Larry Brent Classic 049: Mutanten - Dan Shocker - E-Book

Larry Brent Classic 049: Mutanten E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Die Schleimigen von Ghost-Valley Ghost Valley - eine Geisterstadt in der Wüste Nevadas. Vor 150 Jahren ereignete sich dort ein schreckliches Massaker. Später baute auf diesem Areal die Firma Bio-Com eine Forschungsstätte. Der Farmerssohn Richard Masters plant mit Freunden einen Ausflug nach Ghost Valley. Doch die Schleimigen streifen bereits durch die Stadt. Larry Brent und Shawn Stilling untersuchen zur gleichen Zeit ein Spukphänomen im Marwick-Hotel. Unvorstellbare Ereignisse bringen dort den PSA-Agenten auf die Spur von Bio-Com. Die Geister-Girls von W. Als Karin Anders in den Käfer von Britta Leisner stieg, wusste sie nicht, dass sie damit ihr tödliches Schicksal besiegelte. Die "Geistergirls von W." führen ein unheimliches Dasein. Sie spüren keinen Schmerz und in ihren Adern fließt kein Blut. Larry Brent und Luis Garcia de Valo, alias X-RAY-14, werden nach Mexiko geschickt, um eine alte Dame zu befragen, die offenbar von Ufos entführt wurde. Larry Brent ahnt nicht, dass diese Geschehnisse mit Morden in Deutschland zutun haben. Dort untersucht Morna Ulbrandson zur selben Zeit den Fall einer wiederauferstandenen Toten - und gerät dabei in höchste Lebensgefahr ...

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DAN SHOCKERS LARRY BRENT

BAND 49

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Fachberatung: Robert Linder

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

978-3-95719-849-5

Dan Shockers Larry Brent Band 49

MUTANTEN

Mystery-Thriller

Die Schleimigen von Ghost Valley

von

Dan Shocker

Prolog

Die junge Frau lauschte und hielt den Atem an. Im Korridor war kein Geräusch zu vernehmen, und niemand hielt sich zu diesem Zeitpunkt mehr dort auf.

Die Büros und Laborräume waren verlassen. Das schmale, niedrige Gebäude sah von weitem aus wie ein Lagerschuppen, der mitten in der sandigen Landschaft errichtet worden war. Mehrere Nebengebäude existierten ebenfalls. In ihnen lebten die Wissenschaftler und Mitarbeiter der Firma, die sich mit Genforschungen befassten.

Die Firma hieß Bio-Com und stellte Präparate zur medizinischen Versorgung der Bevölkerung her. Die Genforschungen, die in diesem weit von jeglicher Zivilisation entfernt liegenden Werk betrieben wurden, sollten bedeutsam sein für die Bekämpfung der Zuckerkrankheit und des Krebses. Das alles klang sehr gut. Aber in der Redaktion der Signal, einer wöchentlich erscheinenden Zeitschrift, die kritisch zu politischen und wirtschaftlichen Problemen Stellung nahm, war man nicht ganz so gutgläubig. Berry Helman, ein Mann, der eine Nase für nicht astreine Geschichten hatte, war ein Tipp zugetragen worden, wonach in diesem einsamen Werk in Nevada, wo es außer sommerlicher Hitze, trockenem Sand und alten, verfallenen Westernstädten aus der wilden Zeit des Landes nichts gab, einiges nicht stimmen sollte. Helman vermutete, dass die Bio-Com noch anderes erforschte und entwickelte, von dem nichts in die Öffentlichkeit dringen durfte. Wurden hier verbotene und lebensgefährliche Experimente durchgeführt? Vielleicht sogar mit militärischem Hintergrund? Signal wollte mehr darüber wissen und Berry Helman war bemüht, die Grundlagen zu beschaffen.

Vor drei Wochen meldete er sich ab. Offiziell wollte er eine Reise an der Westküste entlang unternehmen. In Wirklichkeit aber war es seine Absicht, sich das Werk in der Wüste Nevadas aus der Nähe zu betrachten. Was von dort aus bisher an die Öffentlichkeit drang, war nicht der Rede wert. Nur eine einzige Person weihte Berry Helman in seine wahren Pläne ein.

Das war Mary Shealan. Mit der dreiunddreißigjährigen Journalistin, die ihren Beruf von der Pike auf gelernt hatte, verband ihn seit längerem eine tiefe Freundschaft. Nach Helmans Abreise hatte Mary jeden Tag auf eine Nachricht, auf ein Lebenszeichen gewartet. Aber der Freund und Kollege hatte sich nicht gemeldet. Helmans Auto war an einer abschüssigen und als gefährlich bekannten Kurve an der Westküste ausgebrannt aufgefunden worden. Im Innern des ausgeglühten Fahrzeugwracks hatte man die zur Unkenntlichkeit verkohlte Leiche entdeckt. Das Wrack war Helmans Wagen, der Tote konnte also auch nur der Reporter sein. Schließlich war er auch an der Westküste unterwegs gewesen, wie jedermann bestätigte. Nur eine Person wusste von Anfang an, dass hier etwas nicht stimmte: Mary Shealan. Sie kannte als Einzige den wahren Grund der Fahrt und war darüber informiert, dass Helman niemals zur Westküste wollte, sondern in Wirklichkeit weiter ins Landesinnere.

Wie später dann sein Wagen und die Leiche an die Westküste gelangten, war und blieb für Mary Shealan ein Rätsel. Sie sagte über ihren Verdacht, dass hier etwas faul sein musste, jedoch kein Wort, denn sie war es gewohnt, seltsamen Ereignissen selbst auf den Grund zu gehen. Es gab für sie nur eines: Sie musste sich auf den Weg machen und herausfinden, was Berry wirklich zugestoßen war. Jemand hatte Grund, seinen Tod als einen tragischen Unfall hinzustellen. Helman schien mit seinem Verdacht ins Schwarze getroffen zu haben. Mary Shealan ergriff die Initiative.

Als May Glanders, die eine Reportage über wissenschaftliche Neuerungen und Entdeckungen zu schreiben beabsichtigte, meldete sie sich telefonisch bei Bio-Com an. Sie erhielt höflich und schnell von der Geschäftsleitung eine Zusage. Damit war eine Hürde beseitigt. Als Nächstes war es wichtig für Mary Shealan, ihre wahre Identität zu verschleiern. Bei Bio-Com durfte niemand wissen, wer sie wirklich war und dass sie Berry Helman sehr gut kannte. Sie behauptete, freischaffende Journalistin zu sein. Sie veränderte ihr Äußeres.

