Larry Brent Classic 083: Pandämonium - Dan Shocker - E-Book

Larry Brent Classic 083: Pandämonium E-Book

Dan Shocker

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Beschreibung

Der Filmregisseur Sam Olinsky reist nach Hongkong. Der Amerikaner polnischer Abstammung hat die Absicht, dort mit echten Geistern und Dämonen zu drehen.

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Band 83

Dan Shocker

PANDÄMONIUM

Erscheinungstermine von „Pandämonium (Chaos-Zyklus, 3. Teil)“

Erschienen am 13.01.1976 als Silber Grusel-Krimi 108 im Zauberkreis-Verlag

August 1977 als Silber Grusel-Krimi-Neuauflage 108 im Zauberkreis-Verlag

© 2015 BLITZ-Verlag

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Fachberatung: Robert Linder

Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati

Illustration: Ralph Kretschmann

Titelbildgestaltung: Mark Freier

Satz: Winfried Brand

Alle Rechte vorbehalten

www.BLITZ-Verlag.de

ISBN 978-3-95719-883-9

„Pandämonium?“, fragte die Rothaarige erstaunt. „Was ist denn das?“

„Es ist der Ort, wo sich die Dämonen und bösen Geister versammeln.“

Der Mann, der das sagte, war Ende dreißig. Seine Haut wirkte sehr blass, fast durchscheinend. Seine Haare waren weißblond.

Sam Orlinsky, der amerikanisch-polnische Regisseur, war durch eine Reihe unheimlicher Filme den Zuschauern nicht nur in Amerika zu einem Begriff geworden. Orlinsky drehte für die mit großem Erfolg laufende Serie Nacht-Galerie mehr als zwanzig Filme. Seine abendfüllenden Werke, in denen er stets das Abstruse, Absonderliche, Übernatürliche und Okkulte behandelte, waren in die Filmgeschichte eingegangen. Doch Orlinsky ließ es nicht damit bewenden, nur Spielfilme zu drehen, in welchen er dem Bösen und Ungeklärten ein Denkmal setzte.

„Es war immer mein Ziel, Claire“, fuhr er fort, „das Abseitige nicht nur realistisch darzustellen … sondern irgendwann mal so zu zeigen, wie es ist.“

„Du glaubst also tatsächlich an übernatürliche und okkulte Dinge?“

„Ja.“ Er atmete tief durch und griff nach seinem Glas, ohne seine durchdringenden blauen Augen, um die jede Frau ihn beneidete, von ihr zu wenden. „Ich glaube nicht nur daran … ich weiß es. Und das ist der Grund, weshalb ich hierher nach Hongkong geflogen bin.“

„Und ich dachte, ich könnte dich nach Paris zurückholen.“ Claire Dunant seufzte. Mit der attraktiven Französin hatte Orlinsky seinen letzten Spielfilm gedreht. Er behandelte darin das Thema der Reinkarnation. Eine junge Frau, dargestellt durch die achtundzwanzigjährige Claire Dunant, hat in einem Pariser Modegeschäft eine Reise in die Vereinigten Staaten gewonnen. Von New York aus tritt sie viele Fahrten in das Land an und lernt dabei auch den amerikanischen Westen kennen. Das Programm sieht vor, dass sie sogar in einer ehemaligen Goldgräberstadt und einem alten Fort, das nun als Touristenattraktion fungiert, übernachtet. Dabei macht sie eine unheimliche Entdeckung: das Zimmer, in dem sie untergebracht ist, kommt ihr bekannt vor. Hier ist sie doch schon mal gewesen! Vor etwas mehr als neunzig Jahren wurde auf dieses Fort ein Indianerüberfall verübt. Alle Menschen, die sich hier befanden, wurden niedergemetzelt. Es gab seinerzeit keine Überlebenden.

Die Gewinnerin der Amerika-Rundreise weiß von diesen Dingen, weil der Reiseleiter ausführlich darüber berichtet hat. Und doch: da ist noch mehr, das ihr bewusst geworden ist. Einzelheiten kommen der Französin in Erinnerung. Sie sieht schreiende und brennende Menschen vor sich, Uniformierte, die noch bei vollem Bewusstsein von den aufgebrachten Rothäuten skalpiert werden, ihr fallen Namen ein. Und dann erinnert sie sich, dass sich hier in diesem Zimmer vor fast einem Jahrhundert ein Drama abspielte.

