Larry Brent Classic 052: Das Pratermonster - Dan Shocker - E-Book

Larry Brent Classic 052: Das Pratermonster E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Monster im Prater Bei Bauarbeiten in Wien wird ein mysteriöser Schacht geöffnet. Ein Arbeiter stürzt in das bodenlose Loch und verschwindet. In der Nacht dringen unheimliche Geisterstimmen aus dieser Dunkelheit. Kommissar Anton Sachtler ruft die PSA zur Hilfe. Larry Brent steigt in den geheimnisvollen Schacht, in dem die Zeit still zu stehen scheint. In der Zwischenzeit verschwinden Menschen im Prater. Steckt dahinter vielleicht das Monster, das der Ungar Istvan Perkush in seiner Sensationen-Schau ausstellt? Morna Ulbrandson kommt dem Geheimnis des "Monster im Prater" auf die Spur und gerät in tödliche Gefahr. Sylphidas Rachegeister Unheimliche Ereignisse passieren in dem irischen Ort Drogeda. Fischer wurden von Geisterwesen aufgefordert, die Fischgründe zu verlassen, die den Anweisungen nicht folgten, verschwanden. PSA-Agent Fred Lansing will der Sache auf die Spur kommen und fährt mit dem Fischer Gwellyn auf die irische See hinaus. Eine bezaubernde Musik nimmt ihn gefangen, und bevor er sich versieht befindet sich X-RAY-10 im Bann der Sylphiden. Die Wassergeister haben den Menschen in Drogheda Rache geschworen. Der PSA-Chef David Gallun schickt gleich vier weitere Agenten nach Irland, um den Verbleib von Fred Lansing zu klären und Sylphidas Rachegeister aufzuhalten.

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DAN SHOCKERS LARRY BRENT

BAND 52

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Fachberatung: Robert Linder

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

978-3-95719-852-5

Dan Shockers Larry Brent Band 52

DAS PRATERMONSTER

Mystery-Thriller

Monster im Prater

von

Dan Shocker

Prolog

»Da vorn ist's«, flüsterte der Mann an seiner Seite.

»Leise jetzt, damit uns keiner hört.« Mit diesen Worten blickte sich der Kleine mit dem dunkelgrünen T-Shirt, über dem er eine gestreifte Jacke trug, um. Alles war still und menschenleer. Es war ein Uhr nachts. Auf dem großen Vergnügungsgelände hielt sich kein Mensch mehr auf. Alle Lichter waren erloschen, die große Stille war eingekehrt. Über den Dächern der Buden zeigte sich ganz vorn die Silhouette des weltberühmten Wiener Riesenrades, das sechzig Meter in die Höhe ragte. Die meisten Buden und Karussells standen das ganze Jahr über hier, auch im Winter, wenn der Prater geschlossen war. Hin und wieder kam ein reisender Schausteller, der einige Tage oder eine Saison blieb und dann wieder weiterzog. Istvan Perkush, der Ungar, gehörte zu denen, die herumzogen, und der diesmal sein Domizil im Wiener Prater aufgeschlagen hatte.

Die Bude, verkleidet mit einer rot-schwarz gestreiften Zeltplane, stand neben einem alten Wohnwagen, wie er heute kaum noch zu sehen war. Nur eine Steinwurfweite von Bude und Wohnwagen entfernt stand eine der drei großen Geisterbahnen. Die unheimlichen Gestalten – ein Zyklop, der eine riesige Keule schwang, ein riesiger Totenschädel, dessen Kiefer aufgeklappt waren und der eine menschliche Gestalt aus Pappmaché im Maul festhielt, zierten den Aufbau über dem Eingang.

Die Wandverkleidungen zeigten unheimliche Szenen aus düsteren Schlossverliesen und finsteren Höhlen, in denen Schreckgespenster lauerten. Für diese Kulisse aber hatten die beiden Männer in diesem Moment keine Augen. Sie konzentrierten sich auf die Zeltbude mit dem alten, verwitterten Wohnwagen, auf dem in nicht minder verblassten Buchstaben der Name Istvan Perkush stand. Links und rechts, neben dem Eingang der Bude, befanden sich zwei bis drei Meter hohe, schmale Ölbilder. Auf dem linken war eine Gruppe erschreckt davonlaufender Menschen zu erkennen.

Nur – wovor sie flohen, war nicht ersichtlich. Das rechte zeigte übermannsgroß das Abbild eines Ungarn, eines kräftigen Mannes mit gewaltigem, schwarzem Schnurrbart und dichtem, gewelltem Haar. Die Darstellung hielt ein Schild in der Hand, auf dem in riesigen Lettern Folgendes stand: Kommen Sie – Sehen Sie – Staunen Sie! Istvan Perkush zeigt das einzige auf der Welt geborene Monster ... Sensationell und unvergesslich ... Aber – psst! Erzählen Sie nie davon, was Sie gesehen haben. Behalten Sie das Geheimnis für sich ...

»Ich hoffe, du hast mich nicht deshalb mitgenommen, um heimlich in der Nacht ein schlafendes Monster zu besichtigen?«, ließ sich zum ersten Mal der andere vernehmen. Er war einen Kopf größer als der Initiator des Unternehmens. Der Sprecher hatte mittelbraunes, ungepflegtes Haar und trug einen dunkelblauen Anorak mit Kapuze. Die abgewetzten Bluejeans waren fadenscheinig und an den Hosenbeinen unten ausgefranst. Der Mann war Ende Zwanzig, sah ungesund und schmal aus und war Kettenraucher. Er hieß Andreas Wibbert und stammte aus Graz. Der andere, der auf die Idee gekommen war, nach dem Schließen sämtlicher Buden, Karussells und Spielhallen noch mal zum Prater zu gehen, war Wiener.

