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In ihr hatte sich so vieles verändert, dass sie kaum glauben konnte, dass zwischen gestern und heute nicht ein ganzes Leben lag … Jillians Leben scheint perfekt. Das lebensfrohe Mädchen wächst in einer liebevollen Familie auf, kennt keine Sorgen und hat schon in früher Kindheit in dem Nachbarsjungen Jonas ihren besten Freund gefunden. Jonas bringt Jillian die Ruhe, die sie braucht und erfährt in ihrer Familie die Wärme, die ihm selbst zu Hause oft fehlt. Doch dann geschieht ein schreckliches Unglück und bringt alles durcheinander. Jillian versucht verzweifelt, die Scherben ihres alten Lebens aufzusammeln – während Jonas die Veränderung zu begreifen sucht, die er auch zwischen ihnen spürt. Zu dieser Zeit hat der Mädchenschwarm Justin allerdings ebenfalls schon ein Auge auf Jillian geworfen. Und je näher sie ihm kommt, desto weiter scheint sie sich von Jonas zu entfernen …
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Seitenzahl: 536
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Epilog
Danksagung
Lass mich fliegen wie die Kirschbaumblüten E-Book-Ausgabe 06/2017 Copyright ©2017 by Eisermann Verlag, Bremen Umschlaggestaltung: Sabrina Dahlenburg Satz: André Piotrowski Lektorat: Marie Weißdorn Korrektur: Wiebke Hoberg http://www.Eisermann-Verlag.de ISBN: 978-3-96173-011-7
Für Simon Weil du mich das Lieben lehrtest Für Anna Weil Liebe stärker ist als der Tod
Jillian und Jonas lernten sich an einem heißen Sommertag kennen.
Jonas’ Eltern waren arbeiten. Selbst im Sommer kamen sie manchmal erst in der Dunkelheit nach Hause. Das war zwar selten, doch heute war einer dieser Tage. Die Einsamkeit zog sich dann endlos in die Länge. Es war gerade mal Mittag und die Schatten begannen noch lange nicht, sich über den gesamten Garten zu dehnen. Jonas hätte gern Geschwister gehabt. Irgendjemanden, mit dem er spielen könnte.
Als er aus dem Haus trat, hieß ihn gleißendes Sonnenlicht im Garten willkommen, was ihn sofort aufmunterte. Draußen gab es immer viel zu sehen und zu erleben, doch wenn seine Eltern zu Hause waren, war Jonas nicht oft im Garten. Sie übten mit ihm Schreiben und Rechnen, um ihn schon jetzt gut auf die Schule vorzubereiten.
›Es ist immer von Vorteil, wenn man den anderen ein kleines Stück voraus ist‹, pflegte sein Vater stets mit einem gutmütigen Augenzwinkern zu sagen. Jonas hasste das! Er wollte genauso draußen spielen wie die anderen Kinder. Mittlerweile war er nur noch so wenig auf dem Spielplatz, dass die anderen ihn nicht mehr mitspielen ließen. Im Kindergarten war es dasselbe. Sie hatten sich trotzig von ihm abgewandt, weil er nachmittags keine Zeit hatte, sie besuchen zu kommen. Und so hatte er nur sich selbst zur Gesellschaft.
Der Fußball lag mitten auf der Wiese, wo er ihn letzte Woche zurückgelassen hatte und wartete still und geduldig darauf, dass das Spiel weitergehen konnte. Jonas hob ihn auf und schlug ihn immer wieder gegen die Hauswand.
Er spielte zwar wie ein Kind, aber die Aura der Unbeschwertheit umgab ihn nicht mehr. Jonas hatte jetzt schon Pflichten und Pläne im Hinterkopf. Er war nicht unglücklich, weil er es nur so kannte, aber er war gehetzt. Die Gedanken waren nicht bei dem Ball, sie waren beim Alphabet. Und während er es im Geiste immer wieder durchging und überprüfte, dass er ja keinen Buchstaben vertauscht hatte, hallte das Knallen des Balls als beständiger Rhythmus nur im Hintergrund in seinem Kopf wider.
