Larry Brent Classic 077: Chalet der tödlichen Stimmen - Dan Shocker - E-Book

Larry Brent Classic 077: Chalet der tödlichen Stimmen E-Book

Dan Shocker

0,0

Beschreibung

In einem Chalet in Frankreich hören dessen Bewohner Stimmen, die sie dazu bringen, sich selbst zu töten. Die PSA-Agenten Larry Brent und Peter Pörtscher werden in den Urlaubsort Haute Nendaz im Wallis gerufen, um der Sache auf den Grund zu gehen. Bonus: Dan Shockers Schreckensherberge (Teil 1)

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 186

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Band 77

Dan Shocker

CHALET DER TÖDLICHEN STIMMEN

Erscheinungstermin von „Chalet der tödlichen Stimmen“

© 2014 by BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Fachberatung: Robert Linder

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Illustration: www.ralph-kretschmann.de

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Satz: Winfried Brand

All rights reserved

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-877-8

Sie warteten die Dunkelheit ab und liefen dann über die steile Bergwiese auf das Chalet zu.

Ingo Ferrer und die hübsche Schwedin Siw Konati, die er beim Trampen kennengelernt hatte. Seit zwei Stunden hatten sie die Feriensiedlung beobachtet. Es war Spätherbst, die Blätter der Bäume färbten sich gelb, und die Wiesen zwischen den am Hang stehenden Holzhäusern waren nicht mehr so saftig grün wie im Sommer. Um diese Jahreszeit standen hier oben in den Bergen, nahe des Urlaubsorts Haute-Nendaz im Wallis, viele Ferienhäuser leer. Ingo Ferrer wusste das. Schon oft hatte er diese Gegend besucht. Und da er, wie so oft, knapp bei Kasse war, wollte er hier wieder ein paar Tage verbringen. Kostenfrei. Das hatte ihm schon immer gefallen, und diesmal, mit einem Mädchen wie Siw, konnte es nur noch schöner werden.

Sein Chalet hatte er sich schon ausgesucht. Es stand oben am Hang. Ein steiler Weg führte hinauf, gerade so breit, dass ein Auto darauf fahren konnte. Das Chalet schien noch unbewohnt zu sein. Garten und Außenanlagen waren noch nicht angelegt. Die Fensterläden waren fest verschlossen, die massive Eingangstür zusätzlich abgeriegelt. Dennoch gab es noch keine Alarmanlage, und das war für Ingo Ferrer der ausschlaggebende Punkt. Er brauchte nicht lange, um das Schloss fast lautlos zu knacken. Doch selbst wenn das Aufbrechen Geräusche verursacht hätte war es ausgeschlossen, dass in der Nachbarschaft etwas bemerkt wurde. Das nächste Chalet lag fast hundert Meter entfernt. Es war jedoch bewohnt, durch die Ritzen der Läden schimmerte Licht.

Ingo Ferrer fasste die junge Frau an den Schultern und presste sie an sich. „Wir werden es uns hier richtig gemütlich machen, das verspreche ich dir.“

„Ich weiß nicht …“

„Was weißt du nicht?“

„Ob es richtig ist, was wir hier tun.“

„Richtig ist es nicht“, bestätigte er und drängte sie durch die Tür. „Aber wir brauchen ein Dach über dem Kopf. Das Chalet passt genau. Wir stehlen doch nichts. Das Haus steht leer, wir schlafen hier nur ein paar Tage. Zu dieser Jahreszeit ist niemand von den Eigentümern selbst in den Chalets. Die suchen sich nur die schönsten Monate aus. Also kennt keiner den anderen. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, alles ist in Ordnung.“ Er küsste sie.

Durch den dünnen Pulli zeichneten sich Siws feste Brüste ab. Ihr Atem wurde schneller, und sie schlang ihre Arme um seinen Hals. „Deine Nähe macht mich irgendwie heiß“, flüsterte sie.

Er zog sie auf den weichen Hirtenteppich vor dem offenen Kamin, wo sie sich im Dunkeln ihrer Leidenschaft hingaben. Dann erst machten sie Licht. Siw lag entspannt auf dem Boden, umgeben von ihren Kleidern, die ihr Ferrer vom Körper gestreift hatte.

