Larry Brent Classic 059: Das Labor - Dan Shocker - E-Book

Larry Brent Classic 059: Das Labor E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Dr. Frankensteins unheimliches Labor Petra Mahler und Jörg Vernau genießen den Trip entlang der englischen Ostküste. In einem alten, heruntergekommenen Haus, das einem spleenigen Millionär gehören soll, finden sie Unterschlupf. Doch Petra Mahler entdeckt hier das Grauen. Jenseits einer Geheimtür führt ein Stollen in ein unheimliches Labor. Als sie einem monströsen Wesen begegnet, weiß Petra Mahler, dass Dr. Frankenstein wieder zurück ist. Auch Jörg Vernau entgeht nicht seinem Schicksal, dass jedoch nicht endet, als Frankensteins Monster ihm das Genick bricht. Gleichzeitig geschehen unheimliche Vorfälle, die von der PSA untersucht werden. Einem Patienten wird wie von Geisterhand das Herz gestohlen, einer anderen Leiche fehlt das Gehirn … Mit finsteren Mächten aus dem Geisterreich scheint der verrückte Arzt eine neue Methode gefunden zu haben, Angst und Schrecken zu säen. Können Larry, Iwan und Morna den dämonischen Arzt aufhalten. Oder ist ihr Schicksal besiegelt? Denn Frankenstein schlägt aus dem Unsichtbaren zu. Unerwartet und unerbittlich zieht er die Opfer in sein unheimliches Labor ... Geister im Grand Hotel Das Grand Hotel öffnet seine Pforten. Das moderne Gebäude auf dem Zauberberg ist einer mittelalterlichen Burg nachempfunden und bietet jeglichen Komfort - inklusive Spuk und Geister. Drei unheimliche Todesfälle ereignen sich in der Nähe der Sonnenterrasse. Bei allen Opfern wird Herzinfarkt festgestellt. Eigentlich ist das nichts Ungewöhnliches und doch ruft es die PSA auf den Plan. X-RAY-1 setzt seinen besten Mann ein, um den Vorfällen auf den Grund zu gehen. Larry Brent soll den Geistern im Grand Hotel auf die Spur kommen. Doch ihm droht eine Gefahr aus ganz ander Richtung. Der Anschlag auf Larrys Leben wird von einem Mörder verübt, der aus Fleisch und Blut ist. Larry tappt in die Falle und steht am Rande des Todes ...

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DAN SHOCKERS LARRY BRENT

BAND 59

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Fachberatung: Robert Linder

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Titelbildgestaltung: Mark Freier

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

978-3-95719-859-4

Dan Shockers Larry Brent Band 59

DAS LABOR

Mystery-Thriller

Dr. Frankensteins unheimliches Labor

von

Dan Shocker

Prolog

Wo bin ich hier?, fragte sie sich erschrocken, als sie feststellte, dass dies eigentlich nicht der Ort war, an dem sie hätte sein müssen. Petra Mahler verharrte unwillkürlich im Schritt. Die junge blonde Frau mit dem offenen, ausgekämmten Haar blickte an sich herab und merkte, dass sie ihren himbeerfarbenen Pyjama trug. Jörg, ihr Freund, mit dem sie auf Reisen war, machte sich daraus immer einen Scherz und behauptete, dass sie darin aussehe wie der rosarote Panther.

Petra betastete Gesicht und Arme. Sie fühlte ihren Körper und empfand Schmerz, als sie sich piekte. Also schlief sie nicht.

»Jörg?«, fragte sie flüsternd, als sie leises Tappen hörte. Aber dann verstummte das Geräusch wieder. Sie war allein wie vorher auch. Sie blickte sich in der Umgebung um, von der sie nicht wusste, wie sie hierherkam. Die Wände, die sie umgaben, waren rau und bestanden aus grobgemauerten Steinen mit breiten Fugen. Diese waren mit Lehm und harter Erde verschmiert. An den dunklen Bruchsteinen hingen alle paar Schritte rostige Halterungen, in denen Pechfackeln blakten. Das unruhige, gespenstische Licht verstärkte die Atmosphäre der Beklemmung und des Grauens. Irgendetwas mit diesem Haus stimmt nicht, sagte sich Petra. Aber Widerwille und Misstrauen, die in ihr aufstiegen, waren schwach. So ging sie weiter. Immer den kühlen Mauergang entlang, der sich wenige Schritte vor ihr teilte. Hier erweiterte sich das Gewölbe und war durch grobe, massige Trennwände unterteilt. So wurde der Eindruck erweckt, als bestünde das Gewölbe aus mehreren Kammern.

Hinter einer Trennwand vernahm die junge Deutsche ein leises Gurgeln. Vorsichtig, auf Zehenspitzen gehend, näherte sich Petra Mahler dem Gemäuer. Dahinter waren farbige Lichtreflexe zu erkennen. Neugierig und ein wenig benommen spähte die Frau um die Ecke. Was sie sah, steigerte ihre Erregung und ließ ihre Handflächen feucht werden.

Sie blickte in ein alchimistisches Labor, wie man es im späten Mittelalter und auch noch danach an manchen verborgenen Orten kannte. Gleich links stand ein langgestreckter Tisch mit allerlei medizinischen Geräten, Reagenzgläsern, birnenförmigen Behältern, die in eisernen Gestellen hingen und mit verschiedenfarbigen Flüssigkeiten gefüllt waren. Einige dieser Flüssigkeiten sprudelten, warfen dicke Blasen, oder es stiegen geisterhafte Dämpfe hoch, die in einem sinnverwirrenden Gewirr von Schläuchen verschwanden. Wie das Adergeflecht eines riesigen Organismus wirkten die dicken Schläuche und Kabel, die unter der Bogendecke entlangliefen. Und das war noch nicht alles. In einer Nische, die wie ein Regal gestaltet war, standen Glasbehälter, die an Einmachgläser erinnerten. In ihnen schwammen in Konservierungsflüssigkeit eingelegte – Organe.

Petra schluckte trocken. Sie hatte keine besonderen Kenntnisse in Anatomie, aber sie erkannte, dass es sich sowohl um menschliche als auch um tierische Organpräparate handelte. Bei den Herzen und Nieren hatte sie Unterscheidungsschwierigkeiten. Bei den menschlichen Gliedmaßen allerdings bestanden die Probleme nicht. In einem aquarienähnlichen eckigen Behälter schwamm ein Arm. Er war fahl und wächsern, und dünne Kabel führten in seine Sehnen und Muskeln. Die Hand war Petra Mahler genau entgegengestreckt, die Finger schlossen und öffneten sich mechanisch, als wollten sie nach ihr greifen ...