Von Natur aus war sie mittelblond und ließ das Haar halblang. Nun trug sie eine schwarze Langhaarperücke, hatte die Augenbrauen dicker nachgezogen, als es sonst ihre Art war, und lange, künstliche Seidenwimpern hinzugefügt. Sie kleidete sich auffällig, und selbst ihre besten Freunde und Bekannten hätten sie in dieser Aufmachung als Mary Shealan nicht erkannt.

Ihre Maskerade war perfekt. Die Journalistin besaß einen Pilotenschein und machte Gebrauch davon. Schließlich war ihre Zeit als rasende Reporterin begrenzt, und sie hatte den Eindruck gewonnen, dass man in der Leitung bei Bio-Com zufrieden war mit ihrer Ankündigung, nur drei Tage die Aufmerksamkeit des Personals und eines wichtigen Sachbearbeiters in Anspruch zu nehmen.

Aber Mary Shealans Pläne waren ganz anderer Natur. Sie sah sich alles sehr genau an, prägte sich die Hallen, Gebäude und den Ablauf der Arbeit ein und verließ heimlich das Gästehaus, in dem man ihr ein Zimmer während der Zeit ihres Aufenthaltes zur Verfügung gestellt hatte. Zu nachtschlafender Zeit huschte sie unbeobachtet durch Gänge und Korridore und machte Abdrücke von Schlössern an Türen, die stets verschlossen waren, weil man ihr den Zutritt zu den betreffenden Räumen versagt hatte. Aus Geheimhaltungsgründen war dies nur verständlich.

Die Konkurrenz schlief nicht, und die Leitung von Bio-Com wollte nicht, dass vorzeitig Dinge bekannt wurden, deren Erforschung sie schon Millionen gekostet hatte. Doch Mary Shealan überlistete ihre Bewacher. Mit den Abdrücken in der Tasche verließ sie vereinbarungsgemäß am Mittag des dritten Reportagetages das Werk. Sie hatte nichts gefunden, was ihren Verdacht, dass Berry Helman hier zu Tode gekommen sein könnte, gerechtfertigt hätte. Dennoch blieben ein unbehagliches Gefühl und Misstrauen in ihr zurück. Unter den Augen der Angestellten startete sie ihre Maschine. Sie flog nach Sacramento, ließ dort von den Abdrücken Schlüssel anfertigen und flog dann den Weg in die Wüste zurück. Diesmal landete sie jedoch nicht in der Nähe des Werkes, sondern drei Meilen entfernt auf einer abseits gelegenen Piste, wo sie die einmotorige Maschine vom Typ Piper ausrollen ließ. Zu Fuß legte sie dann nach Einbruch der Dunkelheit den Weg zu dem eingezäunten Gelände zurück.

Ein Umstand kam ihr dabei zugute. Der Zaun war an einer Seite offen, weil Bauarbeiten im Gange waren. Dort hatten in den vergangenen Tagen mehrere LKWs Fertigteile für eine Halle angefahren, deren Rohbau bereits errichtet war. Baufertigteile waren als gewaltige Wände aufgestapelt, ein Kran ragte wie ein urwelthafter Saurier in den Himmel über der Wüste, wo sich in der Nähe noch die Reste einer ehemaligen Westernstadt befanden. Der Ort hieß mal Ghost Valley. Es hieß, der Name sei deshalb zustande gekommen, weil hier eines Tages ein großes Blutbad angerichtet worden war. In einer Nacht hätten siebzehn Menschen ihr Leben verloren. Danach sei es zu Spukfällen gekommen, die die anderen Bewohner nach und nach vertrieben hätten, weshalb aus der Stadt eine wirkliche Geisterstadt geworden wäre. Mary Shealan, die als dunkelhaarige May Glanders auf das Forschungsgelände zurückgekommen war, wusste, dass entscheidende Minuten für sie angebrochen waren. Die Nachschlüssel hatten ihr die Türen zum Hauptlabor geöffnet. Dort hatte sie sich in der Dunkelheit gut verbergen können. Niemand wusste von ihrer Rückkehr auf das Gelände. Alle nahmen logischerweise an, dass sie mit der Piper längst wieder zu Hause war.

Alles, was sie in den vergangenen Tagen erlebt hatte, war offiziell und für sie nur ein Vorgeplänkel gewesen. Ernst und gefährlich wurde es jetzt. Mary wusste, dass sie viel riskierte. Niemand ahnte etwas von ihrer erneuten Anwesenheit im Forschungszentrum. Sie hatte abgewartet, bis alle Mitarbeiter ihre Arbeitsstellen verlassen hatten. Es war neun Uhr abends. Draußen war es stockfinster, und die Nacht wirkte umso schwärzer, da kein Stern am Himmel funkelte.

Eine schwere, dunkle Wolkendecke zog sich über das Land. Es sah nach Regen und Gewitter aus. Mary Shealan war froh über die Dunkelheit. Sie war ihr bester Schutz auf dem Weg hierher. In einer Abstellkammer hatte die junge Reporterin das Weggehen der letzten Laborantin abgewartet. Nun wagte sie sich aus ihrem Versteck. Sie musste den langen, nur durch zwei Neonröhren erhellten kahlen Korridor durchqueren. Am anderen Ende gab es eine Tür, die stets verschlossen war, wenn sie mit einem Mitarbeiter von Raum zu Raum geführt wurde.

In den meisten Räumen waren irgendwelche Zellkulturen angesetzt, die von Instrumenten und Fernsehaugen überwacht wurden. In der großen Laborhalle arbeiteten nicht mehr als zwei Personen. Das Werk in der Wüste nahe der Geisterstadt kam mit erstaunlich wenigen Menschen aus. Die Firmenleitung schien das Motto zu berücksichtigen: Je weniger von den Forschungen hier wussten, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass es eine undichte Stelle gab. Wenige Menschen waren besser zu überwachen als viele.

Mary Shealans Herz klopfte bis zum Hals.

Sie wurde zunehmend nervöser.

