Larry Brent Classic 050: Der Leichenparasit - Dan Shocker - E-Book

Larry Brent Classic 050: Der Leichenparasit E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Panoptikum der Geister Die Leiche der jungen Sekretärin Leila Shelton gibt der Londoner Polizei Rätsel auf. Morna Ulbrandson und Chief-Inspector Edward Higgins entdecken außer Bissspuren am Hals ein daumennagelgroßes Mal an der Schläfe der Toten, die Silhouette einer fliegenden Fledermaus. X-GIRL-C vermutet, dass der Geflügelte Tod zurückgekehrt ist und quartiert sich in Leila Sheltons Haus ein. Als das Gebäude durch dämonische Kräfte zerstört wird, verschwindet Morna Ulbrandson. Larry Brent macht sich sofort auf die Suche nach seiner Kollegin, die für tot gehalten wird. Seine Spur führt ihn ins Panoptikum der Geister ... Leichenparasit des Geflügelten Todes Das Inferno tobt. Einige der teuflischen Wachsfiguren sind auf der Flucht. Larry Brent, seine Schwerster Miriam und Morna Ulbrandson schweben in höchster Lebensgefahr. X-RAY-3 sieht sich dem Geflügelten Tod gegenüber und handelt. Larry glaubt, dass er den Dämon mit dem Zehrenden Feuer vernichten konnte. Doch die Mächte der Finsternis halten für den PSA-Agenten noch eine weitere tödliche Überraschung bereit. Der Geflügelte Tod wird zum Leichenparasit und ist blind vor Rache. Dabei hat er die Menschen im Auge, die Larry Brent am meisten bedeuten.

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DAN SHOCKERS LARRY BRENT

BAND 50

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Fachberatung: Robert Linder

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

978-3-95719-850-1

Dan Shockers Larry Brent Band 50

DER LEICHENPARASIT

Mystery-Thriller

Panoptikum der Geister

von

Dan Shocker

Prolog

Leila Shelton, zweiunddreißigjährige Sekretärin, war alles andere als eine furchtsame Frau. Nur diese Tatsache erklärte wahrscheinlich, dass sie sich nichts dabei dachte, weit draußen und vor allem auch noch allein zu leben. Um zu ihrem Arbeitsplatz zu gelangen, war sie jeden Tag zwei Stunden unterwegs.

Aber auch das nahm sie in Kauf, denn sie lebte gern in dem kleinen alten Haus am Waldrand. Hier gab's keine Busse, keine Eisenbahn und keine U-Bahn. Der nächste Ort lag zwölf Meilen entfernt, und auch dort gab es nicht mal alles zu kaufen. Da musste einer schon in die Stadt fahren, ein Weg von rund dreißig Meilen. Leila Shelton verdiente gut in der großen Export- und Importfirma, für die sie tätig war. Sie hätte sich ein Apartment oder sogar eine Penthouse-Wohnung in der Stadt leisten können.

Aber sie wollte nicht. Sie wollte hier draußen in ihrem ehemaligen Elternhaus wohnen. Die brünette junge Frau mit den schmalen Lippen stellte ihren Triumph Vitesse in die Garage. Leila Shelton konnte das Tor durch eine Ultraschall-Fernbedienung öffnen und schließen, ohne den Wagen zu verlassen. Leila war zwar furchtlos, aber keineswegs leichtsinnig. Sie wusste, dass heutzutage viele Verbrechen passierten. Überfälle auf alleinstehende Frauen, denen man die Handtasche wegriss oder die man im schlimmsten Fall vergewaltigte, waren an der Tagesordnung. Leila Shelton wusste, dass sie eine gewisse Vorsicht walten lassen musste. Das betraf ihr Leben in der Stadt genauso wie hier draußen auf dem Land. Die Garage war hell erleuchtet, und die Sekretärin vergewisserte sich mit einem Blick in die Runde, dass sich außer ihr niemand hier aufhielt.

Dann erst setzte sie die Fernbedienung in Gang. Leise knarrend bewegte sich das Garagentor und schloss die Zufahrt. Die Engländerin stieg aus. Sie trug einen weit schwingenden Rock und eine weiße, sportlich geschnittene Bluse. Von der Garage aus führte eine Tür direkt ins Wohnhaus. Der Zugang war durch eine grüngestrichene Feuerschutztür zu erreichen, die mit zwei Schlössern gesichert war. Dahinter lagen zwei schmale Stufen, und es folgte eine weitere Tür, die direkt ins Haus führte. Leila Shelton schloss beide Türen wieder hinter sich ab und schaltete von dem kleinen Wohnraum aus, in den sie kam, das Licht in der Garage aus. Im Haus war es still und friedlich wie immer.

Die Frau ging zuallererst zu der Stereoanlage und schaltete sie ein. Eine Platte lag bereits auf dem Plattenteller. Leila liebte die Ruhe und klassische Musik. Und diese wiederum konnte sie hier draußen in der Stille, abseits vom Getriebe und dem Verkehrslärm der Stadt, am besten genießen. Kraftvolle Musik erfüllte wenige Sekunden nach Leila Sheltons Rückkehr das nächtliche Haus. Die brünette Frau begann sich auszukleiden und ging ins Bad. Die Lautsprecher waren weit aufgedreht, so dass sie auch während des Duschvorgangs noch die Musik mitbekam. Leila stellte sich unter die Dusche, das heiße Wasser rauschte auf sie herab, und sie genoss die Wärme und Geborgenheit, die es vermittelte. Die Zweiunddreißigjährige war eingehüllt in warmes Wasser, in eine Dampfwolke und die vollklingenden Töne aus den Lautsprechern. Die Frau drehte sich im Kreis, summte leise die Melodie mit und sah plötzlich den Schatten hinter dem Dampfvorhang. Da passierte es auch schon ...

