Larry Brent Classic 057: Der Gespensterturm - Dan Shocker - E-Book

Larry Brent Classic 057: Der Gespensterturm E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Die weiße Frau vom Gespensterturm Der deutsche Student Martin Bernauer ist besessen von Spukhäusern. Er setzt alles daran, zum Gespensterturm zu gelangen, um der Weißen Frau zu begegnen. Doch er ahnt nicht, dass dies sein Ende bedeutet. Unterdessen untersucht die PSA unheimliche Vorgänge im Nervensanatorium des Dr. Brennan, der im Verdacht steht, Experimente an seinen Patienten durchzuführen. Hier wird auch der Privatforscher Henry Parker-Johnson gegen seinen Willen festgehalten. Larry Brent und Morna Ulbrandson verhelfen ihm zur Flucht und geraten in einen Strudel tödlicher Gefahren. Alle Spuren führen zum Gespensterturm, in dem Lady Myra ihre Fallen bereits aufgestellt hat. Luciferas Horror-Maske Unheimliche Ereignisse im Spessart rufen die PSA auf den Plan. Larry Brent und Iwan Kunaritschew untersuchen das Erscheinen eines Geisterhauses in einer Schlucht nahe Mömbris. Nachdem ein Polizist auf geheimnisvolle Weise in Flammen aufgeht, ist höchste Eile geboten. Die PSA-Agenten werden Zeuge von Luciferas Hexentanz, die ihr Gesicht hinter einer furchtbaren Horror-Maske verborgen hält. Während sie versuchen, das Leben einer jungen Frau zu schützen, wird der Deutsche Hans Mendeler, der sich in ein Bergdorf der Sierra Nevada verirrt, ungewollt zum Mörder. Die Auswirkungen bekommen X-RAY-3 und X-RAY-7 im Spessart zu spüren.

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DAN SHOCKERS LARRY BRENT

BAND 57

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Fachberatung: Robert Linder

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

978-3-95719-857-0

Dan Shockers Larry Brent Band 57

DER GESPENSTERTURM

Mystery-Thriller

Die weiße Frau vom Gespensterturm

von

Dan Shocker

Prolog

Das Gasthaus lag auf dem Weg zu seinem Ziel. Obwohl er von dort nur noch drei Fahrtstunden entfernt war, kehrte er ein, um etwas zu essen und ein Bier zu trinken. Der junge Mann parkte seinen alten VW, der rund dreißig Jahre auf dem Buckel hatte und noch das kleine Heckfenster, auf dem unbefestigten Platz vor dem Haus. Die Wirtschaft besaß kleine, bleigefasste Fenster und eine niedrige Holztür. Der Gast, knapp einsachtzig groß, musste sich bücken, um nicht mit dem Kopf an den eingekerbten, alten Querbalken aus massivem Eichenholz zu stoßen, in den dunkel und verschnörkelt die Jahreszahl 1532 geschnitzt war. Das buntbemalte Blechschild, gefasst in einen brüchig aussehenden Eisenrahmen, stammte offensichtlich auch aus dieser Zeit. Es zeigte eine altmodische Szene, eine zweispännige Kutsche, aus der Damen und Herren stiegen. Auf dem Dach des Gefährts türmten sich Koffer und Reisekisten. Die Kutsche stand vor einer Abbildung des Hauses, vor dem der Ankömmling seinen VW geparkt hatte.

Der Gasthof hieß Berry's Comfortable Inn. Das musste er damals gewesen sein. Aber in den letzten vierhundert Jahren schienen die Besitzer kein Interesse oder kein Geld gehabt zu haben, dem Anspruch comfortable gerecht zu werden. Heute war das Haus alt, das Notwendigste daran war restauriert, die alten Balken hatten offensichtlich erst kürzlich einen neuen Schutzanstrich erhalten und wirkten dadurch umso massiger. Das Haus war einstöckig, hatte früher offenbar mitten im Wald gelegen. Noch immer war die Gegend waldreich, denn hinter dem landhausähnlichen Gebäude breitete sich ein ausgedehntes Gebiet mit Bäumen aus. Berry's Comfortable Inn lag dreihundert Meter von der nach Pembroke führenden Hauptverkehrsstraße entfernt. Ein gepflasterter Weg zweigte dort ab. Die Besitzer des Landhauses waren gleichzeitig auch die Herren der umliegenden Wälder.

Hinter der Tür lag gleich der Schankraum. Die beiden Autos und die Fahrräder draußen vor dem Gasthof ließen keinen Schluss darauf zu, wie stark besetzt Berry's Inn tatsächlich war. An den Tischen drängten sich die Menschen und die Bedienung – ein junges, gertenschlankes Mädchen – kam gerade zwischen den Reihen durch, um ihre Bierlast zu den einzelnen Gästen zu bringen. Lautstarke Unterhaltungen wurden geführt. Etwa dreißig Gäste waren anwesend, ein Drittel davon Frauen unterschiedlichen Alters. Einige Männer und Frauen saßen an der Bar, hinter der eine dralle Wirtin stand, die in ihrem Ausschnitt große Brüste zur Schau stellte. Die Frau hatte mittelblonde, lockige Haare und bewegte sich trotz Leibesfülle erstaunlich wendig hinter dem Tresen. Sie lachte silberhell, bediente flott und griff immer wieder nach einem zusammengeknüllten Tuch mit roten Streifen, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, der ununterbrochen perlte. Sie redete viel und sprach auf einen links sitzenden jungen Mann ein, der etwa in Rolf Salwins Alter sein mochte. Dieser Mann hatte dunkles Haar, trug einen Bluejeans-Anzug und hatte auf dem Boden neben sich einen Rucksack stehen.

»Geister!«, hörte der Eintretende die klare Stimme der dicken Wirtin und steuerte direkt auf die Bartheke zu. An den kleinen, klapprigen Tischen ringsum gab's nirgends mehr einen freien Platz. An der Theke erspähte Salwin noch einen Hocker und nahm ihn sofort in Beschlag. »Geister und Spuk gibt's hier überall, junger Freund. Die begegnen Ihnen auf Schritt und Tritt ...« Die Wirtin sprach zu dem Mann mit dem Rucksack, und die anderen hörten teils amüsiert grinsend, teils aufmerksam und ernst lauschend zu. »Da müssen Sie nicht weit gehen. Im Dorf unten ... da stehen genug Häuser. Hier unterm Dach spukt's, sogar hier an der Theke ...«

Da grinste der Angesprochene und schüttelte den Kopf. »So leichtgläubig bin ich nun auch wieder nicht ... Ehrlich, Frau Wirtin, ich bin interessiert an echten Gespenstergeschichten. Nicht an dummem Gerede ...«

Rolf Salwin wurde hellhörig, als er die Antwort vernahm, nicht wegen ihres Inhalts, sondern wegen des Klangs der Worte. Dieser Mann sprach ein gutes Englisch, aber er konnte seine deutsche Herkunft nicht verleugnen.