Er kam aus dem 22. Bezirk und lebte in einem alten, abbruchreifen Mietshaus, das einem Weinhändler gehörte, der einen Großteil der Räume dort als Lagerplatz für leere Flaschen und Kisten benutzte. Der andere hieß Thomas Meixner, war einunddreißig und hatte den größten Teil seines Lebens nicht gearbeitet, sondern schlug sich mit größeren und kleineren Gaunereien durch. Er fand immer eine Möglichkeit, ahnungslose Zeitgenossen übers Ohr zu hauen. Kleinere Diebstähle und Betrügereien waren seine Schwäche. Meixner war typischer Einzelgänger. Diesmal aber – bei der Ausführung seines neuesten Unternehmens – ging er von seinem Prinzip ab. Meixner hatte sich Unterstützung mitgebracht. Was er vorhatte, erforderte unter Umständen einen Beobachter oder Hilfe.

Der Einunddreißigjährige lernte Wibbert in einer Kneipe in der Wiener Innenstadt kennen. Bei Schnaps und Bier an der Theke schlossen sie Freundschaft. Meixner kam zum Schluss, dass Wibbert ein Kumpel war, mit dem er sich verstand und der – wie er – mal wieder völlig abgebrannt war. Auch Wibbert war Herumtreiber, war mal hier, mal dort, schlief auf Bänken und hatte keine feste Bleibe.

»Ich will nur, dass du die Augen offen hältst«, entgegnete der Wiener.

»Ich weiß nicht genau, was für Schlafgewohnheiten er hat. Vielleicht schläft er wie ein Murmeltier, vielleicht wacht er beim geringsten Geräusch auf. Die andere Sache wäre, dass das, was ich an einem bestimmten Ort vermute, vielleicht doch nicht dort liegt, sondern im Wohnwagen zu finden ist. In diesem Fall müssten wir ein kleines Spielchen inszenieren. Du krabbelst hier rum, sorgst für Unruhe, und Perkush geht der Sache auf den Grund. Ich seh mich inzwischen im Wohnwagen um und such den Schatz ...«

»Glaubst du denn wirklich, dass der Bursche so reich ist?«

»Er hat 'nen Tick, Andreas. Ich hab 'nen Blick für solche Sachen. Perkush liebt Gold. Du hättest den Ring an seinem Finger sehen sollen. Das Ding ist massiv gearbeitet. Auch die Uhr ist nicht von schlechten Eltern. Sie ist ebenfalls aus Gold, und aus Gold ist auch das große Kreuz, das er auf der Brust an einer großgliedrigen Kette trägt. Wenn er auftritt, hat er das Hemd offen. Das Kreuz ist zehn Zentimeter hoch und schwer. Ich bin überzeugt davon, dass sogar die Knöpfe und Manschetten an seinem Hemd aus Gold gearbeitet sind.«

»Vielleicht stimmt das mit dem Ring und dem Kreuz. Aber alles andere ...«, sagte Wibbert und schüttelte den Kopf, »glaub ich einfach nicht. Der schwimmt nicht im Geld. Kann mir nicht vorstellen, dass einer, der in einem solch schäbigen Wohnwagen lebt und angeblich ein Monster zur Schau stellt, mit Reichtümern gesegnet ist.«

»Das äußere Bild täuscht, glaub mir ... Mit diesem Perkush hat es eine besondere Bewandtnis. Der Bursche zeigt der Welt ein falsches Bild – vielleicht genauso falsch wie das Monster, das angeblich mit ihm durch die Kontinente reist und das doch niemand je gesehen hat.« Meixner kratzte sich im Nacken.

»Du hast's heute Abend schon ein paar Mal erwähnt. Der Ungar scheint sich gut auf die Gabe der Hypnose zu verstehen«, ließ Wibbert sich vernehmen.

»Er vermittelt den Zuschauern nicht nur die Illusion, ein Monster gesehen zu haben, sondern auch die, dass er mit Gold behangen ist ... Vielleicht findest du 'nen Blechring, ein Holzkreuz und 'ne Uhr im Messinggehäuse ...« Wibbert grinste, weil ihm so viel dazu einfiel. Er wusste, dass sein neuer Freund insgesamt zwei Vorstellungen des sonderbaren Schaustellers besucht hatte. Beide Male war der Zuschauerraum bis auf den letzten Platz besetzt gewesen. Perkush hatte sein einzig wahres lebendes Monster vorgeführt. Nach einer halben Stunde hatten die Menschen die Zeltbude wieder verlassen. Keiner erzählte etwas von dem, was er darin gesehen und erlebt hatte. Die Zuschauer hielten sich streng an die im Zelt gegebene Zusage, nichts über das Monster verlauten zu lassen, um nicht zu verraten, wie es aussah. Wenn grundsätzlich alle Besucher bei diesem Versprechen blieben und keiner aus dem Nähkästchen plauderte, war das in höchstem Maß unreal. Wibbert war überzeugt davon, dass Massensuggestion dahintersteckte, dass die Besucher von Perkush entweder an der Nase herumgeführt worden waren und praktisch nichts gesehen hatten, oder absichtlich ins Vergessen hypnotisiert wurden. Der blasse, kränklich aussehende Mann deutete auf ein weiter zurückgebautes, größeres Zelt, das orange- und lilafarben gestrichen war, worauf sich die übergroßen Abbilder nackter, vollbusiger Frauen befanden.

»Samantha's Erotik-Show«, las Wibbert.

»Mir wäre lieber gewesen, dort Wache zu halten. Vielleicht schläft eines der süßen Mäuschen im Zelt und ...«

»Wenn wir Perkushs Gold haben, kannst du dir mehrere süße Mäuschen aus Samatha's Sex-Zelt gleichzeitig leisten«, fiel Meixner seinem Begleiter flüsternd ins Wort.

»Für die Beute hab ich einen Abnehmer, und der zahlt gut.«

Die beiden Männer verhielten sich äußerst vorsichtig, obwohl sie wussten, dass sich außer Perkush in seinem Wohnwagen praktisch kein Mensch auf dem nächtlichen Rummelplatz aufhielt. Die Besitzer der anderen Unternehmen wohnten in Wien oder außerhalb und waren nur tagsüber in ihren Betrieben. In den Budengassen war es stockfinster, und auch die Wetterlage – stark bewölkt und leichter Nieselregen – kam den Männern für ihren Coup entgegen. Meixner umkreiste gemeinsam mit seinem Kumpan den Wohnwagen und das Zelt. In dem Gefährt war alles dunkel und still. Hinter dem Zelt, seitlich der Bühne, auf der Perkush sein Monster vorzuführen pflegte, gab's einen kastenähnlichen Anbau. Der war ganz aus Holz und Blech, und eine schmale Tür war der einzige Zugang. Er war mit zwei Sicherheitsschlössern versperrt.

