark, und so mussten wir mit diesem da vorliebnehmen. Aber wir waren zuversichtlich, dass nichts schief gehen würde. Doch das war ein Irrtum. Um diese Zeit und bei solchem Wetter ist kaum jemand unterwegs, und der Gedanke, vielleicht zu Fuß in den nächsten Ort laufen zu müssen, war uns unbehaglich. Unter Umständen können wir gemeinsam in Ihrem Auto weiterfahren.«

»Geht nicht!«, ließ Iwan Kunaritschew sich vernehmen, der den aufgefahrenen Wagen kurzerhand herumgehoben und einen halben Meter zurückgeschoben hatte. Dabei war die Haube des VW aufgesprungen. Kunaritschew schob seine Pudelmütze zurück und kratzte sich im Nacken. »So etwas«, sagte er kopfschüttelnd, »habe ich aber auch noch nicht erlebt, Towarischtsch.«

»Was ist denn los, Brüderchen?«

Schnell war Larry auf seiner Höhe, und auch die Fahrerin des Unglücksfahrzeugs blieb an seiner Seite.

»Schau dir das an!« Kunaritschew klappte den Deckel ganz in die Höhe. »Kein Motor drin ...«

Angelika Haas fielen die Mundwinkel herab. Der Russe sah todernst drein. »Kein Wunder, dass sie uns auf diese Weise getroffen hat. Ich nehme an, Sie haben unten am Berg mal kurz und kräftig Gas gegeben und sind dann auf der glatten Fahrbahn nach oben gerutscht ... Da wir Ihnen im Weg standen, sind Sie endlich zum Halten gekommen.«

Die Hamburgerin glaubte nicht richtig zu hören. Ihr verschlug es die Sprache, und hilflos sah sie von dem einen zu dem anderen Mann.

»Aber sie brauchen sich deshalb keine grauen Haare wachsen zu lassen«, fuhr der Mann mit dem roten Vollbart munter fort. »Hier ...« Mit diesen Worten zog er die Heckklappe an dem von ihnen gemieteten VW auf. »Das habe ich gerade entdeckt, ehe Sie uns in die Quere kamen, Towarischtschka ... Wir haben im Kofferraum einen Motor, den können Sie haben ...«

Angelika Haas schluckte trocken, als würge sie ein Kloß im Hals.

Da veränderte sich der todernste Ausdruck auf dem Gesicht des bärtigen Mannes, und er grinste von einem Ohr zum anderen. Larry Brent unterdrückte noch sein Lachen, aber Angelika Hass lachte befreit auf und atmete tief durch. »Jetzt ist es Ihnen aber gelungen, mich zu schockieren. Und ich dachte schon, Sie wüssten nicht, dass VWs einen Heckmotor haben.«

Sie kamen überein, den Wagen der jungen Hamburgerin fahrbereit zu machen. Er hatte nur Blechschaden, während bei dem Mietfahrzeug offenbar der Motor den Geist aufgegeben hatte und eine Reparatur in kurzer Zeit nicht möglich war. Genau darauf kam es aber an. Je länger sie sich hier aufhielten, desto größer wurde das Risiko, dass sie auf dem letzten Teil der Passstraße stecken blieben und in eine noch kritischere Situation gerieten. Mit wenigen Handgriffen machten Larry Brent und Iwan Kunaritschew, die sich wie Angelika Haas auf dem Weg in den Urlaub befanden, um Wintersport zu treiben, den Wagen wieder startklar.

Einmal im Jahr zweigten Larry und Iwan sich von ihrer knappen Zeit eine Woche ab, um die Berge, Schnee und endlose Abfahrten zu genießen. Einmal im Jahr trafen sie sich mit Freunden, die wie sie Skiurlaub machten. Das waren Roy, Jim und Marlies, für die diese Region fast zur zweiten Heimat geworden war.