»Bring ihn mit rüber!«
Jonas fuhr erschrocken herum und der Ball traf ihn mit voller Wucht im Gesicht. Glockenhelles Lachen erklang und plötzlich lag wieder diese gewisse Unbeschwertheit in der Luft. Zum Greifen nahe. Er suchte mit seinen Augen das Nachbargrundstück ab, bis er sie entdeckte. Als er das Mädchen ansah, sah er sie in einem Licht wie es nur Kinder können. Das Bild eines hellhäutigen Engels mit langem schwarzen Haar in einem blauen Kleid mit weißen Punkten brannte sich für immer in sein Gedächtnis ein. Sie war winzig, selbst für ihr Alter. Jonas konnte sie nur anstarren. Er hatte noch nie so milchig weiße Haut gesehen. Sie hob sich damit kaum von den grellen Sonnenstrahlen ab, sodass Jonas Jillian zuerst für ein Gespenst hielt und erschrocken zurückwich, obwohl sie kaum über den Zaun sehen konnte.
»Ich bin Jillian!« Sie winkte ihn zu sich und ihre dunklen Augen – Die gleiche Farbe wie meine!, schoss es ihm durch den Kopf – leuchteten, sodass er spürte, dass er keine Angst haben musste.
Er trat näher, Schritt für Schritt, wie hypnotisiert, bis er beinahe gegen den Zaun geknallt wäre, der die beiden Grundstücke voneinander trennte. »Ich heiße Jonas.«
»Das gefällt mir.« Sie schien immer zu lachen. »Mir ist langweilig, komm mit deinem Ball rüber und wir werfen ihn uns zu, ja?«
Wider seiner Natur dachte er nicht einen Augenblick daran, nein zu sagen, trotzdem zögerte er. »Meine Mama hat gesagt, ich darf nicht auf die Straße.«
Jillian überlegte, wobei sie den Kopf schräg hielt und aussah wie eine kleine Erwachsene. Dann strahlte sie wieder über das ganze Gesicht.
»Kletter über den Zaun, dann musst du nicht zur Straße. Ich helfe dir.«
Jetzt musste auch Jonas lachen. Er warf Jillian den Ball zu und zog sich dann mit einiger Mühe den alten Holzzaun hoch.
»Warte, ich helfe dir«, sagte Jillian wieder und zog ungeduldig an seinem Arm, sodass er das Gleichgewicht verlor und beide Kinder nacheinander im Gras landeten. Ihr Lachen hallte die ganze Straße entlang.
Den Ball hatten sie vergessen. Sie blieben einfach im Gras liegen, unschuldig und unbeschwert. Sie sprachen von Magie, Zauber und Feen und spürten mit der Wahrheit ihrer reinen Kinderherzen, dass diese Begegnung ihr Leben für immer veränderte.
Es war dieser magische letzte Sommer vor ihren ersten Sommerferien, in denen die Zeit endlos schien. Freie Tage, die nie endeten. Denn nach diesem Sommer folgte für die Kinder ein letztes Mal einfach nur der Herbst. Nicht die Schule oder andere Verpflichtungen, sondern einfach nur die nächste Jahreszeit mit ihrer ganz eigenen Magie.
Jillian spürte diese magische letzte, vollkommene Freiheit sogar noch etwas mehr als Jonas, da sie nicht in den Kindergarten gehen musste, weil ihre Mutter sich ganz der Erziehung ihrer Kinder gewidmet hatte. So kannte sie keine Zeit, das Wort bedeutete für sie nichts. Sie schlief bis sie nicht mehr müde war und wenn die Sonne so hoch am Himmel stand, dass sie den Kopf in den Nacken legen musste, um sie sehen zu können, wusste sie, dass sie noch genügend Zeit hatte, mit den Elfen am Zauberbaum zu spielen, bevor es Mittagessen gab.
In diesem Moment ließ der warme Sommerwind ein paar Blüten dieses Zauberbaums über ihre Köpfe hinwegfliegen. Staunend sahen sie zu, wie die bunten Blätter durch die Luft wirbelten.
»Der Baum ist verzaubert«, flüsterte die kleine Jillian voller Ehrfurcht.