»Der Monster-Stall«, sagte Wibbert.

»Darin scheint er das Ungeheuer untergebracht zu haben.« Er lauschte an der Tür. Sie war nicht besonders dick. Im Innern des Anbaus war's völlig still. Kein Atmen, kein Scharren war zu hören. Andreas Wibbert öffnete schon den Mund, um wieder eine sarkastische Bemerkung an den Mann zu bringen, aber ein Blick Meixners ließ ihn verstummen.

»Behalt die Straße im Auge! Ich kümmere mich um das Schloss. Vielleicht verbirgt er alles darin, was ich vermute. Er hat bestimmt mehr als nur das, was er am Körper tragen kann. Nur nach außen hin erweckt er den Eindruck von Bescheidenheit und Armut. Du wirst sehen, dass ich recht habe ... Falls es zu einem Zwischenfall kommt, lass dich nicht aus der Ruhe bringen. Außer uns und dem Ungarn gibt's niemand hier. Auf der anderen Seite der Straße, wo die Häuser stehen, wird man ihn nicht hören. Kleine Betäubung genügt, falls er unvernünftig wird. Ich will keinen Toten, ist das klar?«

Andreas Wibbert nickte nur.

Dann ließ er seinen neuen Bekannten allein in der Dunkelheit und behielt die Tür des verwitterten, ärmlich aussehenden Wohnwagens im Auge. Die breite, asphaltierte Straße führte zwischen den Buden, mit Rollläden geschlossenen Hütten und an den Geisterbahnen und Karussells vorbei. In den Kastanienbäumen, die die Allee säumten, raschelten die Blätter. Die Luft war kühl. Der nahe Herbst kündigte sich an, und es würde nicht mehr lange dauern, bis die Betriebe im Prater ihre Stände und Buden winterfest verbarrikadierten. Wibbert zog den Reißverschluss seines Anoraks höher und zündete sich dann eine Zigarette an, deren Rauch er gierig inhalierte. Er versteckte sie in der hohlen Hand, damit die Glut ihn nicht verriet. Aus dem Hintergrund vernahm er ein leichtes, trockenes Knacken. Es hörte sich an, als würde jemand den Hahn einer Pistole spannen.

Aber Wibbert wusste, dass es Meixner war, der sich an den Schlössern zu schaffen machte. Thomas Meixner hatte seine Spezialinstrumente und ein besonderes Fingerspitzengefühl. Seinem Geschick widerstand kein Schloss so leicht. Leise quietschte eine Tür. Er hatte es schon geschafft. Unwillkürlich lenkte Wibbert seinen Blick auf die Wohnwagentür mit dem winzigen, quadratischen Fenster, das von einem rotweiß karierten Vorhang verdeckt war. Innen blieb alles ruhig und dunkel. Wibbert bezweifelte nach wie vor Meixners Theorie, dass dieser durch die Welt reisende Ungar mit besonderen Reichtümern gesegnet war. Wenn er etwas besaß, verbarg er es bestimmt nicht in einer Kiste im Zeltanbau, sondern im Innern seines Wagens. Vielleicht gab es dort eine Truhe, die unterm Bett stand, oder einen Hohlraum im Boden, in dem er seine Golddukaten und all das andere Zeug versteckte. Wibbert wandte den Kopf in Richtung des kastenähnlichen Aufbaus, konnte aber nichts sehen. Auch Thomas Meixner, der die Tür spaltbreit aufzog und in den fensterlosen Raum blickte, erkannte nichts. Es war stockfinster. Da knipste er die kleine Taschenlampe an, die er in der Hand verborgen hielt. Der Lichtstrahl flammte auf. Er wanderte über den Bretterboden, an der linken kahlen Seitenwand vorbei, in der die Schrauben und Spanten zu erkennen waren, die die einzelnen Bauteile zusammenhielten. Der Lichtstrahl wanderte weiter ...

An den Wänden hing nichts, davor stand nichts. Meixner trat zwei Schritte vor und wollte sich dann umdrehen. Das ging aber nicht mehr. Er spürte plötzlich so etwas wie einen feuchten, heißen Atem. Der Eindringling konnte weder herumwirbeln noch einen Schrei von sich geben. Was aus seiner Kehle drang, war nur noch ein dumpfes, hohles Stöhnen, das in einem schwarzen, feuchten Schacht verschwand, in den auch er rutschte. Was es war, konnte er nicht mehr erkennen, denn als er unten ankam, war er bereits tot ...

Andreas Wibbert hielt plötzlich den Atem an. Hatte eben nicht jemand gestöhnt?

Meixner, schoss es ihm durch den Kopf ...

Der fahle, kränklich aussehende junge Mann kniff die Augen zusammen und lief einige Schritte auf den Anbau zu. Dabei hielt er sich hart im Schatten zwischen Zelt und Wohnwagen. Wibberts dunkle Kleidung machte die Tarnung perfekt. Er schien ein Teil des Schattens zu sein. Die Tür zum Anbau stand offen.

»Thomas?«, flüsterte Wibbert.

»Alles in Ordnung?« Er lauschte in die Dunkelheit und beugte leicht den Oberkörper vor. Im selben Augenblick vernahm er ein Geräusch hinter sich.

»Was haben Sie hier zu suchen?«, fragte eine hart klingende Männerstimme. Wibbert wirbelte herum. Vor ihm stand – ihn um zwei Köpfe überragend – ein Mann mit Schultern wie ein Kleiderschrank und dichtem Schnurrbart. Istvan Perkush, der Inhaber des Unternehmens! Perkush hatte gewaltige Hände, und Andreas Wibbert kam sich gegen diesen Muskelprotz vor wie ein Hänfling.