Das Chalet war rustikal eingerichtet. Insgesamt gab es drei Schlafzimmer, eines direkt neben dem Kaminraum, die beiden anderen oben. Die Wasserversorgung funktionierte, und während Siw ein Bad nahm, reparierte Ferrer das Schloss so, dass man es wieder abschließen konnte. Dann kuschelten sich die beiden zum Schlafen eng aneinander. Ingo Ferrer schlief schnell ein.

Siw Konati dagegen blieb wach. Sie starrte unruhig in die Dunkelheit. Sie hatte das Gefühl, dass sie beobachtet wurde. Unsinn. Da ist niemand. Wir sind doch vorhin durchs ganze Haus gegangen, haben jeden Raum gesehen und in jeden Schrank geschaut. Das Chalet ist nicht bewohnt. Warumbin ich nur so nervös?Hängt das damit zusammen, dass ich mich hier in einem Haus befinde, in dem wir eigentlich nichts zu suchen haben?

Ihre Sinne wurden von Minute zu Minute sensibler. Sie registrierte jedes Geräusch. Das leise Rauschen des Windes im Kamin, das Klappern der Läden, ein Stein, der vom Abhang kullerte. Doch das war noch nicht alles. Sie hörte Stimmen, zuerst undeutlich, dann immer dominanter. Wie gespenstisches Raunen lagen die Stimmen in der Luft, und Siw war nicht imstande festzustellen, aus welcher Richtung sie kamen. Die junge Frau wagte kaum zu atmen. Sie lauschte. Mit mir stimmt etwas nicht! Der Gedanke zuckte plötzlich wie ein Blitz durch ihr fieberndes Gehirn. Ich verliere den Verstand!

Das Gefühl der Angst überfiel sie wie ein körperlicher Schmerz. Ihr Magen verkrampfte sich. Sie atmete ruckartig. Vor ihren Augen begann die Luft zu flimmern. Irgendetwas ging hier vor! Die Stimmen wurden drängender. Sie meinte, ein überhebliches Lachen zu hören, dann ein Seufzen, als ob sich zwei Liebende in die Arme fielen. Siws Augen befanden sich in ständiger Bewegung; sie versuchte, die Dunkelheit mit ihren Blicken zu durchdringen. Die Nacht war klar und Mondlicht durchdrang den Raum. Die Umrisse des hohen Wandschranks wurden deutlich, die beiden Stühle und die Kommode mit dem Spiegel. Matt schimmerte die Glasfläche. Wie ein großes Auge, drängte sich ihr der Vergleich auf. Der Spiegel, ein Auge?

Die Angst der Schwedin steigerte sich, als sie draußen Bewegungen wahrzunehmen glaubte. Der Ritz, durch den das Licht fiel, wurde im Wechsel dunkel, dann wieder hell, als ob draußen lautlos Gestalten vorbeiliefen. Siw schlug die Decke zurück und erhob sich. Siw, die vom fernen Norden auf eigene Faust bis zur Schweiz getrampt war und gewiss nicht überängstlich war, zwang sich zur Ruhe. Ich bin bisher allein durchgekommen und mit allem fertig geworden. Ich habe einen gut bezahlten Job aufgegeben, um dem Alltagstrott zu entfliehen. Ich möchte bis in den Süden Spaniens trampen. Ich will die Sonne aufgehen sehen, und ich habe meine fünf Sinne beisammen, ich weiß, was ich tue!

Ihr Nachthemd raschelte, als sie sich erhob, das Zimmer durchquerte, vor dem Fenster stehen blieb und durch die Schlitze der Fensterläden spähte. Vor ihr lag eine große Terrasse, die von hellem Mondlicht überflutet wurde. Und dann bemerkte Siw die Gestalten. Sie huschten hin und her. Kuttengestalten, geduckt und geräuschlos. Körper und Gesichter waren verborgen.

Willst du nicht auch dabei sein, meine Schöne?, flüsterte plötzlich eine Stimme neben ihr. Sie spürte einen leisen Luftzug, als befände sich der Mund, der heiser und verführerisch diese Worte aussprach, direkt an ihrem Ohr.