Jonas sah sie aus seinen braunen Augen neugierig an. »Woher weißt du das?«
»Von meinem großen Bruder Tim. Er ist schon zehn und er weiß alles!«, antwortete Jillian stolz und schloss dann die Augen, um den Zauber nicht zu verlieren. »In dem Baum wohnt eine Fee, die dir all deine Wünsche erfüllen kann. Sie erfüllt aber nur die wirklich wichtigen Wünsche. Wenn sie deinen Wunsch gehört hat, dann lässt sie die rosa Blüten fliegen. Ich hab mir aber doch gerade gar nichts gewünscht.«
Jonas schwieg und entdeckte an diesem Tag die Natur für sich. Er hatte sich gewünscht, nicht mehr allein sein zu müssen. Selig vor Glück schloss er die Augen und spürte erstmals wirklich das Gefühl der Sonnenstrahlen auf seiner Haut. Es roch nach Gras und Blumen. Er hörte Jillians Geschichten zu, lächelte und war einfach nur ein Kind.
Heute war Jonas mit seinen Gedanken ganz woanders. Nein, die Matheklausur war wirklich nicht so gut gelaufen, wie sie sollte und dabei hatte er sich doch so gut darauf vorbereitet. Er wusste, was er konnte; wusste, dass er es konnte. Aber die strenge Miene seiner Mutter und das enttäuschte Seufzen seines Vaters trieben ihm immer wieder Schweißperlen auf die Stirn, sodass dies das Einzige war, woran er bei einer Matheklausur wie heute denken konnte. Was würden sie nur dazu sagen? Wenn es um die Schule und andere Verpflichtungen ging, konnten sie wirklich sehr streng sein. Seine Mutter war Rechtsanwältin und sein Vater Polizist. Disziplin und das Streben nach Erfolg waren für beide unerlässlich und so war es schon immer klar gewesen, dass auch ihr Sohn eines Tages einen hohen Platz in der Gesellschaft einnehmen sollte. Das alles spukte durch Jonas’ Kopf, als er vom ersten Schultag nach den Winterferien auf dem Weg nach Hause war.
Es ärgerte ihn, dass seine Eltern ihm noch immer so sehr in sein Leben hineinredeten. Schließlich war er schon neunzehn und mit seinen guten Leistungen in der Schule auf dem besten Weg, sein Abitur in diesem Jahr auch wirklich gut zu schaffen. An manchen Tagen setzen sie ihn jedoch so sehr unter Druck, dass alle Vorbereitung der Welt nichts mehr half, dann brauchte er eine Pause. Meist schrieb er dann Songs. Die Musik konnte ihn immer retten, egal worum es ging. Nur dabei konnte er sich treiben lassen und einfach alles um sich herum vergessen.
Klatsch! Ein Schneeball hatte ihn mit voller Wucht am Hinterkopf erwischt. »Au!«, beschwerte er sich und drehte sich um.
Drei Mädchen, die einige Meter hinter ihm liefen, kicherten fröhlich in sich hinein und eine von ihnen kam ausgelassen lachend auf ihn zugerannt – seine beste Freundin. Sie griff nach seiner Kapuze und steckte ihm einen dicken Schneeball in den Kragen.
»Hey!« Er fröstelte, als er das Eis auf seinem Rücken spürte.
Jillian lachte ihn aus. »Wehr dich doch mal!« Sie boxte ihn freundschaftlich in die Seite.
Für ein so dünnes Mädchen hat sie erstaunlich viel Kraft, dachte Jonas wie so oft. Er kannte Jillian nun schon fast sein ganzes Leben. Seit er denken konnte, war sie einfach immer da gewesen und er konnte sich nicht vorstellen, wie es ohne sie wäre. Sie brachte ihn zum Lachen und zum Leben. Nur bei ihr konnte er er selbst sein, ohne sich gleich wieder Vorwürfe machen zu müssen, ob er dabei vielleicht irgendeine Regel brach.
Wenn Jonas mit Jillian zusammen war, bekam er kurz ein Gefühl für die Dinge im Leben, die wirklich zählten. Dinge, die Jillian alle an sich hatte. Sie war so frisch und natürlich und sie war immer für ihn da. Für sie war es ganz normal, dass sie bei ihm war – das bewunderte er am allermeisten an ihr. Die meisten seiner Altersgenossen und Klassenkameraden mieden ihn. Er spielte kein Fußball, ging nie mit ihnen feiern und auch beim Thema Frauen konnte er nicht wirklich mitreden. Er war anders und damit sicher niemand, den man am Freitagnachmittag gern zu sich nach Hause einlud. Jonas war das nur recht. Er schätzte andere Dinge und seine ganze Weltanschauung war eine völlig andere, als es bei seinen Klassenkameraden der Fall war. Am liebsten war er ohnehin bei Jill.