»Meixner!«, brüllte er.

»Mach dich aus dem Staub ... er hat etwas bemerkt!«

Perkush war ein großer, finster dreinblickender Mann, und das Plakat vorn am Eingang seiner Bude übertrieb nicht, wenn er darauf so riesig und kräftig abgebildet war. Wibbert ließ sich auf nichts ein. Er spurtete los, ehe der andere einen Schritt in seine Richtung machen konnte. Gegen diesen Mann hatte er keine Chance. Der war ihm körperlich haushoch überlegen. Mit einer solchen Wende hatte keiner von ihnen gerechnet. Offenbar war Meixner doch nicht so schlau und überlegt an die Sache herangegangen, wie er wohl selbst geglaubt hatte. Der Ungar hatte sie schon die ganze Zeit beobachtet und hielt sich versteckt. Oder er war durch eine Hintertür aus seinem Wohnwagen getreten und hatte sich angeschlichen. Andreas Wibbert ließ die Zigarette fallen. Seine Schritte hallten auf dem breiten, asphaltierten Weg durch die Nacht. Er rannte dem Hauptausgang entgegen. Majestätisch zeichnete sich das stählerne Gerippe des Wiener Riesenrades gegen den nächtlichen Himmel ab. Die waggongroßen Kabinen hingen schwer und ruhig im Gestänge. Wibbert keuchte und ächzte. Das Atmen fiel ihm schwer. Er war kein guter Läufer.

Erschöpft und schweißbedeckt erreichte er den Parkplatz auf der anderen Straßenseite. Alleebäume reihten sich aneinander. Dahinter sah er die Umrisse der alten Häuser, hinter deren Fenstern um diese Zeit nirgends mehr Licht brannte. Die beiden Tagediebe waren mit der U-Bahn gekommen. Der Eingang zur Station Praterstern lag noch mal rund zweihundert Schritte entfernt. Wibbert kam es vor, als wäre der Weg endlos. Jeder Meter, den er noch zurücklegen musste, wurde ihm zur Qual. Zwei- oder dreimal warf er einen Blick zurück. Weder der Ungar war hinter ihm her, noch erblickte er Thomas Meixner. Ob ihm etwas zugestoßen war? Wibbert torkelte wie ein Betrunkener die Stufen zur U-Bahn hinunter. Der lange, mit Platten verlegte Gang lag vor ihm. Kein Mensch war weit und breit. Ausgestorben und wie steril lag der unterirdische Tunnel da. An der untersten Stufe lehnte er sich schweratmend gegen die Wand und hielt dabei den Kopf so gedreht, dass er den Eingang voll überschauen konnte. Der Schacht vor ihm war leer. Die letzte U-Bahn fuhr vor eins, kaum jemand benutzte sie. Meixners Plan war es gewesen, nach dem Einbruch mit der letzten Bahn in die Innenstadt zu fahren. In einer kleinen Pension, mitten im ersten Bezirk, hatte er ein Zimmer. Dort wollten sie dann sehen, welche Beute ihnen in die Hände gefallen war.

Aber nun war alles ganz anders gekommen. Er war geflohen, Beute gab es keine, und von Meixner wusste er nichts. War er überrascht worden, oder hatte er es noch geschafft, sich irgendwo zu verbergen? An die letzte Möglichkeit glaubte Wibbert nicht so recht. Als er die Flucht begann, hätte Meixner sich anschließen können. Aber er hatte nicht auf sich aufmerksam gemacht. Also war etwas passiert ...

Wibbert musste wieder an das Stöhnen denken, das er gehört hatte. Er fuhr zusammen, als er plötzlich Schritte vernahm, die sich dem Treppenabgang näherten. Da kam jemand ...

Die Straßenbeleuchtung warf einen Schatten über die oberste Stufe an die neben der Treppe hochragende Wand. Ein Mann mit Hut kam herab. Alles in Wibbert spannte sich. Der andere ging an ihm vorbei, warf ihm einen flüchtigen, misstrauischen Blick zu und setzte sich auf eine Bank, um dort auf die letzte Bahn zu warten. Der Verfolger war außer Wibbert der einzige Fahrgast. Immer wieder blickte der Mann mit dem Hut herüber, er war mittleren Alters und schien sich auch nicht ganz wohl zu fühlen in der Nähe des jungen Mannes, mit dem er hier unten in dem menschenleeren, nächtlichen U-Bahn-Tunnel allein war. Wibbert räusperte sich, beugte sich ein wenig vor und lehnte den Kopf gegen die kühle Wand, als wäre ihm schlecht.

Dann zündete er sich mit fahrigen Fingern eine Zigarette an und bemühte sich, ruhiger zu werden. Er durfte durch sein Verhalten nicht noch auf sich aufmerksam machen ...

Drei Minuten verstrichen. Meixner kam nicht. Dafür rollte der letzte Zug ein. Die Linie U-1 erfüllte mit ihrem Lärm den Schacht. Wibbert stieß sich ab und blickte noch mal nervös zum Ausgang. Dort tauchte niemand auf. Der Mann mit Hut erhob sich von der Bank. Die metallicsilberne U-Bahn kam zum Stehen. Der letzte Zug war ein Kurzzug und hatte nur noch zwei Wagen. Sie gähnten vor Leere. Insgesamt zwei Passagiere hielten sich darin auf. Wibbert stieg als Letzter ein. Fauchend schloss sich die Tür hinter ihm.

Dann ruckte der Zug an und gewann schnell an Geschwindigkeit. Er raste in die dunkle Röhre. Andreas Wibbert hockte auf dem hintersten Sitz, rauchte weiter, obwohl es verboten war, und starrte trübsinnig vor sich hin. Er hatte das Gefühl, dass er Thomas Meixner nicht mehr lebend wiedersehen würde.

1. Kapitel

Die dunkle Spitze des Stephandoms ragte über die Häuser hinweg in den Nachthimmel. Eine schwarze Mercedes-Limousine erreichte die Straße am Kohlmarkt. Im Fond saßen zwei Personen, ein Mann, groß, blond, sympathisch, neben ihm eine attraktive Blondine mit aufregend langen Beinen.