Sie musste an sich halten, um nicht laut aufzuschreien. Nur der Gedanke, dass sie im Halbschlaf offenbar aufgestanden war und den Schlafsack verlassen hatte – wahrscheinlich aufmerksam geworden durch ein undefinierbares Geräusch –, hielt sie davon ab. Sie riskierte dabei, auf sich aufmerksam zu machen. Genau das wollte sie aber verhindern. Sicher war da jemand, dem dieses an Dr. Frankenstein erinnernde Labor gehörte und mit dem nicht gut Kirschen essen war, wenn er entdeckte, dass sich ein ungebetener Gast in seiner Schreckenskammer aufhielt. Aber war sie das wirklich – ein ungebetener Gast?

Petra Mahler kamen plötzlich Zweifel. Der Gedanke, dass sie angelockt worden war, setzte sich in ihr so fest, dass sie nicht mehr davon abkam.

War Hypnose im Spiel? Oder stimmte etwas mit dem Wasser nicht? Im Garten des verlassenen Hauses, das man ihnen als kostenlose Unterkunft zugewiesen hatte und das auf einem vergammelten Grundstück nahe der englischen Ostküste stand, gab es eine Pumpe. Die funktionierte, und es war ihnen gesagt worden, dass das Wasser unbedenklich wäre. Die verrücktesten Gedanken gingen ihr plötzlich durch den Kopf. Vielleicht war dem Wasser ein Betäubungsmittel beigemixt worden, von dem sie nichts wussten? Die Überlegung war absurd. Aber dies alles hier war ebenso absurd und forderte solche Gedanken geradezu heraus.

Vielleicht war das einsame Haus an der Küste, in dem immer wieder junge Pärchen und Tramper übernachteten, weil ihnen das Geld für anderweitige Unterkunft fehlte, gar nicht so verlassen. Vielleicht trieb irgendein verrückter Kerl hier seltsame, absonderliche Studien. Und die konnte er nur verwirklichen, wenn er Menschen in eine Falle lockte. Dann wäre dieses Haus eine Menschenfalle, und die Organe und Gliedmaßen, die sie in den Behältnissen sah, wären demnach ...

Petra Mahler zwang sich, nicht weiterzudenken. Das alles war so schrecklich und unfassbar, dass sie sich gegen den Gedanken sträubte, es könnte so sein, wie sie vermutete. Sie war von Angst erfüllt, aber auch von Neugier, und so ging sie weiter in das unheimliche Labor hinein. Wie gebannt starrte sie auf die Hand, die nach ihr griff, und sie merkte, dass sich die Finger sogar in ihrer Richtung bewegten. Petra Mahler lief es eiskalt über den Rücken. Finger konnten doch nicht die Nähe eines Menschen registrieren!

Im gleichen Augenblick, als sie diesen seltsamen Gedanken hatte, erblickte sie in einem anderen Behälter, der nur die Größe eines Einmachglases besaß, ein menschliches Auge. Es schwamm ebenfalls in Konservierungsflüssigkeit. Das Auge war an haarfeine Drähte angeschlossen. Wie gebannt blieb Petra Mahler stehen. Sekundenlang stockte ihr Atem. Das Auge bewegte sich langsam, folgte ihren Bewegungen und senkte dann das Lid wieder herab. Im gleichen Moment endete auch die Bewegung der greifenden Hand, die sich direkt neben dem Auge befand. Petra stöhnte und presste erschrocken die Hand auf den Mund. Hand und Auge waren getrennt – aber dennoch funktionierten sie im Zusammenspiel!

Was war das nur für ein grässlicher Ort, an den sie geraten war! Sie musste weg von hier, so schnell wie möglich. Sie machte auf dem Absatz kehrt. Dies geschah mit einer derart heftigen Bewegung, dass sie mit dem Arm gegen eines der dicht stehenden Behältnisse stieß. Es fiel um. Aus dem schmalen Hals schwappte eine kobaltblaue Flüssigkeit. Der Behälter kippte über den Tischrand und zerschellte auf dem rauen Steinboden. Es gab einen Knall, der sich anhörte, als wäre ein Schuss abgefeuert worden. Petra Mahler fuhr mit einem Aufschrei herum. Da war nichts mehr zu retten. Der ballonförmige Behälter lag in tausend Scherben. Ölig breitete sich eine blauschwarze Lache auf dem unansehnlichen Boden aus.

Die junge Frau stürzte davon. Keine zehn Pferde konnten sie mehr an diesem schauerlichen Ort halten. Irgendwo musste sie in dieses Gewölbe gekommen sein. Nur konnte sie sich seltsamerweise nicht daran erinnern, wann und wie ... Also war doch ein Betäubungsmittel im Spiel! Nur so wurde auch verständlich, weshalb sie sich zur Wehr setzte, während sie am Anfang wie eine Schlafwandlerin einen ihr völlig unbekannten Weg gegangen war. Vielleicht lag die Tür am Ende des langen Tunnels, den sie durchschritten hatte und in dem ihre Erinnerung nach dem Abklingen der Wirkung des Betäubungsmittels wieder einsetzte.

Petra Mahler kam die Flucht vor wie ein Alptraum. Hinter ihr lag das Frankenstein-Labor, vor ihr öffnete sich ein von blakenden Fackeln erhellter Gang, von dem sie nicht wusste, wohin er führte. Aber sie wurde all ihrer Gedanken enthoben. Petra Mahler kam nicht weit. In dem Moment, als sie die unsichtbare Schwelle des Gewölbes erreichte, lief sie dem Geschöpf direkt in die Arme.

Diese waren lang, mit ausladenden Händen, die sich ihr ruckartig entgegenstreckten und sie festhielten. Die junge Frau schrie gellend. Ihr Schrei hallte durch das unterirdische Gewölbe.

