Larry Brent Classic 061: Der Nachtmahr - Dan Shocker - E-Book

Larry Brent Classic 061: Der Nachtmahr E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

In Paris werden innerhalb kurzer Zeit zwei junge Frauen auf mysteriöse Art und Weise ermordet. Jemand vermutet einen Nachtmahr hinter den Todesfällen - und stirbt. Zuvor gelingt es ihm jedoch, einen Psychiater ins Vertrauen zu ziehen. Und dieser Arzt stößt auf eine Reihe Merkwürdigkeiten. Morna Ulbrandson hält sich bereits wegen einer anderen Angelegenheit in Paris auf. Als Larry Brent seine Kollegin besucht, überschlagen sich die Ereignisse.

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Band 61

Dan Shocker

DER NACHTMAHR

Erscheinungstermine von „Der Nachtmahr“

18.09.1973 als Zauberkreis Grusel Krimi-Taschenbuch Nr. 6.

Juni 1974 im Rekord Verlag als Leihbuch (Drucklegung). VÖ: 20.07.1974.

Juni 1974 im Rekord Verlag als Paperback (Drucklegung).

25.03.1975 als Silber Grusel-Krimi Nr. 87.

November 1976 als Silber Grusel-Krimi (Neuauflage Nr. 87).

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Fachberatung: Robert Linder

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Illustration: www.ralph-kretschmann.de

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Satz: Winfried Brand

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-861-7

Der Mann stürzte wie von Sinnen die ausgetretene Treppe empor. Sein Puls jagte, sein Atem flog, und der Schweiß lief in Bächen über sein verzerrtes Gesicht. Alles an Félix Lucelion zitterte. Seine Augen waren weit aufgerissen, und der blanke Wahnsinn spiegelte sich in seinem Blick. „So hätte es nicht kommen dürfen“, murmelte er im Selbstgespräch vor sich hin. „Ich muss verrückt gewesen sein. Jetzt ist es zu spät.“

Lucelion jagte die letzten Stufen zu seiner Mansardenwohnung hoch. Qualvolle Sekunden verstrichen, ehe es ihm gelang, den richtigen Schlüssel zu finden und die Tür aufzuschließen. Im gleichen Augenblick, als er in seine Wohnung stürzte, hörte er von unten das Zuklappen der Haustür und ein Trappeln auf den Treppenstufen. Sein Herzschlag setzte für eine Sekunde aus.

Er war im Haus!

Lucelion schaltete das Licht nicht an. Im Dunkeln tastete er sich durch seine stockfinstere Wohnung. Er stieß gegen einen Stuhl, gegen den Tisch. Irgendetwas fiel um. Die Wände schienen in seine Richtung zu wabern. Die Atemluft wurde knapp. Mit fahrigen Fingern öffnete er die oberen Kragenknöpfe. „Monette …“, wisperte Lucelion, während er in höchster Aufregung in das angrenzende Zimmer hetzte. „Ich muss Monette anrufen …“ Er tastete sich in Richtung des kleinen Tisches, auf dem das Telefon stand, schaltete die kleine Tischlampe ein, drehte die Wählscheibe, schüttelte dann seinen Kopf und schlug nach mehreren Versuchen auf die Telefongabel. In der Aufregung fiel ihm nicht die richtige Nummer ein. Die Zeit drängte.

„Es muss jetzt sein! Bitte!“ Seine Lippen zitterten. Er hatte keine andere Wahl, die Zeit verrann. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, ehe das erste Klingelzeichen am anderen Ende der Leitung zu hören war. Dann der zweite Ton. Lucelion stand wie auf heißen Kohlen. Er trat von einem Bein aufs andere. Die Augen glühten irr in seinem angespannten Gesicht. Mit zitternden Fingern wischte er sich über die schweißnasse Stirn.

„Doktor Monette“, meldete sich endlich eine Stimme.

