Larry Brent Classic 046: Die Jenseitskutsche - Dan Shocker - E-Book

Larry Brent Classic 046: Die Jenseitskutsche E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Jenseitskutsche von Diablos Eine merkwürdige Kutsche taucht urplötzlich vor dem Wagen eines Urlauberehepaares auf. Ebenso urplötzlich verschwindet sie wieder. Doch das ist erst der Auftakt in einem rasenden Abenteuer. Die Kutsche kommt und entführt die Menschen. Bringt sie fort an einen unbekannten Ort. Irgendwann tauchen sie wieder auf, sind aber seltsam verändert, und scheinen um Jahrzehnte gealtert. Eine Legende ist Wahrheit geworden - Die Jenseitskutsche von Diablos. Larry Brent erlebt zusammen mit Morna ein spannendes Abenteuer in Spanien. Küß niemals Choppers Geisterbraut Nahe der Stadt Köln geschieht Furchtbares und Unerklärliches. Mitten in einem Familienstreit der Scharners ertönt die Stimme eines Geistes, der sich als Chopper vorstellt. Dieser übernimmt kurz darauf den Körper des Vaters, der wenig später einen grauenvollen Tod stirbt und dabei aussieht, wie mit Säure übergossen. Der Chopper wandert weiter und nimmt den Körper der Mutter in Besitz. Der Hexe Marina ist es gelungen, den Chopper erneut zu rufen, doch es ist ein Fehler passiert und so kann der Dybuk nur kurz die Körper anderer Menschen übernehmen, bevor diese sterben.

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DAN SHOCKERS LARRY BRENT

BAND 46

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Fachberatung: Robert Linder

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

978-3-95719-846-4

Dan Shockers Larry Brent Band 46

DIE JENSEITSKUTSCHE

Mystery-Thriller

Jenseitskutsche von Diablos

von

Dan Shocker

Prolog

Die enge Straße führte steil und kurvenreich nach oben. Der silbergraue Audi CD 5E mit deutschem Kennzeichen schaffte die Steigung bequem. Zwei Personen saßen im Fond des Fahrzeugs. Ein Mann und eine Frau. Die Beifahrerin hatte sich zurückgelehnt und warf aus halbgeschlossenen Augen einen Blick auf die grünleuchtenden Ziffern der Uhr am Armaturenbrett. Zehn Minuten vor Mitternacht ...

Draußen war es stockfinster. Das Scheinwerferlicht riss die links und rechts neben der Straße emporwachsenden Dämme vorübergehend aus dem Dunkel. Hin und wieder tauchte im Lichtkreis ein verkrüppelter Baum oder dorniges Gebüsch, das bis an den Straßenrand wuchs, auf. Einsamkeit umgab die beiden Menschen. Der nächste Ort lag rund fünfzehn Kilometer entfernt. Petra Strauß seufzte. Die Stuttgarterin räkelte sich auf ihrem Sitz und wusste nicht mehr, wo sie mit ihren langen Beinen noch hin sollte. »Wir haben einen Fehler begangen«, sagte sie leise. »Die Fahrt abseits der großen Verkehrsstraße war interessant, solange es hell war. Aber in der Dunkelheit macht's verdammt wenig Spaß. Wir hätten früher aufbrechen oder die Nacht in Almeria bleiben sollen.«

Das war ihre letzte Station am Tag gewesen. Sie hatten sich in der Stadt an der Küste, in der es so viel zu besichtigen gab, zu lange aufgehalten. Erst am frühen Abend waren sie dort aufgebrochen und hatten unterwegs noch in einer am Straßenrand liegenden Bodega eine Kleinigkeit zu sich genommen. Wären sie auf der üblichen Fernstraße erst in Richtung Mortil und von dort aus nach Granada gefahren, hätten sie im Bruchteil der Zeit die Strecke hinter sich gebracht. Darauf aber war es ihnen diesmal nicht angekommen. Seit Jahren reisten sie nach Spanien, in den äußersten Süden Andalusiens, und schon lange hatten sie sich vorgenommen, die übliche Route mal zu verlassen und quer durch die Sierra Nevada zu fahren.

Hans Marner, der neununddreißigjährige selbständige Kaufmann, der zusammen mit Petra Strauß zwei Damen-Modegeschäfte führte, musste ihr recht geben. »Ich hab mich eindeutig mit der Zeit verrechnet«, sagte er und nickte besorgt. Auch ihn strengte die Fahrt durch die Berge an. Die äußerst schmale und sich in schlechtem Zustand befindende Verbindungsstraße verdiente die Bezeichnung Straße überhaupt nicht. Der Untergrund, über den die Räder rollten, war ohne Belag, und die Fahrt durch die zahlreichen Schlaglöcher wurde zu einer einzigen Schaukelei. »Wenn wir an einem Haus vorbeikommen, das nur entfernt nach einem Hotel aussieht, halten wir, Petra, und setzen unseren Weg nicht mehr fort.«

»Um diese Zeit wird uns wohl kein Mensch mehr aufnehmen.«

Minutenlang herrschte nach diesem kurzen Dialog wieder Schweigen. Nur das gleichmäßige Geräusch des Motors war zu hören und die dumpfen Laute, wenn der Wagen mal wieder durch ein unerwartet tiefes Schlagloch fuhr. Hans Marner und Petra Strauß hatten das Gefühl, die einzigen Menschen auf der Welt zu sein. Hier, mitten in der Sierra Nevada, kam kein anderes Fahrzeug hinter ihnen her, und es begegnete ihnen auch keines. Petra empfand ihr Verhalten als leichtsinnig. Wenn sie in Nacht und Abgeschiedenheit eine Panne hatten, wurde es kritisch. Dann saßen sie fest, und es schien ausgeschlossen, in der Dunkelheit noch bis zum nächsten Haus oder Dorf zu Fuß zu laufen.

Eine Neunzig-Grad-Kurve lag vor ihnen. Der Untergrund war hier für ein kurzes Stück asphaltiert. Die Reifen griffen besser. Das Auto bog um die Kurve. Und, da war etwas ...