»Jörg! Hilf mir! H-i-l-f-e-e-e!«

Dann wurde sie nach vorn gerissen. Die großen Hände des unfassbaren Wesens verschlossen ihren Mund und erstickten ihren Schrei. Alles in Petra Mahler wehrte sich gegen das, was sie sah. Die Gestalt passte in diese Umgebung und schien dem unheimlichen Labor entsprungen. Sie hatte ein teigiges, fahles Gesicht und eine hohe Stirn mit blutroten Narben, die senkrecht im Schädel saßen. Die Augen waren klein und wässrig, und rings um den bleichen Hals lief ebenfalls eine blutrote, frische Narbe. Es sah aus, als wäre der Kopf aufgesetzt worden.

Aber das war bei der Gestalt, in deren starken, überlangen Armen sie zappelte, kein Wunder. Jedes Kind kannte dieses Geschöpf – das schreckliche Monster des Dr. Frankenstein ...

Als er wach wurde, schien die Sonne warm durch das kleine schmutzige Fenster. Jörg Vernau kitzelten die Strahlen und der durch die Hütte schwebende Staub in der Nase, und er musste heftig niesen.

»Sorry«, sagte der braungebrannte, dunkelhaarige Mann, »ich hoffe, ich hab dich nicht zu sehr erschreckt.« Er schlug die Augen auf und beugte sich mechanisch zur Seite, um nach seiner Freundin zu tasten, die auf dem Matratzenlager, ebenfalls eingehüllt in ihren Schlafsack, neben ihm lag.

Liegen sollte ... denn sie war – nicht da.

Jörg blinzelte in das Licht, das in breiten Bahnen durchs Fenster flutete, und blickte in die Runde. Der Raum war nicht groß und verstaubt. Spinngewebe hing in den Ecken von der Decke herab. In ihrer Mitte war eine altmodische Lampe befestigt. Ihr schmutziger, vergilbter Schirm war an mehreren Stellen durchbrochen. In die Fassung hatte man eine Birne eingeschraubt, aber Licht konnte sie nicht spenden, selbst wenn sie noch funktionstüchtig sein sollte. Im ganzen Haus gab es keinen elektrischen Strom mehr. Wer allerdings hierher kam, verzichtete gern auf Luxus, den er nicht erwarten konnte. Wem das seenahe Grundstück gehörte, wusste niemand so recht. Es hieß, dass ein spleeniger Engländer, der vor Jahren viel Geld mit dem Verkauf eines Kinderspielzeugs gemacht hatte, eines Tages plötzlich die Schnauze von dieser Art Leben voll hatte und kurzerhand ausstieg. Er schloss sich einer Gruppe junger Leute an und trampte durch die Welt. Ob er sich derzeit in Bangkok, Hongkong, Singapur oder Malaysia, in Delhi oder Melbourne aufhielt, wusste kein Mensch. Er war verarmt, seine Geschäfte existierten nicht mehr, und von seinem Reichtum war nur noch dieses nun vergammelt und heruntergekommen aussehende Sommerhaus an der englischen Ostküste übriggeblieben, unweit des Seebades Clacton on Sea.

Unter jungen Leuten, die durch die Welt trampten, wurde dieser Tipp stets mündlich weitergegeben: »Wenn du mal 'ne Bleibe suchst, die nichts kosten darf und an einer ganz tollen Stelle mit Meerblick und Privatstrand liegt, solltest du dir diese Adresse merken ...«

Jörg Vernau und Petra Mahler, die gemeinsam unterwegs waren und kreuz und quer durch England zogen, kam dieser Tipp sehr gelegen. Gehört hatten sie davon in einer verräucherten Disko im Herzen von Soho.

Ob das Haus natürlich frei sei, wisse kein Mensch. Manchmal stünde es wochenlang leer, dann wiederum seien sämtliche Räume belegt. Manchmal hätte man auch Glück, einige Tage ganz ungestört und richtig nett dort zu verbringen.

Jörg Vernau und seine Freundin hatten das Glück gehabt, das Sommerhaus leer vorzufinden. Die einzelnen Räume waren im Lauf der Zeit in ein richtiges Matratzenlager umgewandelt worden. Dies ließ den Schluss zu, dass eine Kommune junger Menschen hier eine Zeitlang fest gewohnt hatte. Die Matratzen, ein paar alte Bier- und Obstkisten, die aufeinandergestapelt primitive, aber brauchbare Schränke ergaben, waren die Überbleibsel aus dieser Zeit. Die Matratzen, die keiner mitgenommen hatte, dienten Neuankömmlingen und Unterkunftsuchenden, die in diese Ecke kamen, als Möglichkeit, weich und fast komfortabel zu liegen.

Jörg Vernau schälte sich aus seinem Schlafsack und war erstaunt darüber, dass Petra nicht neben ihm lag. Er kannte sie als Langschläferin. Es war in der Regel so, dass er sie wecken musste, und sie dann geraume Zeit brauchte, ehe sie munter war. Dann dauerte es immerhin nochmal eine halbe Stunde, ehe sie sich bequemte, aufzustehen. Und jetzt war Petra schon weg!

»Dann bin ich entweder spät dran, oder das Wetter ist so phantastisch, dass sie schon 'nen Ausflug zum Meer unternommen hat.«

Natürlich konnte es auch sein, dass sie in der Küche hantierte. Die gab's wirklich. Dort stand ein alter Kohleofen, ein eingebauter Schrank war auch vorhanden, und sie hatten alle ihre Sachen, wie Proviant, Gaskocher, Kaffee und Trockenmilch, dort untergebracht. Jörg Vernau hörte keinerlei Geräusche und ging davon aus, dass seine Freundin sich absichtlich leise verhielt, um ihn nicht vorzeitig auf die Frühstücksüberraschung aufmerksam zu machen.

Die Tür zur Küche war angelehnt. Vernau drückte sie vorsichtig auf. Doch der Raum war leer. Alles stand noch so wie am letzten Abend. Sie hatten sich eine Dose mit Fleisch heißgemacht, und der Geruch der Konserve hing jetzt noch in der Luft.

Dann war es also doch so, dass sich Petra zum Strand begeben hatte ...