Ein helles Ratschen war zu hören. Der Plastikvorhang wurde in seiner ganzen Länge von oben herab aufgeschlitzt. Ein bizarrer Schatten stürzte sich im gleichen Augenblick auf die Duschende, die gellend aufschrie und um sich schlug. Jemand war unbemerkt ins Haus gelangt und hatte ihr aufgelauert. Leila Shelton wurde von einem heftigen Schlag getroffen und gegen die Wand geworfen. In dem dichten Dampf und dem immer noch herabprasselnden Wasser sah sie die Umrisse einer schrecklichen, furchteinflößenden Kreatur. Das war kein Mensch! Es handelte sich um eine riesige Fledermaus, deren gezackte, eingekerbte Flügel den Duschvorhang zerfetzten und auch den Plastikhaken von der Stange rissen. Die Enden der dünnen, lederartigen Flügel waren mit krallenartigen Widerhaken besetzt, die in Leilas Körper schnitten.

Aber das war noch nicht alles. Die Überfallene registrierte in diesen schrecklichen Sekunden noch mehr. Sie sah von heißem Dampf und Wasser eingehüllt einen Kopf. Er saß genau zwischen den langen, ausladenden Flügeln. Das war kein normaler Kopf, sondern ein Totenschädel!

Spitze, dolchartige Zähne griffen sie an. Die dunklen, gezackten Flügel deckten sie ab wie ein Mantel, während der Kopf nach vorn schnellte. Ein messerscharfes Gebiss hackte in ihren Hals, und im selben Moment spürte die in der Duschwanne Zusammengebrochene, wie das Leben aus ihrem Körper floh. Ihre Bewegungen ermatteten. Sie konnte nicht mehr schreien. Eine wohltuende und gleichzeitig gefährliche bleierne Schwere breitete sich in ihrem Körper aus. Der unheimliche Angreifer, der aussah wie eine riesige Fledermaus mit einem menschlichen Totenschädel zwischen den Schwingen, ließ erst von seinem Opfer ab, als es sich nicht mehr rührte.

Zusammengekauert, bleich und in seltsam verkrümmter Haltung lag Leila Shelton in der Duschwanne. Der unheimliche Angreifer schwang zurück. Im Hals der Toten waren deutlich zwei tiefe, blauunterlaufene Bissabdrücke zu sehen. Das Mal des Vampirs ...

Aus den Wunden sickerten die letzten Blutstropfen und wurden von dem herabprasselnden Wasser weggespült. Noch eine Veränderung wies der Körper der Sekretärin auf. An ihrer linken Schläfe war ein dunkles Mal zu erkennen. Es erinnerte an einen Leberfleck, der etwa daumennagelgroß war. Aber, es war kein Leberfleck, sondern die Abbildung der Silhouette einer fliegenden Fledermaus.

1. Kapitel

Die Frau, die mit den beiden Männern durch die hallenden Gänge des Leichenschauhauses schritt, war eine Klasse für sich. Sie hatte schulterlanges, blondes Haar, das in burschikosen Locken ihr hübsches Gesicht rahmte und locker in die Stirn fiel.

Die langbeinige Blondine bewegte sich mit dem schnellen Schritt eines Mannequins auf dem Laufsteg. Sie kannte sich dort auch aus, denn ehe sie zur inzwischen legendär gewordenen PSA stieß und als Agentin alle Tests und Trainings mit Bravour bestand, war sie Vorführdame.

Die Attraktive war niemand anderes als Morna Ulbrandson. Nach den merkwürdigen Begleitumständen und den Feststellungen beim Tod einer gewissen Leila Shelton war Morna Ulbrandson alias X-GIRL-C von dem geheimnisvollen Leiter der Psychoanalytischen Spezial-Abteilung sofort auf den Weg geschickt worden. Mornas Begleiter waren Edward Higgins, seines Zeichens Chief-Inspector bei New Scotland Yard, und Dr. Ronald Meechum, ein Gerichtsmediziner, der die aufgefundene Tote untersucht und einen ausführlichen Bericht geschrieben hatte. Der diensthabende Angestellte des Leichenschauhauses hatte sich gar nicht die Mühe gemacht, mitzukommen. Edward Higgins kannte sich hier aus. Der sympathische Engländer trug einen dezent gemusterten, dunkelgrauen Anzug und bewegte sich mit erstaunlicher Elastizität.

Dabei stand Higgins kurz vor der Pensionierung, an die er jedoch noch nicht denken wollte. Leila Sheltons Leiche war in einer besonderen Kammer untergebracht. Higgins hatte sich einen Schlüssel hierzu geben lassen und schloss auf. Die Kühlkammer lag im Keller des langgestreckten Backsteingebäudes. In dem schmalen Raum, der von einer vergitterten Deckenleuchte schwach erhellt wurde, standen rechts an der Wand zwei Rollbahren hintereinander und in der Ecke lag ein halbhoher, breiter Gegenstand, der von einem Laken abgedeckt war. Die Luft, die den drei Menschen entgegenschlug, war kalt.

»Hier ist sie, Morna«, sagte Higgins nur und zog mit spitzen Fingern das Leintuch weg. Darunter hervor kam eine sitzende junge Frau. Leila Shelton! Sie hockte noch genau so da, wie man sie nach ihrem Tod in der Duschwanne gefunden hatte, verkantet und in bizarrer Haltung, so wie sie zusammengebrochen war. Fünfzehn Stunden nach ihrem Tod hatte man sie gefunden. Da war Leila schon steif. Man hätte ihr sämtliche Knochen im Leib brechen müssen, um sie wieder in Form zu bringen.

»Ich habe in ihren Adern keinen Tropfen Blut mehr gefunden«, ließ Dr. Meechum sich vernehmen. Er hatte schütteres, dunkles Haar, durch das seine Kopfhaut schimmerte. Dabei war Meechum erst Ende dreißig. Er neigte zum Bauchansatz und vermittelte den Eindruck eines Menschen, der gern aß und trank.

Morna Ulbrandson nickte wortlos und besah sich die Leiche eingehend. Die beiden blutunterlaufenen Bisswunden am Hals und das Mal der Fledermaus an der Schläfe der Toten interessierten sie besonders.

»Ich hoffe nur eines, Morna«, flüsterte Edward Higgins, der neben ihr in die Hocke gegangen war.