Insgesamt vier Nachschlüssel besaß sie zu Kammern und Räumen, die ihr als besonders streng vertraulich bekannt geworden waren und zu denen nur zwei Personen Zutritt hatten: der Chef der Bio-Com und der wissenschaftliche Leiter. In den labyrinthartigen Gängen gab es eine Tür, die durch zwei Spezialschlüssel gesichert war. Aber Mary Shealan kannte eine Spezialmethode, um dennoch Abdrücke zu erzielen. Sie war lange genug Gerichts- und Kriminalreporterin gewesen und mit schweren Jungs zusammengekommen, die meistens aus der Schule geplaudert hatten.

Mary Shealan war ein Mensch, der Vertrauen weckte und bei dem man das Gefühl hatte, das Herz ausschütten zu können. In den Gefängnissen und Zuchthäusern überall in den Staaten hatte sie tragische Einzelschicksale kennengelernt. Über viele Dinge hatte sie ausführlich berichtet, aber manche persönliche Einzelheit für sich behalten. Dazu gehörten auch die Angaben über die Abnahme von Abdrücken. Dass sie jemals diese Kenntnisse so gut würde verwerten können, hatte sie auch nie geglaubt. Was sie getan hatte und was sie jetzt tat, war illegal. Sie wusste das nur zu gut. Wenn sie hier erwischt wurde, konnte das schwerwiegende Folgen für sie und ihre Karriere haben. Aber sie war nicht bereit, jetzt noch zurückzustecken.

Ihr Vorgehen konnte dazu führen, einen Mord aufzuklären. Aber um es dahin zu bringen, musste sie der Polizei handfeste Beweise liefern. Nur auf bloßen Verdacht hin würde niemand etwas unternehmen. Schließlich war Berry Helmans Tod offiziell geklärt. Die Frau huschte auf Zehenspitzen zur Tür. Mary Shealan bewegte sich mit der Lautlosigkeit und Geschmeidigkeit einer Katze. Passend zu ihrem Unternehmen trug sie abgewetzte, hauteng anliegende Bluejeans und einen schwarzen, engen Pulli.

Weitere Pullover oder ein Kleid hätten bei dem Unternehmen nur gestört. Mary begann mit der vordersten Tür, die während ihres Rundgangs mit ihrem Erklärer niemals geöffnet worden war. Sie war nur mit einem einfachen Schloss gesichert. Die Frau hielt sofort den richtigen Schlüssel dazu in der Hand. Er passte auf Anhieb. Langsam drehte Mary Shealan ihn herum. Sie musste zwei Umdrehungen machen. Dann legte die Reporterin ihre Hand auf die Klinke und drückte sie vorsichtig herab. Die Tür ließ sich lautlos öffnen. Mary Shealan wagte es nur einen Spaltbreit, um eine mögliche Reaktion erst zu testen. Im Raum dahinter war es dunkel und totenstill, aber nicht ganz ...

Sie vernahm das ferne, plätschernde Geräusch erst einige Sekunden später. Es war so leise, dass sie selbst den Atem anhalten und intensiv lauschen musste, um überhaupt etwas zu hören. Es hörte sich an, als würde von den Wänden im Dunkeln Wasser tropfen. Das Geräusch erinnerte sie sofort an das Innere einer Tropfsteinhöhle, in der ständig Feuchtigkeit von den Wänden und Stalaktiten tropfte. Mary Shealan stieß die Tür weiter auf, um mehr erkennen zu können. Dann trat sie zwei Schritte nach innen. Der Rest ereignete sich von selbst. Mary Shealan taumelte und trat ins Leere.

Unter ihren Füßen gab es keinen Boden mehr! Die Klinke, an der die Reporterin sich noch festzukrallen versuchte, rutschte ruckartig aus ihrer Hand. Mary Shealan schrie gellend. Die Tür knallte ins Schloss, als würde sie eine unsichtbare Hand zuschlagen. Die Reporterin ruderte wild mit Armen und Beinen und hoffte, irgendwo Halt zu finden. Aber da war nichts. Keine Wand, kein Mauervorsprung ...

Nur ein einziges, riesiges Loch, in das sie wie ein Stein fiel. »Hilfe!« Ihre Stimme tönte durch die Finsternis und erwirkte in der dunklen Einsamkeit ein schauerliches Echo. Mary Shealan überschlug sich. Ihr Sturz schien kein Ende nehmen zu wollen. Eisiges Grauen erfüllte sie. Dies hier war eine bewusst errichtete und provozierte Todesfalle. Ein endloser, tödlicher Abgrund ...

In dem finsteren Schlund verhallten ihre furchtbaren Schreie und mischten sich mit dem Gluckern und den tropfenden Geräuschen, denen sie näherkam. Dann schlug sie auf, und ihre Sinne erloschen.

1. Kapitel

»Es bleibt also bei unserer Abmachung?«, fragte Richard und leerte sein Whiskyglas. »Wir starten morgen früh?«

»Gern«, erwiderte Ralf Ortner und sah dabei seine Freundin an, die ihm gegenübersaß. »Wir wollen natürlich in den sechs Wochen, in denen wir durch die Staaten fahren, so viel Erlebnisse und Besichtigungen wie möglich reinpacken.«

»Wenn ihr schon mal hier in Sacramento seid und der Wüste Nevadas so nahe, dann dürft ihr euch natürlich keinesfalls das berühmte Death Valley entgehen lassen, vor allem nicht die Geisterstädte, die es dort gibt.«

Richard Masters war neunundzwanzig und von kräftiger Gestalt. Man sah dem jungen Mann an, dass er viel Sport trieb. Er war ein hervorragender Läufer und Rugbyspieler. Lange Zeit hatte Masters sich in Deutschland aufgehalten, und eine Zeitlang sah es so aus, als wolle er dort für den Rest seines Lebens bleiben. Nach der Ableistung seines Militärdienstes bei einer Einheit in Friedberg lernte er zwei junge Deutsche kennen, einen Mann und eine Frau. Der Mann plante die Eröffnung eines Elektronik- und Computerfachgeschäfts, und Masters sollte sich daran beteiligen. Masters verstand viel von diesen Dingen und hatte seine Kenntnisse schon bei der Ausstattung des Halloweenfestes auf Burg Frankenstein bei Darmstadt unter Beweis stellen können.