»He!«, entfuhr es Hans Marner, und er trat instinktiv auf die Bremse. Direkt vor ihm überquerte eine dunkle Kutsche die Straße. Marner glaubte noch verschwommen eine helle Gestalt auf dem Kutschbock wahrgenommen zu haben und zwei Rappen, die das Gefährt zogen. Aber dann war der Eindruck auch schon wieder verschwunden.

Durch das plötzliche Bremsen fiel die schläfrige Beifahrerin nach vorn. »Was ist denn passiert?«, fragte die dunkelblonde Mittdreißigerin erschrocken. »Warum hältst du denn?«

»Da war etwas ...«

Die Frau war sofort hellwach und starrte auf die enge, von grasbewachsenen Hügeln begrenzte Straße. Quer durch die Hügel lief eine Schneise. »Was sollte hier schon sein?«

»Eine Kutsche ...« Er sagte, was er gesehen hatte.

»Ich kann nichts hören und nichts sehen, Hans.«

»Sie ist nicht mehr da.« Marner starrte durch die Frontscheibe. Nicht mal das Rattern der Räder war zu vernehmen. Petra Strauß atmete tief durch und strich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Eine Kutsche, Hans, kann sich nicht in Luft auflösen. Du bist eingeschlafen ... du hast geträumt ...«

»Unsinn! Ich weiß genau, was ich gesehen habe.«

Die junge Frau sah ihn betroffen von der Seite an. »Dann müsste sie noch da sein! Du bist müde. Kein Wunder nach der langen Fahrt. Die Dunkelheit draußen, die Eintönigkeit ... plötzlich sackt man für einen Moment weg, und man glaubt Dinge zu sehen und zu hören, die gar nicht vorhanden sind ... eine Pferdekutsche, Hans! Bedenk mal, was du da sagst. In dieser Höhe ... in dieser Umgebung ... wenn du noch einen Karren gesehen hättest, vor dem Maultiere gespannt waren. Das würde besser hierher passen.«

Hans Marner blieb stur bei seiner Meinung. »Ich bin vollkommen frisch und munter.« Während er das sagte, zog er die Handbremse und öffnete die Tür.

»Was hast du vor, Hans?«

»Ich seh' mich mal um.« Er lauschte in die Stille der sternenlosen Nacht. »Nichts zu hören. Vielleicht steht das Gefährt noch hinter dem Erdhügel auf der linken Straßenseite ...« Marner schwang die Beine nach draußen.

»Bleib hier ...« Petra Strauß beugte sich zur Seite und hielt den dunkelhaarigen Mann am Ärmel seiner Jacke fest. »Ich möchte nicht allein hier im Wagen sitzen bleiben.«

»Nanu?« Hans Marner drehte sich zu ihr um und blickte sie belustigt an. »Angst?«

»Wenn du so direkt fragst ... ja!«

»So was kenn ich ja gar nicht an dir.«

»Lass uns weiterfahren. Wirklich nur bis zum nächsten Ort, ehe du nochmal einschläfst und Pferdekutschen siehst, wo keine sind.«

»Ich geh nicht weit«, erwiderte er und löste sich von seiner Begleiterin. »Nur bis zur Schneise ... ich bleib auf Sichtweite.« Die Frau beobachtete aufmerksam jeden seiner Schritte. Die Schneise war nur etwa zehn Meter von dem mitten auf der Straße stehenden Fahrzeug entfernt. Die Scheinwerfer leuchteten die schmale Verbindungsstraße in ihrer ganzen Breite bis zur nächsten Kurve aus. Hans Marner lief nach oben und dann auf die Schneise zu. Er ließ die Taschenlampe, die er aus dem Handschuhfach mitgenommen hatte, aufflammen. Der helle Strahl wanderte den Weg entlang, der sich auf den Hügel hochschlängelte.

Weit und breit war nichts von der Kutsche zu erblicken, die der Deutsche zu sehen geglaubt hatte. Auch auf dem Boden waren keine Eindrücke zu erkennen, die auf Räder zurückzuführen wären. Marner kratzte sich im Nacken und kehrte zu seinem Wagen zurück. Der Tourist fragte sich, ob Petra nicht doch recht hatte und er vielleicht für den Bruchteil einer Sekunde eingeschlafen war und geträumt hatte. Achselzuckend nahm er wieder am Steuer Platz, löste die Handbremse und fuhr langsam an. Petra Strauß zog ihn noch eine Weile mit seiner Traum-Vision auf, setzte sich kerzengerade hin, und beobachtete aufmerksam die Straße. »Mal sehen, wer als nächstes 'ne Kutsche sieht«, konnte sie sich die Bemerkung nicht verkneifen. Sie wollte noch etwas hinzufügen, als sie plötzlich stutzte.

»Da ist jemand!«

Ihr Begleiter und Lebensgefährte sah es im gleichen Augenblick. Mitten auf der Straße stand ein Mann. Er war alt, grauhaarig und wirkte sehr schwach. Mühsam hob er eine Hand, während er die andere zu den Augen führte, um sie vor dem grellen Scheinwerferlicht zu schützen. Instinktiv schaltete Hans Marner das Fernlicht herunter. »Allerhand Betrieb mitten in der Sierra Nevada«, sagte er. »Erst die Kutsche ... jetzt ein einsamer Spaziergänger ... Und ich habe geglaubt, wir wären um diese Zeit die einzigen, die unterwegs sind!« Marner hielt erneut an. Der Mann stand gebückt vor der Kühlerhaube und gab mit schwachen Handbewegungen zu verstehen, dass er das Stoppen des Fahrzeuges erwartete. »Vielleicht braucht er Hilfe«, meinte Marner. »Sei vorsichtig«, wisperte die dunkelblonde Frau. »Es kann eine Falle sein.«

»Unsinn! Doch nicht dieser alte Mann!«

»Man warnt immer wieder vor Tricks. Es werden Unfälle oder dergleichen vorgetäuscht, um ahnungslose Touristen auszurauben.«

»Du liest zu viele Revolverblätter, Liebes«, seufzte Marner. »Der Mann sieht nicht aus wie ein Verbrecher, sondern eher wie jemand, der wirklich Hilfe braucht.«