Jörg Vernau schälte sich aus den Shorts, die er trug, und sauste nach draußen. Hier in der einsamen Bucht, von keiner Seite her einsehbar, konnte er es wagen, nackt ins Meer zu laufen. Wahrscheinlich hatte das auch Petra getan. Obwohl er sich nicht erinnern konnte, ihren Pyjama beim Schlafsack gesehen zu haben. Er überquerte den steinigen Strand. Der Himmel war wolkenlos blau, die Luft noch etwas frisch, aber das störte ihn nicht. Leise rauschten die Wellen. Jörg Vernau hielt vergebens nach seiner Freundin Ausschau. Er sah sie weder am Strand, noch auf einem Felsen zum Sonnenbaden, noch im Wasser.

»Petra!«, rief er einige Male laut ihren Namen, ohne jedoch eine Antwort zu erhalten. Er lief ins Wasser und blickte sich nach allen Seiten um. Nirgends war eine Spur. »Mach keinen Quatsch!«, rief er in das Rauschen der Wellen und in die Einsamkeit, die ihn umgab. »Gib mir endlich ein Zeichen, wenn du in der Nähe bist.«

Noch immer erfolgte keine Antwort. Da nahm Vernaus Unruhe zu. Er schwamm ungefähr hundert Meter hinaus und blickte in die Bucht zurück, in der Hoffnung, doch noch irgendwo seine Freundin zu erhaschen. Nach zehn Minuten kehrte Jörg Vernau beunruhigt zum Haus zurück. War etwas passiert? Er kam nicht von diesem Gedanken los. Es war kaum damit zu rechnen, dass Petra sich um diese Zeit in die Stadt begeben hatte. Es war wenige Minuten nach acht. Bis nach Clacton on Sea waren es eineinhalb Meilen. Wenn sie früh losgegangen war, um gleich nach dem Öffnen der Geschäfte dort zu sein, musste sie auch bald wieder zurück sein.

Jörg Vernau ging nicht gleich ins Haus. Er lief auf dem schmalen, steinigen Weg rund herum und spähte hinter den Schutz eines Gebüschs über den gewellten, grasbewachsenen Boden, der sich dahinter ausdehnte. Weit und breit war niemand zu sehen. Vernau ließ eine Viertelstunde verstreichen, ehe er ins Haus zurückkehrte. Er suchte als Erstes Petras Pyjama. Der war nicht da. Das war die erste Überraschung, die er verdauen musste. Dann stellte er fest, dass alle ihre Kleider an den Wandhaken hingen. Es war unwahrscheinlich, dass Petra mit dem Pyjama nach Clacton spaziert war. Sie war zwar unkompliziert und neigte ein wenig zu Extremem, aber so verrückt, mit ihrem Rosaroten Panther-Pyjama im Seebad herumzulaufen, war sie auch wieder nicht. Da stimmte etwas nicht!

In aller Eile zog Vernau sich an. Er musste Petra suchen. Da hörte er das Geräusch ...

Es kam aus einem auf der Nordseite liegenden Raum. Die Rückwand des Hauses war hier direkt an die Klippen gebaut. Die beiden Zimmer auf dieser Seite waren extrem düster und kühl, wurden aber auch, wenn das ehemalige Sommerhaus des verschwundenen Millionärs voll belegt war, als Schlafräume benutzt. Auf die Idee, dort nachzuschauen, war er erst gar nicht gekommen. Alle Sorgen, die er sich eben noch gemacht hatte, wichen einem Gedanken, der so einfach war, dass er alles erklärte. Petra war in der Nacht offensichtlich deshalb ausgezogen, weil er geschnarcht hatte.

Vorsichtig legte er die Hand auf die Klinke und drückte sie herab. Im Zimmer dahinter war es stockfinster. Das Licht, das von hinten durch die kleinen Fenster und die halboffene Tür fiel, bewirkte ein leichtes Aufhellen der Umgebung. In der Dämmerung erblickte Jörg Vernau die Umrisse zweier Menschen. Die einer Frau und – eines Mannes.

Der Fremde, schäbig gekleidet, war mindestens zwei Meter groß, hatte breite, kantig hochgezogene Schultern und auffallend lange Affenarme. Die Silhouette kam Jörg Vernau irgendwie vertraut vor: Dies war der Schattenriss von – Frankenstein! Und daneben – Petra in ihrem rosaroten Pyjama!

Vernau war so perplex, dass er im ersten Moment daran zweifelte, ob er dies alles wirklich sah. Ein solch verrücktes Bild mit den unmöglichsten Situationen und der Verleugnung von Raum und Zeit konnte nur im Traum entstehen.

Die Silhouetten verhielten sich abwartend.

»Petra?!«, fragte Vernau leise ins Halbdunkel und setzte den Fuß über die Schwelle.

»Jörg?!«, erklang die Frage aus dem fensterlosen Raum.

Neugierig und interessiert trat der junge Mann näher. Er ließ die beiden Gestalten nicht aus den Augen.

»Was ist los, Petra? Was hast du hier zu suchen?«

»Das ist genau die richtige Frage, Jörg. Ich habe etwas gesucht – und etwas gefunden. Ich habe ein Geheimnis entdeckt.«

»Da scheint wohl irgendwann mal ein Künstler übernachtet zu haben, der ein Frankenstein-Fan war, wie? An hässlichen Regentagen hat er sich hierher zurückgezogen und eine Statue nachgebildet, die jedes Kind kennt. Nur komisch, dass wir sie nicht bemerkt haben, als wir nach unserer Ankunft das ganze Haus unter die Lupe nahmen.«

Er wunderte sich darüber, dass sie ebenfalls reglos wie eine Statue neben der breitschultrigen Monstergestalt stand und keine Anstalten machte, ihm auch nur einen einzigen Schritt entgegenzugehen.

Da durchquerte er schnell den Raum. Vernaus Rechte kam nach vorn, er wollte nach der Freundin greifen und sie zu sich herüberziehen. Doch dazu kam er nicht mehr ...

Monster Frankenstein rührte sich. Seine klobigen Hände zuckten, als würde plötzlich elektrischer Strom durch den Körper geleitet. Jörg Vernau wurde von dem Angriff völlig überrascht. Der junge Deutsche hatte mit einer solchen Möglichkeit überhaupt nicht gerechnet.

Das war ja gar keine Wachsfigur! Der Kerl lebte! Jörg Vernau wurde förmlich nach vorn gerissen, direkt auf den aus Leichenteilen zusammengesetzten Menschen zu. Er taumelte dem Monster an die breite Brust. Erst dann wurde ihm die Ungeheuerlichkeit des Geschehens bewusst, und er löste sich aus dem Bann, der ihn sekundenlang gelähmt hatte. Er wollte die Arme hochreißen und sich aus der Umklammerung lösen. Aber Frankenstein war schneller und – kräftiger.