Dort hatte er Brian Hill, einen der Initiatoren des Gespensterfestes, das an zwei Herbstwochenenden im Jahr über die Bühne ging, bei der Ausstattung unterstützt. Masters und sein Bekannter eröffneten in der Frankfurter Innenstadt einen kleinen Laden.

Aber das ging nicht lange gut. Es kam zwischen der Freundin jenes Bekannten und Richard Masters zu Eifersüchteleien. Schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten führten schließlich dazu, dass die Geschäftspartner sich schnell wieder trennten. Zwei der wenigen guten Bekannten und Freunde, die Masters blieben, war Ralf Ortner und dessen Freundin Angelika Schenk. Ralf und Angelika hielten auch nach Richard Masters' Rückkehr in die USA den Kontakt aus Old Germany mit ihm aufrecht, und sie teilten ihm mit, dass sie einen Trip durch die Staaten planten. Bei dieser Gelegenheit wollten sie ihn auch in Sacramento, wo er zu Hause war und zusammen mit seinen Eltern und seiner Schwester Lucy eine kleine Farm bewirtschaftete, besuchen.

Das hatten sie nun wahrgemacht. Seit einem Tag waren sie zu Gast auf der Farm, wo sie herzlich aufgenommen wurden. Gemeinsam hatten sie in alten Erinnerungen geschwelgt. Die ärgerlichen und wenig schönen Episoden aus seiner Zeit in Deutschland hatte Richard längst vergessen. Jedenfalls sprach er darüber nicht mehr. Er hatte die Elektronik noch immer als Hobby, und sogar ein zweites begonnen: das Sammeln und Reparieren von Oldtimern. Auf der Farm gab es einen zweckentfremdeten Schuppen, in dem sich keine Geräte für den Farmbetrieb, kein Heu und kein Stroh befanden, sondern alte Autos. Insgesamt acht uralte Typen, die er wieder aufgemöbelt hatte und die tatsächlich fuhren. Sie ließen das Herz eines jeden, der etwas von diesen Dingen verstand, höher schlagen.

Richard Masters besonderer Stolz war ein weißer Mercedes Benz 88, Baujahr 1928, mit Speichenreifen und aufklappbarem schwarzen Verdeck. »Damit werden wir natürlich nicht in die Wüste fahren«, sagte der Farmerssohn, als Angelika Schenk eine entsprechende Bemerkung machte. »Ich nehme unser Station-Car mit. Und ihr folgt immer schön hinter mir. Mit dem Rover, den ihr gemietet habt, seid ihr bestens ausgestattet. Die Strecke, die wir fahren, besteht teilweise nur aus Sand. Es gibt nicht mal eine Piste. Wir werden etwa eine Tagestour dafür benötigen, Freunde. Und die Nacht werden wir in Ghost Valley verbringen ...«

»Wieso das?«, wunderte sich Angelika. Sie war dunkelhaarig zierlich und charmant. Zu dem kräftig gebauten Ralf Ortner wirkte sie wie ein schüchternes, unreifes Mädchen. Sie trug das Haar offen und glatt, was ihren mädchenhaften Touch noch unterstrich. Wenn sie angab, dass sie bereits fünfundzwanzig war, glaubte ihr das kein Mensch. Sie wirkte wie achtzehn. »Weil das etwas ganz Besonders ist, Angie«, antwortete Rich Masters. »Als Kinder haben wir das oft als Mutprobe getan. Wir brachen zu sechst oder acht auf und blieben zwei, drei Tage in der Geisterstadt. Da sind die tollsten Sachen passiert.«

»Was zum Beispiel?«

»Wolfsgeheul in der Nacht ...«

»Unsinn. In Nevada gibt's keine Wölfe!«

»Richtig. Aber wer sich davon erschrecken ließ, der hatte schon verloren. Wir hatten einen Jungen dabei, der verstand sich prächtig darauf, Stimmen und Geräusche zu imitieren. Er konnte Indianergeheul nachmachen und furchtbar kreischende Vögel, sowie schreckliche Todesschreie, die uns plötzlich aus dem Schlaf rissen. Er behauptete natürlich immer, dass er das eine oder andere nicht gewesen sei. Aber das wollte ihm niemand abnehmen. Obwohl, an eine Sache erinnere ich mich, die war wirklich merkwürdig ...«

Er sah plötzlich nachdenklich aus.

»Und was war das?«, hakte Angelika nach, als weitere erklärende Worte Masters' ausblieben.

»Es geschah in der letzten Nacht ...«, murmelte der Farmerssohn da, und sein Blick war abwesend in die Ferne gerichtet, so dass er die Freunde am Tisch gar nicht recht wahrzunehmen schien. »Ich konnte nicht richtig schlafen. Es war eine wundervolle Sommernacht. Am Himmel funkelten tausend Sterne und es herrschte Vollmond. Wie üblich hatten wir, um die Mutprobe nicht zu einfach zu machen, uns in verschiedenen Räumen und sogar Häusern einquartiert. Keiner sollte dem anderen zu nahe sein und wirklich das Gefühl haben, allein zu sein. Ich weiß alles noch ganz genau und habe nichts vergessen. Ich lag also allein in einem alten, ehemaligen Saloon. Die halbe, schiefhängende Treppe, die einst zu den oberen Räumen zu den Girls hinaufführte und in die Gästezimmer, warf einen deutlichen Schatten infolge des grellen weißen Lichts, das der Mond durch die scheibenlosen, offenen Fenster warf.

Das Fensterkreuz selbst vereinte sich mit dem Treppenschatten, in dem ich plötzlich eine schummrige Gestalt erblickte. Ich fuhr zusammen und hielt den Atem an. Im ersten Moment glaubte ich zu träumen. Aber dann merkte ich: Ich lag ja wirklich wach und sah das Gespenst! Ich verhielt mich ruhig, mein Herz klopfte wie rasend und so laut, dass ich fürchtete, man könnte es im ganzen Haus hören. Die Erscheinung währte einige Sekunden. Sie schwebte zwischen den Schatten der Treppe und des Fensterkreuzes, auch dort, wo die Treppe in der Luft hing. Dort konnte kein Mensch aus Fleisch und Blut mehr gehen, denn es gab nichts, was nach oben führen konnte. Nur Geister können schweben! Ich wagte nicht, mich zu rühren. Die Gestalt, die ich atemlos mit meinen Blicken verfolgte, trat durch eine Öffnung, die ehemals eine Tür war. Dort oben aber befand sich kein Boden mehr. Die Gestalt musste also hinter der morschen und wackeligen Bretterwand, die zum Teil noch existierte, durch die Luft schweben. Ich nahm die Erscheinung nicht mehr wahr und lag noch immer reglos auf dem harten Boden, in meinen dickgefütterten Schlafsack gehüllt. Ich wagte nicht, mich zu erheben und hinauszulaufen, denn logischerweise musste die Gestalt jetzt durch die Luft auf der anderen Seite der Trennwand gleiten.