„Doktor Monette! Oh Gott, gut, dass ich Sie erreiche!“ Lucelion konnte vor Aufregung kaum sprechen. Seine Stimme war zu einem heiseren Krächzen herabgesunken, hatte einen wimmernden Unterton bekommen. „Ich bin es, Lucelion …“

„Lucelion?“ Monette schien erstaunt. „Aber Monsieur Lucelion! Was veranlasst Sie, mich zu dieser Stunde anzurufen? Wissen Sie, wie spät es ist?“

„Ich habe Ihnen versprochen, mich zu melden, wenn er mir auf den Fersen ist. Ich habe die Begegnung provoziert, Doktor, vorhin in der Rue du Surmelin. Seitdem verfolgt er mich, bis hierher in die Rue de Paradis. Der Nachtmahr, Doktor!“ Lucelion sprach in einem aufgeregten Stakkato. „Kommen Sie bitte schnell, Doktor! Er ist im Haus. Er muss jeden Augenblick hier sein.“

Obwohl Monette über die nächtliche Störung verärgert war, ließ er sich nichts anmerken. Lucelion war ein spezieller Fall. Der Mann war nicht normal. „Lucelion, bitte! Sie können sich doch ganz einfach schützen. Verschließen Sie die Tür. Dann muss er draußen bleiben.“

„Haben Sie denn vergessen, was ich Ihnen gesagt habe?“ Lucelions Stimme klang weinerlich. Er war am Ende seiner Kräfte. „Er kann durch Wände und verschlossene Türen kommen.“

„Ah, richtig. Das hatte ich vergessen. Entschuldigen Sie!“

„Halten Sie Ihr Versprechen, lassen Sie mich jetzt bitte nicht im Stich! Ich habe nie eine Zwangspsychose gehabt, Doktor! Ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich hoffte, krank zu sein. Aber was ich durchmache, ist schlimmer als eine seelische Krise oder wie Sie das auch immer nennen mögen. Ich erlebe die Wirklichkeit, und ich werde verfolgt. Ich habe den Nachtmahr beobachtet, und er hat mich bemerkt. Bitte kommen Sie, warten Sie keine Minute länger!“

„Ich komme, Lucelion. Ich sehe ihn mir an.“ Monettes Stimme klang plötzlich hellwach.

„Danke, Doktor!“ Lucelion nickte heftig, obwohl ihn sein Gesprächspartner natürlich nicht sehen konnte. „Bitte beeilen Sie sich, wenn …“ Weiter kam er nicht. Jemand stand hinter ihm. Lautlos und still wie ein Phantom in der Nacht war Lucelions Verfolger in die Wohnung eingedrungen. Dabei war keine Tür geöffnet worden, kein Schlüssel hatte sich im Schloss gedreht.

Nur dieses seltsame Trappeln auf den Stufen der Treppe.

Lucelion war inzwischen klar geworden, dass der Nachtmahr nur ihn damit erschrecken wollte! Er wollte ihm vor Augen führen, dass er längst über ihn Bescheid wusste. Er sollte für alle Welt sichtbar in den Wahnsinn getrieben werden, sodass selbst sein Psychiater, Dr. Pierre Monette, ihn für verrückt hielt. Denn der Nachtmahr bewegte sich sonst ohne das geringste Geräusch zu verursachen. Nur wenn eben Lucelion in der Nähe war, dann verursachte er diese beängstigenden Geräusche, die vielleicht wirklich nur er, Lucelion, zu hören bekam.

Eine schmale, beinahe weibliche Hand drückte die Gabel herab und unterbrach das Gespräch.

Lucelion gurgelte vor Entsetzen, als ihm der Hörer aus der Hand genommen wurde. „Nein!“ Er schüttelte den Kopf und wich langsam Schritt für Schritt zurück, als wären seine Füße aus Blei. Dann warf er sich herum, wollte zum Fenster flüchten, doch der nächtliche Besucher, der wie eine diffuse Silhouette vor ihm stand, versperrte ihm den Weg. Lucelion taumelte gegen das Fußende des Betts, konnte sich nicht mehr fangen und stürzte mit dem Rücken auf das prall gefüllte Daunenbett. Er fühlte, wie ihn unsichtbare Hände nach unten drückten. Er keuchte vor Anstrengung, seine Augen traten wie zwei weiße Kugeln aus ihren Höhlen. Wie besessen schlug er um sich. Ihm kam es so vor, als umfassten ihn mit einem Mal tausend Hände, derer er sich erwehren musste. Das Federbett bebte unter ihm. Es war weich, gab nach, bewegte sich selbsttätig und atmete. Es lebte!

Das Grauen schnürte dem Gepeinigten die Kehle zu.