Vorn beim livrierten Fahrer, der sie im Auftrag des Innenministeriums vom Flughafen Wien-Schwechat abgeholt hatte, saß ein mittelgroßer, gut genährter Fünfziger. Er hatte einen dicken, borstigen Schnauzbart, der ihm großväterlichen Anstrich verlieh. Dieser Mann war Kommissar Sachtler. Bei den beiden anderen Insassen auf den Rücksitzen handelte es sich um Morna Ulbrandson, heißer Export aus Schweden, und um Larry Brent, Erfolgsagent der PSA und Geheimwaffe Nr. 1 dieser Organisation.

Anton Sachtler hatte es sich nicht nehmen lassen bei der Ankunft der verspäteten Maschine dabei zu sein, seine zusätzlichen Mitarbeiter zu begrüßen und sie zum Kohlmarkt in die Innenstadt zu begleiten. Der rundliche, gemütliche Kommissar, der stets nach würzigen Zigarren roch, weil er Havannas so liebte, hatte durch seine früheren Begegnungen mit Larry und dessen Team etwas hinzugelernt. Es gab Dinge, die ließen sich nicht während der normalen Dienstzeit erledigen.

Ein PSA-Agent kannte keinen Acht-Stunden-Tag. Es kam oft vor, dass die Frauen und Männer dieser Organisation manchmal vierundzwanzig, dreißig oder sogar achtundvierzig Stunden hintereinander im wahrsten Sinn des Wortes einem Phantom nachjagten, um es zu bannen. Grauenvolle und makabre Vorfälle durfte man im Interesse der Betroffenen nicht auf die lange Bank schieben. Die Angst und die Gefahr von den Menschen zu nehmen, die bedroht wurden, war eine der wichtigsten Aufgaben der PSA, der Psychoanalytischen Spezial-Abteilung. Sie hatte ihren Sitz in New York, versteckt und unerkannt zwei Stockwerke tief unter dem bekannten Speiselokal Tavern on the Green im Central-Park.

Larry Brent alias X-RAY-3 und seine reizende Kollegin Morna Ulbrandson alias X-GIRL-C kamen direkt aus New York, wo sie sich ein paar Tage aufgehalten hatten, um liegen gebliebene Büroarbeit zu erledigen. Da erreichte sie die Schreckensmeldung aus Wien. Bei Abbrucharbeiten eines alten Mietshauses am Kohlmarkt, das einem Neubau weichen sollte, waren Arbeiter im Keller auf einen unterirdischen Stollen gestoßen, in dem sie etwas Merkwürdiges und Unheimliches entdeckten. Ein Arbeiter, der in den Stollen einstieg, war nicht mehr zurückgekehrt. Eine sofort eingeleitete Suchaktion verlief ergebnislos. Der Stollen ließ sich nicht ausloten, er war demnach ungeheuer tief. Das Loch war inzwischen abgedeckt und der Keller polizeilich versiegelt worden. Seither – meldeten sich Stimmen aus dem Gemäuer ...

Kommissar Anton Sachtler, ein Mann, für den das Übersinnliche nie existiert hatte, betrachtete die Welt und sein Leben spätestens seit den Ereignissen im Horror-Palais in der Naglergasse mit anderen Augen. Er informierte die PSA direkt. Wo Stimmen aus Steinen und einem Stollen im Keller kamen, ging's nicht mit rechten Dingen zu. Mit Stimmen hatte es damals auch in Neutraubling und schließlich in Düsseldorf begonnen.

Und dann hatte sich herausgestellt, dass eine schreckliche Gestalt aus dem Jenseits dahintersteckte. Chopper und die Hexe Marina, die auch in Wien ihre Spur hinterlassen hatte, waren nach wie vor flüchtig. Gab es noch andere markante Punkte, die Marina oder Chopper anzogen? Oder war hier durch Zufall etwas ganz Neues und der PSA noch völlig Unbekanntes ans Tageslicht befördert worden? Niemand wusste Näheres in dieser Stunde. Nur eines war bekannt: Die seltsamen Stimmen im Haus meldeten sich immer nur nachts zwischen eins und drei.

Der Wagen hielt vor dem Haus. Gehweg und Straße waren gesperrt, Baumaschinen und eine Bretterhütte mit den untergebrachten Arbeitsgeräten blockierten den Weg. Ums Haus war ein Gerüst erstellt. Auf breiten Bohlen lag zentimeterdick weißer Staub, den Gehweg bedeckten herausgebrochene Steine, Mörtel und Schutt, der an einer Stelle vor die Hauswand gekehrt worden war. Im Haus gab es kein einziges Fenster mehr. Die dunklen Höhlen starrten die Ankömmlinge wie tote Augen an. Aus dem ehemals mittleren Fenster zur Straße hin ragte eine nach oben geklappte Schütte, aus der tagsüber abgeklopfter Verputz, morsche Balken und leere Zementsäcke in die Tiefe geworfen wurden. Der Zugang zum Haus war durch die noch erhaltene Tür gesichert. Diese war abgeschlossen.

Aber Sachtler hatte einen Schlüssel. Der schweigsame Fahrer – ein Mann, der am Lenkrad saß, als hätte er einen Stock verschluckt – sagte auch jetzt nichts, als die Frau und die beiden Männer ausstiegen. Er hatte den Auftrag, die Leute zu fahren, aber nicht mit ihnen zu sprechen.

»Er hätte die Butler-Schule in London bestimmt mit Auszeichnung absolviert«, konnte Larry Brent sich die Bemerkung nicht verkneifen, als er Morna die Hand reichte, um ihr aus dem Wagen zu helfen. X-GIRL-C, eine Frau, die mit beiden Beinen fest im Leben stand, mochte diese kleinen Gesten der Höflichkeit und Verehrung. Sie fand es keineswegs unmodern oder unter ihrer Würde, sich in den Mantel oder eben aus dem Auto helfen zu lassen. Dies passte ebenso zu ihr wie die Tatsache, dass sie hart kämpfen konnte wie ein Mann, dass sie ihre Fäuste, ihre Intelligenz und auch ihre Waffe einzusetzen verstand. Sachtler schloss die Tür auf. Im Flur gab es eine Lampe. Sie ließ sich jedoch erst einschalten, nachdem Sachtler den Sicherungskasten geöffnet und die Hebel hochgedrückt hatte.