Sie hat das alles miterlebt. Hier in diesem Zimmer … erfüllte sich ihr Schicksal!

Hierher hatte sich Claire zurückgezogen, um sich vor den in das Fort einfallenden Rothäuten in Sicherheit zu bringen. Sie versteckte sich seinerzeit im Schrank, in der Hoffnung, unentdeckt zu bleiben. In die Rückwand dieses Schrankes ritzte sie damals ihre Initialen ein. A.H., das bedeutete: Anne Hunter.

In dem Film entdeckte Claire Dunant in dem Schrank, der die Zeiten überdauert hat, diese Initialen. Sie weiß: ich bin Anne Hunter, ich habe schon mal gelebt, damals, vor neunzig Jahren. Und ich wurde wiedergeboren. Als ich Anne Hunter war, starb ich mit dreiundzwanzig Jahren. Ich öffnete mir in diesem Kleiderschrank die Pulsadern, um den Indianern nicht in die Hände zu fallen.

Die Geschichte der Anne Hunter hatte die Grundlage des letzten Orlinsky-Films gebildet. Die Geschichte der Wiedergeburt der Anne Hunter war die Buchsensation des Jahres.

Orlinsky selbst hatte die angebliche Anne Hunter, die nun vierzig Jahre alt war und als Krankenschwester in einer Krebsklinik arbeitete, persönlich gesprochen und diese Originalgespräche in seinem Film verwertet. Anne Hunter lebte in ihrem zweiten Leben unter dem Namen Mary Goldwater in Texas. Das Filmgeschehen, von Orlinsky inszeniert, stützte sich auf den authentischen Bericht der Krankenschwester, die vor neunzig Jahren in einem vorgeschobenen Fort im Westen Selbstmord beging und vor 40 Jahren wiedergeboren wurde.

Der schmale chinesische Ober kam an ihren Tisch und fragte sie freundlich lächelnd nach ihren Wünschen. Sie tranken beide noch einen Reiswein.

„Du bist mir ein Rätsel, Sam“, sagte Claire Dunant unvermittelt. „Du und deine Reise … ich sehe überhaupt nicht klar.“

Er lächelte gedankenverloren. „Dafür kennen wir uns … privat … zu wenig, als dass du dir ein völlig klares Bild von mir machen könntest, Claire. Vielleicht lernen wir uns noch besser kennen.“

Diese Worte klangen ruhig und belanglos. Dabei wusste alle Welt, dass Sam Orlinsky diesmal offenbar Feuer gefangen hatte. Seit den Dreharbeiten war er nicht mehr nur von den schauspielerischen Qualitäten der charmanten Französin begeistert, sondern auch von ihren menschlichen. Man hatte sie danach ständig zusammen gesehen, und das Gerücht, dass beide beabsichtigten, so schnell wie möglich zu heiraten, wurde in allen Klatschspalten verbreitet.

Durch die plötzliche Abreise Orlinskys ins Ausland fühlten sich die meisten wie vor den Kopf gestoßen.

Was steckte hinter der plötzlichen Reise? Warum hatte er Claire Dunant nicht mitgenommen? Hatten sich die beiden zerstritten, noch ehe das große Ereignis, auf das alle mit Spannung warteten, überhaupt stattfand?

Beide hatten sich nicht dazu geäußert. Genau genommen hätte sich auch nur einer von ihnen äußern können: Sam Orlinsky. Die französische Schauspielerin war genauso ahnungslos wie die Reporter und Fernsehjournalisten und die Leute vom Film. Orlinsky hatte keinem etwas gesagt. Lediglich Claire kannte seine Adresse. So war sie kurzerhand, eine Woche nach seinem Abflug, ebenfalls nach Hongkong gekommen und hier, in einem kleinen, am Rande der Stadt liegenden Hotel, hatten sie sich getroffen.