„Ingo!“ Sie fuhr herum. „Wie kannst du mich nur so erschrecken!“ Sie glaubte, dass er sich einen Scherz mit ihr erlaubte, dass er erwacht war und sich heimlich an sie herangeschlichen hatte. Doch Ingo Ferrer stand nicht hinter ihr. Er lag immer noch auf dem Bett und fuhr benommen hoch, als sie seinen Namen gerufen hatte.

Komm, meine Schöne … du gefällst mir, wir werden viel Spaß miteinander haben, flüsterte wieder die Stimme aus dem Nichts.

Siw fühlte, wie eine Hand nach ihr griff. Schreiend lief sie los.

„Siw! Was ist denn? Bleib stehen!“ Ingo Ferrer war jetzt hellwach. Im Halbdunkel lief sie an seinem Bett vorbei, riss die Tür auf und stürzte hinaus auf den Korridor. Das Knacken eines Riegels war zu hören, dann knallte die Tür gegen die Wand.

„Siw?“ Ferrer sprang aus dem Bett und stürmte hinter ihr her, barfuß in die Nacht hinaus.

Die junge Frau jagte wie von Furien gehetzt davon. Sie wimmerte leise, als wäre sie nicht mehr in der Lage, ihre Angst lauthals hinauszuschreien.

„Bleib stehen! Wo willst du hin?“ Seine Worte klangen gedämpft. Er brachte es nicht fertig, laut zu rufen. Fremde sollten nicht auf diese nächtliche Szene aufmerksam werden.

Siw lief weiter durch die Nacht. Ihr dünnes Hemd flatterte an ihrem Körper, als sie wie von Sinnen einen Abhang hinunter rannte. Sie lief querfeldein, sprang über kleine Hindernisse und erreichte schließlich die Grenze unterhalb des letzten Hauses. Hinter einem kleinen Hügel zeigte sich ein neuer Weg. Siw drehte sich um und warf einen Blick nach oben zu dem Chalet, in dem sie die geheimnisvollen Stimmen gehört hatte. Es hatte sich irgendwie verändert, wirkte vom Wetter angenagt, düster und bedrohlich. Vor dem Chalet bemerkte sie eine Gestalt, die sich furchteinflößend gegen den nächtlichen Himmel abhob. Spielte ihr Wahrnehmungsvermögen verrückt, oder war die Gestalt real? Das war kein Mensch. Das war der Leibhaftige! Eine Gestalt aus der Hölle!

Siw rannte weiter, spürte kalten Schweiß auf der Haut. Vor ihr lag die Schlucht. Eine verwitterte Steinbrücke führte über einen gurgelnden Bergbach. Das klare Wasser sprudelte durch sein steiniges Bett. Siws Ziel war die Brücke, von der sie wie magisch angezogen wurde. Ihr war, als würden die Stimmen in ihrem Kopf nachhallen, als hätte sie das Raunen und Wispern aus dem Chalet mitgenommen. Der Boden unter ihren nackten Füßen war steinig, ihre Zehen schmerzten. Doch nicht mal der brennende Schmerz brachte sie von ihrem Kurs ab. Der Abstand zu Ingo Ferrer wurde größer. Er kam nicht so schnell voran und er verstand nicht, dass Siw ihre Schmerzen ignorieren und so leichtfüßig weitereilen konnte.

Es waren die Stimmen in Siw, die sie antrieben. Ja, so ist es gut! Du wirst genau tun, was wir von dir verlangen!

Siw hatte die Brücke erreicht. Der Bach unter ihr lief in einen großen Krater, in dem sich das eisige Wasser sammelte. Das Gewässer wurde so zu einem kleinen See. Auf der anderen Seite zeigte sich unter dem Sternenlicht ein breiter, ausgewaschener Streifen, der in der Dunkelheit zwischen den Felsen verschwand. Siw überquerte die Steinbrücke, lief am Rand des sich abflachenden Baches entlang und stand wenige Sekunden später vor dem Kratersee, in den der Bergbach durch einen unterirdischen Zufluss strömte, sodass die Oberfläche glatt und klar wie ein dunkler Spiegel war. Ihre helle Gestalt reflektierte sich darin.