»Abends, wenn die Arbeiter gehen, schalten sie sämtliche Sicherungen aus, damit alles seine Ordnung hat«, sagte Sachtler im Wiener Dialekt.

»Das muss sein, damit hier keiner Unfug treibt. Kommen Sie bitte ...«

Der gut genährte, schnauzbärtige Mann ging durch den großen Hausflur. Der Boden war ebenfalls mit grauweißem Mörtelstaub bedeckt. Überall standen Geräte und Eimer, Schaufeln und Säcke mit Zement und Füllspachteln herum. Die Wände ringsum waren aufgeklopft worden, die Türen zu den unteren Etagen fehlten teilweise, und die nächtlichen Besucher des großen Hauses konnten in die dahinterliegenden Räume blicken. Ganze Wände waren eingerissen oder Durchlässe geschaffen worden, so dass Räume miteinander verbunden waren, zwischen denen zuvor eine Mauer aufragte. Der Zugang zum Keller lag hinter der breiten, geschwungen nach oben führenden Steintreppe. Der Aufzug war hinter einem Gitter zu sehen. Ein Schild hing an der Tür: Außer Betrieb. Sachtler öffnete die quietschende Kellertür. Steil führten die Stufen in die Dunkelheit. Der Kommissar tastete nach dem Lichtschalter.

»Wir haben uns erlaubt, hier unten ein paar Zusatzlampen anzubringen«, sagte er.

»Der ganze Keller lässt sich taghell ausleuchten.«

»Na, dann lassen Sie mal sehen«, bemerkte X-RAY-3, der hinter dem Mann stand. Das Knacken des Schalters war zu hören. Es blieb dunkel ...

»Da scheint einer die Birne rausgeschraubt zu haben«, murmelte Brent.

Zwischen Sachtlers buschigen Augenbrauen entstand eine steile Falte.

»Versteh ich nicht. Ich hab doch sämtliche Sicherungshebel betätigt ... Moment ... Ich seh noch mal nach ...« Er machte auf dem Absatz kehrt und lief den Gang zurück. Larry und Morna verharrten an der Kellertreppe, X-RAY-3 knipste seine Taschenlampe an und führte den hellen Lichtstrahl über die dunklen Steintreppen hinweg, über die blatternarbig aussehenden Wände. Auch hier war stellenweise der Verputz abgeklopft. Es roch muffig. Unten an der Wand stand ein alter Kohleofen, den jemand zur Aufbewahrung dorthin gestellt hatte. Vielleicht wollte ein Arbeiter das nostalgische Stück mit nach Hause nehmen, zur Verzierung oder zur Wiederinstandsetzung, um Öl zu sparen. Der Keller war groß, und doch nicht mehr so wie noch vor einigen Tagen oder Wochen. Alle Türen waren herausgerissen, einige Wände durchbrochen. Das ganze Haus wurde von Grund auf neu gestaltet.

Larry Brent ging nach unten. Feiner weißer Staub wirbelte auf und legte sich nieder auf seine geputzten Schuhe. Unten angekommen, blickte X-RAY-3 nach allen Seiten. Das Haus hatte eine enorme Ausdehnung. Der Mittelgang war sauber gefegt. Am Ende des Hauptgangs war eine Wand niedergerissen. Dahinter lagen ein Hohlraum und der Keller, von dem Anton Sachtler gesprochen hatte. Auf dem Boden befand sich eine große, hölzerne Abdeckplatte, die das rätselhafte Loch, in das einer der Arbeiter gestürzt war, verschloss. Die Wände in dem Hohlraum, jenseits der durchbrochenen Mauer, waren schwarz und schimmerten feucht. Schon als der Lichtstrahl der Taschenlampe sie traf, fiel Larry Brent und Morna Ulbrandson auf, dass die Oberfläche der Steine glatt war.

»Sieht aus, als wäre einige Jahrhunderte regelmäßig Wasser über die Wände gelaufen, dass sämtliche Kanten abgeschliffen wurden«, sagte Morna nachdenklich.

Auch Kommissar Sachtler war eilig nachgekommen. Er hatte sich nach dem Lichtschein gerichtet, der ihm den Weg wies.

»Da stimmt etwas nicht«, sagte er von weitem, ehe X-RAY-3 auf die Bemerkung seiner Kollegin eingehen konnte.

»Die Sicherungen sind in Ordnung, ich verstehe nicht, weshalb kein Strom kommt.«

»Vielleicht wurde bei den Bauarbeiten das Hauptkabel beschädigt«, mutmaßte Larry, um Sachtler nicht noch weiter zu beunruhigen. In Wirklichkeit fürchtete er, dass mehr dahintersteckte. Bei Eintritt in den fensterlosen, nachtschwarzen und muffig riechenden Raum, der beim Durchbrechen der Wand entdeckt wurde, war es ihm schon aufgefallen. Die Lufttemperatur war bedeutend niedriger als in den Räumen und dem Gang davor. Und noch etwas war anders: Die Atmosphäre. Sie wirkte beunruhigend und bedrückend auf die Anwesenden.

»Dass Wasser die Steine ausgewaschen haben könnte, ist natürlich ganz unmöglich. Zumindest hier an Ort und Stelle. Das Haus ist dreihundert Jahre alt, habe ich mir sagen lassen«, ging der blonde Amerikaner auf die Ausführungen seiner Begleiterin ein.

»Die Steine müssen glatt und derart bearbeitet schon hierher geschafft worden sein.«

»Auch uns bereiten diese glatten Steine Kopfzerbrechen«, ließ Sachtler sich vernehmen und tastete mechanisch nach der kleinen Tasche neben dem Revers seines Jacketts, um sich eine in schützender Plastikhülle steckende Havanna herauszunehmen. Vorsichtig öffnete er das glasklare Behältnis und griff beinahe andächtig nach der dicken Zigarre mit der farbigen Bauchbinde. Er biss die Spitze ab und redete erst dann weiter.