Mit einem Arm umschlang er den Rücken des ahnungslos Eingetretenen, die andere Hand presste sich mit aller Kraft auf Jörg Vernaus Mund. Die Luft wurde ihm abgestellt, und er war außerstande zu schreien. Doch selbst wenn er gellend um Hilfe gerufen hätte, niemand wäre in dieser Einsamkeit gewesen, um ihn zu unterstützen. Außer – Petra ...

Doch die stand nur da und lächelte abwesend und selbstvergessen vor sich hin, als ginge sie das alles nichts an. Jörg Vernau knallte gegen den breitschultrigen, nach Moder und Feuchtigkeit riechenden Körper, als wäre dieser gerade erst dem Grab entstiegen. Der Deutsche wehrte sich verzweifelt, schlug und trat um sich. Vernau war alles andere als ein Schwächling. Doch gegen die große Monstergestalt hatte er keine Chance. Es schien, als würden Frankenstein immer mehr Kräfte zufließen. Kantig, aber kraftvoll wehrte er jeden Angriff ab, und es gelang Vernau nicht mal, seine Daumen unter die große, fahle, angenähte Hand zu schieben, die ihm Mund und Nase verschloss. Vor seinen Augen bildete sich ein pulsierender Nebel, und er merkte, wie die Luft knapper wurde. Seine Lungen standen unter derartigem Druck, dass er meinte, sie würden im nächsten Moment platzen. Dann erlahmte seine Gegenwehr völlig. Mit hartem Ruck zog Frankenstein das Opfer herum. Dies geschah mit einer solchen Vehemenz, dass es in Vernaus Halswirbeln vernehmlich knackte. Vom gleichen Augenblick an konnte Jörg Vernau keinen Finger mehr rühren. Das Monster hatte ihm das Genick gebrochen.

Frankenstein hielt den Toten mit einer Hand und drehte sich dann der Wand zu, vor der er die ganze Zeit gestanden hatte. Mit der freien Linken drückte er fest gegen die raue, unverputzte Fläche. Eine geheime, steinerne Tür wich mahlend zurück und gab den Weg frei in einen dunklen Korridor, der direkt in den Fels hinter dem Haus führte. Die Monstergestalt schleifte den Toten hinter sich her. Petra Mahler bildete den Abschluss des seltsamen Zuges. Hinter ihr schloss sich die Mauertür wieder, und die Stelle, wo sich die Geheimtür befand, unterschied sich in nichts von der allgemeinen Struktur der Wand. Der Eingang in das geheime Labor des Dr. Frankenstein war perfekt getarnt.

1. Kapitel

»In der letzten Zeit«, sagte Larry Brent alias X-RAY-3, »scheinen Leichenhäuser und -hallen bevorzugte Aufenthaltsorte für uns zu sein ...«

Er äußerte dies zum Abschluss der Besichtigungstour, die hinter ihnen lag. Sie – das waren Morna Ulbrandson, die Schwedin, Iwan Kunaritschew, der kauzige Russe, und Larry Brent, der Amerikaner – hielten sich zurzeit in London auf. Larrys alter Freund – Chief-Inspector Edward Higgins – hatte die Hilfe der PSA angefordert. Dies war nicht seine erste Zusammenarbeit mit ihr. Viele erfolgreich abgeschlossene Fälle lagen schon hinter ihnen. Am bemerkenswertesten waren dabei die gemeinsamen Aktionen gegen den unheimlichen Dr. Gorgo und Dracula, den blutsaugenden Vampirgraf gewesen.

»Diesmal, so kommt es mir vor, scheint Dr. Frankenstein unser Gegner zu sein«, fuhr Larry Brent fort, in Anspielung auf die Fälle, die sie in London und Umgebung in Atem gehalten hatten. »Gorgo und Dracula konnten wir den Garaus machen. Wenn wir herausfinden, was jetzt hier vorgeht, müsste es eigentlich gelingen, auch dieser Sache Herr zu werden ...«

»Ich bewundere deinen Optimismus, Towarischtsch«, ließ der breitschultrige, rothaarige Bursche neben ihm seine Stimme dröhnen. »Gerade haben wir die ersten Spuren gesichert, und schon sprichst du vom Ende des Falles. Es ist schwer, Geister zu fangen.«

»Das heißt«, fing Larry den Ball auf, »dass du dir auch schon Gedanken über die Angelegenheit gemacht hast. Das kann ich nur begrüßen, Brüderchen. Die Gedanken, die du äußerst, sind sogar erstaunlich klar formuliert. Demnach ist trotz massivster Angriffe auf deine Hirnzellen noch alles in Ordnung mit dir.«

X-RAY-3 spielte auf eine besondere Leidenschaft seines Freundes an. Iwan Kunaritschew rauchte wie ein Schlot, und nur eine bestimmte Marke: seine eigene. Aus geheimnisvoller Quelle, die irgendwo in seinem großen Heimatland lag, bezog er einen rabenschwarzen Tabak, einen Machorka, gegen den Kohlenstaub harmlos wirkte. Wegen ihrer geradezu umwerfenden Eigenschaften und einiger unbeschreiblicher Besonderheiten, trugen Iwan Kunaritschews Selbstgedrehte den Beinamen Vampirkiller. Der scharfe Rauch dieser Zigaretten war berüchtigt. Selbst hartgesottene Raucher hatten da mit den Tränen zu kämpfen. Kunaritschew verkonsumierte seine Stäbchen jedoch, ohne mit der Wimper zu zucken. Iwans Zigaretten waren oft Streitobjekt zwischen den beiden Kollegen. Larry Brent, seit langem passionierter Nichtraucher, nutzte jede Gelegenheit, seinem Freund das Rauchen abzugewöhnen. Er hätte ebenso versuchen können, einen Fisch davon zu überzeugen, dass es besser für ihn sei, auf dem Trockenen zu schwimmen statt im Wasser. Iwan und Larry waren äußerlich grundverschieden. Wer den Umgangston der beiden hörte, hielt sie für spinnefeind. Genau das Gegenteil war jedoch der Fall. Larry und Iwan waren dicke Freunde, der eine ging für den anderen durchs Feuer, wenn es sein musste. Die Frotzeleien zwischen den beiden waren ebenso sprichwörtlich in der PSA wie Iwans bitterböse Selbstgedrehte und die scharfen Getränke, die er – ohne besondere Wirkung danach zu zeigen – zur Verdauung oder auch bei jeder anderen Gelegenheit genoss.