Na los!, raunten die Stimmen in ihr. Siw massierte ihre Stirn, ihr Gesicht war kalkweiß, in ihren Augen brannte ein verzehrendes Feuer. Was ist? Du musst uns gehorchen! Tief in ihr drin meldete sich Widerspruch, doch sie hielt nicht inne, näherte sich dem See, dessen runde Form wie ein dunkler Schlund im Boden gähnte, aufgerissen, um sie aufzunehmen. Nun mach schon!, drängten die Stimmen in ihr. Spring! Schnell! Sie lief bis an den Rand.

Ingo Ferrer, der noch zehn Schritte von der Brücke entfernt war, erstarrte. „Siw!“ Er schrie, so laut er konnte, die anderen Chalets lagen weit entfernt. „Bleib stehen, Siw! Geh nicht weiter! Ich komme!“ Was ist mit dem Mädchen nur los? Dabei hatte sie anfangs doch einen sehr vernünftigen Eindruck gemacht. Jetzt bewegte sich das Mädchen wie ein Roboter. Ihre nackten Füße berührten bereits den Rand des Kratersees.

„Nicht! Ich bin gleich bei dir!“ Ferrer redete ununterbrochen. Er wollte Siw ablenken, Zeit gewinnen. Humpelnd überquerte er die Brücke. Seine Fußsohlen brannten wie Feuer.

Du musst springen!, forderten die Stimmen in Siw. Sie füllten sie aus und stachelten sie an, endlich den Schritt zu tun, gegen den sie sich nur schwer wehren konnte. Die Stimmen glichen dem hypnotisierenden Rhythmus afrikanischer Voodoo-Trommeln, die sie erschauern ließen. Die Stimmen und der Rhythmus waren dominanter als das ferne Rufen, das kaum in ihr Bewusstsein vordrang. Dem hypnotischen Sturm in ihr konnte sie nun nichts mehr entgegensetzen. Sie warf sich nach vorn.

In diesem Moment war Ingo Ferrer zur Stelle. Mit beiden Händen packte er fest zu. Seine Finger verhakten sich im dünnen Stoff des Nachthemdes. Siw flog nach hinten und drehte sich um ihre eigene Achse. Ferrers Finger bohrten sich tief in Siws Schultern. „Reiß dich zusammen!“, brüllte er, während er mit ihr rang.

Die Schwedin fauchte wie eine Katze, riss ihr linkes Knie hoch und rammte es ihm mit Wucht in den Unterleib. Ferrer krümmte sich und ließ los.

Na also!, triumphierten die Stimmen in ihr. Lass dich nicht aufhalten! Nicht von diesem Kerl. Du tust, was du für richtig hältst. So ist es gut. Und jetzt spring! Spring endlich!

Die Schwedin stieß sich nach vorn.

„Siw!“ Ingo Ferrer brüllte wie von Sinnen.

Doch das Mädchen hörte sein Geschrei nicht mehr. Das eiskalte Wasser schlug über ihr zusammen. Ferrer stand wie versteinert am Kraterrand und sah den Körper des Mädchens im dunklen Wasser verschwinden.

Warum nur?, fragte sich Ferrer. In ihm arbeitete es. Er konnte weder Notarzt noch Polizei alarmieren. Er war ein Tramper, hatte heute ein fremdes Mädchen aufgegabelt und war mit ihr in ein Chalet eingebrochen. Die Polizei musste einen Schuldigen finden und sich auf die Fakten beschränken. Sie war vor seinen Annäherungsversuchen geflohen. Nur das konnte der Grund sein, dass sie aus dem Chalet geflohen war. Siw war eindeutig vor ihm davongelaufen. Kein Mensch würde ihm glauben, dass sie völlig grundlos zu diesem Bergsee gerannt war, um sich hineinzustürzen. Sie hatte den See und den Weg dorthin überhaupt nicht kennen können, schließlich war sie fremd hier. Demnach war sie vor ihm geflohen, dabei hatte er sie in den See gestoßen. Allmählich wurde ihm die Tragik des nächtlichen Geschehens klar. Er hatte sie angefasst, ihr Hemd zerrissen, aber nicht, um sie in den See zu stoßen, sondern um sie zu retten. Doch wer würde ihm diese Erklärung glauben. Mit zittrigen Händen fuhr er sich durchs Gesicht. Dann drehte er sich um und ging den Weg zurück. Eine halbe Stunde später wurde Siws Leiche wieder an die Oberfläche gedrückt.