»Wie kannst du nach so einem Mathetest nur an eine Schneeballschlacht denken?«, fragte er sie kopfschüttelnd.
»Besonders nach so einem Mathetest denke ich an eine Schneeballschlacht, Jonny!« Wieder das helle, kehlige Lachen. Er hatte Jillian niemals anders erlebt. Er lächelte sie verwirrt an und sie setzten ihren Weg zusammen fort, es war schließlich derselbe.
»Und? Was wollen wir heute machen?«, fragte sie ihn, als sie vor seinem Haus angekommen waren.
»Ich habe gerade einen Mathetest in den Sand gesetzt«, erinnerte er sie.
»Na und? Ich auch. Jetzt wirst du den ganzen Tag an den Zeigern deiner Uhr drehen, damit die Zeit rückwärts läuft.« Das konnte sie sich lebhaft vorstellen.
Er seufzte. »Jill …«
»Jonny«, machte sie ihn nach. Er sah sie aus zusammengekniffenen Augen an und dann mussten sie beide lachen.
»Ich mach uns jetzt eine Pizza und dann komm ich zu dir rüber«, lud sie sich bei ihm ein.
»Du willst mich also wieder vergiften«, stellte er lachend fest.
Sie streckte ihm die Zunge raus und eilte dann schnell ins Haus. Lächelnd sah er ihr nach, bevor er ebenfalls ins Haus ging. Wie immer schlug ihm kalte Leere entgegen. Natürlich, seine Eltern waren bei der Arbeit.
Wo auch sonst?
Er warf seine Jacke achtlos über die Garderobe und ging die Treppe hoch in sein Zimmer.
Von seinem Fenster aus konnte er genau in Jillians Zimmer sehen. Er stützte sich mit den Ellbogen auf dem Fensterbrett auf und sah ihr dabei zu, wie sie hektisch ihre Sachen durchwühlte. Es war doch jeden Tag dasselbe.
Sie gingen nach Hause und Jillian kochte für sie beide. Das Dumme war nur, dass Jillian überhaupt nicht kochen konnte. Irgendwie schien sie sich dennoch in den Kopf gesetzt zu haben, ihn nur nicht verhungern zu lassen.
Er wusste ganz genau, was in ihr vor sich ging und es machte ihn wütend. ›Armer Jonas, seine Eltern sind nie zu Hause, also statten wir ihm mal wieder einen Pflichtbesuch ab.‹ Jillian hatte so viele Freunde, alle mochten sie. Nur Mitleid konnte also ein Grund dafür sein, dass sie ihre wertvolle Zeit an ihn verschwendete.
Als Jillian gerade über ihre Schultasche stolperte, die sie beim Hereinkommen in ihr Zimmer so achtlos auf den Boden geworfen hatte, fiel ihr Blick zufällig auf Jonas, der aus seinem Fenster zu ihr rüber sah. Sie lachte und winkte ihm zu, bevor sie schnell alles für morgen Nötige in ihre Schultasche warf und aus ihrem Zimmer stürmte.
Sie war chaotisch und lebensfroh. Nichts war wichtiger für sie als der Moment. Jonas war ihr Fels in der Brandung. Auch wenn sie tausend Freunde hatte und überall beliebt war, so wusste sie doch auch, wie viel Glück sie damit hatte und wie wertvoll Jonas’ aufrichtige Zuneigung zu ihr war, die ihr schon so lange gehörte. Er war eben etwas Besonderes, ein ehrlicher Ruhepol inmitten lauter Partyvögel. Sie wusste, dass sie sich immer auf ihn verlassen konnte.
»Nein!«, jammerte sie, als sie in die Küche kam und ihr der vertraute Geruch von verbranntem Essen entgegenschlug. Wieso passierte ihr das nur immer wieder? Dabei hatte sie sich doch so beeilt.
»Ich kenne wirklich niemanden, der blöd genug ist, seine Pizza jedes Mal verbrennen zu lassen.«
Jillian musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer in der Tür stand. »Verzieh dich, Tim!«
»Keine Sorge, wenn ich das Praktikum in New York wirklich bekommen sollte, bin ich schneller weg, als du dir vorstellen kannst!«, antwortete ihr älterer Bruder überheblich.