Gerade nach dem Besuch im letzten Leichenschauhaus in London schien sich die Anspannung der letzten Stunden in scherzhaften Rangeleien aufzulösen. Morna Ulbrandson, die Dritte im Bund, die den Auftrag erhalten hatte, sich wegen der geheimnisvollen Vorfälle in und um London dort einzufinden, hörte eine Zeitlang schweigend zu. Der Hausverwalter und Edward Higgins von Scotland Yard warfen sich hin und wieder einen Blick zu. Der Mann im weißen Kittel, schlank und hochgewachsen, hatte mit vielen Besuchern zu tun. Aber er konnte sich nicht erinnern, jemals Leute erlebt zu haben, die sich so benommen hatten. Chief-Inspector Higgins dagegen konnte in dieser Beziehung nichts mehr aus der Ruhe bringen. Er hatte Brent und Kunaritschew schon mehr als einmal live erlebt ...

Draußen vor dem langgestreckten Gebäude standen die Fahrzeuge: Higgins' Dienstwagen und ein sandfarbener Bentley. Den hatte X-RAY-3 bei Hertz, Rent a Car nach seiner Ankunft auf Heathrow Airport übernommen. Mindestens ein Bentley musste es sein. Er spielte in dem Auftrag, der Larry Brent von X-RAY-1, dem Leiter der PSA übertragen worden war, eine besondere Rolle.

X-RAY-1 wollte den rätselhaften Vorkommnissen, die Scotland Yard und einige Polizeidienststellen außerhalb Groß-Londons in Atem hielten, von mehreren Seiten gleichzeitig auf den Leib rücken. So war es nicht verwunderlich, dass er sein bestes Team auf den Weg geschickt hatte: Larry Brent, Morna Ulbrandson und Iwan Kunaritschew. Die außergewöhnlichsten Fälle vertraute er stets diesem Team an, das bisher im Umgang mit dem Unheimlichen und den unglaublichsten Rätseln dieser Welt die besten Erfolge nachweisen konnte.

Das, was Morna, Larry und Iwan aufdecken sollten, barg ganz offensichtlich unauslotbare Gefahren in sich. Das hatte X-RAY-1 veranlasst, die große Besatzung zu wählen.

Auch Larry, der nach der schweigsamen Führung durch die Leichenhalle Zuversichtlichkeit zur Schau trug, wusste nur zu gut, dass sie einen harten Brocken zu verdauen hatten. Eigentlich bestand der Grund ihrer gemeinsamen Anwesenheit aus drei Fällen.

Fall Nummer eins: im Memorial Hospital war ein Patient operiert worden. Die Operation war erfolgreich abgeschlossen worden. Dem Mann war die Gallenblase entfernt worden. Damit konnte man leben. Und es war anzunehmen, dass der Patient wieder aus der Narkose erwachen würde. Komplikationen waren nicht zu erwarten. Alles verlief normal. Puls und Atmung waren im Normbereich, der Kreislauf hatte sich stabilisiert. Die Werte, die das EKG zeigte, waren gut.

Aber dann geschah das Unfassbare. Der Patient wurde sechs Stunden nach der Operation, nachdem er bereits aus der Narkose erwacht war und einige Worte mit seinen Angehörigen gesprochen hatte, tot in seinem Bett aufgefunden.

Was war geschehen? Das Herz hatte ausgesetzt. So lautete die erste plausible Erklärung. Bei der Untersuchung stießen die Mediziner jedoch auf einen schockierenden Umstand. Der Mann – hatte überhaupt kein Herz ...

Es fehlte! Scotland Yard stand vor einem Rätsel. Man glaubte zuerst an einen makabren Scherz. Die Recherchen brachten an den Tag, dass das Herz des Frischoperierten tatsächlich noch sechs Stunden einwandfrei funktioniert hatte. Danach müsste dann – und nur durch einen Irren eigentlich – der Mann noch mal operiert und ihm dabei das Herz herausgeschnitten worden sein!

Organdiebstahl? Dieser Gedanke hatte sich ihnen allen unwillkürlich aufgedrängt. Aber dann wäre das ein Fall für die herkömmlichen Verbrechensbekämpfungs-Institutionen gewesen. Scotland Yard wäre allein damit zurechtgekommen. Doch der Fall lag komplizierter. Hätte man dem Frischoperierten das Herz entfernt, um einen gut zahlenden Kunden irgendwo in der Welt damit zu versorgen, hätte man dieses Unternehmen sicher nicht auf diese Weise erledigt. Schließlich musste der Verursacher damit rechnen, dass seine schändliche Tat schnell aufgedeckt wurde. Ein Patient, der unter ungeklärten Umständen verstarb, wurde gründlich untersucht. Eine erneute Operationsnarbe wäre umgehend festgestellt worden. Aber die gab es nicht. Und da es ausgeschlossen war, dass dem Opfer das Herz schon während der ersten Operation entfernt worden war – schließlich hatte er einige Stunden gelebt und die Herztätigkeit war einwandfrei aufgezeichnet worden – ließ nur eine Erklärung zu: Es handelte sich eindeutig um ein übersinnliches Phänomen. Dem Mann war das Herz auf geistige Weise entfernt worden, als hätte ein unsichtbarer Chirurg Hände und Skalpell aus einer anderen Dimension in seinen Körper gebracht ...

Dieser eine Fall war schon merkwürdig genug und hätte ausgereicht, um die Psychoanalytische Spezial-Abteilung – kurz PSA genannt – auf den Plan zu rufen.

Aber dies eben war noch nicht alles. Auf dem Friedhof von Romford, nur wenige Meilen weiter nordöstlich von Groß-London, war vor wenigen Tagen die Tätigkeit eines Grabschänders entdeckt worden. Friedhofsbesucher waren auf ein geöffnetes Grab aufmerksam geworden und hatten die örtliche Polizei benachrichtigt. In dem Grab war erst vierundzwanzig Stunden zuvor ein gewisser Robert Harton beigesetzt worden.