»Wir haben keine Erklärung dafür. Überall im Keller findet man grob behauene Quadersteine. Aber das ist nicht das einzige Rätsel. Das andere liegt dort in dem Loch, das uns Kopfzerbrechen bereitet und – in den Stimmen, die ich mit eigenen Ohren gehört habe ...«

»Ich habe bisher noch keine Silbe vernommen«, entgegnete Larry.

»Ich auch nicht«, schloss sich Morna Ulbrandson an.

»Keiner kann im Voraus sagen, wann sie hörbar werden ... Ab ein Uhr nachts jedoch ist immer damit zu rechnen.« Anton Sachtler riss ein Streichholz an und begann heftig an der Zigarre zu saugen. In wenigen Sekunden verbreitete sich ein würziger Duft im Keller und vertrieb den muffigen Geruch. Es war bereits zehn Minuten nach eins.

»Niemand kann den Stimmen befehlen«, erklärte Sachtler leise, und Larry und Morna merkten ihm an, dass er seine Abgeklärtheit und Gelassenheit nur vortäuschte. In Wirklichkeit war er erregt und verbarg seine Furcht. Auch Larry und Morna waren einzige gespannte Aufmerksamkeit, und solange sie nicht wussten, wer oder was hinter der Erscheinung steckte, quälte sie Ungewissheit und Unbehagen. Hier war ein Mensch zu Tode gekommen. Das konnte sich – unerwartet und unberechenbar – jeden Augenblick wieder ereignen.

Von Sachtler wussten sie außerdem, dass die Stimme Deutsch sprach.

Aber sie redete zusammenhangloses Zeug, das niemand, der sie bisher gehört hatte, irgendwie einordnen konnte. Tonbandaufnahmen waren versucht worden. Die Aufnahmen erfolgten, aber als die Bänder abgehört wurden, gaben sie nur ein leises Rauschen von sich. Die seltsame Kraft, die hier existent geworden war, ließ sich nicht akustisch binden. Das warf neue Fragen und Probleme auf. Entweder waren die Tonbandaufzeichnungen im Nachhinein von der gespenstischen, unsichtbaren Kraft gelöscht worden, oder die Stimme hatte sich lediglich auf geistiger Basis gemeldet und war von denen, die sie vernommen hatten, telepathisch wahrgenommen worden. Dabei war ihnen dieser besondere Umstand entgangen.

Larry Brent betastete die kalten, abgerundeten und glatt sich anfühlenden Steine und ging dann vor der Abdeckplatte in die Hocke.

Morna Ulbrandson und Kommissar Sachtler unterstützten ihn dabei, die dicke Platte aus Eichenholz zu verschieben und das Loch freizulegen. Genau an der Decke über ihnen hingen drei große Strahler, und der Wiener Kriminalist warf einen wehmütigen Blick nach oben.

»Schade, dass sie nicht funktionieren«, sagte er verärgert.

»Die Scheinwerfer leuchten den dort unten liegenden Raum vollkommen aus.«

»Die Lichtausbeute meiner Taschenlampe, Kommissar, ist auch nicht von schlechten Eltern.« Während Larry dies sagte, richtete er den Strahl in das Loch vor ihm. Die Schachtränder ringsum waren zerklüftet und tief eingekerbt. Der Boden war zum Zeitpunkt, als der bedauernswerte Arbeiter sich unten aufhielt, plötzlich unter seinen Füßen weggebrochen. Deutlich war auch zu sehen, dass der Boden an dieser Stelle nur etwa zehn Zentimeter dick gewesen war, während er jenseits der ausgebrochenen Ränder drei- bis viermal so stark war. Das brachte Brent auf die Idee, dass der Schacht irgendwann mal offen gewesen sein musste und zu einem späteren Zeitpunkt zugemauert worden war. In den Schacht führte ein armdickes Tau nach unten. Sachtler hatte recht. Mit der Taschenlampe ließ sich der Stollen und der unten liegende Kellerraum nicht ausleuchten. Und Larry Brent kam gar nicht mehr dazu, sich intensiver umzusehen.

Ein Krachen und Bersten war zu vernehmen, und im nächsten Moment sackte der Boden unter den Füßen des Agenten, der sich weit vorgewagt hatte, weg wie brüchiges Glas. Wie ein Stein stürzte Larry Brent in die Tiefe ...

Morna Ulbrandson schrie und tat sofort einen Schritt nach vorn, um noch nach X-RAY-3 zu greifen.

Aber ihre Finger stießen ins Leere. Larry war schon weg. Mit den brechenden Steinen war's passiert. Geistesgegenwärtig ließ er die Taschenlampe los und griff nach dem von der Decke baumelnden Seil. Es war dort an einen gekrümmten Eisenhaken geknüpft.

X-RAY-3 erwischte das Seil, und seine Finger schlossen sich sofort darum. Er rutschte noch einen guten Meter nach, so viel Schwung hatte er schließlich. An ihm flogen einige faustgroße Brocken vorbei, die ihm hätten gefährlich werden können, ihn jedoch um Haaresbreite verfehlten. Sand und Staub rieselten auf ihn herab. Unten krachte und klapperte es. Auch die verlorene Taschenlampe kam rund zehn Meter tiefer an. Das Glas zersprang, aber die Birne blieb ganz. Ein dünnes Licht aus der Tiefe zeigte Larry, wo er hingestürzt wäre.

»Wie fühlst du dich?«, erklang Mornas besorgter Ruf über ihm. X-RAY-3 pendelte an dem Tau – gut vier Meter vom Schachtrand entfernt hin und her.

»Uuuuaaaah!«, brüllte er dann, dass es schaurig durch die Nacht hallte.

»Wie Tarzan!«, rief er dann.