Vielleicht ritt sie auf einem Mondstrahl ... ich musste plötzlich an die magische Macht der Mondstrahlen denken, von denen mir meine Großmutter einst erzählt hatte. Es gab da die Geschichte eines Jungen, die ich nie vergessen konnte. Ich war fasziniert von seinen Abenteuern und hatte mir immer gewünscht, auch auf dem Mondlicht über die Dächer der schlafenden Stadt reiten und in ferne Länder reisen zu können. Mischten sich in diesem Augenblick, in dem ich selbst im hellen Mondlicht lag, Traum, Wunsch und Wirklichkeit? Ich habe später selbst noch viel darüber nachgedacht, bin aber erstaunlicherweise nie zu einem richtigen Ergebnis gekommen. Zweifel an dem, was ich in jener Nacht sah und hörte, sind jedoch bis heute geblieben ...«

»Du bist nicht aufgestanden, um nachzusehen, was das für eine Erscheinung war?«, fragte Ralf Ortner unvermittelt, als Masters sich unterbrach.

»Ich bin nicht mehr dazu gekommen.«

Ralf Ortner schüttelte verständnislos den Kopf. »Das verstehe ich nicht, Rich ...«

»Ich werde es euch gleich erklären. Es ist etwas dazwischengekommen.«

»Und was war das?«

»Stimmen ... wispernde, aufgeregt klingende Stimmen.«

»Das waren deine Freunde ... oder auch nur dieser eine, der so gut imitieren konnte ...« Richard Masters lachte rau. »Das glaubte ich im ersten Moment auch ... Na warte, sagte ich mir da, als es mir wie Schuppen von den Augen fiel. Die Kerle hatten sich für diese Nacht offensichtlich etwas vorgenommen und wollten mir Angst einjagen ... Ich reagierte diesmal sofort, erhob mich und schlich aus dem Raum in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Ich musste dazu an einem Nachbargebäude vorbei, einem großen, halb in sich zusammengerutschten Holzbau, der zum Teil schon im lockeren Sand eingesunken war. In dem Gebäude hielt sich Pete Summers auf.

Das war der Imitator. Die Worte, die von dort klangen, hörten sich an wie eine Beschwörung oder ein Geräusch in einer fremden, mir unbekannten Sprache. Ich kam auf die Idee, dass es sich um einen indianischen Dialekt handeln könnte. Auf Zehenspitzen schlich ich um das Gebäude herum und warf zunächst mal einen Blick durch das niedrige Fenster in den Schlafraum, den Pete sich erwählt hatte. Ich wollte nicht glauben, was ich sah ...«

»Wahrscheinlich hatte er eine ganze technische Ausrüstung mitgebracht, um mehrere Stimmen gleichzeitig ertönen zu lassen, wie?«, warf Ralf ein.

»So einfach war's leider nicht«, murmelte Masters. »Pete lag auf dem Boden und schlief friedlich. Er hatte weder Mikrofone noch Tonbandgeräte noch Lautsprecher irgendwo installiert. Wir alle hatten nichts weiter dabei als unsere Schlafsäcke und Proviant und Wasser für vier bis fünf Tage. Wie ein Wiesel rannte ich um das baufällige Gebäude herum. Jetzt war mir schon alles egal. Nun wollte ich's genau wissen. Die Stimmen waren lauter geworden, hörten sich an wie Klagen. Dann erfüllten Schreie die Luft. Danach peitschten mehrere Schüsse auf. Ich sah ungefähr hundert Meter entfernt zwischen den morschen, hölzernen Rippen der noch existierenden Häuser von Ghost Valley eine Szene, die ich nie in meinem Leben vergessen werde. Dort hinten standen, wie die Tiere zusammengetrieben, mehrere Indianer. Ich erkannte es im silbernen Mondlicht genau.

Die roten, sehnigen Körper, die ledernen Lendenschurze, das schwarze glänzende Haar ... Ein junges Mädchen befand sich darunter. Sie schrie am meisten. Ich sehe ihre ungläubig weitaufgerissenen Augen noch vor mir. Ich höre die Schüsse ... eine ganze Salve. Aber ich sehe die Schützen nicht. Sieben Indianer sind es, sechs Männer und jenes junge Mädchen. Sie stürzen und purzeln ineinander wie die Kegel. Dann fallen sie in ein Loch. Es ist sehr tief. Wie in Trance laufe ich darauf zu. Ich habe das Gefühl, von unsichtbaren Händen geschoben zu werden. Dann stehe ich vor dem Loch. In etwa fünf Meter Tiefe liegen die Leichen unter mir. Ich schrie herum, weckte die anderen und führte sie zu dem Loch. Und noch während wir dort stehen und auch meine drei Begleiter ins Loch starren, verändert sich der Eindruck plötzlich ... Die toten Indianer in der Tiefe werden zu durchsichtigen Schemen, das Loch schließt sich, und wir stehen mitten auf einem freien Platz. Das Loch, jenes Massengrab, ist verschwunden ... Wir können alle nicht mehr schlafen. Wir rotten uns zusammen, sind sprachlos und brechen im Morgengrauen auf ... Wir haben uns geschworen, über das, was wir in Ghost Valley erlebten, mit niemandem zu sprechen. Das haben wir uns geschworen.«

»Und diesen Schwur habt ihr alle gehalten?«, erkundigte sich Ralf Ortner.