»Dass unser alter Freund Dracula nicht wiederauferstanden ist und sein Unwesen treibt. Zu London scheint er eine besondere Beziehung zu haben, und die Begegnung und Ereignisse von damals habe ich nie vergessen können ...«

»Das ist verständlich, Edward. Wenn man zum ersten Mal mit einer Sache konfrontiert wird, die man nie für möglich gehalten hat, zweifelt man zunächst mal an seinem Verstand. Monster, Schwarze Magie, Spuk, Vampire, Wiedergänger und Zombies sind interessant und vermitteln uns allen ein Gefühl von Schauer und Gänsehaut, wenn sie im Roman oder Film vorkommen. Der Gedanke, dass es so etwas auch wirklich geben könnte, entwickelt sich höchstens mal im Hinterstübchen, wird aber dann nicht mehr ganz ernst genommen. Bis der Moment im Leben eines Menschen kommt, da Dracula oder einer seiner Nachboten persönlich vor der Haustür steht ...«

»So ähnlich war meine Erfahrung mit dem Unwirklichen und Unfassbaren«, gestand Edward Higgins. Damals hatte er zum ersten Mal von der geheimnisvollen Spezialorganisation PSA gehört. Seit jenen Tagen war er einer der intensivsten und aufmerksamsten Mitarbeiter. Sobald in einem Fall, der auf seinem Schreibtisch landete, ein undurchschaubarer Faktor erkennbar war, gab er der PSA einen persönlichen Hinweis. Bei den meisten Behörden würde die Meldung ohne eine zusätzliche Stellungnahme per Fernschreiber weitergegeben. Das war immerhin schon ein Fortschritt. Die beiden Hauptcomputer der PSA speicherten Hunderttausende von Fällen und verglichen sie mit Ereignissen, die früher möglicherweise schon mal in Erscheinung traten, die Menschen in Angst und Schrecken versetzten und sogar in den Tod trieben. Dinge, die man woanders nicht mehr bearbeiten konnte, weil die Mitarbeiter eine falsche Einstellung dazu hatten oder gar nicht auf die Idee kamen, dass sich etwas Außergewöhnliches dahinter verbarg, waren das Betätigungsfeld der Frauen und Männer, die ihr Leben in den Dienst der PSA stellten. Und damit in den Dienst der Menschheit, was als feine Gravur in der massivgoldenen Weltkugel stand. Morna trug den Miniatur-Globus als Anhänger an einem Armkettchen. Er enthielt eine komplizierte, vollwertige Sende- und Empfangsanlage, mit der die PSA-Agentin von jedem Punkt der Erde aus über Satellitenfunk mit der Zentrale in New York Kontakt aufnehmen oder Anweisungen von dort entgegennehmen konnte.

»Dracula konnte seinerzeit vernichtet werden«, erwiderte die hübsche Schwedin auf Higgins' Bemerkung.

»Jedenfalls sind wir der festen Ansicht. Wie Leila Shelton aussieht, gibt es allerdings keinen Zweifel daran, dass sie eine ungewöhnliche und schreckliche Begegnung hatte. Der Biss stammt von einem Vampir. Ich habe auch einen Verdacht ...«

»Welchen, Morna?«

»Bei diesem Überfall könnte der Geflügelte Tod dahinterstecken. Und der wiederum hat mit der Familie der Crowdens zu tun.«

Der Name Crowden war Higgins ein Begriff. Vor einiger Zeit kam es im westlichen Teil Englands zu Ereignissen, die die PSA in Atem hielten. Die Crowdens waren eine Familie, die ihr Leben in den Dienst der Hölle und ihrer Dämonen gestellt hatte. Das war schon gefährlich genug.

Aber es war noch nicht alles. In ferner Vergangenheit kam ein Crowden auf die Idee, den Eingang in die Welt der Finsternis zu suchen. Er fand das Tor in die Welt der Dämonensonne. Wer sie anschaute, dem brannte sie die Augen aus. So geschah es. Seither hatten alle Neugeborenen der Crowdens leere Augenhöhlen. Die Familienmitglieder, die vermutlich überall in der Welt verbreitet waren, konnte man durch diese Mutation nicht mehr als normale Menschen bezeichnen. Ihre Blicke aus den leeren Augen waren seither tödlich. Die Kraft der schwarzen Sonne strahlte aus ihnen und brannte den unglücklichen Opfern die Augen aus. Die Crowdens, das hatte man inzwischen herausgefunden, tarnten ihre Mordaugen durch dunkelgetönte Brillen und Glasaugen, die sie einsetzten. Das braunschwarze Fledermaus-Mal an der Schläfe der toten Leila Shelton war ein untrüglicher Beweis dafür, dass direkt oder indirekt die Sekretärin mit einer Person aus dem Crowden-Milieu zusammengetroffen war.

»Ich muss alles über sie wissen, und zwar so schnell wie möglich«, sagte Morna ernst, als sie sich erhob.

»Wer waren ihre Freunde und Bekannten? Mit wem verkehrte sie? Was für ein Leben führte sie?«

»Sie war sehr einsam, kannte nur ihren Beruf und war eine große Musikliebhaberin«, antwortete Edward Higgins.

»Von Freunden und Freundinnen ist uns bisher nichts bekannt geworden, aber wir recherchieren weiter.« Fest stand, dass Leila Shelton in ihrer Wohnung überfallen wurde. Weder an Türen noch an Fenstern gab es Hinweise darauf, dass der Eindringling gewaltsam hereingekommen war. Das ließ nur einen Schluss zu: Entweder hatte Leila Shelton ihn mitgebracht, dann handelte es sich um einen Bekannten oder Freund, oder der Unheimliche war wie ein Geist durch die Wände gegangen ...

Das Mysterium musste so schnell wie möglich geklärt werden. Nach dem Aufenthalt im Leichenschauhaus fuhr die Schwedin im Dienstwagen des Chief-Inspectors in die Chiltern Hills, die rund dreißig Meilen südwestlich von London lagen. Dort wiederum, zwölf Meilen von der nächstgrößeren Stadt High Wycombe entfernt, lag das dichte Waldgebiet, in dessen Nähe Leila Sheltons Haus stand. Einsam, alt und verloren wirkte es zwischen den Büschen und Bäumen und sah aus wie ein Hexenhaus aus ferner Zeit. Die Läden vor den Fenstern waren graugrün gestrichen und ein wenig verwittert. Die Garage war geschlossen, die Haustür mit einem polizeilichen Siegel gesichert. Edward Higgins entfernte es und schloss die Tür auf.