Hier auch hatte sie Orlinsky auf den Zahn gefühlt. Sam sah nicht gut aus. Überarbeitet und abgespannt war er. Seine helle Haut wirkte fast transparent und seine Augen waren tief eingefallen. Hier in diesem Hotel hatte Sam zum ersten Mal verraten, worum es ihm wirklich ging. Hier sprach er von Geistern und Dämonen, vom leibhaftigen Satan und dem Pandämonium.

„Bisher habe ich mich mit Berichten aus zweiter Hand zufrieden gegeben, Claire“, murmelte er. „Alles, was ich getan habe, war Umformung und Gestaltung. Ich habe Abbilder geliefert, eine Kopie der Wirklichkeit, an die manche … nein, sehr viele! … Menschen glauben. Aber damit gebe ich mich nun nicht mehr zufrieden.“

Auf seine bleichen Wangen legte sich ein zartroter Schimmer. „Ich will eine Wirklichkeit zeigen, wie sie noch kein anderer Regisseur vor mir einfing, wie sie deshalb auch noch nie zuvor auf einer Leinwand zu sehen war. Ich will die Welt des Unsichtbaren sichtbar machen, Claire.“

„Das ist nichts Neues, Sam. Das hast du schon oft gemacht. Jeder deiner Filme ist ein Beispiel dafür.“

„Beispiele, wie ich sie nicht mehr mag. In meinem neuen Film, Claire, wird es nicht einen einzigen Schauspieler aus Fleisch und Blut geben …“

„Also lässt du Puppen herstellen und arbeitest mit Tricks.“

„Nein … Echte Geister, echte Dämonen werden zu sehen sein. Ich werde Aufnahmen aus dem Pandämonium mitbringen!“

Man sah ihr an, dass sie etwas sagen wollte. Aber sie schluckte ihre Bemerkung herunter. Sam war schon immer etwas skurril gewesen. Wuchs sich seine Sonderlichkeit nun zum Irrsinn aus?

„Ich bin nicht verrückt, Claire. Nein, das darfst du nicht von mir denken“, sagte er heiser, als könne er ihre Gedanken lesen. „Ich weiß, was ich sage. Und genauso meinte ich es auch.“

„Woher weißt du, dass es dieses Pandämonium gibt?“

„Ich habe mich mit diversen Phänomenen beschäftigt. Was oft in Legenden und alten Handschriften zum Ausdruck kam, hat mich schon immer fasziniert. Warum sollen die Menschen früher Geister und Dämonen gesehen haben … und heute ist das plötzlich nicht mehr der Fall? Was ist passiert, dass uns diese Wesen auf einmal nicht mehr attackieren?

Waren sie plötzlich ausgestorben wie die Saurier, die einst die Erde bevölkerten? Oder hast du eine plausible Antwort darauf, Claire?“

„Ich glaube schon. Die Menschen damals wussten weniger als wir. In einem Blitz, in den Sternen am Himmel, im Heulen des Windes glaubten sie die Äußerung eines Gottes oder eines Dämons zu sehen.“

„Möglich. Aber die Menschen damals hatten teilweise schon eine erstaunlich hochstehende Kultur, wenn wir nur an die alten Ägypter, an die Inder, die Tolteken und Azteken denken. In ihren Mythen aber spielen rätselhafte Geschöpfe stets eine große Rolle. Nur Phantasiegebilde?“

„Wahrscheinlich.“

„Nein, Claire! Auch diese Menschen hatten … ihre Vorbilder, ihre Modelle. Auch sie schrieben und malten und sprachen nur über das, was sie selbst gesehen hatten. Wir aber, wir modernen Menschen, die wir uns ganz der Technik verschrieben haben, die wir nur noch glauben, was wir messen und greifen können … haben den Blick für die Welt hinter der Kulisse des Alltags verloren. Die gegenwärtige okkulte Strömung in allen Teilen der Welt kommt nicht von ungefähr. Die Menschen glauben wieder an etwas, und sie scheinen vor allem erkannt zu haben, dass die Generationen, die vor uns lebten, gar nicht so dumm und einfältig waren, wie sie immer glaubten. Im Gegenteil: offenbar wussten die Leute über manche Dinge besser Bescheid wie wir heutzutage. Du besitzt das, was ich als ein überkritisches Bewusstsein bezeichnen möchte, Claire. Du brauchst das, was mir widerfahren ist: Überzeugung.“