»Darüber werde ich noch mit Ihnen sprechen, junger Freund«, rief die korpulente Frau und eilte an das entgegengesetzte Ende der Theke, wo ein Einheimischer demonstrativ sein leeres Glas in die Luft streckte.

»Das ist kein Quatsch ... Mary sagt die Wahrheit«, schaltete sich ein älterer Mann ein, der neben dem Deutschen in der Ecke saß. »Hier spukt's wirklich. Noch nie etwas von Tim Cooley, dem Jäger, gehört?«

»Tim Cooley? Ich kenn nur einen Tom Dooley. Den haben sie aufgeknüpft ...« Der Sprecher machte die Geste des Schlinge-um-den-Hals-Legens. Rolf Salwin zog sich den leeren Hocker zurecht, nickte grüßend und konnte das weitere Gespräch nun aus allernächster Nähe mitverfolgen.

»Ich meine unseren Tim Cooley, der in den Wäldern umgeht. Damals, um 1540 herum, hat er hier in dem Gebiet gehaust und war ein gefürchteter Wilderer. Die Männer um King Henry VIII. haben ihn gejagt. Aber er hat sich nicht fangen lassen. Er hat sich erhängt. Seither geht sein Geist um.«

Der junge Mann in dem Bluejeans-Anzug nickte. »Damit bin ich einverstanden, Sir ... Ich bin dankbar für jeden Tipp, den ich kriege. Aber ich mein's wirklich ernst. Auf den Arm nehmen lasse ich mich nicht. Ihr wollt mir also weismachen, dass der gute Tim Cooley seine Angewohnheit nicht lassen kann und regelmäßig weiter hierherkommt und seine Biere zwitschert, wie?«

Der alte Engländer lachte rau. »Wenn's nur das wäre, Fremder ... Er kann auch seine alte Angewohnheit nicht lassen und greift den Mädchen und Frauen an der Bar schamlos unter den Rock.«

»Ein toller Bursche!« Der Mann im Bluejeans-Anzug hob die Augenbrauen. »Ich bin zwar auf der Suche nach Gespenster- und Spukhäusern, nach Ruinen, alten Schlössern und Türmen – aber so etwas habe ich noch nicht gehört. Und wann kommt er wieder?« Martin Bernauer, der diese Worte sagte, feixte. »Vielleicht ist er schon mitten unter uns, wer weiß ... wenn die ersten Mädchen wie am Spieß brüllen, wissen wir, woran's liegt. Tim Cooley, der Lüstling, hat wieder zugeschlagen ...«

Rolf Salwin nutzte die Gesprächspause, um sich einzuschalten. Er sprach Deutsch, und Bernauer, auf den die massige Wirtin wieder zueilte, war erstaunt, einen Landsmann in dem alten Gasthof zu treffen. »Bin auf dem Weg in den Süden«, erläuterte Salwin auf eine Frage des Anderen. »Von da aus will ich nach Irland. Will 'ne Bootsfahrt auf dem Shannan unternehmen. Hab drüben 'ne Freundin, die auf mich wartet. Und wo kommst du her?«

Bernauer deutete auf seinen Rucksack, der mit bunten Aufklebern bedeckt war. »Von überall und nirgends, wie du siehst. Letzte Station war London. Davor hielt ich mich in Calais auf. Gekommen bin ich aus Stuttgart, wo ich zu Hause bin ...«

»Und was machst du hier?«

»Bin auf der Suche nach Gespenstern. Ist mein Hobby. Ich will ein Buch darüber schreiben. Ich habe schon allerlei gehört, aber was man mir hier in Berry's Inn aufzutischen versucht, ist doch starker Tobak.«

»Hören Sie zu, mein Freund«, machte sich die dicke Wirtin wieder bemerkbar. »Sie sollten einige Tage hier verbringen. Vielleicht haben Sie Glück und lernen Tim Cooley selbst kennen ... Für Sie mag das etwas Außergewöhnliches sein, nicht aber für uns. Wir haben uns an den Burschen längst gewöhnt. Und außer seinem Schabernack treibt er nichts mit uns ...«

»Tut mir leid«, lehnte Martin Bernauer ab. »Mehr als eine Nacht kann ich nicht bleiben. Spätestens morgen gehe ich weiter. Ich will zum Gespensterturm bei Pembroke und hoffe, die Weiße Frau dort zu sehen ...«

»Ja, ich weiß.« Die Stimme der Wirtin veränderte sich und verlor plötzlich ihren Elan. »Sie haben's ... bereits vorhin angedeutet. Ich möchte Sie vor dem Gespensterturm warnen.«

»Warum?«

»Es hat seine Gründe. Es gibt Dinge in Verbindung mit Spukerscheinungen, die sind harmlos und manchmal sogar lustig. Es gibt aber auch gefährliche Erscheinungen.«

»Und dazu gehört der Gespensterturm?«

»Ja.«

»Tritt dort auch Tim Cooley in Erscheinung?«, konnte der Student Martin Bernauer sich die Bemerkung nicht verkneifen. »Ist die Weiße Frau vielleicht böse auf ihn?«

Die Wirtin, vorhin noch so lustig und fidel, sah keinen Grund, ihre ernste Miene jetzt abzulegen. »Ich würde mich darüber nicht lustig machen, my dear friend ... Vom Gespensterturm erzählt man sich viele Dinge.«

»Zum Beispiel?«

»Dass diejenigen, die die Weiße Frau gesehen haben, ihr Leben verloren.«

»Ich habe keine Angst vor Geistern.«

»Aber Sie glauben, dass es sie gibt?«, konterte die Wirtin schnell und nahm das leere Glas in Empfang, ließ es in das gefüllte Wasserbecken gleiten, schwenkte es ein paarmal, reinigte mit einer Rundbürste nach und tauchte es dann kurz in ein zweites Wasserbecken. Danach füllte sie das frisch gesäuberte kühle Glas wieder auf.