Tim war der Mann, den Jillian über alles auf der Welt liebte. Er war genau das, was sie selbst immer hatte sein wollen. Rebellisch und cool, dabei trotzdem immer zielstrebig und erfolgreich. Bald wollte er nach New York gehen und Journalist werden. Genau das bewunderte sie so an ihm – er träumte nicht einfach nur, er tat die Dinge auch; unternahm die notwendigen Schritte. Sie würde ihn schmerzlich vermissen, aber Schmerz überspielte Jillian erfolgreich mit Fröhlichkeit, denn noch war er ja da und es war schließlich allein der Moment, der zählte. Außerdem wäre Tims wahrgewordener Traum ihr Meilen der Trennung und den Schmerz wert.
»Wenn die dich nehmen, dann fresse ich einen Besen«, lachte sie herzlich und zog die kohlrabenschwarze Pizza aus dem Ofen, wobei sie sich mal wieder die Finger verbrannte. »Autsch!«
»Wieso tust du ihm das jeden Tag an?«, fragte Tim belustigt, als er die Pizza sah und versuchte, sich dabei Jonas’ Gesicht vorzustellen. Er war nie der Typ Junge gewesen, mit dem man zum Fußball oder in die Clubs ging. Jonas war irgendwie anders als alle seine Kumpels, aber er mochte ihn trotzdem, schließlich war er Jillians bester Freund. Er liebte seine Schwester über alles.
Jillian sah auf die verkohlte Pizza und bekam ein schlechtes Gewissen. Was sie Jonas da mit ihrem Essen antat, war wirklich kaum zumutbar. »Ich wollte ihm etwas Gutes tun.«
Tim legte einen Arm um sie und sagte: »Er hat sich sicher schon dran gewöhnt.«
So ein Idiot, dachte sie lächelnd. Er konnte es einfach nicht verstehen. Jonas war immer da gewesen, wenn sie ihn gebraucht hatte. Er half ihr, wieder runterzukommen, wenn es in ihrer kleinen Welt zu sehr sprudelte. Bei Jonas konnte sie sich entspannen und fallen lassen. Sie versuchte tagtäglich, ihm etwas davon zurückzugeben. Seine Freundschaft war wirklich mehr wert als ein verkohltes Stück Pizza, aber im Moment war das alles, was sie hatte und damit musste er sich dann wohl oder übel zufriedengeben.
Ohne vorher zu klingeln, betrat Jillian das Haus der Hills. Sie hatte sich noch nie gern mit Nebensächlichkeiten aufgehalten. Jetzt war sie mit der sogenannten Pizza auf dem Weg in Jonas’ Zimmer. Auch hier hielt sie sich nicht lange mit Nebensächlichkeiten auf und stürmte ohne vorher anzuklopfen herein.
Jonas war weder überrascht, noch verärgert darüber.
»Jill?« Kritisch besah er das Stück Kohle, das sie geschickt auf einem Teller als Pizza zu tarnen versuchte. »Das wäre doch nicht nötig gewesen.« Sarkasmus war noch nie seine Stärke. Er würde auch zwei von diesen Teufelspizzen essen, Hauptsache, Jillian war da.
»Ich hab mir aber dieses Mal wirklich Mühe gegeben«, sagte sie entschuldigend.
»Dieses Mal?« Er sah sie belustigt an.
Sie lachte und setzte sich mit auf sein Bett. An den aufgeschlagenen Heften auf seinem Schreibtisch erkannte sie, dass er schon wieder gelernt hatte. »Jonny, ich wette, dein Test ist total gut gelaufen. Und selbst, wenn nicht! Mach dir nicht so einen Stress, ja?«
»Aber meine Eltern …«, wollte er widersprechen, doch Jill kam ihm zuvor: »Sind nicht hier!« Was sie damit sagen wollte war, dass er sich vor seinen Eltern selbst ins schlechte Licht stellte, sie aber selbst auch nicht die besten der Welt waren.