Ihm wurde schwarz vor Augen, nicht nur vor Schwäche, sondern auch, weil das Ungetüm über ihn hinwegkroch, seinen Körper mitsamt seinem Kopf bedeckte. Der Atem wurde knapp. Er versuchte zu schreien, doch kein Laut kam über seine Lippen. Ein Zentnergewicht lag auf seiner Brust und erdrückte ihn. Er keuchte, zog pfeifend die Luft ein und riss den Mund wie ein gestrandeter Fisch auf. Sein Körper verkrampfte sich. Ekel und Panik ergriffen ihn. Das schwammige, riesige Etwas erinnerte ihn an ein Ungeheuer, das einem Albtraum entwichen und Realität geworden war.

Seine vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen nahmen das glitschige Etwas mit den blutroten und giftgrünen Streifen wahr. Es bewegte sich, schmatzte und ächzte und hatte nur der Farbe nach noch Ähnlichkeit mit seinem schweren Federbett. Der Riesenkörper senkte sich weiter auf ihn herab, und seine Welt versank in absoluter Finsternis. Félix Lucelion schwanden die Sinne.

Seine verzweifelten Schreie nahm er mit ins Jenseits.

Der silbergraue Citroën bog in die dunkle Straße ein. Hinter den Fenstern der Häuser brannte längst kein Licht mehr. Dr. Pierre Monette fand das Haus auf Anhieb. In Paris kannte er sich bestens aus. In dieser Stadt war er aufgewachsen.

Der Psychiater schaltete den Motor aus, zog den Schlüssel ab und verließ seinen Wagen. Das Telefongespräch kam ihm vor wie ein schlechter Traum. Dennoch hatte er keine Sekunde gezögert und fuhr mitten in der Nacht zu einem Patienten, der unter Halluzinationen litt und dem keine hypnotische Therapie und auch keine chemischen Präparate halfen. Dieser Mann, Lucelion, wurde für sich selbst zur Gefahr. Die Einweisung des Kranken in eine Nervenheilanstalt durfte nicht länger hinausgezögert werden. Nicht bei jedem seiner Patienten hätte Monette solche Schwierigkeiten auf sich genommen. Aber bei Lucelion lagen die Dinge anders. Erstens interessierte ihn der Fall dieses Mannes als Wissenschaftler und Arzt, und zweitens waren die Honorare bei Lucelion üppig gewesen. Sein Patient war wohlhabend, führte jedoch ein auffallend bescheidenes Leben. Er gönnte sich keinerlei Vergnügungen.

Monette seufzte, als ihm dies durch den Kopf ging. Er konnte nicht verstehen, wie manche Leute mit ihrer Freizeit umgingen. Und für Lucelion war eigentlich der ganze Tag Freizeit. Ihm fehlte eine sinnvolle Beschäftigung. Vielleicht war dies der Grund, weshalb sein Verstand durcheinandergeriet und er vor lauter Langeweile seinen seltsamen privaten Forschungen und Beobachtungen nachging.

Monettes Hemd war noch aufgeknöpft. Man sah dem Psychiater an, dass er sich in aller Eile angezogen hatte, um hierherzukommen. Er drückte den Klingelknopf, blickte sich suchend um und wartete. Die Gegend war nicht die beste von Paris. Lucelion hätte es sich erlauben können, woanders zu wohnen. Er war wirklich ein merkwürdiger Kauz.

Als sich niemand meldete, versuchte Monette die Tür zu öffnen. Es funktionierte. Er tastete nach dem Lichtschalter und eilte die Treppe empor. Das Licht im Hausgang war schummrig, die Luft roch muffig. Lucelion wohnte direkt unter dem Dach. Monette musste daran denken, da Lucelion ihm anvertraut hatte, dass dies so gewollt war.

Wenn er … der Nachtmahr … einmal hinter mir her sein sollte, dann habe ich immer noch die Chance, über das Dach zu entkommen! Der Psychiater hatte immer noch die verzweifelten Worte seines Patienten im Ohr.

Kurz darauf stand Monette vor der Wohnungstür. Er unterließ es zu klingeln, als er sah, dass die Tür nur angelehnt war. „Monsieur Lucelion?“, fragte er leise durch den Türspalt und klopfte.