Harton wurde nur siebenundzwanzig Jahre alt. Er starb nach einer Überdosis Heroin, und es hieß, dass er schon im letzten Jahr seines Lebens nur noch im Delirium und wie ein Träumer lebte. Sein Gehirn war stark geschädigt, wie die Obduktion ergeben hatte. Und genau um dieses Gehirn ging es. Als die Polizei das geschickt wieder zugeworfene Grab öffnete und sich den Inhalt des Sarges ansah, erlebten die Beteiligten einen Schock. Der Tote hielt die kahle, abgelöste Hirnschale zwischen seinen steifen, wächsernen Fingern, und sein Kopf erinnerte an eine leere Schüssel. Hartons Hirn war verschwunden!

Fall Drei war nicht minder merkwürdig. Er betraf wieder das Memorial Hospital. Dort war eine Leiche verschwunden. Als das Bestattungsunternehmen den Toten abholen wollte, wurde festgestellt, dass sich die Leiche nicht mehr auf der Bahre befand. Diese war leer. Die Suche verlief ergebnislos, und niemand hatte eine Erklärung dafür.

Gab es zwischen diesen drei Fällen einen direkten Zusammenhang? Dies war nur eine von vielen Fragen, die die drei in London anwesenden Agenten klären sollten. Eine weitere war, festzustellen, auf welche Weise sich die Organ- und Leichendiebstähle ereigneten. Bisher gab es keine Zeugen und keine brauchbaren Spuren, die zu einer bestimmten Person führten. Die Agentinnen und Agenten der PSA waren jedoch gewohnt, auch dann tätig zu werden, wenn es keinen direkten Angriffspunkt gab. Sie zäumten das Pferd kurzerhand vom Schwanz auf. Der Verursacher war mit großer Wahrscheinlichkeit kein Sterblicher. Ein Rachegeist? Iwans leicht hingeworfene Bemerkung vom Geist des legendären Baron von Frankenstein war gar nicht so absurd. Waren die Orte, wo die Ereignisse stattfanden, vielleicht besonders zu berücksichtigen?

»Vielleicht stehen sie unter einem Fluch, von dem wir nichts wissen, und der bestimmte Menschen in Bann zieht«, mutmaßte Larry, als sie draußen vor dem Gebäude standen und wieder unter sich waren.

»Es ist bestimmt kein Zufall, dass ausgerechnet in zwei Fällen das Memorial Hospital eine Rolle spielt«, schaltete sich Morna Ulbrandson alias X-GIRL-C ein, nachdem die Gespräche zwischen Larry und Iwan wieder normal klangen.

»Das herauszufinden, wird deine Aufgabe sein, Schwedengirl«, entgegnete Brent.

Ihre Aufgabenbereiche waren genau eingeteilt. Sie gingen nach der Methode vor: Getrennt marschieren – vereint schlagen. Sie wollten durch ihre auffällige Arbeit das Unbekannte und Unsichtbare herauslocken. Ob es ihnen auch gelang, war eine andere Frage. Die mit den Vorfällen befassten Scotland-Yard-Beamten waren bisher in keiner Weise in Gefahr geraten, als sie ihre Recherchen anstellten. Jeder Mitarbeiter des Memorial Hospitals war unter die Lupe genommen worden.

»Und die Burschen und Girls, die mit Robert Harton, unserem hirnlosen Toten, zu tun hatten, scheinen bis auf das gemeinsame Hobby, das sie mit ihm teilten, ebenfalls sauber zu sein. Keiner hat sich mit okkulten und magischen Praktiken befasst, es wurden in dem Kreis niemals – nicht mal zum Scherz – spiritistische Sitzungen und Totenbeschwörungen abgehalten, wie man das oft hört, Towarischtsch«, sinnierte der russische PSA-Agent vor sich hin. Beiläufig schnickte X-RAY-7, während er sprach, eine der dicken Zigaretten aus dem alten silbernen Etui, das er in der Innentasche seiner Jacke verstaut hatte.

»Vielleicht, Brüderchen, tun sie das doch, wenn sie dich kennenlernen«, meinte Larry, der mit misstrauischen Blicken die Handbewegungen seines Freundes beobachtete. Noch steckte die Zigarette unangezündet zwischen Iwans Lippen. Mechanisch suchte er nach Streichhölzern. »Hoffentlich kommt keiner auf die Idee, einen furchtbaren Zigarettenzauber in die Wege zu leiten und dich mitsamt deinen schwarzen Monsterzigaretten dorthin verschwinden zu lassen, wo der Teufel zu Hause ist. Verschwinden werden übrigens jetzt wir, bevor du Feuer legst. Es bleibt also alles wie abgesprochen. Ich erstatte Meldung nach New York, und wir begeben uns in die Startlöcher. Die Leichen von Robert Harton und jenem Mister Andrew Welling, dem sie das Herz raubten, haben wir gesehen, Edward«, wandte er sich an den bereits ergrauten Briten, der schweigend mit ihnen die Exkursion durch die Leichenhäuser mitgemacht hatte. Larry und seine Begleiter hatten auch andere Tote sehen wollen, die aus dem Memorial Hospital gekommen waren. An diesen hatten sie jedoch nichts Außergewöhnliches entdecken können. So war der Verdacht der Freunde, dass offenbar nur bestimmte Personen bisher gezielt ausgewählt worden waren, gar nicht so abwegig.

»Sie übernehmen die Fuhre Kunaritschew und setzen ihn wie vereinbart an der nächsten U-Bahn-Station ab. Ich werde Miss Ulbrandson in die Nähe des Memorial Hospitals bringen. Den Rest des Weges wird sie zu Fuß zurücklegen, um sich zunächst mal ihre Stellung anzusehen. Dr. Waverton, der Chefarzt des Hospitals, soll ein Frauenheld sein und eine ausgesprochene Schwäche für Blondinen haben. Eine schwedische Krankenschwester wird ihm bestimmt gefallen.«

»Hoffentlich verliebe ich mich nicht wirklich in ihn, Sohnemann«, warf die attraktive Agentin ein.