„Richtig, Sam. Ich glaube nur das, was ich sehe. Und selbst dann noch nicht alles.“

Er sah sie mit seinen großen, unschuldigen Kinderaugen an, und wenn man diesen Mann so vor sich sah, dann glaubte man nicht, dass Orlinsky schon Neununddreißig war. Man glaubte, einen hilflosen Jungen vor sich zu haben, dem das widerspenstige Haar ständig in die Stirn fiel, und der es deshalb permanent zurückstreichen musste.

„Ich möchte dir etwas zeigen, Claire“, sagte Orlinsky langsam und betonte jedes einzelne Wort. „Ich tue da etwas, was ich eigentlich nicht tun dürfte. Ich tue es, weil ich dich liebe, weil ich möchte, dass du erfährst, was auch ich weiß. Bevor ich darauf eingehe, muss ich dir ein Versprechen abnehmen: du darfst niemandem weitererzählen, was du gesehen hast.“

„Du kannst dich darauf verlassen, Sam.“ Ein Lächeln spielte um ihre Lippen. Sie nahm das Ganze nicht besonders ernst.

Doch Orlinsky schien es dafür umso ernster zu nehmen. „Da ist noch etwas, Claire.“

„Du machst es ja verdammt spannend.“

„Wohin ich dich führe, ist nicht ganz geheuer. Bleib an meiner Seite! Weiche keinen Moment lang davon ab! Bleib auf Sichtweite!“

„Ja, Sam.“

„Gut. Dann werden wir jetzt gehen. Ich will dir die Geister zeigen, die ich auf Zelluloid bannen werde. Wesen aus einer anderen Welt, Claire. Diesen Tag wirst du dein Leben lang nicht vergessen.“

Mit dem Taxi fuhren sie zum anderen Ende der Stadt. Sam, der sich hier schon auskannte, erklärte ihr das eine und andere, aber sie merkte, dass er es rein mechanisch tat, um Konversation zu führen. In Wirklichkeit war er mit seinen Gedanken ganz woanders.

Die Straße führte direkt am Hafen entlang und Claire Dunant genoss den unvergesslichen Anblick auf die schillernden, farbigen Lichter. Tausende von Booten, sogenannte Sampans, schaukelten auf dem Wasser. Auf engstem Raum lebten hier oft zwölf bis fünfzehn Menschen zusammen. Die meisten von ihnen wurden auf den Sampans geboren und starben dort, ohne jemals einen Fuß auf das Festland gesetzt zu haben.

Hongkong war eine sinnverwirrende, riesige Stadt. Und hier auf dem Wasser existierte noch ein zweites Hongkong … Strahlend wie kleine Paläste wirkten die schwimmenden Restaurants. Claire hatte sich vorgenommen, unbedingt ein solches Restaurant kennenzulernen. Sie hatte gehört, dass man dort lukullisch speisen könne. Aber nach ihrer Ankunft hier in der Stadt musste sie feststellen, dass Sam Orlinsky gar nicht so ausgehfreudig war.

Von der Chung-Hin-Street aus kamen sie in kleinere, dunklere Gassen. Auch hier herrschte noch hektisches Leben. Obwohl es draußen, entsprechend der Jahreszeit, verhältnismäßig kühl war, schien sich dennoch das ganze Leben auf der Straße abzuspielen.

Der Fahrer kam nur im Schritttempo voran und Claire hatte das Gefühl, jeden Augenblick von der Menschenmenge angehalten zu werden. Manche Passanten griffen nach dem Wagen und ließen ihre Hände über den stumpfen Lack gleiten.

Die Französin war heilfroh, als die engen Gassen endlich hinter ihnen lagen. Vereinzelt folgten noch ein paar Elendshütten. Links und rechts der schlecht asphaltierten Straße stieg das hügelige Land an. Der Taxifahrer fuhr in bergiges Gelände.

Claire Dunants Augen wurden schmal. „Wo fahren wir hin, Sam?“

„Lass dich überraschen!“

Bis dahin vergingen nur noch fünf Minuten. Im Licht der Scheinwerfer des Taxis zeichneten sich die Umrisse einer langen flachen Halle ab.