Keine Antwort, kein Geräusch aus der Wohnung. Monette konnte sich eines unguten Gefühls nicht erwehren. Wenn Lucelion ihn aus der Wohnung angerufen hatte, war es unverständlich, dass er sich jetzt nicht meldete. Der Arzt stieß die Tür auf und starrte in die düstere Wohnung.

„Monsieur Lucelion?“ Fragend schob er sich weiter in das Zwielicht. Irgendwo musste eine Lampe brennen. Er passierte den Korridor und stand unter der Türfüllung. Von dort ging er ins Wohnzimmer. Hier konnte er besser sehen. Eine kleine Tischlampe leuchtete und durch das Fenster schien der Mond. In dem breiten Lichtstreifen erkannte Monette einen Teil der bescheidenen Einrichtung, sah den runden Tisch und das Telefon darauf. Darüber hinaus befanden sich in dem Raum zwei verschlissene Sessel und Lucelions Schlafstatt, darauf ein wild zusammengeknäueltes Federbett. Zwei in braunen Halbschuhen steckende Füße ragten unter der Bettdecke hervor.

„Monsieur Lucelion?“ Monette tastete nach dem Lichtschalter. Die Deckenleuchte flammte grell auf. Geblendet schloss der Psychiater für einen Moment seine Augen. Danach durchwühlte er hastig das Federbett. Es war kaum zu glauben, wie Lucelion sich darin eingegraben hatte. Es sah fast so aus, als hätte er mit diesem Bett gerungen, als hätte das Bett ein Eigenleben entwickelt, um ihn im Nahkampf zu besiegen.

Schließlich erlöste Monette seinen Patienten aus dessen unglücklicher Lage. Dabei musste er seine gesamte Kraft aufwenden, um das Federbett auseinanderzureißen.

Lucelions Körper rollte schlaff auf die Seite. Monette horchte nach Herztönen, fühlte den Puls, doch nichts rührte sich. Dennoch begann er mit Wiederbelebungsversuchen.

Ohne Erfolg. Erschöpft und schweißüberströmt gab Monette nach einiger Zeit auf. Erst jetzt, wo er alles Nötige von sich aus getan hatte, kam er endlich zur Besinnung. Er musste die Polizei verständigen. Mit schnellen Schritten näherte er sich dem Tisch, auf dem das Telefon stand. Auf dem Boden lagen mehrere Magazine, das Telefonbuch und ein in schwarzes Nappaleder gebundenes Büchlein. Die Utensilien mussten durch einen unachtsamen Stoß aus dem Zwischenfach gerutscht sein.

Monettes Hand näherte sich dem Hörer, als sein Blick auf das aufgeschlagene Buch fiel. Handschriftlich waren dort Notizen vermerkt. Monette überflog im Stehen die ersten Zeilen und war so gefesselt, dass er sich fast wie in Trance bückte, das Buch aufhob und die erste Seite Wort für Wort las.

Das Tagebuch von Félix Lucelion!

Der Kranke hatte darin seinen Tagesablauf vermerkt, hatte über seine Krankheit und über jede Kleinigkeit, die er erlebte, genau Buch geführt. Dort hatte er Dinge hineingeschrieben, die nicht einmal in den hypnotischen Sitzungen zur Sprache gekommen waren.

Pierre Monette blätterte das Buch von Anfang bis Ende flüchtig durch. Die ersten Eintragungen begannen auf den Tag genau vor drei Monaten, dem Zeitpunkt also, an dem sich Félix Lucelion in psychiatrische Behandlung begeben hatte.

Monette steckte das Tagebuch ein. Für ihn würde jedes Wort daraus wichtig sein, der Polizei konnte er es später immer noch übergeben.

Dann wählte er den Notruf.

Kommissar Marcel Tolbiac brauchte kaum zehn Minuten, um mit seinen beiden Assistenten am Einsatzort einzutreffen. Der dort anwesende Psychiater Pierre Monette erzählte ihm in aller Ruhe und Ausführlichkeit den Ablauf der Geschehnisse aus seiner Sicht.

Tolbiac hörte zu, ohne den Mann ein einziges Mal zu unterbrechen. „Die Tür war offen?“, fragte er schließlich und ging mit Monette zur Wohnungstür.

Der Psychiater bestätigte dieses Detail noch einmal.