Der Aufstieg erschien ihn unerträglich lang. Bebend und erschöpft erreichte er irgendwann das Chalet. Im Haus nahm er erst mal einen tiefen Schluck aus einer Weinflasche, versorgte seine Wunden mit Jod und Pflaster. Dann zog er sich vollständig an. Hier konnte er unter keinen Umständen länger bleiben. Er packte in aller Hast. Doch wohin mit Siws Sachen? Nichts durfte zurückbleiben. Er handelte wie in Trance, obwohl er versuchte, einen klaren Kopf zu behalten, keinen Fehler zu begehen und nichts zu vergessen. Er packte Siws wenige Habseligkeiten in ihren Rucksack und stellte ihn zu seinem Gepäck, das aus einem Rucksack und einer alten Reisetasche bestand. Dann schaltete er noch mal alle Lichter an und prüfte jeden Raum. Er hatte, so gut es ging, alle Spuren ihrer Anwesenheit beseitigt, sogar die Waschbecken wieder ausgewischt. Jetzt musste er nur noch von hier verschwinden.

Ferrer wuchtete das gesamte Gepäck hoch, trat ins Freie, zog die Tür hinter sich ins Schloss und huschte hinaus in die Nacht. Dort herrschte Totenstille. Die Chalets lagen im Dunkeln. Von den anwesenden Bewohnern schien niemand etwas von dem Zwischenfall bemerkt zu haben. Wie ein Verbrecher schlich er durch die Nacht, stieg den steilen Weg hinauf und ging dann am Rand der schmalen Asphaltstraße entlang, die zum nächsten Ort führte. Er erreichte rasch den nächsten Ort, dort brannten nur noch die Straßenlaternen. Eine Abzweigung führte zu den Liften der Skifahrer. In einigen Wochen würde der Wintersportbetrieb wieder einsetzen. Doch Schnee und Kälte waren nicht seine Sache. Er liebte die Sonne, wollte in den Süden. Genau wie Siw …

Stoisch setzte er seine Schritte, während sich seine Gedanken im Kreis drehten und nicht von Siws rätselhaftem Verhalten loskamen. Ihm war zum Heulen zumute. Zwei Kilometer weiter flachte die Gegend ab, ein ausgedehntes Waldstück lag auf gleicher Höhe wie die Straße. Ferrer ging so weit in den Wald hinein, bis er die Straße nicht mehr sehen konnte. Irgendwann versteckte er Siws Rucksack in einem unzugänglichen Dickicht. Zuvor hatte er das Bargeld der Schwedin und ihre Ausweispapiere an sich genommen. Das Geld wollte er nicht wegwerfen, und die Papiere durften sich nicht bei den Kleidungsstücken befinden, falls man irgendwann den Rucksack fand. Am liebsten wäre er in der Dunkelheit des Waldes geblieben, um hier zu übernachten. Einen Schlafsack hatte er dabei, und es wäre nicht das erste Mal, dass er unter freiem Himmel schlief. Aber es zog ihn fort. Er wollte sich so weit wie möglich von dem Ort entfernen, an dem Siw Selbstmord begangen hatte. Er durfte nicht mit ihrer Person in Verbindung gebracht werden.

Ohne Siws Sachen kehrte er zur Straße zurück, die sich eng und kurvig den Berg hinab schlängelte. Rechts ragten schroffe Felsen in die Höhe. Auf einer dünnen Erdschicht, die den nackten Felsen bedeckte, wuchs spärliches Moos. Ferrer lief weiter nach unten. Er war allein mit sich und der Dunkelheit, die ihn schließlich völlig einhüllte. Wolken verdeckten den Himmel, die Sterne verschwanden. In der Ferne vor ihm, unten im Tal, blinkten die Lichter von Sion. Dorthin musste er, um an eine Hauptverkehrsstraße zu kommen. Mehrmals legte er auf der letzten Wegstrecke eine Pause ein. Seine Knie begannen zu schmerzen, dennoch wollte er nicht rasten. Er musste weiter. Die Straße wurde erneut steil. Er ging an vereinzelten Häusern vorbei. Dort war alles dunkel und still. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Je näher er der Stadt kam, die im Talkessel lag und deren Industriegebiet sich bis zu den Bergen ausdehnte, desto intensiver wurde die Geräuschkulisse. Die Rhone, die Ferrer gerade überquerte, wälzte sich träge durch ihr breites Bett. Inzwischen konnte er bereits den Motorenlärm der Straße nach Montreux, Lausanne und Genf hören. Ferrer hoffte, dass er dort per Autostopp weiterkam. Er musste noch mehr Abstand zu dem Unfassbaren bekommen.