»Ja.«

»Aber heute hast du ihn gebrochen. Du hast uns darüber erzählt.«

»Das macht nichts. Wir haben ausgemacht, zehn Jahre unseren Mund zu halten. Das Ereignis aber liegt schon vierzehn Jahre zurück.« Angelika Schenk musterte den Sprecher. Dann spielte ein amüsiertes Lächeln um ihre Lippen. »Eine tolle Gespensterstory, Rich. Offen gestanden: Ich höre so etwas gern. Aber ich glaube kein Wort davon. Eines ist dir allerdings vortrefflich gelungen: Wir haben deiner spannenden Geschichte zugehört, und du hast es verstanden, uns verdammt neugierig auf Ghost Valley zu machen ... Wir werden bestimmt auch Ausschau nach Gespenstern halten ...« Richard Masters blieb ernst. »Das Ganze war kein Witz ... Eigentlich wollte ich überhaupt nicht darüber sprechen. Es kam automatisch heraus ... Ich hätte den Mund halten sollen, um euch nicht kopfscheu zu machen.«

»Das hast du nicht getan«, warf Ralf Ortner ein. »Im Gegenteil: Du hast uns jetzt erst richtig neugierig gemacht. Wenn alles, was ihr von der Stadt Ghost Valley gesehen habt, noch vorhanden ist, haben wir wirklich Glück. Du hast die Geisterstadt damals als Fünfzehnjähriger zuletzt gesehen?«

»Ja.«

»Du bist niemals wieder dort gewesen? Hast du herausgefunden, was das wirklich war, das euch in jener Nacht begegnete?«

»Wir wussten, dass wir jene mysteriöse Geschichte, die man sich über Ghost Valley allenthalben erzählt, tatsächlich erlebt haben. Die Geisterstadt im Death Valley soll verflucht sein. In einer Nacht, so heißt es, soll ein Mordkommando ein Blutbad angerichtet haben.«

»Wusstet ihr schon damals davon?«, hakte der Deutsche sofort nach. »Oder habt ihr das erst nach eurem Erlebnis erfahren?«

»Du meinst, dass wir vielleicht durch das, was man sich erzählte, beeinflusst waren und wir uns das alles nur einbildeten?«

»Das wäre immerhin eine mögliche und vor allem logische Erklärung.«

»Ich habe viel über das nächtliche Gespenstererlebnis nachgedacht, das kannst du mir glauben. Ja, wir wussten eine Menge über Ghost Valley. Es gibt tausend Geschichten und Variationen über diesen Ort. Wir wussten um unheimliche Erlebnisse und Erscheinungen, aber niemals hat jemand Genaueres darüber sagen können. Wir waren offensichtlich die Ersten.«

»Hast du nochmal etwas von den anderen Jungen gehört, die damals dabei waren? Haben sie vielleicht versucht, das Geheimnis jener Nacht zu ergründen?« Die Blicke der beiden jungen Männer begegneten sich. Einen Moment kam es Ralf Ortner so vor, als würde sein Gegenüber leicht zusammenzucken und etwas irritiert sein. Aber dann begründete er diesen flüchtigen Eindruck mit den herrschenden Lichtverhältnissen. Sie saßen in einer urigen Kneipe, die wie ein alter Geräteschuppen rustikal und originell eingerichtet war und in der ein seltsames Halbdunkel herrschte. Dicke Kerzen in Wandhaltern spendeten jenes unruhige Licht, in dem sie ihr Gespräch führten und ihre Getränke schlürften.

»Ich glaube, dass keiner mehr den Mut gefunden hat, nach dieser Nacht noch mal etwas auf eigene Faust zu unternehmen, Ralf. Wir mieden irgendwie den Kontakt untereinander, als befürchteten wir, dass man uns etwas anmerken könne. Kurze Zeit später sind die anderen dann weggezogen. Ich hatte viel auf der Farm zu tun und musste fest mit anpacken, denn zu diesem Zeitpunkt war mein Vater schwerkrank. Ich war mit fünfzehn der Älteste und der einzige Junge. Lucy, meine Schwester, war damals zwölf. Sie half im Haus mit, während ich im Hof und auf den Weiden zum Einsatz kam. Von den Freunden, die ich damals hatte, lebt heute keiner mehr in Sacramento und Umgebung.«

»Und der Wunder-Imitator, dieser Pete Summers?«

»Ich wüsste selbst zu gern, wo der sich herumtreibt. Einen Typ wie Pete, den vergisst man sein ganzes Leben nicht. Er hatte fuchsrotes Haar, Sommersprossen und abstehende Ohren. Der fiel schon durch sein Äußeres auf. Wenn ich ihm irgendwo wiederbegegnete, würde ich ihn auf der Stelle erkennen. Der hat sich bestimmt nicht verändert. Keine Ahnung, was aus ihm geworden ist. Vor zwei oder drei Jahren aber hab ich im Gespräch, auch hier im Shed, durch einen Handelsvertreter, der in der Gegend zu tun hatte, erfahren, dass Summers irgendwo im Norden von Nevada sein soll. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Die Beschreibung allerdings passte zu ihm. Er besuchte später das College und studierte danach angeblich naturwissenschaftliche Fächer. Passen würde es zu ihm. Er interessierte sich schon immer für komplizierte Vorgänge und wollte stets ganz genau wissen, wie die Dinge zusammenhängen. Pete Summers soll für einen großen Chemiekonzern tätig sein ...«

Sie blieben an diesem Abend nicht zu lange im Shed. Um vier Uhr früh wollten sie aufbrechen. Vom Gasthaus bis zur Farm waren es drei Meilen. Die hatten sie mit einem der alten Vehikel aus der Vorkriegszeit zurückgelegt. Das Automobil aus dem Jahr 1936, ein moosgrüner Bugatti, stand draußen vor der Tür und war von einigen neugierigen Dorfbewohnern, vor allem Kindern, umlagert. Das chrom- und lackblitzende Modell war sechs Meter lang und sah aus, als käme es frisch aus der Werkstatt. Richard Masters nahm den Platz am Steuer ein, das deutsche Paar setzte sich auf die Rücksitze. Lucy Masters war an diesem Abend nicht mit von der Partie, weil sie sich regelmäßig mit ihrer Freundin Francis Grown traf, um ein Fest auf der Farm vorzubereiten, das in drei Wochen stattfinden sollte.