»Ich häng an 'ner Liane und werde mich jetzt in den Schlund der Hölle hinunterlassen. Wenn ich schon so stürmisch die erste Hälfte angegangen bin, sollte ich auf halber Strecke auch nicht kehrtmachen. Und du bist Jane und wirst jetzt schön mit der modernen Taschenlampe leuchten, damit ich auch den rechten Weg finde.«

»Alles klar, Tarzan ...« In Mornas rechter Hand flammte die Taschenlampe auf. Sie richtete den Strahl zuerst so, dass sie sich von der Unversehrtheit ihres Freundes und Kollegen überzeugen konnte, und dann weg von diesem, so dass X-RAY-3 nicht mehr geblendet wurde und den dunklen, völlig kahlen Raum unter dem normalen Keller überblicken konnte. Er war groß, etwa zehn Meter lang und sechs Meter breit. Am vorderen Ende ragte ein steinernes Podest aus dem Boden, das Brent an eine etwas zu niedrige Bühne erinnerte.

»Sieht aus wie ein Versammlungssaal«, berichtete er nach oben.

»Fehlen bloß die Bänke und Stühle ... Ich lass mich jetzt weiter hinab. Komm dem Schachtrand nicht zu nahe, geliebte Jane ... Nicht, dass dir der Boden auch noch unter den Füßen wegbricht ...«

Noch war ungeklärt, wie es zu dem Fall hatte kommen können. Larry konnte sich nicht vorstellen, dass Sachtler und seine Leute den Boden rings um den Schachtrand nicht auf seine Festigkeit überprüft hatten. Der Sturz konnte auch von der Kraft, die den jungen Arbeiter in die Tiefe gezogen und bei sich behalten hatte, ausgelöst worden sein ... Der eigentliche Stollen, in dem der Mann verschwand, lag in der hintersten Ecke. Durch die ungünstig liegende Öffnung über ihm konnte Morna diese Ecke nicht ausleuchten.

Larry Brent wollte sich nur noch den Stollen ansehen, von dem Sachtler behauptete, er ließe sich nicht ausloten. Er hangelte geschickt und schnell am Tau herunter und hatte dann wieder festen Boden unter den Füßen. Brent stand mitten im Lichtkreis von Mornas Lampe, die aus über zehn Metern Höhe zu ihm herunterleuchtete. Ihm zu Füßen lagen die ausgebrochenen Steine und die beschädigte Taschenlampe. Nach ihr bückte er sich und hob sie auf. Da das Glas fehlte, ließ sich mit der Lampe keine brauchbare Beleuchtung mehr schaffen. Die brennende Birne war nichts weiter als ein leuchtender Punkt, mit dem er von oben besser wahrgenommen werden konnte, als selbst etwas wahrzunehmen. Hier unten gab's auch nichts Außergewöhnliches zu sehen.

X-RAY-3 näherte sich dem Stollen vor der dunklen Ecke, von dem niemand wusste, wohin er führte. Allein schon dadurch, dass er überhaupt existierte und tief in den Boden ragte, bildete er ein Rätsel an sich. Rings um den Stollen war ein hüfthoher Zaun errichtet, der mit einem rotweißen Plastikband umschlungen war, um ihn noch auffälliger zu machen. Larry kam gar nicht dort drüben an. Schlagartig wurde es stockfinster. Die beschädigte Lampe in seiner Hand erlosch ebenso wie die, die Morna hielt, und deren Licht ihm Sicht geboten hatte.

Dann presste sich auch schon eine Hand auf seinen Mund. Larry merkte, dass er keinen Boden mehr unter den Füßen hatte.

»Hallo, Tarzan?«, rief Morna in die Tiefe und schüttelte heftig die Lampe in ihrer Hand. Die Batterien konnten nicht leer sein. Hier zeigte sich die gleiche Kraft, die offenbar auch für den gesamten Stromausfall im Kellerbereich verantwortlich war.

»Alles in Ordnung, Sohnemann?«, hakte die hübsche Blondine nach und lauschte in die Dunkelheit. Ihr Herz schlug schneller und ihr brach der Schweiß aus. Unten blieb es totenstill. Kein Scharren von Füßen, kein Atmen ...

»Larry?«

Er gab keine Antwort mehr ...

Der Mann am Steuer der schwarzen Mercedes-Limousine hatte entgegen aller Vornehmheit die Rückenlehne ein wenig zurückgeschraubt und sich dezent angelehnt. Sein Kopf lag an der Stütze, die Augen waren geschlossen. Ruhige Atemzüge verkündeten, dass er fest schlief. Manchmal fuhr er kurz zusammen und schreckte auf, kam aber nicht recht zu sich. Als er endlich die Augen öffnete, glaubte er, ihnen im ersten Moment nicht trauen zu können. Es war nicht mehr dunkel ...

Der Morgen dämmerte, und Geräusche fahrender Autos in den Straßen verwirrten ihn völlig. Ein Lkw brummte heran und hielt eine Armweite vom Chauffeur des Dienstwagens entfernt. Lärmend stiegen vier Arbeiter aus. Auf dem Lkw befand sich Baumaterial, eine Schubkarre und mehrere dicke Holzbohlen. Erich Ferling, seines Zeichens Fahrer für das Innenministerium, glaubte im ersten Moment zu träumen. Das Radio lief, und leise Musik drang aus den Lautsprechern. Ferling erinnerte sich daran, in der Nacht, als er allein war und auf seine Fahrgäste wartete, das Gerät eingeschaltet und der Musik gelauscht zu haben. Dabei musste er dann wohl eingeschlafen sein. Das Musikprogramm klang aus, das Zeitzeichen ertönte, und dann meldete sich die ruhige, sympathische Stimme der Sprecherin.

»Es ist sechs Uhr. Hier ist Ö-3 mit den Nachrichten ...«

Der grauhaarige Mann fuhr zusammen.

»Das gibt's doch nicht!«, stieß er hervor. Er war hellwach, hörte und sah alles und konnte nicht fassen, dass er bereits seit ein Uhr nachts hier stand und Kommissar Sachtler und seine Begleiter bis zur Stunde noch nicht wieder aus dem zum teilweisen Abbruch und zur Renovierung bestimmten Haus herausgekommen waren! Da stimmt etwas nicht, da ist etwas passiert,