»Vielleicht hat man ihn vorgeschickt ...« Petra Strauß blieb hartnäckig. »Es gab schon Fälle, da lagen Menschen regungslos mitten auf der Straße, um Autofahrer zum Halten zu zwingen ... oder man hat eine Panne vorgetäuscht und um Hilfe gebeten ... Vergiss nicht, dass wir mitten in den Bergen sind, und weit und breit niemand ist, der uns helfen könnte.«

»Ist doch töricht! Niemand lauert in Nacht und Einsamkeit darauf, dass vielleicht ein Fahrzeug vorbeikommt ... Aber du kannst beruhigt sein, ich bleib im Wagen, der Mann kommt auf uns zu ...« Hans Marner kurbelte das Fenster herunter und beobachtete den Fremden, der schwach und kraftlos um den Wagen herumkam und sich an dem Auto festhielt, als bereite es ihm Mühe, auf den Beinen zu stehen. Der Mann war uralt! Aus der Nähe sah er aus wie eine vertrocknete Mumie mit dünnem, schlohweißem Haar und einer Haut, die sich wie brüchiges Pergament über die Knochen spannte. Seine Lippen waren schmal und blutleer. »Habla Espanol?«, fragte er mit dünner Stimme. »Sprechen Sie Spanisch?«

»Si, un poco ... ein wenig...« Marner konnte sich in dieser Sprache recht gut verständigen.

»Helfen Sie mir ... por favor ... bitte.« Die Stimme des Alten war wie ein Hauch. Seine knochigen Finger krallten sich in die Ablaufrinne des Fahrzeugdachs. Petra Strauß ließ ihre Blicke in die Runde schweifen, um rechtzeitig jede verdächtige Bewegung am Straßenrand und im Schatten der verkrüppelten Bäume auf den Hügeln zu erkennen. Der Motor lief. Wenn sich das Ganze als eine Falle herausstellte, hatte Marner immer noch die Chance, schnell durchzustarten. Aber alles blieb ruhig. »Wie kommen Sie hierher?«, wollte Marner wissen.

Achselzucken ... »Weiß nicht.« Der Alte deutete erst die Straße nach oben, stutzte dann, zeigte nach unten und schüttelte den Kopf. »Ich hab's vergessen.« Er wirkte überzeugend. Offensichtlich irrte der Mann schon seit Tagen durch die Einsamkeit. Er litt unter Gedächtnisschwund und wusste nicht, woher er stammte. »Name?«, fragte Marner. Einige Sekunden verstrichen, ehe die Antwort erfolgte. »J-u-l-i-o ...«, kam es zögernd.

»Wie weit sind wir noch vom nächsten Dorf entfernt?«, wandte sich Marner an seine Freundin, flüchtig den Kopf drehend. Petra zog die aufgeschlagene Karte aus dem offenen Fach unter dem Handschuhfach. »Wir sind jetzt hier ...« Petra legte ihren Zeigefinger auf eine dünne rote Linie, die sich stark gewunden in die Berge schlängelte. »Ich würde sagen, dass wir noch etwa zehn Kilometer von Trevelez entfernt sind. Das liegt ganz tief im Gebirge. Wir machen einen riesigen Bogen, aber die Straße führt nur da entlang. Bei ihrem Zustand und der Steigung schätze ich, dass wir noch eine halbe Stunde unterwegs sind.« Schneller als im Schritttempo kamen sie derzeit kaum voran.

»Bueno, steigen Sie ein ... Sind Sie verletzt?« Hans Marner fragte es unvermittelt, als er sah, dass der Mann sich plötzlich an die Stirn griff und torkelte. Ein plötzlicher Schwächeanfall, der ebenso schnell wieder verging, wie er eingetreten war. Nun stieg Marner doch aus und öffnete die Hintertür. Er war dem Alten, der sich dünn und leicht anfühlte, beim Einsteigen behilflich.

»Wir fahren nach Trevelez«, sagte er und beugte sich zu dem Mann nach hinten. »Kennen Sie diesen Ort?« Große dunkle Augen, die tief in den Höhlen lagen, starrten ihn verständnislos an. Der Mann schien die klar und in gutem Spanisch gesprochenen Worte nicht verstanden zu haben.

Mit zusammengesunkenen Schultern saß er hinter dem Deutschen und röchelte. »Behalte ihn im Auge«, flüsterte der Fahrer der Frau an seiner Seite zu. Petra nickte. Der Audi zog wieder an. Die typische Landschaft der Sierra Nevada setzte sich auch nach der nächsten Kurve fort. Eine Zeitlang lag die Straße auf gleichbleibendem Niveau, ehe sie dann wieder steil anstieg. Dann kam der Bogen, von wo es noch mal tief in die Bergwelt ging. Hin und wieder warf Petra Strauß einen verstohlenen Blick in den Innenspiegel oder drehte auch leicht den Kopf. Der Alte saß da wie eine Puppe, starrte gedankenversunken vor sich hin und änderte kein einziges Mal seine Haltung.

Dann waren sie auf der Höhe. Der Wind pfiff über die Hügel und peitschte die dürren Gräser am Straßenrand. Zwei, drei Minuten vergingen ...

Hier oben war die Straße in erbärmlichem Zustand und so eng, dass Hans Marner manchmal den Atem anhielt, wenn er die nächste Kurve nahm. Die Schluchten rechts fielen steil ab. Gefährliche Schlünde taten sich da auf. Er musste sich noch mehr auf die Fahrt und die Umgebung konzentrieren. Plötzlich zuckte er zusammen, als Petra an seiner Seite aufschrie.

»Hans!«

Sein Kopf flog herum.

»Der Fremde ... hinter dir ... ist, verschwunden!«

1. Kapitel

Im Central-Park von New York wurde es gerade Abend. Auf der Zufahrt zum Tavern on the Green, einem der populärsten Speiselokale der Stadt, rollte ein knallroter Lotus Europa dem Parkplatz entgegen. Zwei Männer saßen in dem Fahrzeug dessen Form und Farbe ins Auge fiel und viele neugierige Blicke auf sich zog, wenn es irgendwo geparkt stand. Der Fahrer war ein blonder Mann mit sonnengebräunter Haut und dem Aussehen eines großen Jungen, der jederzeit zu einem Spaß aufgelegt war und mit dem man Pferde stehlen konnte.