Lucy und Francis studierten mit einigen anderen jungen Mädchen und Männern von den Nachbarfarmen und aus dem Ort ein Theaterstück ein, das die Entwicklung einer Familie vom Beginn der Besiedlung des Landes bis zum heutigen Tag zum Inhalt hatte. Lucy und Francis waren über das Unternehmen, das im Morgengrauen starten sollte, unterrichtet und wollte unbedingt daran teilnehmen. Richard Masters startete den Bugatti auf Anhieb und löste die Handbremse. Tuckernd zog das Automobil über die schmale, asphaltierte Zufahrt. Die Kinder liefen noch einige Schritte hinter dem langsam fahrenden Auto her, jubelten und riefen den Insassen etwas zu und blieben dann zurück.

In der Nacht packten Richard Masters und Lucy den Station-Car, und auch Ralf Ortner und seine Freundin Angelika richteten Decken, Schlafsäcke, Proviant und Trinkvorräte für eine Woche. Zu fünft hätten sie auch in einem Auto fahren können, aber Richard Masters, der die Gegend und die Tücken des Death Valley kannte, ging auf Nummer Sicher. Mit zwei Fahrzeugen ging man kein Risiko ein. Wenn eines wider Erwarten ausfiel, funktionierte immer noch das andere.

Eine Stunde vor Mitternacht lagen sie in ihren Betten. Angelika Schenk blieb noch lange wach, konnte nicht recht einschlafen, obwohl sie sich bemühte. Vielleicht war gerade der Zwang daran schuld, dass sie keine Ruhe fand. Sie fiel schließlich in einen unruhigen, von Alpträumen durchsetzten Schlaf. Sie sah sich mutterseelenallein in einer Geisterstadt – mitten in der Wüste, über der Geier kreisten.

In den leeren Straßen zwischen den von Wind und Wetter zerfressenen und zusammengestürzten Holzhäusern herrschte eine seltsame Stimmung. Es war später Nachmittag, die Sonne brannte erbarmungslos vom blauen Himmel, und die junge Deutsche taumelte durch den heißen Sand, auf der Suche nach Wasser und den Freunden, mit denen sie hierher gekommen war und die sie vermisste. Sie rief nach ihnen. Ihre Stimme war schwach und kraftlos. Ihr Mund war ausgedörrt, Zunge und Augen geschwollen, die Lippen aufgerissen. Sie wollte Ghost Valley verlassen, trat jedoch immer auf der Stelle. Und wenn sie meinte, der Geisterstadt endlich den Rücken gekehrt zu haben, wurde sie von schrecklich anzusehenden, übergroßen Gestalten eingekreist und zurückgedrängt. Stunden um Stunden, so kam es ihr vor, wiederholte sich dieses makabre Spiel. Die Sonne versank glutrot am Horizont und schnell brach die Dunkelheit herein.

Mit der Dunkelheit kam die Kälte. Angelika Schenk torkelte nur noch. Ihr wurde kalt, die Zähne schlugen aufeinander. Sie war noch immer in der Geisterstadt und sah sich plötzlich vor dem Loch stehen, von dem Richard Masters berichtet hatte. Sie vernahm Stimmen und beugte sich nach vorn, um in den Schacht zu sehen. Plötzlich erhielt sie einen Stoß in den Rücken. Die junge Frau streckte die Arme aus und versuchte, den Sturz zu verhindern. Aber wie ein Stein fiel sie in die Tiefe. Angelika schrie gellend, so dass es markerschütternd und schaurig durch die Wüstennacht hallte. Angelika ruderte mit Armen und Beinen und hatte zeitweise das Gefühl, zu schweben. Sie kam nicht hart unten auf, sondern sanft. Die Finsternis umgab sie wie ein Mantel, und die junge Frau merkte, dass sich etwas darin bewegte.

Die entsetzlich großen und schleimig aussehenden Menschen, die sie tagsüber immer wieder in das unheimliche Dorf zurückgedrängt hatten, waren ihr nun ganz nahe. Sie stürzten sich auf sie, packten sie, rissen sie zu Boden und schlugen dann im Stil wilder, ausgehungerter Tiere die spitzen Zähne in ihr Fleisch. Kannibalen?!, schoss es Angelika Schenk durch den Kopf. Ich bin Menschenfressern in die Hände gefallen!

Da war es wieder ...

Die Männer in dem schwach beleuchteten Zimmer hörten es ganz deutlich. Klagen und Stöhnen erfüllte die Luft. Larry Brent alias X-RAY-3 und Dr.

Shawn Stilling, ein wissenschaftlicher Mitarbeiter der PSA, hielten den Atem an. Stillings Augen richteten sich unwillkürlich auf das flackernde grüne Licht an den beiden aufgestellten Tonbändern. Die hochempfindlichen Mikrofone und die Bänder waren eingeschaltet. Das Stöhnen wurde lauter und drang aus den Wänden des Zimmers, das nur mit den notwendigsten Möbelstücken eingerichtet war: ein schmaler, hoher Schrank, ein Tisch, ein Stuhl, ein Sessel. An der Wand neben dem Fenster stand ein altmodisches Bett. Zwei Bettvorleger und ein kleiner Nachttisch mit einer Lampe vervollständigten das Interieur. Das Stöhnen ging über in klagendes, qualvolles Röcheln.

Dann war eine dunkle Stimme zu hören, die leise und verzerrt klang. Sie hörte sich an, als käme sie von einem Tonband, das nicht mit der richtigen Geschwindigkeit abgespult wurde. Unartikulierte Laute waren zu hören, zu tief und zu dunkel, um von den beiden Männern auf Anhieb verstanden zu werden. Dann erfolgte noch mal das Röcheln und Stöhnen, ehe wieder Stille einkehrte. In die nächtliche Ruhe, die die beiden Männer umgab, mischte sich ein leises, kaum wahrnehmbares Brummen. Das waren die Elektromotoren der beiden Tonbandgeräte. Stilling ließ noch zwei Minuten verstreichen. Die Zeit kam ihnen lange vor. Als die unheimlichen Geräusche aus der Wand nicht noch mal hörbar wurden, schaltete er die Geräte ab. Larry Brent knipste die Deckenlampe an, und helles Licht vertrieb die letzten Schatten aus den Ecken des kleinen Hotelzimmers, in dem sie sich seit dem späten Abend befanden.