»Leila Shelton hat nicht mal Verwandte«, sagte er beiläufig.

»Wir konnten niemand ausfindig machen.« Das Haus war klein und innen besser im Schuss als außen an der Fassade. Es hatte einen großen Garten, in dem sogar Obstbäume wuchsen. Vor dem Haus waren Blumenrabatten angelegt. Jeder einzelne Raum war geschmackvoll eingerichtet. Leila Shelton hatte viel von alten Möbeln, Bildern, Teppichen und Kunstgegenständen verstanden. Edward Higgins und Morna Ulbrandson stießen sämtliche Fensterläden auf, um Licht und Luft hereinzulassen. Vogelgezwitscher war zu hören. Dies war ein friedlicher, stiller Ort. Nichts im Haus war unheimlich. Der Gedanke, dass hier ein geheimnisvoller Mord geschehen war, schien weit hergeholt. Und doch war er passiert! Morna sah sich alles genau an. Die längste Zeit verbrachte sie im Badezimmer, wo die furchtbare Tat geschah. Man sah die blaue Kreidezeichnung in der weißen Porzellanwanne. Die Kreidezeichnung gab die Körperstellung wieder, in der man Leila Shelton tot aufgefunden hatte. Morna durchschritt die Wohnung sehr aufmerksam und sah sich auch gerade die persönlichen Gegenstände und eingerahmten Fotos Leila Sheltons an. Die Schwedin stieß auf keinerlei verdächtige Spuren. Higgins beobachtete die blonde Frau unablässig. Ihm entgingen die Angespanntheit und der Ernst im Gesicht der Agentin nicht.

»Was geht in Ihnen vor, Morna?«, fragte er unvermittelt.

X-GIRL-C stand am Fenster zum Garten und blickte in das dichte Grün.

»Vielleicht liegt das Rätsel in Leila Sheltons Person begründet«, sinnierte Morna Ulbrandson halblaut, »vielleicht auch hier in diesem Haus. Wir wissen es nicht. Aber wir müssen es herausfinden. Ich habe einen Entschluss gefasst, Chief-Inspector. Ich werde mich hier häuslich niederlassen. Wenn der Geheimnisvolle, der sich von menschlichem Blut ernährt, merkt, dass das Haus wieder von einer einsamen Frau bewohnt ist, wird er vielleicht wiederkommen. Und dann werden wir mehr erfahren.«

»Oder auch nicht. Es nutzt niemand, wenn wir auch Sie vielleicht in ein paar Tagen hier tot finden.«

»Das gehört zum Berufsrisiko, Chief-Inspector. Ich glaube, so sehr unterscheiden sich da unsere Aufgaben gar nicht voneinander.«

»Okay. Sie wissen, was Sie wollen. Wann soll Ihr Aufenthalt beginnen?«

»Sofort. Ich werde schon heute Nacht hierbleiben.«

George Hunter war ein stiller, blasser Mann, dessen dunkle, fast schwarze Augen ständig in Bewegung waren. Er war es gewohnt, genau zu beobachten. Das brachte sein Beruf so mit sich. Der Vierundfünfzigjährige hielt sich auch am späten Nachmittag wieder in der Werkstatt auf. Hier entstanden seine Wachspuppen. George Hunter hatte sich einen Traum erfüllt: Alle merkwürdigen Gestalten aus dem Reich des Unheimlichen, Bösewichte wie Dracula und Monster Frankenstein, Bestien aus den Sagen und Mythen der Menschheitsgeschichte, die schrecklichen Gorgonen mit ihren Schlangenhäuptern zum Beispiel, hatte er sich lebensecht und lebensgroß geschaffen. Unheimliche Mörder, Würger und Wahnsinnige, die in die Kriminalgeschichte eingegangen waren, gehörten ebenfalls in seine Sammlung. George Hunter war ein Einzelgänger, ein Mann, für den es ein Leben lang nichts anderes gegeben hatte, als das zu tun, was ihm Freude bereitete. Das Schicksal hatte es dabei gut mit ihm gemeint. Er war der einzige Sohn eines Gutsbesitzers, der sich auf die Zucht von Rennpferden spezialisiert hatte. George hätte das väterliche Erbe übernehmen sollen, aber er zeigte kein Interesse dafür. Nach dem Tod seiner Eltern verkaufte er das Gestüt, legte das Geld in Aktien an und begann seine zunächst als Hobby betriebene Tätigkeit ganztägig aufzunehmen. Nun gab es keine Arbeit mehr auf dem Besitz und dem Gestüt. Eine alte Ruine, rund zwölf Meilen von dem Ort High Wycombe entfernt, hatte seit jeher den Hunters gehört. George Hunters Großvater erstand sie vor siebzig Jahren für ein paar Pfund von einem verarmten Lord, der Spielschulden hatte und sich vor seinen Gläubigern nicht mehr zu retten wusste. Georges Großvater hatte vor, aus der Ruine mal ein Ausflugsziel mit Restaurant und Hotelbetrieb zu machen.

Aber dazu war es dann nie gekommen. Das Gemäuer zerfiel weiterhin.