»Ein bisschen den Kopf verdrehen sollst du ihm schon, aber dich nicht in ihn verlieben. Denke immer daran: Waverton ist einer von vielen Verdächtigen, über die wir mehr erfahren müssen. Er weiß alles, was in der Klinik vorgeht. Von der Veränderung Andrew Wellings hat er jedoch nichts bemerkt. Wenn er wirklich ahnungslos ist, wirst du das sicher bald genau wissen. Solange unsere Kenntnisse noch so eingeengt sind, müssen wir jedoch mit allem rechnen. Hinter der Gefahr, deren Spuren wir alle gesehen haben, kann unter Umständen unser alter Freund Dr. Satanas stecken, der sich mal wieder ein neues Gesicht gegeben hat ... Oder ein Geschöpf der Hölle, ein rächender Geist ... ein Dämon Rha-Ta-N'mys oder ganz und gar ihre Kraft, die durch irgendeinen uns unbekannten Umstand zur Wirkung kommt. All dies kann es sein, etwas uns völlig Unbekanntes oder auch – der wiedererwachte Geist Baron von Frankensteins, der als Geist-Chirurg aus dem Jenseits nach mehr als hundertundfünfzig Jahren erneut sein Unwesen treibt. Damals tauchte er hier in London, als er aus Deutschland wegen seiner verbotenen Experimente fliehen musste, eine Zeitlang unter. Es heißt, dass er sich in dieser Stadt ein neues Aussehen gab und lange Zeit unerkannt unter den Bürgern der Themse-Metropole lebte, ehe es ihn wieder in die Heimat zurückzog ... Alte Mauern, die Erde, über die wir schreiten, bewahren die Spuren derer, die vor uns hier waren. Wie unerwartet Klangwellen in sogenannten Spukhäusern plötzlich aus unerfindlichem Grund frei werden – Seufzer und Stöhnen, Klopfzeichen und Schritte, die von keinem Lebenden verursacht sind – können Bilder und Gestalten aus der Vergangenheit auftauchen. Oder – es ist auch nur der ruhelose Geist eines Verdammten oder Verfluchten, der sich irgendwann durch seinen Lebenswandel, durch seine Beschäftigung mit dem Okkulten und den Mächten der Finsternis in ein Netz verstrickte, aus dem er sich endlich befreien will. Und dies wiederum ist in den seltensten Fällen aus eigener Kraft möglich. Ich glaube, Brüderchen, dass dein Geistesblitz vorhin der Wahrheit am nächsten kommt. Vielleicht weilt Frankensteins Geist tatsächlich wieder unter uns. Ruhelos wirkt eine irregeführte Seele fort und kann nicht unterlassen, was sie im Diesseits einst trieb.«

Er brauchte nicht weiter auszuführen, was er dachte. Morna und Iwan wussten es auch so, und sie kannten die Gefahr, in die sie sich begaben, sehr wohl. Wenn der ruhelose und wieder aktivierte Geist des genialen und gleichzeitig auch besessenen Barons aus dem Jenseits heraus wirkte, mussten sie schnellstmöglich einen Weg finden, diesem Treiben ein Ende zu machen.

Zu seinen Lebzeiten setzte Dr. Frankenstein einen neuen Menschen aus Leichenteilen zusammen. Als Geist bediente er sich der gleichen Mittel, wie der Fall Robert Harton zeigte. An dessen Grab waren zwar Manipulationen vorgenommen worden, aber ebenso einwandfrei stand auch fest, dass der Unbekannte nicht mit Schaufel und Spaten hier zu Werke gegangen war. Der Sarg war in der Tiefe geblieben und nicht freigelegt worden. Die Beamten, die das frische Grab zu Untersuchungszwecken aufgruben, hatten davon gesprochen, dass die oberste Erdschicht aufgelockert war, als wäre jemand mit einem Pflug durchgegangen. Wie es möglich war, dem Toten das Gehirn zu entfernen, hatte sich niemand erklären können.

Die Überlegungen, die Larry, Morna und Iwan anstellten, waren eine Möglichkeit zur Erklärung. Übersinnliche Kräfte aus dem Jenseits steckten dahinter ...

Viktor Baron von Frankenstein, der Besessene, wirkte aus dem Unsichtbaren. Ein Gehirn aus dem Körper eines Toten war verschwunden. Das war schon schlimm und unheimlich genug. Dass anschließend ein Herz aus dem Leib eines Lebenden verschwand – war grauenhaft und schockierend.

»Wenn er sich auf diese Weise alle Einzelteile zusammenklaut, wird's kritisch, Towarischtsch«, sagte der Russe und setzte sich in den Dienstwagen neben Chief-Inspector Edward Higgins. Im linken Mundwinkel Kunaritschews hing noch immer die leicht angeknickte Zigarette, die er vergaß anzuzünden. Was Higgins nur recht war. X-RAY-7 betastete seinen Kopf und anschließend die muskulösen Oberarme. »Es ist noch alles da. Bis jetzt! Aber der Gedanke, dass aus dem Unsichtbaren jemand in meinen Körper greifen oder sich bei Bedarf mit meinen Gliedmaßen versorgen könnte, weil er in seinem Wahn einen neuen Menschen schaffen will, behagt mir überhaupt nicht. Ich hoffe, Towarischtsch, wir sehen uns gesund wieder ...«

Iwan Kunaritschew war kein Mensch, der leicht untertauchen konnte. Er fiel durch seine Größe, seine Stärke, durch sein rotes Haar und den Vollbart, der sein Gesicht rahmte, auf. X-RAY-7 war auch nicht interessiert daran, nicht aufzufallen. Er gab sich betont lässig, war nicht besonders vorteilhaft gekleidet und verkehrte in den einschlägigen Kneipen, Bars und Läden von Soho, in denen Robert Harton sich nachweislich herumgetrieben hatte.

Iwan hatte sich in einem kleinen, billigen Hotel, das ebenfalls in Soho lag und den sinnigen Namen Our King's Palace trug, einquartiert. Alles, was er besaß, trug er in einer vergammelten, speckig aussehenden Reisetasche, die er auf dem letzten Flohmarkt aufgetrieben zu haben schien, mit sich. Das kleine muffige Zimmer enthielt ein wackliges Bett, einen wurmstichigen Kleiderschrank und einen Sessel mit fadenscheinigem Bezugsstoff. Der Blick aus dem Fenster führte in einen dunklen, quadratischen Hinterhof, der aussah wie ein zu groß geratener, verrußter Kaminschacht.

Kunaritschew machte auf Aussteiger