Jonas fühlte sich durch den Satz aber nur in seinem Glauben, Jillian habe nur Mitleid mit ihm, bestätigt und wurde wütend. »Was soll denn das schon wieder heißen? Du musst nicht jeden Tag hierherkommen!«
Erschrocken sah sie ihn an. »Was?«
»Ich komme auch ganz gut allein zurecht, ich bin kein kleines Kind mehr. Es macht mir nichts aus, dass meine Eltern nie da sind. Du musst nicht immer hierherkommen oder für mich kochen oder …«
»Wie bitte?« Jillian hatte verstanden, worauf er hinauswollte und ihre Enttäuschung war purem Ärger gewichen. »Du glaubst, ich bin hier, weil ich Mitleid mit dir habe? Darauf kannst du aber lange warten!«
Er sah die Fassungslosigkeit in ihrem Gesicht und merkte, dass sie es ernst meinte. Es tat ihm leid.
»Jill, sorry. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist.« Er fuhr sich erschöpft durchs Haar. »Alle wollen immer was mit dir machen, alle mögen dich. Mich finden sie einfach nur seltsam. Die wollen nichts mit mir zu tun haben, aber du warst immer da.«
»Und deshalb bin ich ein schlechter Mensch, ja?«
Er sah sie an. In ihren Augen spiegelte sich Schmerz, obwohl sie lächelte. »Nein«, seufzte er. »Ich meinte doch nur … niemand ist wie du. Du bist echt seltsam.«
Sie lachte, dieses Mal ehrlich. »Dann haben wir ja noch etwas gemeinsam.« Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. »Ich bin hier, weil ich hier sein will. Und ich will hier sein, weil ich dich voll gern hab, du Knallkopf. Und weißt du, warum ich dich jeden Tag vergifte?«
Er lächelte. »Warum?«
Sie schob sich ein Stück Pizza in den Mund und antwortete dann: »Weil es mir Spaß macht. Und jetzt iss!«
»Sklaventreiberin«, murmelte er und aß ihre Pizza. So schlecht war sie eigentlich gar nicht.
»Ich könnte dich genauso fragen, warum du mich nicht einfach hier rausschmeißt und dieses Zeug auch noch isst!«
»Ganz einfach, Jill. Du bist meine beste Freundin.«
Sie knuffte ihn in den Arm und sagte dann: »Gib einfach nichts mehr auf die Dinge, die Justin so sagt.«
Er verschluckte sich fast an seiner Pizza. Jillian sah ihn spitzbübisch grinsend an. »Woher weißt du das, verdammt?«
Dass er erschrocken und verlegen war, merkte sie an dem ›verdammt‹. Für gewöhnlich fluchte Jonny nicht. »Also lag ich richtig. Er will sich schon seit Wochen mit mir verabreden, aber ich lass ihn zappeln. Wahrscheinlich denkt er jetzt, wir seien ein Paar.«
Sie kicherte, aber Jonas fand das gar nicht lustig. »Was? Könntest du ihn freundlicherweise vom Gegenteil überzeugen?«
Sie stemmte verärgert die Hände in die Hüfte. »Du hättest es schlimmer treffen können oder hast du etwa eine heimliche Freundin? Ich warne dich, Jonas Hill, wenn du mir etwas verschweigst, dann …«
»Quatsch! Ich will nur nicht, dass die alle über uns reden.«
»Das tun sie so oder so«, antwortete Jillian locker.
Jonas seufzte. Wie konnte ein Mensch nur so gelassen sein? Was hätte er dafür gegeben, nur einmal so gelassen sein zu können wie sie es war.
»Meinst du, ich soll mich mit ihm treffen?«
Jonas sah Jillian misstrauisch an. Bei ihr wusste man nie so recht, ob sie das, was sie sagte ernst meinte. »Du denkst wirklich darüber nach?«
»Ja … ich meine, ich bin achtzehn und es wird Zeit, dass ich mal wieder einen Freund habe.«
Das hatte er schon befürchtet. Er seufzte. »Jeder deiner sogenannten Freunde hat dich immer nur an der Nase herumgeführt. Du warst jedes Mal am Boden zerstört.«
Sie überlegte. An dem, was er sagte, war schon was Wahres dran. »Aber wenn ich jetzt nicht den Mut finde, den Jungs wieder zu vertrauen, dann werde ich ihnen vielleicht nie mehr vertrauen können.«
»Stimmt, aber wieso gerade Justin?«
Jillian überhörte Jonas’ Einwurf ganz einfach und spann den Rest ihres einsamen Lebens weiter: »Vielleicht machen dann alle Jungs einen großen Bogen um mich und ich ende als arme alte Oma, die niemanden hat außer ihrer Katzen. Weißt du, was ich meine? Eine von diesen Omis, die uns immer vollquatschen, damit sie jemanden zum Reden haben und …«
»Oh Jillian.« Jonas musste herzlich lachen. »Du bist unverwechselbar.«
»Das ist nicht lustig!«, schmollte sie.