»Ja. Ganz gewiss.«

»Aber an den erhängten und heute noch spukenden Wilderer glauben Sie nicht?«

»Noch nicht. Die Figur hört sich irgendwie erfunden an ...«

Die Wirtin zuckte die Achseln. Sie wollte etwas sagen, als sich eine etwa dreißigjährige Frau, die an der Theke saß, in Richtung Martin Bernauer wandte und sich in das Gespräch einschaltete. »Mary hat recht mit allem, was sie sagt. Bei mir hat's Tim schon mal versucht! Ich denke, ich fall vom Hocker, als der Kerl mir unter den Rock greift. Sie sollten's glauben, Mister ... Und Sie sollten auch Marys Warnungen ernst nehmen. Das mit dem Turm ist nichts für Sie. Wäre schade um Sie ...« Das klang bitterernst.

Die Wirtin hatte anderweitig zu tun, und die beiden Deutschen hatten nun Gelegenheit, sich einander bekannt zu machen. Rolf Salwin erfuhr von dem Studenten, dass dieser Material für eine Artikelserie sammelte, die in einer bekannten deutschen Zeitschrift erscheinen sollte. Bernauer wollte Orte, an denen es angeblich spukte, aufsuchen und aus eigenem Erleben kennenlernen. Der dunkelhaarige junge Mann aus Stuttgart, der eine randlose Brille trug, glaubte an übersinnliche Erscheinungen und daran, dass es die Weiße Frau wirklich gab.

An dieser Stelle zeigte sich auch Rolf Salwin überrascht, dass er dann von der Geschichte des erhängten Wilderers nichts wissen wollte.

»Ich finde es selbst merkwürdig«, gestand ihm Bernauer nach einer Weile und hatte seine Stimme gesenkt, da er nicht wollte, dass seine unmittelbaren Nachbarn an der Bar Zeuge seines Geständnisses wurden. Aber es hätte des leisen Sprechens nicht bedurft. Hier war sowieso sonst niemand, der Deutsch verstand. Martin Bernauer fuhr sich mit der Rechten durch das leicht gewellte Haar. »Es ist so, als wären all die anderen Besuche, die ich inzwischen hinter mich gebracht habe, völlig bedeutungslos. Ich habe das Gefühl, überhaupt nichts gesehen zu haben. Dabei war ich bestimmt in mehr als hundert Ruinen, Schlössern, alten Häusern, habe darin geschlafen und gelauscht und auf einen besonderen Zwischenfall gewartet. Ich habe auch manches gehört. Knarrende Türen ... Klopfen in den Wänden ... Schritte, die sich in leeren Räumen bewegten ... Ich habe Tonbandaufnahmen gemacht und alles genau notiert, aber je näher ich nach Pembroke komme, desto mehr verblassen die Bilder, die Geräusche, die Erlebnisse, ja, selbst meine Erinnerung ... Und hier – nur noch runde fünfzehn Meilen von der Turmruine entfernt – will ich andere Spukerscheinungen schon gar nicht mehr für möglich halten. Dabei ist die Geschichte von Tim Cooley doch recht plausibel ... Ich weiß nicht ... Ich werde das dumme Gefühl nicht los, als würde mit mir etwas nicht mehr stimmen. Ich kann es kaum erwarten, den Turm aufzusuchen. Gerade so, als empfinge ich von dort einen geheimnisvollen Ruf ...«

1. Kapitel

Der Mann lag mit geschlossenen Augen im dunklen Raum. Die Kammer war klein, nur mit dem Notwendigsten möbliert: ein kleiner quadratischer Tisch, zwei alte Stühle, ein Wandschrank. Es gab nicht mal eine Tisch- oder Stehlampe, nur eine Deckenleuchte. Die ließ sich mit dem Schalter neben der Tür jedoch nur bis halb zehn ein- oder ausschalten. Danach wurde der Strom für alle Zellen zentral gesperrt.

Es war halb zehn und der Mann hatte keine Möglichkeit mehr, das Licht anzuknipsen. An manchen Abenden hätte er es gern noch getan. Aber heute war ihm die Finsternis geradezu angenehm. Nur in der Dunkelheit konnte er sein Vorhaben durchführen. Vorausgesetzt, dass die Neue, die seit einer Woche in diesem Trakt Nachtdienst hatte, zuverlässig war und sich von dem Gerede der anderen nicht irre machen ließ.

Henry Parker-Johnson war seit eineinhalb Jahren in dem Sanatorium. Der hagere Mann mit den kleinen dunklen Augen und dem schütteren grauen Haar war in dieser Zeit um Jahrzehnte gealtert. Seine eigene Tochter hatte es fertiggebracht, ihn entmündigen zu lassen und wegen angeblich geistiger Umnachtung in die Anstalt zu bringen. Aber er war nicht verrückt! Alle seine Beteuerungen hatten jedoch nicht gefruchtet. Die untersuchenden Ärzte schienen anderer Meinung zu sein und behielten ihn da. Aber nicht, weil er geistesgestört war, sondern weil sie gutes Geld an ihm verdienten. Sie waren bestochen worden – mit seinem eigenen Geld!

Ihm stieg die Galle hoch, und er hätte alle, die ihn hier gegen seinen Willen festhielten, erwürgen können. Auf die Leute, die in dem Nervensanatorium das Sagen hatten, konnte er nicht zählen. Die steckten alle unter einer Decke. So war seine einzige Hoffnung das Personal gewesen. Die Schwestern und Pfleger mussten doch merken, was mit ihm los war! Anfangs hatte Parker-Johnson wirklich geglaubt, auf diese Weise eine Chance zu haben und mit Hilfe des Pflegepersonals doch noch mal die Mauern der Anstalt zu überwinden.

Zuerst hatte er sehr geheimnisvoll getan und die Menschen, die er in sein Vertrauen einbeziehen wollte, mit ruhiger Stimme wissen lassen, dass er nicht verrückt sei. Man hatte ihm aufmerksam zugehört, ihn getröstet und versprochen, dass er unter diesen Umständen wohl bald entlassen würde. Dann hatte man ihm alles Gute gewünscht und war sehr freundlich zu ihm gewesen. Aber geändert hatte sich nichts. Man hielt ihn für einen Verrückten, der auf diese Tour versuchte, wieder rauszukommen. Da verlegte er sich bei einigen aufs Betteln und Flehen. Aber auch das fruchtete nicht. Man brachte sein Verhalten mit seiner Krankheit in Verbindung. Als drittes verlor er schließlich die Geduld, tobte und schrie, riss sich los und versuchte zu fliehen. Da war's ganz aus. Nun wurden sie rabiat ...