„Erinnern Sie sich bitte genau daran, was Monsieur Lucelion zu Ihnen sagte, Doktor“, bemerkte Tolbiac mit konzentrierter Miene und streichelte dabei seinen Bart. „Hat er am Telefon davon gesprochen, dass seine Wohnung abgeschlossen war?“

Monette musste kurz nachdenken. „Ja. Ich glaube, er drückte sich so aus, dass er die Tür hinter sich verschlossen hatte, als er in die Wohnung flüchtete.“

„Dann muss sein Verfolger, wie auch immer, gewaltsam eingedrungen sein. Und beim Verlassen der Wohnung hat der Unbekannte die Tür nicht mehr ins Schloss gedrückt.“

„Es gibt keinen Unbekannten, Kommissar. Lucelion war ein kranker Mann. Er hat sich seinen Verfolger nur eingebildet. Er litt unter einer Zwangspsychose.“

„Hm. Und wer hat Ihrer Meinung nach die Tür geöffnet?“

„Vielleicht hat Lucelion sie gar nicht erst zugeschlossen.“

„Vorhin aber haben Sie noch gesagt, dass …“

„Ich weiß“, unterbrach Monette den Kommissar. „Doch ich kann mich auch irren. Es ging alles so schnell, und Lucelion war aufs Äußerste erregt, vielleicht hat er sich getäuscht. Zudem habe ich nur die Hälfte von dem verstanden, was er mir gesagt hat. Die letzten Minuten seines Lebens müssen schrecklich für ihn gewesen sein. Er hat offenbar Dinge in seinem Kopf gesehen, von denen wir uns keine Vorstellung machen.“

„Monsieur Lucelion ist tot. So, wie er da liegt, war das kein Herzschlag. Seine Haltung ist zwar verändert, schließlich haben Sie unmittelbar nach Ihrer Ankunft versucht, ihn wiederzubeleben, dennoch ist zu erkennen, dass Monsieur Lucelion offensichtlich mit jemandem gekämpft hat. Sein Gesichtsausdruck ist schlimm verzerrt.“

„Er hat mit einem Phantom gekämpft, Kommissar. Sein Gesicht wurde sozusagen von innen verzerrt. Er hat vielleicht etwas auf dem Bett sitzen sehen und geglaubt, es hätte sich im Federbett verkrochen. Er muss sich wie ein Wilder darauf gestürzt haben. Er hat verbissen mit dem Einsatz all seiner Kräfte gerungen. Dabei wühlte er sich tief in die Kissen. Entweder ist er dabei vor Aufregung oder an Luftmangel oder an beidem gestorben.“

Tolbiac nickte. „Könnte natürlich sein, Doktor. Also keine Suche nach dem Mörder? Wenn es so ist, wie Sie vermuten, dann wird das die gerichtsmedizinische Untersuchung der Leiche eindeutig ergeben. Gut. Sie hören von mir.“

Danielle Rouson und Gigi Chapelle kamen gegen zwölf Uhr mittags in die Tuilerien. Die beiden Mädchen trafen sich an der Bank in der Nähe der Statue, die die Venus mit einer Taube darstellt.

„Ich habe gedacht, dich heute gar nicht zu Gesicht zu bekommen“, rief Gigi schon von Weitem. Sie trug eine helle Ledertasche unter dem Arm, darin steckten ihre Lehrbücher. Gigi war einundzwanzig, studierte Medizin und kam gerade von einer Vorlesung. „Wenn du so oft fehlst, hast du eine Menge nachzuarbeiten, meine Liebe. Hast du die Nacht mit Louis verbracht? Wieder nicht aus den Federn gekommen? Und viel getrunken, wie?“

Ihre Freundin Danielle war eine sehr lebendige, sympathische junge Frau, schlank und langbeinig. Sie verstand es, ihre weiblichen Reize auszuspielen. Obwohl die Sonne schien, war es zu dieser frühen Tageszeit noch verhältnismäßig kühl. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, ein kurzärmeliges Sommerkleid mit ausgestelltem Rock zu tragen. „Nicht geschlafen, nichts getrunken“, sagte sie leise, während sie auf der Bank Platz nahm, sich zurücklehnte und ihre wohlgeformten Beine übereinanderschlug.