Iwan und Larry stopften ihr Gepäck auf den Rücksitz, schnallten die Bretter ab und befestigten sie, so gut es ging, auf dem Träger des Hamburger Wagens. Sobald sie in Lech ankamen, wollten sie telefonisch einen Reparaturdienst verständigen. Bei den Witterungsverhältnissen war kaum damit zu rechnen, dass der defekte Wagen vor Tagesanbruch geborgen und weggebracht werden konnte. Das Fahrzeug war ausreichend gesichert, doch wenn der Schneefall anhielt, würde in einer halben Stunde nicht mehr viel von dem Auto zu sehen sein.

Iwan Kunaritschew sollte auf den Rücksitz klettern, wo es noch einen handgroßen Sitzplatz gab. Alles andere war mit Taschen und Koffern verbarrikadiert. Jeden Zentimeter freien Raum hatten sie genutzt, um alles unterzubringen. Angelika Haas hoffte, dass ihr fahrbarer Untersatz der Belastung gewachsen war. »Keine Angst, Towarischtschka!«, beruhigte der Russe sie. »Ich knicke die Schultern im schrägen Winkel ab, ziehe den Bauch ein, lege den linken Arm um den Nacken, den rechten schiebe ich unters Kniegelenk, und wenn es mir dann noch gelingt, die Beine an die Brust hochzuziehen, dürfte das alles kein Problem mehr sein. Und wenn der Bursche mit der weiß-blauen Pudelmütze nicht mehr auf den Beifahrersitz passen sollte, weil dort sein Koffer parkt, dann setzen wir ihn als Ausguck auf den Dachgepäckträger ...«

Larry wollte etwas erwidern als er im Ansatz des Sprechens innehielt. Der Motor lief bereits, und Angelika Hass zog ihren Mantel weiter nach innen, damit der noch draußen stehende Larry die Tür zur Fahrerseite schließen konnte. X-RAY-3 stutzte.

»Heh, Miss Angelika«, sagte er leise. »Fühlen Sie sich wirklich gut?«

Sie sah ihn erstaunt an. »Ja, natürlich. Warum fragen Sie mich das, Larry?«

Sie folgte seinem Blick, der auf die linke Seite ihres Mantels gerichtet war. Larry ging in die Hocke.

»Sie bluten, Angelika!«

»Unsinn«, entfuhr es ihr.

Die Deutsche sah instinktiv auf ihre Hände. Sie waren unverletzt. »Aus welchem Grund sollte ich bluten?«, fragte sie schnell. »Bei dem Zusammenstoß sind nicht mal die Scheiben gesprungen, und ich bin auch nicht nach vorn geschleudert worden.«

Ihre Stimme war leiser geworden, als Larry Brent den linken Zipfel ihres Mantels vorsichtig hob und den Stoff spannte. Angelika Haas schrie auf. Auf der Seite befand sich ein großer, dunkler Blutfleck. Blut, das noch frisch war!

Von ihr konnte es nicht sein. Das stand fest. Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.

»Vorhin«, sagte sie mit leiser Stimme. »Das war der Grund, weshalb ich zu schnell gefahren bin ... ich befand mich auf der Flucht ...« Durch den gleich nach dem seltsamen Ereignis eingetretenen Unfall hatte sie das Geschehen zuvor völlig vergessen. Aber nun war mit einem Mal alles wieder da. Stockend berichtete sie von dem Zwischenfall und erbleichte, als Larry Brent sie bat auszusteigen. Die ganze Zeit über waren sie mit allem möglichen beschäftigt gewesen, so dass der Blutfleck am Mantel der jungen Frau nicht aufgefallen war. Aber seine Entdeckung ... führte nun zu weiteren Entdeckungen ...

Blutverschmiert war auch die Innenkante der Fahrertür, Blutspritzer an der Seite des Fahrersitzes und auf der Matte! Vorsichtig schob X-RAY-3 die flache Hand darunter und fühlte einen kleinen harten Gegenstand. Gleich daneben lag ein weiterer, der fühlte sich genau so an, war nur etwas kleiner. Larrys Lippen wurden zu einem schmalen Strich.