Sie steckten ihn in eine Zwangsjacke. Als er nicht aufhörte zu schreien und seine Peiniger anspuckte, verabreichten sie ihm eine Injektion. Danach wurde er ganz ruhig und ließ alles willig mit sich geschehen.

Dr. Brennan, Chefarzt und Inhaber des Privatsanatoriums, war zuvorkommend und höflich. Für Henry Parker-Johnson war es die Freundlichkeit einer Schlange. Brennan war der Kopf dieser Gangster. Was er sagte, wurde getan. Wochenlang verabreichte man dem angeblich Geistesgestörten regelmäßig morgens und abends eine Spritze. Danach dämmerte Parker-Johnson vor sich hin, war völlig lethargisch, aß und trank mechanisch und lag den ganzen Tag über in seinem Zimmer. Er befand sich in einer äußerst prekären Situation und hatte eingesehen, dass es nichts nutzte, wenn er bettelte oder schrie. Er konnte tun, was er wollte, man hielt ihn für verrückt.

Nach fünf Monaten verhielt er sich, wie man's von ihm erwartete. Da er so vernünftig war, bekam er zu hören, könne man die Medikamentendosis herabsetzen. Er erhielt nur noch eine Injektion abends, die ihn schläfrig machte und seine Glieder schwer, so dass er meistens erst um die Mittagszeit des nächsten Tages schwach und schwerfällig aus den Federn kroch. Unter den wirklich Geisteskranken, die dahinvegetierten und ständig unter starken Psychopharmaka-Gaben standen, fühlte er sich mehr und mehr selbst krank. Seine Interessen, der alte Elan und die Hoffnung, jemals wieder rauszukommen, waren dahin. Er hätte eine Möglichkeit haben müssen, mit der Außenwelt Kontakt aufzunehmen. Aber wie? Er verfügte über kein Funkgerät, sein Fenster war vergittert und mit Blick auf einen riesigen Park. Mit Besuchern von draußen kam er nicht zusammen. Er war völlig abgekapselt. Dennoch war es ihm zwei- oder dreimal gelungen, sich an einen Besucher zu wenden, ihm eine Botschaft zuzuflüstern mit der Bitte, auf seine Gefangenschaft in diesem Haus aufmerksam zu machen. Er erntete mitleidiges Lächeln, und alles blieb beim Alten. So verging Woche um Woche, Monat um Monat. Die Eintönigkeit des Tagesablaufs war nervtötend, und Henry Parker-Johnson fühlte seine Kräfte schwinden.

Er stand morgens nicht mehr auf, nahm nur noch widerwillig sein Essen ein, das man ihm jedoch einflößte, wenn er es vollends verweigerte. Man wollte nicht, dass er starb. Das konnte nur bedeuten, dass man noch etwas mit ihm vorhatte. Sein Seelenzustand wurde immer bedenklicher, und er begann zu fürchten, dass er eines Tages von selbst in den Wahnsinn abglitt, aus Verzweiflung über seine ausweglose Lage.

Da ... vor drei Tagen, als er am wenigsten erwartete, eine Chance zu haben, war sie auf ihn zugekommen. Die neue Schwester. Jung und zart wie ein Engel war sie ihm erschienen. Sie brachte ihm das Essen, wechselte einige Worte mit ihm, und er – der schon aufgegeben hatte – merkte, dass dieser Mensch nicht mit den anderen zu vergleichen war, mit denen er sonst in der Anstalt zu tun hatte. Die Schwester – sie hieß Jane – brachte ihm Verständnis entgegen. War es echt oder nur gespielt? Anfangs war er misstrauisch. Zu viele Enttäuschungen hatte er schon erlebt. Und – er war vorsichtig und sagte kein Wort zu viel. Nichts von Flucht und Freiheit, nichts von seiner Krankheit.

Er glaubte, der Boden unter seinen Füßen würde sich öffnen, als Schwester Jane davon anfing. Die ersten Worte, die sie in dieser Richtung äußerte, würden ihm unvergesslich bleiben.

»Sie möchten gern raus hier, nicht wahr?«

Er hatte sie betrachtet wie das siebte Weltwunder. »Ja«, hatte er dann geflüstert. »Wie kommen Sie darauf?«

»Ich sehe es Ihnen an, Mister Parker-Johnson. Ich hatte außerdem Gelegenheit, einen Blick in ihre Krankenakte zu werfen. Sie sind nicht verrückt! Es ist ein schlimmes Spiel, das man hier mit Ihnen treibt.«

»Was wissen Sie darüber?«

»Über die Hintergründe – nichts. Noch nichts. Aber deshalb bin ich hier. Ich habe den Auftrag, einige Fälle des Dr. Brennan unter die Lupe zu nehmen ...«

»Dann sind Sie ... von der Polizei?«

»Ja, so ähnlich«, hatte sie ausweichend erwidert.

»Das heißt – ich könnte Ihnen vertrauen?«

»Sie sollten es sogar, Mister Parker-Johnson.«

»Meinen Sie es wirklich ernst, oder gehört das Ganze nur zu einer neuen Therapie, die sich Brennan hat einfallen lassen?«

»Sie müssen schon Vertrauen zu mir haben.«

»Und wer gibt mir die Gewissheit, Schwester, dass ich das kann?«

»Lassen Sie mich eine Gegenfrage stellen, Mister Parker-Johnson: Was haben Sie zu verlieren?«

Er sah sie daraufhin lange und eingehend an. »Okay«, hatte er gesagt, »Sie haben recht. Im Prinzip habe ich nichts zu verlieren. Sie könnten mich – wenn alles ein Spiel ist – nur in eine neue Enttäuschung stürzen. Aber diese würde wohl kaum mehr so schmerzhaft sein wie die anderen, die ich davor erlebt habe.«

»Sie werden nicht enttäuscht sein. Das verspreche ich Ihnen. Sie können sich auf mich verlassen. Ich bin morgen Abend wieder da und habe den Auftrag, Ihnen Ihre Gutenachtspritze zu geben. Ich werde die Ampulle austauschen und Ihnen stattdessen ein harmloses Vitamin-Traubenzucker-Präparat injizieren. Sie werden sich sehr frisch danach fühlen.«

Bis jetzt hatte sie Wort gehalten. Pünktlich zur angegebenen Zeit war sie ins Zimmer gekommen und hatte ihm die Spritze gegeben. Da war's gerade dunkel geworden.