Dieser Mann war Larry Brent. Er trug einen dunklen Abendanzug und eine schwarze Samtfliege. Der Mann an seiner Seite, einen Kopf größer als er, war genauso gekleidet. Er besaß einen roten, fein säuberlich gestutzten Vollbart, und es war ihm anzusehen, dass sein Haar frisch geschnitten war. Der Mann mit dem roten Bart an Larrys Seite saß steif, als hätte er einen Stock verschluckt. »Bist du sicher, Towarischtsch«, fragte der Bärtige, »dass wir so angezogen sein müssen?« Der Blonde grinste verschmitzt. »Es war ihr ausdrücklicher Wunsch, Towarischtsch. Diesmal betreten wir als Privatleute das Tavern ...«

Iwan Kunaritschew alias X-RAY-7 drehte vorsichtig den Kopf, als fürchte er sich davor, bei einer Bewegung den Hals zu verrenken. Der Russe fühlte sich in legerer Kleidung am wohlsten und hasste alles, was er sich um den Hals binden musste. Larry Brent konnte sich nicht daran erinnern, seit seiner Bekanntschaft und Freundschaft den Russen mehr als zwei- oder dreimal in einem Anzug gesehen zu haben. Iwan glaubte dann stets in einer Ritterrüstung zu stecken, in der er nicht mehr atmen konnte. »Auch ein komisches Gefühl, in der Nähe seines Arbeitsplatzes zu feiern«, murrte X-RAY-7.

»Darauf kommt es bei uns nicht mehr an. Wir verbinden so oft unsere Arbeit mit dem Vergnügen, dass wir auch im Tavern Mornas Geburtstag feiern können.«

Auf der Rückbank des Lotus lagen zwei riesige, in schimmernde Gold- und Silberfolie eingewickelte Pakete.

Der gläserne Anbau, als Kristallsaal gekennzeichnet, war bereits hell erleuchtet. Sämtliche Lüster brannten. Die Tische waren mit weißen Damasttüchern gedeckt, darauf funkelnde Gläser und silberne Bestecke. Auf jedem Tisch brannte eine Kerze. Mit einem Kellner ging eine hochgewachsene, langbeinige blonde Frau die Tischreihen entlang. Die Frau trug ein nachtblaues, hochgeschlitztes und enganliegendes Kleid mit tiefem Rückenausschnitt. Vor dem sogenannten Kristallsaal waren die Bäume mit hunderten winziger Glühbirnen bestückt, so dass der Garten einen feierlichen Eindruck vermittelte. Diese Art des Baumschmucks fand man nur im Tavern on the Green.

Larry steuerte seinen Wagen auf den Park-Stammplatz. Iwan Kunaritschew stieg zuerst aus und vertrat sich die Beine. Dann streckte er beide Arme aus, zog die Schultern hoch und stapfte mit kantigen, roboterhaften Bewegungen los. Er lief wie das Monster des legendären Baron von Frankenstein: Steif, hochaufgerichtet und in seinem dunklen Anzug eine imposante, breitschultrige Erscheinung.

»So kann ich unmöglich an Mornas Party teilnehmen«, sagte er mit Grabesstimme. »Ich kann mich nicht mehr richtig bewegen, Towarischtsch ... Ich geh jetzt in mein Büro und zieh 'nen Rollkragenpullover an. Dann kann ich springen wie ein junges Reh und werd mit Morna das Tanzbein schwingen, bis in die Früh' ...«

Larry wollte eine Bemerkung über Kunaritschews Reimkunst machen, als laute Hilferufe ihre Aufmerksamkeit erregten. Larry drückte die Tür ins Schloss und verharrte in der Bewegung. Iwan Kunaritschew stand augenblicklich still. »Das kommt von dort drüben.« Larry spurtete los, und sein Freund heftete sich an seine Fersen. Auch jetzt war zu erkennen, dass es dem Russen schwer fiel, in dem engsitzenden Anzug so zu laufen, wie es sonst seine Art war. Larry setzte über hochwachsende Sträucher hinweg, übersprang ein Blumenbeet und jagte über den Rasen in die Düsternis zwischen den Parkbäumen, woher der Schrei gekommen war.

Da sah X-RAY-3 auf einem schmalen Seitenweg auch schon, was gespielt wurde. Eine Gruppe Jugendlicher drosch auf einen einsamen Spaziergänger ein, der sich verzweifelt zur Wehr setzte, aber gegen die Übermacht keinerlei Chancen hatte. Die Gegner waren zu fünft, trugen Lederjacken mit einem aufgemalten schwarzen Totenkopf, der mit weißer Farbe hell abgegrenzt war. Zwischen den Zähnen hielt der Schädel eine gelbschimmernde Schlange.

Dieses Zeichen trugen sie alle, und alle gehörten offensichtlich einer kriminellen Vereinigung an, die sich auf Überfälle spezialisiert hatte. Das Gangstertum unter Jugendlichen griff in New York immer mehr um sich. Nicht nur in Parks, auch in Kaufhäusern, auf belebten Straßen und vor allem in den Schächten der U-Bahn kam es ständig zu Überfällen. Frauen und Männer wurden kaltschnäuzig niedergeschlagen und beraubt. Selbst wenn jemand Zeuge wurde, wagten viele aus Angst nicht, einzugreifen ...

Der Überfallene krümmte sich am Boden wie ein Wurm. Zwei, drei der Jugendlichen machten sich über ihn her, entrissen ihm die Armbanduhr, einen goldenen Anhänger und die Brieftasche. Ehe die Räuber seine Taschen nach weiteren brauchbaren Dingen umstülpen konnten, waren Larry Brent und Iwan Kunaritschew da.

»Achtung!«, stieß einer der Burschen hervor. Er war von kräftiger Statur, hatte riesige Hände, und seine krumme Nase legte Zeugnis davon ab, dass er entweder im Boxring oder bei Schlägereien schon Erfahrungen gesammelt hatte. »Da kommen zwei vornehme Pinkel. Die wollen mitmischen ...«

Zwei aus der Gruppe der Lederjacken-Träger wirbelten sofort herum. Harte Gesichter, Blicke aus kalten Augen starrten X-RAY-3 und X-RAY-7 entgegen. »Dann gibt's ja noch ein zusätzliches Vergnügen«, meinte der mittlere von den dreien. Er hatte rotblondes Haar, eine fahle, teigige Haut und war schlecht rasiert. Die dunklen Stoppeln seines Bartes traten auf dem hellen Teint umso stärker hervor.