Von allem Grundbesitz aber hatte George Hunter, dessen Lieblingsspielplatz schon als Kind die Turmruine war, nur diesen behalten. Hier sollte mal sein Kabinett stehen. Seine finanzielle Unabhängigkeit, durch das Erbe des Vaters und den Aktienbesitz, ermöglichte ihm die Erfüllung seines Wunschtraumes. Der Eigenbrötler Hunter beschaffte sich Bilder und Beschreibungen aller Größen der Weltgeschichte. Ungewöhnliche Menschen, egal auf welche Weise sie immer auch von sich Reden gemacht hatten, interessierten und faszinierten ihn. Dazu gehörten die großen Maler, Musiker und Forscher ebenso wie die Mörder, Wahnsinnigen und fremdartigen Gestalten, die irgendwann in der Geschichte aufgetaucht waren und Angst und Schrecken verbreiteten. Dass Gestalten wie Dracula und Frankenstein, Medusa und der einäugige Zyklop, Vampire und Untote ins Gespräch gekommen waren, musste einen Grund haben. Für Hunter existierten sie, wenn nicht in der Fantasie der Menschen, dann in seinem Panoptikum. Er hatte alles für sich geschaffen und arbeitete auch jetzt noch jeden Tag in der Werkstatt, um neue Charaktere zu formen. In dem großen Gewölbe mit den zahlreichen Nischen, Mauervorsprüngen und Ecken wirkte der Mann wie ein Alchimist. Überall standen Behälter und Schalen herum, Farbtöpfe, Pinsel und geschmeidiges Wachs, das sich unter seinen schmalen, langen Fingern formte. Der Besitzer des Kabinetts war als Original in der Gegend bekannt. Er lebte allein. Er war völlig durch sein Hobby ausgefüllt, freute sich aber auch, wenn Besuch kam. Zwar machte George Hunter keine große Reklame mit seinem privaten Wachsfiguren-Panoptikum und kündigte es nicht in Zeitungen an. Dennoch kamen hin und wieder Besucher, die gern einen Blick auf George Hunters Sammlung werfen wollten. Er ließ sie auch ein und freute sich wie ein Kind, wenn man ihm sagte, dass man so etwas hier in dieser Gegend und dem alten Gemäuer mit dem Turm nie erwartet hätte. Der Mann legte letzte Hand an die Gestalt, an der er seit Wochen arbeitete. Seit drei Tagen war die Farbe trocken, und nun hatte Hunter der Puppe die Kleider angelegt. Jedes einzelne Stück hatte er selbst maßgeschneidert.

»Sitzt wie angegossen.« Hunter klatschte wie ein zufriedenes Kind in die Hände. Er hatte sich ein kindliches Gemüt bewahrt und war zufrieden mit dem Aussehen seines Quasimodo. Diesmal hatte er den Buckligen dargestellt, der in dem weltberühmten Roman Der Glöckner von Notre Dame eine tragische Rolle spielte.

»Quasimodo«, murmelte Hunter fröhlich und umkreiste die neugeborene Gestalt.

»Ich glaube, du bist mir gelungen ... An dir hätte ich mir fast die Zähne ausgebissen ... Ich weiß schon nicht mehr, wie oft ich in den letzten Jahren versucht habe, dich zu gestalten. Immer wieder bist du mir missglückt.

Aber jetzt gefällst du mir. So musst du wirklich ausgesehen haben.« George Hunters fast schwarze Augen glänzten fiebrig. Er merkte nicht, dass er sprach. Es war ihm schon zur Gewohnheit geworden, sich mit seinen wächsernen Geschöpfen zu unterhalten, als wären es lebende Menschen, die ihr Dasein mit ihm teilten. Und er war es auch gewöhnt, dass er der einzige war, der sprach. Seine Geschöpfe, die er so liebte, waren und blieben stumm ...

Der mittelgroße Mann umkreiste seine Neuerung immer wieder. Der Bucklige stand vor ihm. Seine hervorquellenden Augen schimmerten und wirkten lebendig. Man meinte, er würde bloß den Atem anhalten.

Aber diesen Eindruck vermittelte nicht nur die massige, furchteinflößende Gestalt, sondern jede einzelne Wachsfigur in dem Panoptikum, zu dem sämtliche Räume der ehemaligen Ruine gehörten. Hunter wuchtete die Wachspuppe über die Schulter und schleppte sie aus der Werkstatt. Er musste zwei schmale Treppen hochgehen, die in einem Durchlass mündeten. Dahinter lag eine von mehreren Ausstellungskammern. Sie war fensterlos. In Nischen und hinter Mauervorsprüngen verborgen waren Strahler installiert, die die einzelnen Wachsfiguren anleuchteten. Dies war eine der schrecklichsten Horror-Kammern, die George Hunter im Lauf seines Lebens gestaltet hatte. In ihr wurden Jack the Ripper, zwei weitere furchtbare Frauenmörder und Würger ausgestellt, sowie ein Giftmörder, der sein Opfer mit der Zielsicherheit einer Schlange aussuchte. Das waren ausschließlich Frauen. Terry Whitsome hieß der Mann. Er sah aus wie ein etwas zu groß geratener Junge mit glatter Haut, schmalen Augenbrauen und einer dünnen, geraden Nase. Whitsomes Augen waren kalt wie Eis. Er schien seine Opfer förmlich hypnotisiert zu haben. Die Geschworenen hatten Whitsome zum Tod durch den Strang verurteilt. Der Giftmörder lockte seine auserwählten Bräute in Cafés und Restaurants, plauderte mit ihnen und gewann ihr Vertrauen. Das war auch nicht schwer. Denn er trat bevorzugt in der Verkleidung eines Reverends auf. Als Pfarrer war er eine Respektsperson, und keine der insgesamt siebenundvierzig Frauen, die er über den Jordan schickte, ahnte, was sie erwartete. Es gehörte zu Whitsomes Taschenspielertricks, dass er einen unbeobachteten Moment nutzte, um seinem Opfer selbstzubereitetes Gift ins Getränk zu schütten oder unters Essen zu mischen. Gift und Persönlichkeit des Massenmörders waren untrennbar verbunden. Das Gift machte die Opfer offensichtlich willenlos, und sie folgten nach der Einladung und dem Gespräch ausnahmslos dem angeblichen Pfarrer. Er lockte sie in seine Wohnung, die keine der Auserwählten mehr verließ. Hier verabreichte er eine größere Giftdosis, an der seine Opfer starben. In selbstgezimmerten Särgen setzte er die Toten bei. Die Särge blieben in seiner Wohnung und wurden immer mehr. Sieben Zimmer stapelte er voll. Und es wären sicher noch mehr geworden, wenn Scotland Yard damals nicht durch Zufall auf die Spur des Mörders gekommen wäre. Beim 47. Opfer ging etwas schief. Die Frau, die Whitsome diesmal für seine makabre Sammlung auserwählt hatte, wurde beobachtet, als sie mit ihm das Restaurant verließ, und zwar von einer Frau, bei der das Opfer Schulden hatte. Die Beobachterin folgte dem Reverend und seiner Begleiterin bis in das große, düstere Haus im Londoner West-End. Sie schlich sich ins Gebäude und bekam mit, hinter welcher Tür die beiden verschwanden. An diesem Abend waren die Läden vor dem Fenster des Mordzimmers nicht ganz geschlossen. Am späten Nachmittag war ein heftiger Sturm mit Regen und Hagel über die Stadt hinweggefegt, und dabei hatte sich der Haken der Sicherung gelockert. Durch den entstandenen Ritz beobachtete die Verfolgerin den Giftmord, lief kreidebleich zur Polizei und meldete ihre Beobachtung. Die Polizei, die die Tür zur angegebenen Wohnung aufbrach, ertappte den Herrn Reverend noch in voller Montur und mitten in seiner Arbeit. Die Beamten wären fast rückwärts wieder aus der Tür gegangen, so penetrant war der Leichengeruch, der die Wohnung erfüllte. Whitsome ließ sich ohne Gegenwehr abführen. Was Scotland Yard dann in den Räumen fand, gehörte zum Grausigsten, das in die Annalen der an Überraschungen und Merkwürdigkeiten sicher reichen Geschichte der großen Verbrechensbekämpfungs-Organisation einging. Siebenundvierzig Särge wurden abtransportiert. Der offensichtlich geistesgestörte Mörder wurde ein Jahr später vom Henker von London hingerichtet. Whitsome war, wie Jack the Ripper, zu einer Legende geworden. Eine Legende, die jedoch bis in die Gegenwart Rätsel aufgab. Nach Whitsomes Hinrichtung waren Gerüchte aufgetaucht, wonach noch mehr Morde auf sein Konto gingen. Auch Männer, deren Leichen man angeblich nie gefunden hat, seien seine Opfer gewesen.