Er war fündig geworden, und es war das, was er nach Angelika Haas Erzählung erwartet hatte, zu entdecken.

»Finger«, sagte er rau, »vier Finger der linken Hand ... Derjenige, der Sie überfallen wollte, Angelika, war Ihnen schon auf Tuchfühlung nahe, als Sie die Tür zuschlugen und starteten.«

Ich bin verloren, schrie es in ihr, als die kopflose dunkle Gestalt wie ein Geist aus einer unfassbar grauenvollen Welt auf sie zusteuerte. Christel Burger war zu einem klaren Gedanken schon lange nicht mehr fähig. Es gab nur noch einen Ausgang: die Tür zum Balkon. Der lag im ersten Stock. Aber auch die zusammengeschobenen und aufgeworfenen Schneemassen rund ums Haus waren so hoch, dass sie noch einen halben Meter höher lagen als der Boden des Balkons. Christel Burger geriet in der Eile auf dem frischgefallenen Schnee fast ins Rutschen, fing sich noch mal und umklammerte die eisige, schneebedeckte Stange der Balkonbrüstung. Die Bedienung kletterte über die Stange hinweg, hinaus auf den harten, aufgetürmten Schnee. Sie lief über den Schneehügel nach unten. Ihr war plötzlich eine verzweifelte Idee gekommen, die sie schnell ausführen musste, ehe die unheimliche Bestie wieder auftauchte.

Die junge Frau erreichte den schmalen, freigeschaufelten Pfad, der zum Eingang des Gasthauses führte. In einer speziellen Vorrichtung standen die Ski und die Stangen. Da gab's kein Überlegen. Sie musste jede Sekunde nutzen. Christel Burgers Herz jagte, und ihr Atem flog. Sie riss die Bretter aus dem Ständer und stieg in die Halterung. Ihre leichten Schuhe waren zu klein und fanden keinen rechten Halt. Sie konnte sich das Genick brechen, wenn sie in Fahrt kam. Aber daran dachte sie in diesen Sekunden nicht, stieß sich ab, rutschte auf der festen Schneedecke den Weg entlang, der vom Haus wegführte, und kam nur langsam voran. Sie hatte in den viel zu großen Überschuhen nur einen erbärmlichen Halt und meinte, zum ersten Mal in ihrem Leben auf Brettern zu stehen. Christel Burger kam wieder an den Schneehügel heran, der sich drei Meter hoch neben dem Haus türmte. Und dort oben, erblickte sie den Kopflosen!

Der Alptraum ging weiter ...

Ein Stöhnen drang aus Christel Burgers Kehle. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es möglich war, dass der Unheimliche sie überhaupt noch registrierte. Ohne Kopf ... ohne Augen, wie er war.

»Ich kann nicht mehr«, kam es kraftlos über ihre Lippen. Am liebsten wäre sie auf der Stelle stehen geblieben und hätte alles über sich ergehen lassen. Aber das brachte sie dann doch nicht fertig. Sie mobilisierte alle Kräfte, missachtete die Kälte, die durch ihre nur unzureichende Kleidung in ihren Körper kroch, und stemmte sich gegen die Stäbe. So brachte sie fünf Meter hinter sich, zehn Meter ...

Der Unheimliche stapfte den Schneehügel hinunter auf sie zu! Er kam schnell näher.

Christel Burger schien es wie eine Ewigkeit, auf der ebenen Strecke nochmals zehn Meter zurückzulegen, ehe der Boden sich langsam senkte und auf die steiler ins Tal führende Piste mündete. Die Frau meinte, im Schneckentempo voranzukommen, ehe sie auf die Piste rutschte. Die steile Abfahrt war im dichten Wirbel der Flocken kaum zu erkennen. Christel Burger gab sich einmal Schwung, sah von der Seite her den Schatten des Unheimlichen, und das ließ sie alles andere, Vorsicht und Zurückhaltung, vergessen. Sie kam in Fahrt.