„Sieht aus wie eine Fabrik“, meinte die Französin.

Alles war dunkel. Fenster gab es nicht. Das Gelände war mit drei Meter hohem Maschendraht umgeben.

„Es ist eine Fabrik, Claire. Eine Traumfabrik! Hier liegen die Studios der Gebrüder Chang. In diesen Hallen wurden die ersten der brutalen Eastern gedreht, die in Europa und den Staaten eine neue Filmgeneration hervorbrachten. Mittlerweile florieren die Geschäfte nicht mehr so wie zu Beginn. Die Filme, die jetzt noch exportiert werden, wurden gewissermaßen auf Vorrat gedreht. Die Studios, in denen Tausende von Statisten für einen Tagelohn die Knochenarbeit leisteten, stehen leer. Ich habe sämtliche Studios gemietet.“

Sie verließen das Taxi, das vor dem großen Eingangstor anhielt. Der Fahrer stellte Motor und Scheinwerfer ab, lehnte sich in das zerschlissene Polster zurück und zündete sich eine Zigarette an. Der Mann sollte warten. Orlinsky versprach, in einer halben Stunde wieder zurück zu sein.

Das Tor bestand aus einem rostigen Gestänge, das mit Maschendraht ausgefüllt war. Es gab kein Schloss und keinen Riegel. Das Tor wurde einfach von einem stabilen Draht zugehalten. Sam öffnete diesen Draht und stieß das Tor nach innen. Der Regisseur hakte Claire unter. Gemeinsam liefen sie über den Plattenweg. In den Fugen wuchsen Gras und Unkraut. Es hatte bereits eine solche Höhe erreicht, dass es bis an ihre Knie ragte.

„Was haben die Studios mit dem zu tun, was du mir zeigen willst, Sam?“

„Du wirst es sehen.“

Es war einfach nicht mehr aus ihm herauszukriegen, obwohl sie es immer wieder versuchte.

Sam Orlinsky führte seine Begleiterin an der Längsseite der Halle entlang. Erst von dieser Seite aus erhielt die Französin einen Eindruck davon, wie groß dieses Studio doch war.

Die Halle war mehr als zweihundertfünfzig Meter lang und über hundert Meter breit.

Auf dem Grundstück standen noch einige primitive Schuppen und Wellblechbaracken, die bis unter das Dach mit Kulissen-Material angefüllt waren.

Über das Gelände hinweg spannten sich zahlreiche Kabel und Drähte. Telefon- und Überlandleitungen. Alle zwanzig Meter befand sich eine graulackierte Metalltür in der Längsseite der Halle. Die Türen waren verschlossen.

Sam Orlinsky besaß die Schlüssel. Mit ihrer Hilfe öffnete er eine Tür, die sich leise quietschend in ihren Angeln bewegte.

In der Riesenhalle war alles stockfinster. Sam Orlinsky ließ eine Taschenlampe aufflammen.

Zwischenwände waren gezogen. Der Boden, über den die beiden späten Besucher gingen, war grobkörniger Beton. Riesige Lampen und Gestänge hingen unter der flachen Decke. In einer Ecke standen mehrere Kameras, die mit Plastiktüchern abgedeckt waren.

„Warum schaltest du keine Deckenleuchte ein?“, wollte Claire Dunant wissen.

„Es ist besser so“, lautete die ausweichende Antwort.

Sie kamen an dunklen Trennwänden vorbei und passierten das Innere einer Pagode, die hier von der Hand eines Bühnenbildners geschaffen worden war.

In der großen Halle gab es mehrere kleine Räume, die nur über Türen zu erreichen waren.

Claire Dunant gelangte in einen Raum, in dem nur Stellwände standen. Erst als der Lichtstrahl der Lampe darauf traf, erkannte sie, dass es keine gewöhnlichen Trennwände waren. Es handelte sich um große Gemälde. Kulissen! Aber was für welche! Die Französin hielt den Atem an.

„Das ist ja scheußlich“, murmelte sie, und eine Gänsehaut lief über ihren Rücken.