Jede einzelne Figur in diesem Horror-Kabinett hatte ihre eigene Geschichte. Hunter durchquerte die Kammer. Die Figuren der Mörder und die Stimmung waren unheimlich. Fremde empfanden sie so und waren meistens wieder froh, die muffig riechenden und düsteren Kellergewölbe verlassen zu können und wieder in Licht und Luft hinauszutreten. Hunters Figuren haftete etwas Beklemmendes und Bedrohendes an. Es war ihm gelungen, die Gefahr, die sie zu ihren Lebzeiten ihren Mitmenschen gegenüber bedeuteten, spürbar einzufangen. Für die Beklemmung und die Gespenstigkeit hatte der Einsiedler jedoch keinen Sinn mehr. Was vergangen war, interessierte ihn nicht mehr. Nur das, was er im Augenblick machte, zählte für ihn, damit beschäftigte er sich intensiv. So genoss er den Augenblick der Fertigstellung Quasimodos. In der hintersten Ecke, vor der der Boden zu einem Podest erhöht war, fand der Bucklige seinen endgültigen Platz. An der Decke über Quasimodo war eine alte Glocke angebracht, und George Hunter drückte seiner vollendeten Wachsfigur mit den zerlumpten Kleidern und dem zottig um den Kopf hängenden Haar das dicke, verstaubte Glockenseil in die Hand.

»So«, sagte er in einem Anflug von Humor und klopfte dem Buckligen auf die Schulter.

»Dann zieh mal kräftig.« Seine Worte waren noch nicht richtig verklungen, da passierte es schon. Der Bucklige beugte sich nach vorn. Dumpf und laut schlug der Klöppel gegen die Innenseite der Glocke. Mit einem Aufschrei fuhr George Hunter zusammen, tat zwei Schritte rückwärts, und lief in blasse Hände, die sich gierig nach ihm ausstreckten. Hunter starrte in die mordlüsternen Augen der Wahnsinnigen und Mörder, und die sezierenden Blicke von Jack the Ripper und Terry Whitsome schienen ihn durchbohren zu wollen ...

Über Hunters Lippen kam ein Stöhnen. Er schlug um sich und versuchte sich den Zugriffen der kalten, harten Hände zu entwinden.

Aber das gelang ihm nicht. Im Nu war er eingekreist und gepackt. Eiswasser statt Blut schien durch seine Adern zu fließen, und namenloses Grauen erfüllte ihn. Er glaubte nicht an das, was er erlebte. Das war ein Wahn, eine Halluzination! Seine Einsamkeit, seine besondere Art zu leben, sein ungewöhnliches Hobby, dies alles trug sicher mit dazu bei, dass er nun Dinge sah, hörte und sogar fühlte, die es eigentlich gar nicht geben durfte. Seine Geschöpfe des Grauens waren zum Leben erwacht! Terry Whitsome stand direkt vor ihm und grinste kalt.

»Du hast uns wieder Körper gegeben, George Hunter«, wisperte er heiser.

»Dafür danken wir dir ...«

»Aber wieso ... was ...« Hunter war unfähig, einen vollständigen Satz zu bilden. Er wurde herumgerissen und konnte sich nicht befreien, nur schreien. Aber hier in dem abgeschiedenen Gemäuer gab es niemand, der ihn hätte hören können.

»Lass mich los!«, brüllte er.

»Ich erwarte Besuch ... dies ist ein großer Tag für mich.« Er wusste selbst nicht, wie er ausgerechnet jetzt in diesem Augenblick dazu kam, solche Bemerkungen zu machen. Er drehte offenbar völlig durch, aber etwas an seinem Zustand stimmte nicht. Wenn er selbst noch erkannte, dass dieses Ereignis eigentlich unmöglich sein konnte, dann funktionierte sein Denkvermögen noch. Dies aber bedeutete, dass er sich nichts einbildete, sondern die Dinge wirklich in diesen Sekunden passierten. Er begriff die Welt nicht mehr. Er war in den Händen der Gestalten, deren Körper er detailliert und mit großem Sachverstand nachgebildet hatte. Gierige Augen starrten ihn kalt und durchdringend an, fahle Münder bewegten sich, und aus wächsernen Kehlen kam teuflisches Kichern. Insgesamt waren es sechs Wahnsinnige und Massenmörder, die hier unten in der Horror-Kammer bis vor wenigen Minuten noch gestanden hatten. Nun standen sie nicht mehr auf ihren Plätzen, jetzt bewegten sie sich und liefen lebendig herum, erfüllt von gespenstischem Leben. Auch Quasimodo lebte.