»Ich werde euch zeigen, wie man die Englein singen hört.« Er stieß sich ab und schnellte wie vom Katapult geschleudert auf Larry Brent zu. Die beiden anderen griffen wie auf ein stilles Kommando hin den kräftiger wirkenden Russen an. Sie glaubten, die Angelegenheit in wenigen Sekunden in ihrem Sinn zu erledigen. Der mit der plattgedrückten Boxernase wollte sofort kurzen Prozess machen. In dem Moment, als er Kunaritschew entgegenflog, blitzte in seiner Rechten ein Messer auf. Klickend rastete die Klinge ein und hielt unverrückbar fest.

Der Bursche, der Brent zeigen wollte, wie Englein singen, verlor plötzlich den Boden unter den Füßen, noch ehe er zugreifen konnte. Er hing plötzlich in der Luft, wurde herumgeschleudert und landete mitten zwischen denen, die glaubten, nicht von dem Überfallenen lassen zu müssen.

Wie eine Rakete flog der Kerl mit der Boxernase durch die Luft. Dann gab es einen dumpfen Krach, und der Überraschte mit der Lederjacke riss die beiden anderen seines Clubs zu Boden. Iwan hatte inzwischen beide Hände voll zu tun, im wahrsten Sinn des Wortes. Als die Kerle auf ihn zupreschten, duckte sich der starke Russe nur ab, ließ seine Gegner zwei Schritte ins Leere laufen und kam dann wieder in die Höhe. Dabei streckte er beide Arme aus. Mit beiden Händen fing er die Burschen ab, erwischte sie am Kragen und hängte sie nebeneinander an die Bäume.

Einen Moment rührten die Überraschten sich nicht und merkten nicht, dass sie von einer Astgabel festgehalten wurden. Dann aber wedelten sie mit den Armen, spreizten die Beine, schlossen sie wieder und sahen aus wie zwei übergroße Hampelmänner, deren Gliedmaßen durch das Ziehen einer Kordel ständig bewegt wurden. Der eine hielt sein Sprungmesser noch in der Hand, stach Löcher in die Luft und stieß erbärmliche Flüche aus. Mit schnellem Griff entwand Iwan dem Burschen die Waffe und schleuderte sie in die Dunkelheit.

Dann kam er Larry zu Hilfe. Dem Freund hatten sich drei Gegner zugewandt. Alle drei, die zu Boden gestürzt waren, hatten sich wieder aufgerappelt und beschäftigten ihn. Die Kerle hielten wie durch Zauberei Totschläger in der Hand und gingen damit auf X-RAY-3 los. Larry benutzte Hände und Füße wie Dreschflegel. Sein rechter Fuß kam blitzschnell in die Höhe und traf sicher ins Ziel. Die Fußspitze knallte gegen das Armgelenk des einen Schlägers. Diesem wurde die Waffe förmlich aus der Hand gerissen. Ehe er sich's versah, traf Larrys Rechte und warf ihn zurück. Der zweite Angreifer machte Bekanntschaft mit beiden Füßen des PSA-Agenten. Der Getroffene taumelte zurück und stolperte über den Überfallenen, der schlimm aussah. Er blutete aus mehreren Wunden, die Kleider waren ihm teilweise vom Leib gerissen, und der Mann schaffte es nicht, aus eigener Kraft auf die Beine zu kommen.

Aber der Dritte kam zum Zug. Die Waffe krachte von der Seite her auf Larrys Schulter. Brennender Schmerz durchzuckte X-RAY-3 und warf ihn nach vorn. Der Schläger holte schon zum zweiten Hieb aus. Da wurde der Kerl Opfer von Kunaritschews Fäusten. Iwan erwischte ihn an den Schultern und riss ihn herum. Dann versetzte er dem Überraschten zwei schallende Ohrfeigen, so dass der andere nicht mehr wusste, wie ihm geschah. Er starrte Kunaritschew wie einen Geist an und torkelte schrittweise zurück.

Er hielt seinen Totschläger in der Hand, der wie ein Pendel zwischen seinen Fingern hin und herschwang. Mit kleinen Schritten und weiteren Ohrfeigen trieb Iwan den Gangster zurück. Dabei kam es noch mal zu einer kritischen Situation. Die beiden Burschen, die Kunaritschew wie Hampelmänner einige Schritte weiter an den Astgabeln zurückgelassen hatte, konnten sich in der Zwischenzeit befreien. Sie griffen Kunaritschew von hinten an und rissen ihn zu Boden. Ein kurzer harter Kampf entspann sich. Dabei verlor Iwan Kunaritschew seine Fliege, und durch sein heftiges Engagement sprang ihm auch der oberste Knopf seines Hemdes davon. Das war aber noch nicht alles. In den Nähten des Abendanzuges krachte es verräterisch. Iwans Blick hellte sich auf, als er merkte, wie groß seine Bewegungsfreiheit wurde. Er konnte weiter ausholen. Nun hatte Larry beide Hände frei und kam seinem Freund zu Hilfe.

Zwei Minuten später war die Angelegenheit erledigt. Die fünf Schläger waren außer Gefecht gesetzt oder suchten ihr Heil in der Flucht. X-RAY-3 klopfte sich den Staub vom Anzug. Iwan Kunaritschew unternahm den gleichen Reinigungsversuch. »Da ist nicht mehr viel zu retten, Towarischtsch.« Wie er es sagte, klang es nicht mal traurig.

»Ich hab von Anfang an gewusst, dass es besser gewesen wäre, zur Geburtstags-Party ins Tavern im Rollkragenpullover zu kommen. Dann hätten wir mit den Burschen schnellen Prozess machen können. So hat's immerhin drei Minuten gedauert.« Der Abendanzug war hin. Der linke Ärmel war unter der Achsel ausgerissen, die Naht zwischen den Schultern geplatzt.