Spätestens um zehn Uhr wollte sie kommen. Dann war Stille im ganzen Haus, und die Flucht, die er so lange herbeigesehnt hatte und an die er schon nicht mehr glauben wollte, sollte endlich stattfinden. Mit jeder Minute, die nach der allgemeinen Stromsperre verging, fieberte der Mann in dem kleinen, schmucklosen Raum dem Augenblick seiner Befreiung entgegen. Er war hellwach und fühlte sich, als könne er Bäume ausreißen. Lauschend lag er im Dunkeln und verhielt sich völlig still. Zweifel stiegen in ihm auf und vergifteten sein Denken. Hoffentlich ging nichts schief. Wenn Schwester Janes Plan entdeckt wurde, bedeutete dies Gefahr. Für ihr – und für sein Leben! In dem alten, muffig riechenden Haus hielten sich noch andere auf, die nicht so dachten wie Schwester Jane.

Seine Gedanken wurden abrupt unterbrochen, als er Schritte hörte, die laut durch den langen, mit Fliesen belegten Korridor hallten. Schwester Jane!

Parker-Johnson schluckte trocken und hielt unwillkürlich den Atem an. War das wirklich Janes Schritt? Plötzlich hatte er panische Angst, dass der Plan vorzeitig entdeckt und vereitelt würde. Der Mann spürte Schmerzen in der Brust und ein Gefühl von Beklemmung. Knarrend drehte sich der Schlüssel von außen, dann wurde die Tür geöffnet. Ein fahler Lichtstreifen fiel in das stockdunkle Zimmer. Der Gang jenseits der Tür war schwach beleuchtet. In dem erleuchteten Viereck zeigte sich die dunkle Silhouette einer schlanken Frau. Sie ließ einen Moment verstreichen, als wolle sie die Reaktion des Mannes prüfen. Henry Parker-Johnson öffnete schon den Mund, hielt aber im letzten Augenblick inne. Er war sich nicht ganz sicher, ob es sich wirklich um Schwester Jane handelte, die in der Tür stand – oder um eine andere Pflegeperson.

»Hallo, Mister Parker-Johnson«, flüsterte da eine vertraute Stimme, und der Angesprochene hätte jubeln können.

»Ja!«, sagte er aufgeregt, und sein Puls pochte schneller. »Ist die Luft rein?«

Er starrte auf die dunkle Silhouette, die auf ihn zuhuschte.

»Niemand außer mir in der Nähe«, raunte ihm Schwester Jane zu. »Die Patienten in der Abteilung sind alle ruhiggestellt. Die Kollegin hält sich im unteren Stockwerk auf. Es kann losgehen ...«

Sie gab ihm ein Zeichen, sich zu erheben, und er war erstaunt, wie flott das ging. In der Spritze, die er bekommen hatte, schien sich ein starkes Belebungsmittel befunden zu haben, nicht nur ein Vitamin-Traubenzucker-Präparat. Dass er imstande war, seine Glieder so geschmeidig zu bewegen, versetzte ihn in Erstaunen. Er fühlte sich wie neu geboren und war voller Tatendrang. Wortlos führte die Krankenschwester ihn bis zur Tür und spähte hinaus auf den Gang. Der ganze Korridor war fünfzehn Meter lang. Von der Tür des Zimmers, in dem der Privatforscher mehr oder weniger die letzten fünfzehn Monate seines Lebens verbracht hatte, war der Gang bis zum Abknicken noch etwa acht Meter lang. Von beiden Wandseiten mündeten glatte, braune Türen auf ihn. Alles war totenstill.

»Hören Sie mir gut zu«, raunte Jane und sah ihn an.

Er erwiderte ihren Blick. Sie hatte dunkle, unergründliche Augen, einen sanftgeschwungenen Mund, helle Haut und seidige Wimpern. Das dunkle Haar war unter der enganliegenden weißen Haube zusammengefasst und an den Seiten hochgesteckt, was die Vermutung zuließ, dass die Schwester ihre Haare zu anderen Gelegenheiten lang trug. »Der Fluchtweg führt über den Hof. Ich habe mir einen Nachschlüssel beschafft. Außerhalb der Mauer steht ein Triumph Vitesse, kein großes Auto, aber ein gutes. Es ist vollgetankt, der Wagen ist absolut zuverlässig. Der Zündschlüssel steckt. Sie können Auto fahren?«

»Ja. Sie kommen nicht mit?« Im gleichen Augenblick, als er das sagte, merkte er, dass er sich dumm benommen hatte. Natürlich konnte sie nicht mitkommen. Schließlich musste sie weiterhin ihren Dienst versehen, und niemand durfte sie mit seinem Verschwinden in Zusammenhang bringen.

»Ich komme nach. Ich muss mich mit Ihnen über diverse Dinge unterhalten. Mein Dienst verläuft heute Abend anders als normal. Punkt zehn Uhr kommt meine Ablösung. Ich habe mit einer Kollegin getauscht. Sobald Sie im Auto sind, starten Sie! Fahren Sie immer geradeaus! Die erste Abzweigung überfahren Sie ... Ungefähr zwei Meilen von hier folgt dann die nächste Kreuzung. Dort steht ein verwittertes Schild, das auf einen Gasthof namens Berry's Comfortable Inn hinweist.«