Aber er verließ seinen Platz nicht. Kraftvoll und rhythmisch zog er am Seil, und das Dröhnen der Glocke erfüllte den Keller und das ganze Haus, so dass ein Vibrieren durch die dicken Wände lief. Mit Gelächter und Kichern, Ächzen und Keuchen schleiften die zum Leben erwachten Mörder und Irrsinnigen aus dem Horror-Panoptikum ihren Schöpfer in die Werkstatt zurück, wo an diesem Tag Quasimodo seinen letzten Schliff erhalten hatte. Zwei Massenmörder, zwei kräftige, muskelbepackte Burschen mit niedriger Stirn und kleinen, listig funkelnden Augen, hielten ihn fest. Die anderen traten zur Seite. Terry Whitsome öffnete eine Tür zu einer Kammer, in der George Hunter sein Magazin untergebracht hatte. In alten Regalen lagen Ersatzteile. Wächserne Hände, Arme und Beine, unmodellierte Köpfe und viele Torsi. In der hintersten Ecke standen sogenannte Rohlinge, fertig montierte Gestalten, deren Proportionen schon stimmten, deren Kopf jedoch noch nicht ausgearbeitet war. Viele angefangene und nie vollendete Puppen hatten hier im Lauf von Jahren ihre endgültige Aufbewahrungsstätte gefunden. Aus schreckgeweiteten Augen beobachtete George Hunter, wie eine solche Wachspuppe aus der hintersten Ecke herausgenommen und in die Werkstatt getragen wurde. Das gespenstische, unbegreifliche und im höchsten Maß unlogische Spiel ging weiter. Die Figur wurde genau vor ihm aufgestellt. Hunter schluckte und wurde leichenblass. Er hatte das Gefühl, in einen Spiegel zu sehen. Er stand sich selbst gegenüber! Seine Nackenhaare sträubten sich. Er kam aus dem Erstaunen nicht mehr heraus. Hunter konnte sich nicht daran erinnern, irgendwann in seinem Leben diese Nachbildung von sich selbst geschaffen zu haben. Wie kam sie hierher?

»Ganz einfach«, kicherte ein Wahnsinniger, der einen glattrasierten Schädel und eine dicke Knollennase hatte. Er trug zur schwarzen Hose eine dunkelblaue, zerknitterte Leinenjacke. Es schien, als hätte er George Hunters Gedanken erraten.

»Wir waren auch nicht untätig. Du hast uns geschaffen, und wir haben umgekehrt das Gleiche mit dir getan ...«

»Ich träume«, stieß Hunter hervor und versuchte sich zum Aufwachen zu zwingen. Doch alles blieb unverändert.

»Du gehörst zu uns ... bist nicht auch du ein außergewöhnlicher Mensch, George Hunter?«, fragte ihn der gleiche Irre kichernd und stupste seine Nase an.

»Na also! Dann muss man auch dir ein Denkmal setzen. Du sollst weiterhin alle Fäden in der Hand behalten, aber dies funktioniert nur, wenn du auf unserer Stufe stehst.«

»Du hast dich stets bemüht, uns zu verstehen«, ergriff Terry Whitsome das Wort. Er hatte eine ausgesprochen sympathische Stimme und sah überhaupt nicht wie ein geistesgestörter Mörder aus.

»Du wirst es noch besser können, wenn du einer der unsrigen bist ... Tötet ihn!« Selbst das sagte er noch freundlich. Hunter schrie wie von Sinnen. Er spürte einen kurzen, heftigen Schmerz. Eine der beiden Gestalten, die ihn festhielten, hatte zugestoßen. Bis auf den Giftmörder Terry Whitsome waren die anderen mit Dolchen, Stiletten und Schlingen bewaffnet. George Hunter hatte genau Quellenstudien betrieben und sich bemüht, Gegenstücke jener Waffen aufzutreiben, mit denen die Mörder und Wahnsinnigen ihre Opfer umbrachten. Er erhielt einen zweiten Stich. Der wurde von vorn geführt. Fünf Mörder und Wahnsinnige umringten ihn und töteten ihn auf der Stelle. Hunter ging zu Boden. Die leblose, kalte Wachsfigur, die ihm aufs Haar glich, stand noch aufrecht. Der Sterbende hauchte seinen Atem aus. Im gleichen Augenblick veränderten sich der Schimmer und der Ausdruck in den Augen der Puppe, die George Hunter darstellte. Die Wachsgestalt, die noch unbekleidet war und von deren Existenz der Bewohner des alten Gebäudes nichts geahnt hatte, drehte den Kopf und beobachtete, wie die Mörder die Leiche wegschafften und das Blut auf dem rauen, rissigen Boden beseitigten. Über die Lippen des wächsernen und auf rätselhafte unfassbare Weise belebten, nachgebildeten George Hunter huschte ein flüchtiges Lächeln. Es sah gefährlich aus. Hunters Geist und Seele, die in die Wachsfigur eingefahren waren, schienen eine Metamorphose durchgemacht zu haben. Ein heimlicher Beobachter der Szene hätte längst begonnen, an seinem Verstand zu zweifeln und hätte sich zu glauben geweigert, was da vor seinen Augen abgerollt war. Einen solchen Beobachter gab es sogar.

Aber er verlor weder den Verstand, noch graute ihm vor dem, was geschehen war. Er hing wie eine riesige Fledermaus unter der Decke und bewegte seine gerippten, lederartigen Flügel. Ihre Spannweite betrug über zwei Meter. Zwischen den Flügeln saß ein menschlicher Totenschädel, der fahlgrün schimmerte. Links und rechts aus dem Maul ragten zwei dolchartige Zähne. Der Unheimliche, der sich zufrieden räkelte, war der Geflügelte Tod. An den gebogenen und spitzen Klauen, mit denen die Flügelenden ausliefen, hing der übergroße, seltsame Körper. In den schwarzen, leeren Augenhöhlen glomm ein Licht, dessen Farbe sich kaum von dem grünlichen Schädel unterschied. Der Geflügelte Tod fletschte sein Gebiss und legte damit auch die beiden großen, dolchartigen Vampirzähne frei, die Leila Shelton das Verderben gebracht hatten.

»Gut«, ertönte es dann heiser aus dem knöchernen Schädel.