»Hervorragend«, sagte Larry und versetzte dem Freund einen freundschaftlichen Schlag auf die Schulter. »Der Anzug sitzt so salopp wie ein Pulli. Irgendwie, Brüderchen, kommt man im Leben doch immer zu dem, was man sich wünscht.«

Sie kümmerten sich um den Überfallenen. Der Mann hatte es während der Auseinandersetzung geschafft, aufzustehen und lehnte schwer atmend an einem Baumstamm. Iwan bückte sich, hob Armbanduhr und Brieftasche auf, die man dem Unglücklichen abgenommen hatte und ging auf den Mann zu.

»Alles okay, Mister?«, erkundigte er sich. »Wir konnten die Burschen vertreiben, und ich nehme an, dass alles, was die Kerle Ihnen abgenommen haben, zurückgelassen wurde.« Mit diesen Worten wollte er dem Überfallenen sein Eigentum zurückgeben. Da ereignete sich Unglaubliches. Weder Larry noch Iwan rechneten mit einer solchen Möglichkeit. Der Mann hielt plötzlich etwas in der Hand. Ein Feuerstrahl zuckte hervor. Die Mündungsflamme einer Pistole!

Der Schuss löste sich krachend, und Iwan Kunaritschew brach getroffen zusammen.

»Das gibt's doch nicht!«

Hans Marner glaubte seinen Augen nicht trauen zu können: Der Platz hinter ihm war tatsächlich leer! Hatte der Alte unbemerkt während der Fahrt die Tür geöffnet und war herausgefallen?

Sie dachten beide seltsamerweise zuerst an diese Möglichkeit. Doch dann verwarfen sie den Gedanken ebenso schnell wieder, wie er ihnen gekommen war. Es war unmöglich, dass der Mann während der Fahrt aus dem Auto gefallen war. Das wäre ihnen nicht entgangen. Schließlich hatten sie nicht geschlafen. Petra Strauß beugte sich nach hinten. Ein Stöhnen entrann sich ihren Lippen. »Hans ... auf dem Rücksitz ... schalt doch mal die Innenbeleuchtung an ... da liegt etwas.« Marner hielt sofort. Im schwachen Licht der Innenbeleuchtung war ein flaches Häuflein grauer Asche auf dem Rücksitz und davor zu sehen. Es war alles, was von dem alten Mann übrig geblieben war.

»Sag, dass ich träume, dass nicht wahr ist, was wir sehen ...« Petra Strauß' Stimme zitterte. Die Frau war aschfahl im Gesicht. Fahrig fuhr sie sich durch das halblange Haar und wusste nicht, wohin sie zuerst blicken sollte. Auf die Reste dessen, was von dem Mann übrig geblieben war, oder auf ihren Begleiter. »Ich werd verrückt«, entfuhr es Marner. »Wenn das so weitergeht, erreichen wir heute Nacht nicht mehr unser Ziel.« Hart griff er nach der Taschenlampe, stieg aus und leuchtete den Rücksitz ab, nachdem er die hintere Tür geöffnet hatte. »Er ist zu Staub zerfallen«, stöhnte Petra Strauß. »Aber ... so etwas gibt es doch nicht ...«

»In einer Nacht wie dieser, scheint es mehr zu geben, als wir mit dem Verstand begreifen können, Petra ... Erst die Kutsche, die wie ein Spuk verschwand ... das Auftauchen des Alten, den wir für einen Verirrten hielten, der sein Gedächtnis verloren hatte ... und nun seine ... Auflösung.« Man merkte Marner an, wie schwer es ihm fiel, gerade dieses Wort auszusprechen. Dann fing er plötzlich an zu lachen.

»Ich finde das alles verdammt wenig witzig!« Petra Strauß starrte ihren Begleiter an wie einen Geist. »Ich auch nicht, Petra. Aber wenn wir die Geschichte jemand erzählen ... Die glaubt uns kein Mensch ...« Er sah angestrengt in die Runde und leuchtete das zurückliegende Straßenstück aus, als würde er doch noch eine Spur entdecken, die auf den Alten hinwies.

»Hallo?« Marners Rufen verlor sich in der Dunkelheit und wurde von dem heftigen Wind in die Berge getragen. Sein Echo verhallte. Marner lauschte. Erwartete er wirklich eine Antwort? Aber da war nur das Rauschen des Windes. »Nichts.« Marner kehrte noch mal an den Rücksitz zurück, und es kostete ihn einige Überwindung, mit den Fingern seiner rechten Hand vorsichtig den grauen Staub zu zerteilen. Er fühlte sich weich und mehlfein an. Dann reagierte er mechanisch. Mit der flachen Hand strich er das, was makabrerweise von dem fremden Fahrgast übrig geblieben war, vom Sitz. Der Wind trug den Staub davon. Auch das, was auf den Boden vor den Rücksitz heruntergerieselt war, beseitigte er auf diese Weise, so gut es ging. Dann nahm der junge Tourist seinen Platz am Steuer wieder ein und nickte nur knapp, als seine Begleiterin ihm ein Erfrischungstuch reichte, mit dem er sich die Hände abwischte. Das aufgebrauchte Tuch warf er aus dem offenen Wagenfenster.

»Was hältst du von allem?« Petra Strauß' Stimme klang belegt. »Frag mich etwas Leichteres ... vielleicht sind auch unsere Nerven nur überreizt. Die lange Fahrt durch die Berge ... wir sind nervös und müde ...«

»Ich bin hellwach und weiß, was ich sehe und höre ... der Alte ... das war ein Gespenst, Hans ...« Die Frau nahm eine Zigarettenpackung aus der Handtasche und zog eins der weißen Stäbchen heraus. »Mir kannst du auch eine Zigarette geben«, bemerkte Marner rau. Petra zündete sie an und reichte sie weiter. Wenn Hans nervös war, griff er hin und wieder doch noch danach, auch wenn er vor Monaten geschworen hatte, keine Zigarette mehr anzurühren. Er gab Gas. Der Audi CD machte einen Satz nach vorn. Die beiden Menschen in dem Fahrzeug hätten viel zu reden gehabt. Aber sie schwiegen. Jeder hing seinen Gedanken nach, und keiner wusste, was er von dem mysteriösen Geschehen halten sollte.