Auf die Wände waren seltsame, gespenstische Landschaften gemalt, mit einer solchen Intensität und so realistisch, dass Claire meinte, durch ein weit geöffnetes Fenster in eine andere Welt zu sehen.

Auf dem Bild vor ihr erblickte sie einen Baum von solcher Stärke, dass zehn Männer nicht imstande gewesen wären, ihn zu umfassen. Aber nicht die Größe und der Umfang des Baumes waren es, was sie irritierte, sondern sein Aussehen.

Das untere Drittel des schwarzbraunen Stammes war gespalten und gesplittert und aus den zerrissenen Fasern formte sich ein riesiges, bizarres Gesicht. Deutlich auszumachen waren die gigantischen Augenhöhlen und ein breites, gieriges Maul, das weit aufgerissen schien. Hinter den hölzernen, zerklüfteten Lippen hingen lange, verschlungene Fasern herab, die aussahen wie wimmelnde Schlangen, welche die seltsamen Zahnreihen dieses Gesichtes bildeten. Dieses hölzerne Wurzelgesicht wirkte dreidimensional und das Maul und die Augenhöhlen wie Stollen, die in einen tiefen, geheimnisvoll glosenden Schlund führten. Im Zwielicht erkannte man deutlich die Umrisse nichtmenschlicher Gestalten, die in der Tiefe des Schlundes lauerten und gierig ihre klauenartigen Hände ausstreckten, als würden sie auf jemanden warten.

Der gigantische schwarzbraune Stamm ragte aus einem blubbernden Sumpf, auf dem sich braungrüne Beulen und Blasen wie Pestgeschwüre zeigten. Die Gestaltung dieses Sumpfes war so realistisch, dass die Französin glaubte, in diesem Augenblick wirklich direkt davor zu stehen und zu hören, wie die schmierigen Blasen platzten. Sie meinte, den schwefligen Gestank zu atmen, der über den Schlamm wehte.

„Schau dir das an, Claire!“ Sie hörte Sams Stimme wie aus weiter Ferne. Der Regisseur packte sie am Arm. „Dieses Bild hier … was hältst du davon?“

Mechanisch tat sie einen Schritt zur Seite und erschrak erneut. Sie erblickte das Abbild eines Wesens, wie sie nie eines zuvor gesehen hatte.

Gegen eine Mauer gelehnt, die Ähnlichkeit mit einem verwesenden Fleischberg hatte, stand ein Geschöpf. Der Form nach menschlich, war es sehr hager, hatte ein spitzes Gesicht und die ungepflegten, strähnigen Haare hingen wirr über die Stirn und die Seiten herab. Dieses dünne, fadenscheinige Haar hatte Ähnlichkeit mit Spinnweben, und an klebrigen Tröpfchen hingen fette, spinnenähnliche Insekten. Überall schillerten die Chitinpanzer ausgesaugter Käfer, die von diesen Spinnen verspeist worden waren.

Das Geschöpf hatte graue, faltige Haut und schlaffe, welke Brüste wiesen darauf hin, dass es sich offenbar um eine uralte Frau handelte. Ein unscheinbares, brüchiges Gewand schlotterte um ihren knochigen Leib. Sie stand bis zu den Waden in einer widerlichen Brühe, die gallertartig an ihrer spröden Haut klebte.

Eine Hand hatte sie ausgestreckt, und die langen, spitzen Fingernägel, die wie die Krallen eines Raubvogels gebogen waren, zeigten genau auf die Französin.

Claire Dunant war kreidebleich und wich erschrocken einen Schritt zurück.

„Was soll das, Sam?“, fragte sie heiser.

„Eine neue Wirklichkeit! So etwas hätte ich nie erfinden können. Ich habe dich die ganze Zeit über beobachtet. Dein Gesicht hat Bände gesprochen, Claire. So wird es auch allen anderen ergehen, die diesen Film zu sehen bekommen.“

„Was für einen Film, Sam?“

„Ich habe noch nicht darüber gesprochen. Es ist mein neuestes Projekt. Hier drin“, bei diesen Worten tippte er sich an die Stirn, „ist allerdings schon seit langem der Plan perfekt. Nur das Wie