»Wo ist denn das? Noch nie gehört.«

»Rund fünfzehn Meilen nördlich von Pembroke.«

»Pembroke in – Wales?«

»Ja.«

Parker-Johnson schluckte hart, und seine Lippen bildeten einen dunklen Strich in dem blassen Gesicht. »Dann bin ich ja ... mehr als ... fünfzig Meilen von meinem ... Haus entfernt. Ich habe nie erfahren, wo ich festgehalten wurde. Als ich eines Morgens erwachte, lag ich im Privatsanatorium eines gewissen Dr. Brennan. Auf meine Frage, wie ich hierher komme, wurde mir geantwortet, dass ich sehr krank sei. Ich erklärte, dass es sich um einen Irrtum handeln müsse ... Da trat meine Tochter vor mich hin mit einem seltsam rätselhaften Lächeln auf den Lippen, das ich nie vergessen werde. Nimm mich mit nach Hause, Harriet!, rief ich meiner Tochter zu. Sie schüttelte den Kopf und sagte, dass dies nicht gehe. Ich hätte zu Hause einen Tobsuchtsanfall erlitten, alles kurz und klein geschlagen und wäre auf sie und ihren Mann mit dem Messer losgegangen. Ich konnte mich an nichts erinnern. Nur – ihren Mann Tony, diesen schrecklichen Kerl, kann ich nicht ausstehen. Als ich ihn das erste Mal sah, trug er einen karierten Schottenrock. Ich habe fast einen Lachanfall bekommen. Aber danach gab's bei uns auch nicht mehr viel zu lachen, Jane, das können Sie mir glauben. Ich ...«

»Psst«, sie legte den Zeigefinger auf ihre Lippen und gebot ihm, still zu sein. »Alle diese Dinge können Sie mir nachher in Ruhe erzählen.«

»Gut, ja ... Ich will endlich wissen, welche Rolle Harriet in dem Spiel hatte. Sie ließ es zu, dass man ihren Vater für verrückt erklärte und in eine Nervenheilanstalt steckte. Dieser Typ mit dem Schottenrock scheint ihr entweder den Kopf total verdreht zu haben – oder er ist ein Hexer und hat ihr was ins Essen gegeben, dass ihre Sinne sich verwirrten ...«

»Wir werden es klären ... Und ich werde Ihnen helfen. Aber nun wird es langsam kritisch«, flüsterte die charmante Krankenschwester. In ihrer weißen Tracht sah sie aus wie ein Engel. »Meine Ablösung kann jede Minute eintreffen. Wir sind viel zu spät dran. Ich wurde von meiner Kollegin leider zu lange aufgehalten, das hat unnötig Zeit gekostet, die uns jetzt fehlt. Schnell ...«

Sie packte ihn bei der Hand, und sie liefen beide durch den Korridor und an den schmucklosen, hässlich aussehenden Türen entlang, hinter denen sich nichts rührte. Stille wie in einem Leichenhaus ...

Und damit war dieses Sanatorium auch zu vergleichen. Alles, was sich unnötig laut regte, wurde durch entsprechende Medikamente stillgestellt. Niemand hinter diesen Türen schlief einen natürlichen Schlaf. Überall war kräftig nachgeholfen worden.

Schwester Jane und der Privatgelehrte Parker-Johnson erreichten die Gangbiegung. Jane hielt den Mann fest bei der Hand. Parker-Johnson, daran gewöhnt, zu beobachten und zu analysieren, spürte auf seiner Haut kurz etwas Kühles. Er warf einen Blick herab und bemerkte das Armkettchen, dass die Schwester am linken Handgelenk trug und an dem ein Anhänger in Form einer goldenen Weltkugel befestigt war. Ein ungewöhnlicher Schmuck! Parker-Johnson registrierte ihn und nahm sich vor, nachher danach zu fragen. Ausgefallenes interessierte ihn stets.

Noch zwanzig Schritte waren es bis zum Ende des Korridors. Noch immer blieb alles still. Weit und breit nichts zu sehen von Janes Kollegin und auch nicht von ihrer Ablösung, deren Eintreffen sie minütlich erwartete. Auf halbem Weg zur zum Hof führenden Tür passierte es ...

Hinter der Tür eines Krankenzimmers herrschte plötzlich Unruhe. Schlurfende Schritte, ein Stuhl kippte um, dann wurde lautstark die Tür aufgerissen, und eine Gestalt im weiß-blau gestreiften Pyjama taumelte brabbelnd über die Schwelle, direkt Henry Parker-Johnson und Schwester Jane in die Arme.

»Halt! Stehenbleiben!«, fuhr der kräftige, breitschultrige Mann, ein wahrer Kleiderschrank, sie an und ließ seine mächtigen Pranken auf ihre Schultern fallen. »Dies ist mein Bezirk!«, fuhr der Verrückte sie an. »Hier dürft ihr nicht durch. Sperre! Ich schieße euch nieder, wenn ihr auch nur einen Schritt weitergeht!« Er brüllte die Worte, so dass sie lautstark durch den kahlen Gang hallten.

Henry Parker-Johnson erbleichte. Das war der verrückte Ted, ein etwa vierzigjähriger Mann, der schizophren war und daran glaubte, schon mal gelebt zu haben. Er hielt sich für einen Earl, der den Tick hatte, dass er ringsum von Feinden umgeben war, die seinen Besitz erobern und ihn vertreiben wollten. An manchen Tagen war er ganz friedlich, dann wiederum erwachte seine gespaltene Persönlichkeit, und er tobte und schrie, schlug ahnungslose Mitpatienten nieder und fegte wie ein Blitz durch sämtliche Gänge, auf der Suche nach seinen Feinden.

Henry Parker-Johnson war lange genug in diesem Sanatorium, um die Eigenheiten gewisser Patienten zu kennen. Da er der Einzige war, der sicher nicht verrückt war, hatte er manches gesehen, was anderen nicht auffiel. Dr. Brennan hielt seine Patienten, um die sich niemand von außerhalb kümmerte und die nie Besuch erhielten, wie Versuchstiere. Er beobachtete sie in gewissen Situationen, hielt sie manchmal fest, und mehr als einmal war es dem Privatgelehrten vorgekommen, als bekäme der verrückte Ted nicht nur dämpfende, sondern anregende Medikamente verabreicht, die ihn dann besonders aggressiv machten.

Jane reagierte erstaunlich schnell. »Keine Bedenken!«, sagte sie freundlich, hielt ihre Rechte in die Höhe und wendete die Handinnenfläche nach außen. »Wir sind Freunde und unbewaffnet ...« Sie stellte sich augenblicklich auf die unerwartete Situation ein.

Dunkel schimmernde Augen hatte der große Mann, der sie um zwei Köpfe überragte und dessen Muskelspiel unter dem enganliegenden Stoff des Pyjamas ihnen nicht entging. Ted hatte ein breites Gesicht, leicht schrägliegende Augen und für sein Alter verhältnismäßig dünnes Haar. Als Statist in einem Barbarenfilm oder als Türsteher und Anreißer vor einer Sex-Bar hätte man ihn sich prächtig vorstellen können.