Zehn Minuten später rissen die Scheinwerfer das erste Haus aus der Dunkelheit. Das Gebäude war zweistöckig, stand auf einer Anhöhe und hatte ein steil abfallendes Dach. An der Hauswand zwischen den Fenstern von Parterre und erster Etage stand das Wort: Hotel. Große, gebleichte Buchstaben, die mal tiefschwarz gewesen waren. Wind, Regen und Sonne hatten die Farbe ausgewaschen. Jenseits der engen Straße wichen die Hügel zurück, und mitten dazwischen lagen mehrere, weit auseinanderstehende Häuser. Nirgends aber brannten Lichter.

Hans Marner lenkte seinen Wagen auf die schmale, unbefestigte Zufahrt. Die Parkfläche vor dem Hotel war holprig und mit Steinen übersät. Der Boden knirschte unter den Reifen. Ein Wagen stand vor dem Haus. Er hatte ein schwarzes Nummernschild, es war weiß beschriftet. Rechts unter dem Kofferraumdeckel stand die Nationalitätenkennzeichnung: GB. »Ein Engländer«, bemerkte Marner leise. Petra Strauß atmete erleichtert auf. »Auch ein Tourist. Das beruhigt mich. Ich habe eine Aversion gegen abgelegene Hotels und Motels ... Da muss ich immer an Alfred Hitchcocks Psycho denken.«

»Hoffentlich öffnen sie uns überhaupt. Warte hier.«

Marner hielt direkt neben der Tür, vor der sich zwei ausgetretene Sandsteinstufen befanden. Er betätigte eine altmodische Klingel und legte sich in Gedanken schon zurecht, was er einem eventuell auftauchenden Hausbewohner sagen wollte. Marner musste nicht lange warten. Im Parterre flammte Licht auf. Der Schein sickerte durch die zahlreichen Ritzen. Dann war auch Licht hinter der Tür zu erkennen. Ein Schatten zeichnete sich unter der Türritze ab, ein Riegel wurde zurückgeschoben. Vor den beiden Touristen stand ein kleiner Mann. Über den Schlafanzug hatte er lose einen Mantel geworfen. Marner entschuldigte sich für die späte Störung. »Wir haben uns verfahren«, übertrieb er seine Situation. »Wir hatten vor, noch Granada zu erreichen, haben uns aber bei der Wegstrecke durch die Berge gewaltig verschätzt.«

»O ja, das kann passieren«, lächelte der kleine Spanier. Sein Haar war zerzaust, und man sah ihm an, dass er direkt aus dem Bett kam. Er sprach leise und wirkte freundlich.

»Haben Sie noch ein Doppelzimmer frei? Für eine Nacht ... meine Frau fürchtet sich davor, die unbekannte Strecke weiter zu fahren ...« Der Hotelbesitzer nickte. »Ja, wir haben noch Zimmer frei. Hier kommen nur selten Leute vorbei. Und dann sind es welche, die nur Zwischenstation machen. Daran sind wir gewöhnt. Die meisten treffen erst am späten Abend oder gar in der Nacht ein ... Por favor, treten Sie ruhig näher. Sie sehen blass aus. Sicher sind Sie schon lange unterwegs.«

»Praktisch den ganzen Tag.« Das war nicht gelogen. Petra Strauß hatte das Fenster heruntergekurbelt und verfolgte das Gespräch. Als sie merkte, in welche Richtung es sich entwickelte, stieg sie aus und kam näher. Sie grüßte leise. »Buenos noches«, sagte sie. Der kleine Spanier lächelte. »Das stimmt schon fast nicht mehr, Senora ... in ein paar Stunden geht die Sonne auf. Da kann man schon Buenos dias sagen ... Kann ich etwas für Sie tun? Ihr Gepäck tragen?«

»Nein danke«, lehnte Marner ab. »Den Koffer trage ich schon allein.« Er holte Koffer und eine Tasche aus dem Fahrzeug und verschloss es dann.

»Sie werden sicher Hunger haben und durstig sein, Senores ... Die Küche hat zwar geschlossen, aber ich kann Ihnen aus dem Kühlschrank gern noch ein paar Bocadillos geben.«

»Vielen Dank für das Angebot. Wir wollen Ihnen keine Mühe machen.«

»Es bereitet mir keine Mühe, die Kühlschranktür zu öffnen ... Ich gebe Ihnen gern noch ein Bier, Mineralwasser oder Limonade dazu.«

»Für eine Flasche Mineralwasser wäre ich Ihnen dankbar«, sagte Petra Strauß schnell. »Die trockene Luft im Wagen ... Ich würde gern etwas trinken.«

»Sollen Sie haben, Senora.«

»Aber das wäre dann auch schon alles. Wir sehnen uns nach einem Dach überm Kopf und einem Bett ... Es ist sehr freundlich von Ihnen, uns überhaupt noch aufzunehmen.«

Die Küche lag gleich unten im Parterre. Der Spanier verriegelte die Tür hinter seinen späten Gästen. In dem engen Korridor stand eine alte Bank und ein nicht minder altes Schränkchen. Der Verputz war schmutzig, und die größten Flecken, gröbsten Löcher und tiefsten Risse in der Wand waren mit bunten Stierkampfplakaten abgedeckt. Die Holztüren waren grün und weiß gestrichen. Hinter der grünen Tür lag die Küche, ein großer Arbeitsraum mit hohen Regalen und einem modernen Kühlschrank. Der Spanier drückte Petra Strauß eine Plastikflasche mit Mineralwasser und zwei Gläser in die Hand. Die Gläser waren nicht sonderlich sauber, erkannte die Frau trotz der spärlichen Beleuchtung.

Das ganze Haus war alt und machte keinen besonders gepflegten Eindruck. Die Gästezimmer lagen im ersten Stock. Die Räume waren klein, mit zwei Betten, Nachttischen und einem Kleiderschrank ausgestattet. In der Ecke neben dem Fenster hing ein winziges Waschbecken an der Wand, das sich besser als Vogeltränke eignen würde. »Die Toilette ...«, machte der Spanier sich bemerkbar, als er Petra Strauß' fragenden Blick bemerkte, »liegt dort.« Er schob den fadenscheinigen Vorhang vor dem Sprossenfenster zurück und deutete hinunter auf den Hof. Im dunklen, mit grobem Steinpflaster versehenen Hof lag ein alter Brunnen.