Peter Pörtscher saß entspannt am Steuer eines weißen Mercedes in Richtung Sion. Er kam aus Lugano, war dort spät weggefahren und hatte die Simplon-Route gewählt. Die Zeit drängte, weil sein Auftrag im Tessin nicht planmäßig verlaufen war. Doch das war für den PSA-Agenten nicht ungewöhnlich. Erst im letzten Augenblick hatte er die benötigen Informationen in einer Nervenklinik nahe Lugano erhalten. Hier wurde Fernand Gache behandelt. Ende vierzig, gehörte der Mann bis vor wenigen Wochen noch zu den Millionären seines Landes. Doch dann verschenkte er seine Aktien, verspielte sein Vermögen in Monte Carlo und wurde dort in verwirrtem Zustand eines Nachts von der Polizei aufgegriffen. Gache, der sein Vermögen mit der Produktion von Plastikspielzeug erwirtschaftet hatte, wurde aufgrund seines verstörten Zustands in ein Krankenhaus eingeliefert. Bereits am nächsten Tag erfolgte der Transport in die Nervenheilanstalt San Antonius bei Lugano. Der Grund seiner schnellen Einweisung in die Psychiatrie war ein Dokument, das er bei sich trug. Im Notfall sollte eine Einweisung ins San-Antonius-Haus erfolgen. Und dieser Notfall war tatsächlich eingetreten.

Die Geschichte des Fernand Gache, der vom arbeitslosen Bastler zum Millionär und danach wieder zum Habenichts geworden war, hatte Schlagzeilen gemacht. Doch nicht deshalb war die PSA tätig geworden. Für Menschen, die ihr Vermögen verloren oder verschleuderten, interessierte sich die Organisation nicht. Doch die Hintergründe im Fall Gache waren so gravierend, dass Peter Pörtscher, der Schweizer PSA-Agent X-RAY-11, von der New Yorker Zentrale den Auftrag erhielt, sich mit Gache näher zu befassen. Fakt war, dass der Mann eine krankhafte Neigung für das Metaphysische entwickelt hatte. Er redete von Geistern, Hexen, vom großen Huu und dem Schneemaa. Vor allem der große Huu hatte es ihm offenbar angetan, denn einer seiner Vorfahren hatte lange bei Bauern im Muotathal gelebt, um dort die Laute dieses Naturgeistes zu vernehmen. Das Gebrüll wurde als äußerst durchdringend beschrieben. Kein Mensch sei imstande, ein solches Geräusch hervorzubringen.

Gache folgte akribisch den Spuren seines Vorfahren. Und irgendwann musste er die Laute des Naturgeistes gehört haben. Und dies, so wurde behauptet, hätte sein Wesen von Grund auf erschüttert. Kurze Zeit später war Gache nur noch ein Nervenbündel. Inzwischen malte er in seinem Sanatorium Monstergestalten auf die Leinwand. Teufelsgeschöpfe und andere schaurige Wesen, die nicht in dieser Welt, sondern im Pandämonium ihre Heimstatt hatten. All das habe er, so behauptete der kranke Gache, in der Stimme des großen Huu gesehen.

Pörtscher hatte lange mit dem Patienten gesprochen und von ihm bereitwillig Bilder und Texte bekommen, um sie zur weiteren Auswertung an die Spezialisten der PSA zu schicken. Pörtscher wollte diese Unterlagen in Genf per Luftpost absenden. Dorthin fuhr er jetzt, weil sich nach seiner Recherche in Lugano ein dreitägiger Urlaub anschloss. Pörtscher wollte in Montreux an einem Magier- und Illusionistentreffen teilnehmen. Er war früher selbst ein bekannter Illusionist gewesen, hatte sogar Auftritte in Las Vegas, bevor er zur PSA stieß. Dass er während seiner Einsätze noch dazu kam, seine Zaubereien zu verwerten, lag manchmal in der Natur der Sache.