»Ihr habt eure Sache gut gemacht ... Nun beweist, dass ihr alles aus eurem neuen Leben machen werdet, was euch möglich ist ... Verbreitet Angst und Schrecken, damit mein Dasein gesichert ist! Solange ich existiere, und dies merkt euch gut, wird es auch euch geben. Den Herrn und die Sklaven ...« Er wollte dem noch etwas hinzufügen, wurde aber unterbrochen. Durch den nach oben führenden Korridor hallte lautes, dumpfes Schlagen. Draußen vor der Tür betätigte jemand den schweren Messingklopfer.

»Der Besuch, den George Hunter erwartet hat, ist eingetroffen«, wisperte der Geflügelte Tod.

»Nehmt eure Plätze ein.« Dieser Befehl galt auch dem wächsernen George Hunter. Sein Geist und seine Seele waren verändert, ausgerichtet auf das Dämonische, das hinter diesen Mauern seinen festen Platz erobert hatte. Die noch unbekleidete Wachsfigur lief über die Treppe nach oben und drückte die Tür hinter sich ins Schloss. George Hunter eilte ins Schlafzimmer und schlüpfte schnell in Hemd und Hose.

Wieder wurde der Türklopfer betätigt.

»Ja!«, rief der Hausbesitzer.

»Einen Moment ... Komme schon!« Wenige Augenblicke später erreichte er die Haustür und öffnete. Draußen stand eine junge Frau, schlank, dunkles Haar, leicht gebräunte Gesichtshaut, als käme sie gerade aus der Sommerfrische.

»Mein Name ist Betsy King«, sagte sie und lachte.

»Eigentlich hatte ich schon immer vor, mal bei Ihnen reinzuschauen, Mister Hunter. Der sind Sie doch, oder?«

»Ja, der bin ich. Aber wer Betsy King ist, weiß ich allerdings nicht. Sind Sie zufällig eine Mitarbeiterin von Leonhard M. Kelly?«

»Dem Filmproduzenten?«

»Ja.«

»Nein. Bin ich leider nicht. Wär' ich aber gern. Erwarten Sie jemand aus seiner Umgebung?«

»Ihn persönlich, Miss King.«

»Na, wunderbar ... dann hat sich die Fahrt hier heraus in zweifacher Hinsicht gelohnt.«

»Tut mir leid, ich verstehe nicht, was Sie wollen.«

»Ganz einfach, Mister Hunter. Ich bin von Beruf Reporterin und für Weekly Impressions tätig. Wir bringen nicht nur die ausführlichsten TV-Programme und Hintergrundberichte, sondern auch Reportagen über Zeitgenossen mit ausgefallenen Hobbys. Da ist irgendwann bei einer Redaktionsbesprechung auch mal ihr Name gefallen. Ein Mitarbeiter hat durch eine Leserzuschrift von Ihrem ungewöhnlichen Wachsfigurenkabinett berichtet. Wie gesagt: Ich hatte schon lange vor, Sie zu besuchen.

Aber immer ist etwas dazwischen gekommen. Auch heute wieder, aber dann ist mir zwei Meilen von hier der Wagen stehen geblieben. Dabei war er erst gestern zur Inspektion. Scheint jemand 'nen Fehler eingebaut zu haben, damit's 'ne zweite Rechnung gibt. Die Geschäfte gehen schlecht ... da versucht's manch einer auch auf diese Tour. Ich wollte eigentlich an den Chiltern Hills vorbei. Aber diesmal hat das Schicksal mich gezwungen, hierher zu kommen.«

»Das Leben mischt manchmal seltsam die Karten, da haben Sie recht, Miss King.«

»Darf ich von Ihrem Haus mal telefonieren? Ich muss einen Abschleppdienst in Anspruch nehmen. Dann ist es mir egal, ob der erst in zwei, drei oder vier Stunden kommt. Wenn ich schon mal hier bin, kann ich mir auch in Ruhe Ihre ausgefallene Sammlung ansehen und Sie können mir einiges darüber erzählen.«

»Gern, Miss King. Nur mit dem Telefon kann ich Ihnen leider nicht dienen. Ich besitze keines.«

Betsy King seufzte enttäuscht, aber noch ehe sie zu einer Erwiderung kam, fuhr George Hunter schon fort.

»Aber das braucht Sie nicht zu grämen. Wie gesagt: Mister Kelly hat sein Kommen angekündigt. Ich erwarte ihn jeden Augenblick. Kelly wird Sie bestimmt zur nächsten Reparaturwerkstätte mitnehmen oder eine benachrichtigen. Kommen Sie, treten Sie ein! Ich freue mich, Ihnen das Panoptikum zu zeigen. Vielleicht bringen wir einiges hinter uns, ehe Kelly aufkreuzt. Dann muss ich mich für eine gewisse Zeit leider um ihn kümmern. Er will einen Teil meiner Figuren in einem Film, den er in den Pinewood-Studios bei London dreht, als Dekoration verwenden.«

»Ich warte gern. Und ich kann mich darüber hinaus auch allein umsehen. Zu den Fragen komme ich sowieso erst später.«

»Im Notfall können Sie sie auch an mich richten«, sagte da eine ruhige, angenehme Stimme aus dem Halbdunkel hinter dem Besitzer des Panoptikums. Betsy King blickte auf, als Hunter zur Seite trat.

»Oh, Sie haben Besuch ...«, meinte die Reporterin.

»Ja, Reverend McCarthy«, sagte der Mann in der geistlichen Robe, streckte seine Hand aus, ergriff die der Reporterin und hauchte gentlemanlike einen Kuss darauf.

»Ich kenne mich hier auch gut aus und bin sicher, dass ich Ihnen fast jede Frage ebenfalls beantworten kann.« Um Reverend McCarthys Lippen spielte ein süffisantes Lächeln, als die Reporterin an ihm vorbei ins Haus ging. McCarthy alias Terry Whitsome blickte der jungen Frau nach und wusste, dass sie das alte Gebäude mit dem Turm und dem Panoptikum der Geister nicht mehr lebend verlassen würde. Sie würde nach einer langen, ruhelosen Zeit das erste Opfer in seiner neuen Gestalt sein ...