Sie hatte kaum Stand auf den wackligen Brettern, aber jetzt kam es nicht darauf an, dass sie eine gute Figur machte, sondern dass sie den Abstand zwischen sich und dem Monster so schnell wie möglich vergrößerte. Der Wind pfiff ihr um die Ohren, zerzauste ihr Haar, und die scharfe, kalte Luft schnitt wie ein Messer in ihre Haut. Sie zitterte wie Espenlaub und wusste, dass diese Fahrt talabwärts nicht ohne gesundheitliche Folgen bleiben würde. Die junge Frau warf den Kopf herum und starrte auf die weiße Fläche hinter sich. Kein Verfolger war in Sicht. So jubelte sie innerlich, obwohl sie sich elend fühlte.

Die Fahrt wurde immer schneller, und Christel Burger hatte Schwierigkeiten, sie zu beeinflussen. Durch den schlechten Stand war es kaum möglich. Sie überließ sich der Geschwindigkeit, das war am einfachsten. Das Schneegestöber war so dicht, dass die Dunkelheit vor ihr aufragte wie eine schwarze, undurchdringliche Wand. Christel Burger kannte die Strecke und war sie schon mehrfach gefahren, sowohl mit Skiern als auch mit der Kabinenbahn, deren armdicke Trossen sich unweit dieser Piste etwa fünfzig Meter über ihr spannten. In Dunkelheit und Schneetreiben konnte sie sie jedoch nicht wahrnehmen. Die Trossen der Gondelbahn führten von der rund dreihundert Meter tiefer liegenden Station bis nach Oberlech. Die Lichter des Ortes konnte Christel Burger noch nicht erkennen, obwohl nach ihrem Gefühl noch höchstens zweihundert Meter Abfahrt vor ihr lagen.

Da ging es wie ein Ruck durch ihren Körper, und Christel Burger glaubte, an gewaltigen Gummibändern zu hängen, die plötzlich straff gezogen wurden. Ihre Fahrt verlangsamte sich und kam zum Stillstand, und zwar so heftig, dass die junge Frau meinte, sämtliche Knochen im Leib würden ihr gebrochen. Sie stand mitten auf der Strecke!

Eine Sekunde lang ... dann ging die Fahrt weiter. Aber auf eine Weise, die sie entsetzte. Nicht mehr sie beherrschte die Bretter, auf denen sie stand, sondern die Ski beherrschten sie! Es ging rückwärts bergauf, als würden die unsichtbaren Bänder nun eingezogen ...

Immer schneller wurde die Fahrt. Auf der Spur, auf der sie ins Tal gefahren war, ging es rasend schnell zurück! Christel Burger konnte weder Richtung noch Geschwindigkeit beeinflussen. Sie hatte die Ski-Stöcke wie verlängerte Arme von sich gestreckt und war außerstande, sie einzusetzen. Der gegen sie strömende Luftzug war so stark, dass er die Stöcke nach vorn trieb.

Christel Burger schrie. Gellend hallte ihr Schrei durch die Kälte der Nacht, durch Schneetreiben und die Einsamkeit der Berge. Hier war niemand, der sie hörte. Immer höher ging es hinauf in einer rasenden, wilden Fahrt, die allen Naturgesetzen hohn sprach. Aber existierten für sie überhaupt die Naturgesetze noch?

Schon das Erlebnis mit dem Mann, der nach fünf Jahren wieder auftauchte, und sich als eine Art Zombie, als ein Untoter, herausstellte, passte nicht in diese Welt und diese Zeit. Hier spukte es, und zwar in einem unerträglichen Maß.

Christel Burger erreichte die Höhe des Gasthauses, in dem sie wohnte. Anheimelnder, einladender Lichtschein ganz in der Nähe. Und Wärme! Aber alles blieb unerreichbar für sie. Höher ging die Fahrt, und schneller wurde sie ...