Pörtscher freute sich auf Montreux und den morgigen Kongress. Er fuhr gerade durch die Innenstadt von Sion, als er auf der rechten Straßenseite einen nächtlichen Wanderer bemerkte. Leichter Nieselregen hatte eingesetzt, als der Mann sich nach Pörtschers Wagen umdrehte. Der Tramper lief weiter rückwärts und wedelte mit dem Daumen in Fahrtrichtung. Pörtscher stoppte und öffnete die Beifahrertür.

„Fahren Sie Richtung Genf?“ Ingo Ferrer blickte dem Mercedes-Fahrer direkt in das leicht sommersprossige Gesicht.

„Das ist mein Ziel.“ Der dunkelblonde, schlanke Mann wirkte sympathisch.

„Würden Sie mich mitnehmen?“

„Steigen Sie ein. Ein bisschen Unterhaltung kann nicht schaden.“

Ferrer nickte erfreut, verstaute sein Gepäck und nahm neben Pörtscher Platz.

„Gibt es einen Grund, nachts noch durch die Gegend zu rennen?“, fragte der PSA-Agent.

„Für diesen Tag muss ich noch mein Etappenziel erreichen. Bin heute nur langsam vorangekommen. Der letzte Fahrer hat mich vor Sion abgesetzt. Sie kommen gerade zur rechten Zeit. Der Regen wird stärker. Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben.“

„Werden Sie in Genf erwartet, weil Sie unbedingt heute Nacht noch ankommen wollen?“

„Ja, dort treffe ich Freunde. Ein Schweizer, der einen alten Stadtbus umgebaut hat, will uns mitnehmen.“ Ingo Ferrer log hemmungslos eine Geschichte zusammen. Ausreden gingen ihm leicht über die Lippen.

Die beiden Männer kamen ins Plaudern, redeten von Gott und der Welt. Pörtscher zeigte sich an allem interessiert, und er bemerkte, dass der junge Mann an seiner Seite einen frisch-herben Duft verströmte, der darauf schließen ließ, dass er Eau de Cologne oder ein After Shave benutzte. Er war zwar nicht mehr frisch rasiert, sein Bart war vermutlich zwei Tage alt, aber der Duft haftete der Haut noch an. Wenn der Tramper sich bewegte, kam jedes Mal ein leichter Dufthauch zu Pörtscher herüber.

Nicht weit hinter der Stadt begann die Autobahn. Zu dieser Stunde war sie fast leer. Pörtscher kam gut voran. Das war ihm neben einer Unterhaltung natürlich wichtig. Gaches Texte und Bilder mussten so schnell wie möglich versandt werden. Er wollte die Möglichkeiten der PSA nutzen. Normalerweise wäre die Sendung mit einer herkömmlichen Postmaschine transportiert worden. Doch dieses Päckchen wurde von einer Passagier-Linienmaschine mitgenommen, die morgen früh zum Nonstop-Flug nach New York startete.

Pörtscher fuhr jedoch erst in die Innenstadt und hielt an einer Straßenkreuzung an. Eine Richtung führte zum Flughafen. Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen. Ferrer bedankte sich für die freundliche Mitfahrmöglichkeit, und Pörtscher stieg mit ihm aus, um ihm das Gepäck anzureichen. Den Sachen haftete der gleiche Duft an. Der PSA-Agent vermutete, dass die Parfum-Flasche ausgelaufen sein musste. Er stellte beide Gepäckstücke an einem Straßenschild ab und verabschiedete sich. „Bis nachher, mein Junge.“

„Bis nachher?“, fragte Ingo Ferrer irritiert. „Kommen Sie denn noch mal zurück?“

„Ich glaube, dass ich den gleichen Weg nehmen werde.“

„Wieso?“ Ferrer wurde misstrauisch.

„Ich vermute, dass du es nicht schaffen wirst, dein Gepäck hochzuheben“, sagte Pörtscher.