Dahinter erkannten die beiden Deutschen einen flachen schuppenähnlichen Anbau. »Toilette liegt dort drüben ... nicht sehr bequem, ich weiß«, entschuldigte sich der Hotelbesitzer. »Aber Zimmer ist auch sehr billig ...« Er nannte einen Preis, der in der Tat umwerfend niedrig war, und Marner fragte sich im Stillen, ob er vielleicht nur das Frühstück für eine einzelne Person damit meinte. Sie waren solche Unterkünfte nicht gewohnt. Aber angesichts der Situation, in der sie sich befanden, nahmen sie an und ließen sich ihre Enttäuschung nicht anmerken. Petra lachte sogar. »So romantisch war's schon lange nicht mehr.« Statt romantisch wollte sie eigentlich unheimlich sagen, aber sie unterließ es, um den freundlichen Mann nicht zu verärgern.

Senor Miguel Bazo, wie er sich jetzt endlich vorstellte, bat noch darum, den Riegel wieder vorzulegen, wenn jemand die Hintertür zum Hof benutzt hätte. Dann wollte er gehen. »Einen Moment noch, Senor Bazo«, hielt Hans Marner den Spanier zurück. »Si, Senor, haben Sie noch einen Wunsch?«

»Nur eine Frage. Gibt es hier in der Gegend eine Kutsche, die von Pferden gezogen wird?« Petra hielt den Atem an, als er diese Frage stellte. »Si, Senor ..., aber wie kommen Sie gerade jetzt darauf? Kennen Sie sich hier aus?«

»Nein, es fiel mir eben nur so ein. Fährt die Kutsche ... auch nachts, und wem gehört sie?«

»Non, non, Senor«, winkte Miguel Bazo ab. »Nachts fährt die Kutsche nicht. Sie ist eine Attraktion der Leute, die die alte Maurenburg bewohnen und eine Herberge daraus gemacht haben. Die Kutsche ist uralt und holt die Gäste ab, die sich dort angemeldet haben. Meistens kommen junge Leute auf den Gedanken, eine Kutschfahrt durch die Berge zu machen. Jungvermählte zum Beispiel ... Aber es ist kein Vergnügen, mit ihr zu reisen ... Unbequem ist das Ding. Die Sitze sind bestimmt hart, und der hohe Karren ist schlecht gefedert ... Wollen Sie morgen der Maurenburg einen Besuch abstatten?«

»Eigentlich nicht. Wenn sie natürlich am Weg liegt ...«

»Nein, das nicht. Sie liegt weiter abseits. Der Pfad nach oben ist beschwerlich und nicht ganz ungefährlich. Am besten ist es, man geht zu Fuß ... Meiden Sie die Kutsche, Senor!« Bazos letzte Worte klangen fast wie eine Ermahnung. Hans Marner hakte sofort nach. »Warum, ist es gefährlich? Stimmt etwas mit der Kutsche nicht?« Miguel Bazo wirkte erschrocken. »Nein ... wie kommen Sie darauf, Senor«, sagte er schnell, als müsse er etwas ausbügeln. »Habe ich das gesagt? Dann habe ich mich entweder falsch ausgedrückt, oder Sie haben mich falsch verstanden ... Ich kann das Geschäft der Leute, die die Maurenburg zur Besichtigung freigegeben haben und auf Besucher warten, doch nicht schlecht machen ... Allerdings erzählen sich die Leute in den Bergdörfern, dass eine Fahrt mit der Kutsche kein Glück bringt.«

»Und warum erzählt man sich das? Es muss doch einen Grund haben.«

»Ich weiß leider nichts Näheres darüber.« Hans Marner besaß Menschenkenntnis genug, um diese Worte als Lüge zu erkennen. Auf der einen Seite Andeutungen, auf der anderen Geheimnistuerei ... es schien, als bezwecke Senor Bazo damit etwas ganz Bestimmtes. Er – weckte Neugier ...

Miguel Bazo warf dem Deutschen einen merkwürdigen Blick zu, den Marner nicht recht zu deuten verstand. »Seltsam, dass Sie heute Nacht auch von der Kutsche sprechen.«

»Ich habe sie deutlich gesehen«, sagte Marner da unvermittelt und ließ sein Gegenüber nicht aus den Augen.

»Solange schon sind Sie in den Bergen unterwegs, Senor? Wenn Sie die Kutsche gesehen haben, muss es noch hell gewesen sein.«

»Es war dunkel, und es liegt noch keine Stunde zurück.«

»Nein, das ist unmöglich! Nachts ist die Kutsche nie unterwegs. Sie müssen sich geirrt haben. Und nun, buenos noches, Senor ... Ich nehme an, dass Sie rechtschaffen müde sind. Und ich stehe hier herum und halte Sie noch auf. Perdone ... Morgen früh können wir uns gern über einiges unterhalten, das Sie interessiert. Meine Frau Maria wird Ihnen ein wunderbares Frühstück bereiten.« Er zog die Tür hinter sich ins Schloss.

»Morgen früh?«, wisperte Petra Strauß und zog fröstelnd die Schultern in die Höhe. Sie fror. »Ich hab ein komisches Gefühl, Hans. Er ist mir zu freundlich ... Das gefällt mir nicht. Sieht gerade so aus, als wolle er uns überzeugen, dass wir hier bei ihm bestens untergebracht sind. Am liebsten würde ich auf der Stelle klammheimlich das Hotel verlassen und weiterreisen.«

»Das können wir nicht.« Er nahm Petra in den Arm, und seine Nähe tat ihr sichtlich wohl. »Du brauchst Schlaf, du siehst alles viel zu schwarz ... Kein Wunder. Es ist ja auch einiges passiert, das einem an die Nerven gehen kann. Aber vielleicht hat alles eine ganz natürliche Erklärung, sowohl die Kutsche als auch das Auftauchen und Verschwinden des Alten.«

»Ich wollte, du hättest recht«, murmelte Petra Strauß wie in dunkler Vorahnung. »Ich jedenfalls, werde meine Angst nicht los und hab das Gefühl, dass es für uns den nächsten Morgen nicht geben wird ...«