X-RAY-3 hatte den Auftrag, Shawn Stillings wissenschaftlichem Versuch beizuwohnen. Aus dem Hotel Marwick, einem Haus der einfachen Preisklasse, waren Klagen erfolgt. Sie wurden von den Besitzern und von Gästen vorgetragen, die das Zimmer Nr. 124 in der ersten Etage nicht mehr bewohnen wollten. Um Mitternacht, so behaupteten die Hotelgäste, machten sich seltsame und beängstigende Geräusche bemerkbar. Sie hörten sich an, als würde jemand einen qualvollen Tod erleiden. Die Hotelführung und die Hotelangestellten, die stets zur Nachtzeit Dienst an der Rezeption taten, wurden alarmiert. Aber bis jemand kam, der sich das geisterhafte Röcheln, Stöhnen und Schreien anhörte, war es verschwunden.

Die Gäste, die die unheimlichen Erlebnisse hatten, weigerten sich standhaft, sich weiter in dem Spukzimmer aufzuhalten, und forderten einen anderen Raum. Ein Angestellter des Marwick machte die Probe aufs Exempel. Er richtete sich in Zimmer Nr. 124 ein und verbrachte darin eine Nacht. Auch für ihn wurde es keine vollständige. Punkt Mitternacht, zur Geisterstunde, ging es los. Die unheimliche Stimme machte sich wieder bemerkbar, die Schreie aus den Wänden waren bis in den Korridor zu hören. Der Angestellte, der als besonders mutig galt, konnte sich selbst nicht mehr beherrschen und schrie mit. Wie von Furien gehetzt rannte er aus dem unheimlichen Zimmer. Es gab keinen Zweifel mehr. Die Beschwerden der Gäste waren berechtigt. Der Spuk in Zimmer Nr. 124 musste als vorhanden akzeptiert werden. Alle anderen natürlichen Erklärungen hatten versagt. Ein Spezialtrupp der Fernmeldegesellschaft hatte das kleine Hotel bereits vom Keller bis zum Dach mit elektronischen Suchsonden unter die Lupe genommen. Der Verdacht, dass vielleicht ein Funker aus der Nachbarschaft seine Späße mit den Gästen trieb und Miniaturlautsprecher irgendwo in den Nebenzimmern oder an den Wänden verborgen waren, hatte sich nicht bestätigt.

Hier schienen in der Tat übernatürliche Kräfte in Frage zu kommen. Das Marwick wurde zum Stadtgespräch. Obwohl die Hotelleitung sich bemüht hatte, nichts an die Öffentlichkeit dringen zu lassen, waren die Gespenstererscheinungen in aller Munde. Sogar die Boulevardpresse berichtete darüber. Viele Neugierige reisten an und wollten unbedingt in dem Spukzimmer schlafen. Doch dies wurde von der Hotelleitung unter strengstes Tabu gestellt. Solange man nicht wusste, was wirklich dahinter steckte, wollte man nichts riskieren. Was in Zimmer Nr. 124 geschah, konnte sich auch als gefährlich erweisen. Die unheimlichen Schreie mussten eine Ursache haben. Die Polizei in Los Angeles, die den Fall zuerst auf den Schreibtisch zur Bearbeitung bekam, tat nach einer eingehenden Untersuchung das einzig Richtige: Sie informierte die PSA in New York, die für außergewöhnliche Vorkommnisse zuständig war. X-RAY-1 kümmerte sich sofort um den Fall.

Unter Berücksichtigung der vorliegenden Untersuchungsergebnisse kamen die auswertenden Computer zu dem Ergebnis, dass der Spuk, der vor rund vier Wochen zum ersten Mal aufgetreten war, als bedenklich und gefährlich eingestuft werden musste. Ein Grund dafür war die Geschichte des Hauses, in dem seit acht Jahren das Marwick-Hotel untergebracht war. Ganz früher diente das Gebäude einem Unternehmer als Büro- und Lagerhaus. Später waren mehrere Läden darin untergebracht, ehe die Erben des Erbauers, der Marwick hieß, das Gebäude wegen bestehender Schulden veräußerten. Es kam in die Hände eines Mannes, der die Idee hatte, aus dem allgemeinen Touristenrummel, der vor etwa dreißig Jahren einsetzte, seine Vorteile zu ziehen.

Nicht jeder, der nach Los Angeles kam, konnte sich ein teures Hotel leisten. Der Umbau des ehemaligen Ladengeschäftes in ein einfaches, preisgünstiges Hotel lohnte sich. Kurz nach der Eröffnung des Marwick kam es dort zu einem Verbrechen. Die Bluttat lag nunmehr achtundzwanzig Jahre zurück. Aber sowohl die auswertenden Computer als auch der geheimnisvolle Leiter der PSA, X-RAY-1, berücksichtigten das Vorkommnis von damals bei der Analyse und bei der Überlegung. Larry und Shawn Stilling hörten aufmerksam und gespannt die Aufnahmen von den eigenartigen, unheimlichen Geräuschen und Stimmen noch mal an. Die Laute waren konserviert! Jede Einzelheit hatten die Mikrofone festgehalten. In der Wiederholung empfanden die beiden lauschenden Männer das rätselhafte Ereignis noch immer schockierend.

Die klagende Stimme, Stöhnen und Rufen, das wie ein Hilfeschrei klang, und in dem Larry die Worte »lasst ... mich hier ... raus ...« und »ich will fort ... von hier ...« zu verstehen meinte, waren stellenweise ganz deutlich zu hören. Stilling konnte die Bandgeschwindigkeit stufenlos verändern. Dadurch brachte er die verzerrt klingende Stimme auf eine hörbare und für ihre Ohren verständliche Frequenz. Beim Sprechen erklang ein dumpfer, hohltönender Laut, der sich anhörte, als spräche jemand in einen hohlen Knochen.

»Die Stimme eines Geistes, möglicherweise eines Toten«, murmelte Larry Brent, der sympathische Agent der legendären Psychoanalytischen Spezialabteilung, dem die alte und wechselvolle Geschichte des Marwick nicht aus dem Kopf ging.

»Wenn ich mich recht entsinne, Shawn, starben damals in diesem Zimmer zwei Menschen. Das Opfer und sein Mörder. Es war ein Eifersuchtsdrama, das hier über die Bühne ging. Eine Frau erschoss ihren Mann und beging dann Selbstmord. Das Zimmer wurde wegen des darin vergossenen Blutes eine Zeitlang als das rote Zimmer bezeichnet. Genau geklärt werden konnte der Vorgang nicht. Es gab Zeugen, die noch eine andere Darstellung gaben, nicht wahr?«