„Oh là là!“, bemerkte Gigi spitzbübisch. „Habt ihr euch so verausgabt?“

Danielle Rouson schüttelte den Kopf und strich ihre dichten, glänzenden Haare aus dem Gesicht. Ihr hübsches Gesicht wirkte ungewöhnlich angespannt. „Nein, eigentlich nicht“, sagte sie mit finsterem Blick. „Louis und ich … wir haben uns gestritten. Aber das renkt sich wieder ein. Ist nicht zum ersten Mal passiert. Wir müssen uns noch abschleifen, aber sonst ergänzen wir uns prächtig.“

Gigi Chapelle musterte ihre Freundin und Studienkollegin mit einem langen Blick. „Du siehst heute nicht gut aus.“

Danielle massierte ihre Stirn. „Ich habe schlecht geschlafen und noch schlechter geträumt.“

„Wieder diese Albträume?“

„Ja. Es fängt schon wieder an.“

„Das hängt mit Louis zusammen.“

„Nein. Ich hatte das schon, als mit Louis noch alles in Ordnung war. Aber es wird immer schlimmer. Heute Nacht hatte ich wahrhaftig den Eindruck, vor Angst zu sterben. Es war fürchterlich, Gigi. Als ich aufwachte, war ich in Schweiß gebadet. Danach habe ich mich abgeduscht, und während dieser Zeit wurde ich das Gefühl nicht los, dass mich jemand beobachtet. Ich spürte deutlich die Nähe von irgendetwas, das mich bedrohte.“

„Dass man mal Albträume hat, kann vorkommen und ist völlig normal. Aber wenn sie oft oder wie bei dir beinahe regelmäßig auftreten, dann lässt das auf eine Krankheit schließen.“

Danielle Rouson senkte den Blick. „Ich habe nicht den Eindruck, verrückt zu sein.“

„Das hat mit Verrücktsein nichts zu tun. Eine seelische Krise, mehr nicht. Aber das darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Ich an deiner Stelle würde einen guten Psychiater konsultieren. Lass dich doch mal gründlich untersuchen.“

Danielle Rouson seufzte. „Ich mag keine Psychiater!“

„Ach, du!“ Gigi Chapelle fuchtelte mit den Händen in der Luft herum. Sie reagierte stets temperamentvoll. „Du musst etwas dagegen tun, bevor es schlimmer wird.“

„Ich werde dir etwas sagen, Gigi. Nachts, wenn ich wach werde … immer, wenn ich das Gefühl habe, erdrückt zu werden, ersticken zu müssen … dann liege ich da, mit pochendem Herzen und jagendem Puls. Hin und wieder falle ich in einen leichten, unruhigen Schlaf. Aber wenn morgens die Sonne durch das Fenster scheint, kommt mir wieder alles so unwirklich vor. Ich kann mir dann nicht mehr vorstellen, dass ich dieses Gefühl, sterben zu müssen, wirklich durchgemacht habe.“

„Ich sage ja: Du brauchst einen Psychiater. Ich frage Paul, der kennt sich mit solchen Dingen aus. Er kann dir bestimmt eine Empfehlung geben.“

„Ich war heute Morgen so erledigt, dass ich kaum aufstehen konnte“, fuhr Danielle Rouson fort, als hätte sie die letzte Bemerkung ihrer Freundin nicht gehört. „Ich bin erst um elf aus den Federn gekrochen, habe mich kurz frisch gemacht und bin hierhergekommen.“

„Hast du gefrühstückt?“

„Nein.“

„Dann verschwinden wir am besten ins nächste Restaurant, meine Liebe. Du musst etwas Ordentliches essen.“ Gigi Chapelle griff nach ihrer Handtasche, die sie neben sich auf die Bank gestellt hatte.

Danielle Rouson fasste ihre Freundin am Arm. „Du bist ein prima Kumpel, Gigi.“ Sie lächelte. „Ich habe mich so darauf gefreut, dich hier zu treffen. Jetzt, nachdem ich mit dir über meine Probleme gesprochen habe, geht es mir schon etwas besser. Ich habe eine Bitte an dich, Gigi.“

„Schieß los! Wenn ich sie dir erfüllen kann, gern. Bei Geld muss ich allerdings passen. Die nächsten Scheinchen kommen erst in einer Woche. In meinem Portemonnaie herrscht elende Ebbe.“