Der Verrückte war durch die Reaktion der Schwester einen Moment verdutzt, aber nicht lange genug, um Parker-Johnson die Möglichkeit zu geben, rasch an die Begleiterin seine Frage loszuwerden, die ihn bedrückte: Wieso schlief der Schizophrene nicht? Hatte er keine Injektion bekommen?

Jane schien seine Gedanken zu erraten. »Ich habe sie ihm selbst gegeben«, flüsterte sie ihm zu. »Vorschriftsmäßig. Da muss etwas schiefgegangen sein. Entweder wurden die Ampullen versehentlich vertauscht und seine Aggressionsphase wurde angestachelt – oder das Präparat wirkt nicht mehr und Ted hat ein neues Stadium seiner Entwicklung erreicht. Es gibt auch noch eine andere Möglichkeit ... Vielleicht hat Brennan seine Hände im Spiel. Er arbeitet spontan mit neuen Medikamenten in sogenannten Dunkelversuchen. Da weiß keiner seiner Mitarbeiter und erst recht nicht das Pflegepersonal, was läuft.«

»Wenn ihr meine Freunde seid«, dröhnte die Stimme des Schizophrenen lautstark, »müsst ihr das Codewort kennen. Wie lautet es?« Er hatte seine erste Überraschung überwunden, hielt Jane und Parker-Johnson noch immer gepackt, so dass den Überrumpelten die Schultern schmerzten. Lauernd blickte Ted auf die beiden Menschen. »Nun, wird's bald? Ich habe die Losung doch erst heute Morgen ausgegeben.«

»Ted«, sagte die Schwester mit klarer Stimme. »Ich ...«

»Ted?«, fuhr der Verrückte sie an, und sein Atem ging rasselnd. »Wie kommst du auf diesen Namen? Wer ist – Ted? Hier steht Earl of Lockwood vor dir. Und ich verlange augenblicklich die Losung, oder ihr werdet beide am Galgen aufgeknüpft!« Schweiß perlte auf seinem Gesicht. Die Erregung des Schizophrenen steigerte sich. Seine seelenlosen Augen glitzerten wie Eiskristalle, und ein tiefes Knurren entrang sich seiner Kehle, als wolle er sich im nächsten Moment in einen Werwolf verwandeln ...

»Was ist denn da unten los?«, war in diesem Moment eine ferne, helle, weibliche Stimme aus dem oberen Stock zu hören. »Ja? Ist etwas nicht in Ordnung?«

Die linientreue Kollegin der sympathischen Schwester war das.

»Los, Parker-Johnson! Laufen Sie, ehe alles umsonst war ... Sie wissen Bescheid. Ab durch den Hof zum Wagen und zum verabredeten Platz. Ich komme nach.«

Henry Parker-Johnson bekam im Einzelnen nicht mehr mit, was geschah, und erhielt einen Stoß in die Rippen, dass er nach vorn taumelte. Aus den Augenwinkeln noch nahm er wahr, wie die Rechte Schwester Janes in die Höhe schnellte und den starken Unterarm des Verrückten emporschlug. Dann riss sie ihr linkes Bein an und stieß es ab. Ted reagierte mit einem Laut, der einem Fußball ähnelte, dem die Luft ausging. Der massige Mann taumelte zurück, krallte die andere Hand aber geistesgegenwärtig in den dünnen weißen Kittel, den die Schwester trug. Es ratschte. Ted riss einen handbreiten Fetzen aus dem Kittel. Janes makellose helle Haut und der schmale Spagetti-Träger wurden sichtbar. Mehr kriegte der befreite Mann nicht mehr mit. Ohne Zögern lief er los und warf noch mal einen schnellen Blick zurück, als er die Tür zum Hof aufriss.

Schwester Jane bewegte sich mit der Schnelligkeit und Gewandtheit eines Taekwondo-Kämpfers. Blitzschnell erfolgten ihre Hiebe und Abwehrreaktionen. Der massige Kerl flog gegen die Wand, breitete die Arme aus, dass es klatschte, und erhielt, ehe er sich wieder lösen konnte, einen gut platzierten Kinnhaken. Parker-Johnson war erstaunt über die Kraft, die in dieser Frau steckte. So etwas hatte er bisher nur den athletischen Pflegern zugetraut, die zupacken konnten, wenn es Probleme gab. Aber dieses zarte Wesen verstand sich seiner Haut zu wehren ...

Trotz der Eile registrierte Parker-Johnson aber noch etwas: Die Reaktion des massigen Ted, der glaubte, ein englischer Earl zu sein. Er schien den Faustschlag gar nicht so recht mitbekommen zu haben. Der unheimliche, muskelbepackte Mann schien im Gegenteil durch die kämpferische Auseinandersetzung noch gestärkt zu werden. Seine Aggression und Kraft nahmen zu. Aber – war so etwas denn möglich? Hier im Sanatorium, in dem normale Menschen gegen ihren Willen festgehalten wurden, schien nichts unmöglich zu sein.

Oben auf der Treppe war der Schatten der schnell herbeieilenden Kollegin von Schwester Jane zu sehen. Draußen vor dem Haus wurde im selben Moment Motorengeräusch hörbar! Janes Ablösung! Jetzt kam aber auch alles zusammen ...

Henry Parker-Johnson hätte die arg in Bedrängnis geratene Schwester am liebsten an der Hand gepackt und mit sich gerissen. Aber er durfte nicht mehr in den Gang zurücklaufen. Jetzt wurde es brenzlig. Er schaffte es gerade noch, sich durch den Türspalt zu zwängen und die Tür hinter sich zuzuziehen, ehe Janes Kollegin oben auf der Treppe auftauchte und der untere Gang und damit die Hintertür wie ein silbernes Tablett vor ihr lagen.

»Jane! Was ist denn dort unten los?« Die Frau oben auf der Treppe war mindestens zwölf bis vierzehn Jahre älter als die unten im Gang arg Bedrängte. »Wieso ... um Himmels willen, wie kommt dir denn um diese Zeit der verrückte Ted ins Gehege?«

Jetzt erkannte die oben Stehende die Situation, und ihre ganze Aufmerksamkeit war auf sie gerichtet, so dass sie das in diesem Augenblick erfolgende Zuklappen der Hintertür nicht mitbekam. Die Krankenschwester eilte nach unten, rief schon auf der Treppe dem wütenden Irren Befehle zu und versuchte ihn mit scharfen Zurufen einzuschüchtern und zurückzudrängen.

Aber der Verrückte war ganz Earl of Lockwood, ganz in seinem Element und ließ es nicht zu, dass ein Fremder in seinen Besitz eindrang. Er benahm sich wie ein Tollwütiger, brüllte wie am Spieß und entwickelte unglaubliche Kräfte. Seine breiten, schaufelartigen Hände wirbelten wie Dreschflegel durch die Luft, er benahm sich wie eine aus dem Schlaf gerissene, blutgierige Bestie. Seine Fingernägel krallten sich in den Stoff des weißen Kittels und verursachten tiefe, blutige Kratzer in der Haut der Frau, die sich energisch und äußerst geschickt zur Wehr setzte.

Aber ein Hieb der großen, wirbelnden Hände traf sie so unglücklich und unerwartet, dass sie nicht mehr schnell genug wegtauchen konnte. Sie flog mit dem Kopf gegen die Wand. Durch den Körper der Krankenschwester ging ein Ruck. Zwei, drei Sekunden war sie benommen und kämpfte gegen die Gefahr, ohnmächtig zu werden. Sie wankte leicht hin und her und ging in die Knie. Der unheimliche Schizophrene, in dem eine andere grausame Persönlichkeit voll erwacht war und der über schier unerschöpfliche Kraftreserven zu verfügen schien, ließ noch immer nicht von ihr ab. Er wollte sein Opfer töten!

»Du hast es nur einmal versucht, hier einzudringen.« Seine Hände legten sich um den Hals der jungen Frau und schlossen sich darum wie ein Schraubstock. »Wo ist dein Begleiter? Wer war der Mann? Nenne mir seinen Namen, damit ich ihn suchen und ebenfalls bestrafen kann.«

Da war die andere Krankenschwester heran. Sie klammerte sich an den Wütenden, dem wie einem erregten Tier der Schaum auf den Lippen stand. Ted schüttelte sie ab.

Janes Kollegin, Ava Barner, wurde zurückgeworfen, als hätte sie der Tritt eines Pferdes getroffen. Die Zweiundvierzigjährige taumelte, fing sich wieder und lief dann los ins Schwesternzimmer auf der gleichen Etage. Dort stand der Gift- und Medikamentenschrank, zu dem jede von ihnen einen Schlüssel hatte. Mit körperlicher Gewalt war dem außer Kontrolle Geratenen nicht mehr beizukommen. Und Hilfe von anderer Seite konnte sie nicht erwarten. Nachts waren keine Pfleger im Haus. Durch die Ruhigstellung, die normalerweise jeden Patienten des Privatsanatoriums betraf, hatte sich das erübrigt.

Ted alias Earl of Lockwood war eine Ausnahme.

Ava Barner schloss in fliegender Hast die Metalltür des Schranks auf, griff nach einer fertig vorbereiteten Einmalspritze, die lediglich noch in ihrer keimfreien Schutzhülle steckte.

Die Frau rannte wie von Furien gehetzt zum Ort des Geschehens zurück. Jane kämpfte noch immer bewunderungswürdig gegen die aufkommende Ohnmacht und den massiven Würgegriff. Sie hatte mit letzter Willensanstrengung ihre Finger unter die Würgehände geschoben und versuchte den tödlichen Griff zu lockern. Da war Ava Barner heran. Noch einen Meter von dem wütend sich Gebärenden entfernt, streckte sie die Hand blitzschnell aus und warf die Spritze wie einen Pfeil in den Oberarm des Angreifers. In dem Moment, da die Nadel Widerstand bekam, wurde die Miniaturdruckluftampulle ausgelöst und das Medikament mit hohem Druck unter die Haut geschossen. Ted ließ sein Opfer los und wirbelte mit einem wilden Aufschrei herum. Seine Arme flogen auf Ava Barner zu. Die Spritze steckte noch wie ein überdimensionaler Stachel in seinem Fleisch. Er riss sie heraus und ging damit wie ein Messerstecher auf Ava los.

Ava Barners Augen wurden groß wie Untertassen, aus zwei Gründen. Das Mittel wirkte nicht! Und die Kollegin, die erst seit kurzem in diesem Haus Dienst tat, hatte sich auf seltsame Weise verändert. Durch den Angriff des riesigen Mannes mit den unbändigen Kräften sah Jane ziemlich mitgenommen aus. Der Kittel klaffte weit auf, sämtliche Knöpfe waren abgerissen, und das dunkle, zusammengesteckte Haar hing seitlich über ihrem Gesicht. Das war – eine Perücke!

Darunter quoll eine Flut langen, goldenen Haares hervor, das seidig schimmerte und locker bis auf die Schultern herabfiel. Diese Frau war niemand anders als Morna Ulbrandson alias X-GIRL-C, die schwedische PSA-Agentin!

Henry Parker-Johnson rannte so schnell, wie ihn seine Füße trugen. Ihm kam es viel zu langsam vor. Er durchquerte den dunklen Hof. Hinter ihm blieb das schmucklose alte Backsteingebäude zurück, das eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Fabrikbau hatte. Vor ihm lag eine dunkle Wand aus dichtbelaubten Büschen, Buchen und Nadelhölzern, die hoch emporragten und hinter denen die Mauer, die das Anwesen umgab, nicht zu sehen war. Henry Parker-Johnson warf nur einmal einen Blick zurück. Die Tür hinter ihm war verschlossen, außer den Fenstern zum Treppenhaus waren alle anderen dunkel. Keuchend lief Parker-Johnson auf den schmalen Weg zu, der zwischen den Büschen und Bäumen entlangführte. Dem Mann fiel das schnelle Laufen außerordentlich schwer. Er hatte keine Gelegenheit gehabt, sich in den vergangenen Monaten körperlich fit zu halten. Seine Muskeln waren schwach und verweichlicht, und er atmete schwer. Schnell bekam er Seitenstechen und musste eine langsamere Gangart einlegen.

Er erreichte die hohe, eiserne Tür. Sie war nicht abgeschlossen. Jane hatte Wort gehalten. Hoffentlich kam sie mit dem verrückten Ted klar. Die Tür bewegte sich schwer und langsam in den Scharnieren. Diese quietschten nicht. Ein Zeichen dafür, dass sie zuvor gründlich geölt worden waren. Offenbar auch ein Service der netten Schwester ...