Er würgte das letzte Stück ihrer verkohlten Pizza herunter und legte den Arm um sie.
»Jill, was willst du jetzt von mir hören? Dass alle Jungs verrückt nach dir sind?«
Sie grinste. »Irgendwie schon.«
»Darauf kannst du lange warten. Du wirst enden wie eine dieser Omas mit einem Haus voller Katzen.«
»Oh, du bist so gemein!«, lachte sie und schlug ihm ein Kissen gegen den Kopf.
»Aber …«, setzte er noch zu seiner Verteidigung an.
Sie legte das Kissen beiseite und sah ihn herausfordernd an. »Aber?«
»Du hast immer noch mich«, sagte er schlicht.
»Oh!«, seufzte sie dankbar, aber Jonas war noch längst nicht fertig.
»Auch, wenn ich schon längst verheiratet sein und mindestens drei Kinder haben werde. Ich schicke dir jede Woche eine Postkarte von den Bahamas.«
»Na warte!« Sie stürzte sich auf ihn und sie begannen mal wieder, sich zu raufen, genau wie vor dreizehn Jahren schon. Ihr Gelächter erfüllte das ganze Haus.
»Hallo Jillian.«
Die strenge Stimme zerschnitt ihr Lachen wie eine Rasierklinge. Erschrocken ließ Jillian von Jonas ab und setzte sich auf. Seine Mutter stand in der Tür. Ihr Blick schweifte von den noch nicht erledigten Schulaufgaben ihres Sohnes zu dem zerwühlten Bett, auf dem er und Jillian sich gerade eben noch gebalgt hatten.
Wann werden sie nur endlich erwachsen?, fragte sie sich in diesem Moment und warf ihrem Sohn einen missbilligenden Blick zu.
»Du bist also schon zu Hause«, war alles, was er sagen konnte. Jillian spürte, wie er sich mehr und mehr anspannte; wie er sich gerade hinsetzte und unauffällig das Bettlaken glättete.
»Ja, wie du siehst. Warum sind deine Hausaufgaben noch nicht gemacht?«
Jillian sah Jonas’ Mutter empört an.
Sie hat noch niemals ein Problem damit gehabt, ihre Gefühle ganz offen zu zeigen, dachte diese, als sie dem wütenden Blick des Mädchens begegnete. Sie mochte sie mehr, als sie es sich eingestanden hätte. Jillian war ein Teil der Familie geworden und ohne es zu wissen, half sie ihr dadurch sehr, dass sie Jonas beistand, wenn er eigentlich seine Eltern gebraucht hätte. Ihr Blick fiel wieder auf ihren Sohn. »Du hast meine Frage noch nicht beantwortet.«
»Jetzt reicht’s!« Jonas sprang auf. Es war schwer zu sagen, wer überraschter war: Jillian oder seine Mutter. Jillian sah bewundernd zu ihm auf, sie hatte Jonas noch niemals so wütend gesehen.
Seine Mutter war weniger begeistert davon, sie verengte die Augen zu schmalen Schlitzen – ein gefährliches Zeichen.
»Wie bitte?« Ihre Stimme klang zwar leise, aber messerscharf.
»Du hast schon richtig gehört! Ich bin gerade erst nach Hause gekommen und Jillian war so freundlich, mir etwas zu essen mitzubringen, weil du mal wieder deine Regeln durchsetzen musstest. Wir haben noch etwas geredet, aber natürlich! Wie konnte ich es nur vergessen? Die Schule hat immer Vorrang! Wenn du abends nach Hause kommst, habe ich schon alles gemacht, was du von mir erwartest, aber darüber hast du noch nie ein Wort verloren.«
»Jillian, du gehst jetzt besser«, sagte Samantha, ohne den Blick von ihrem Sohn abzuwenden.
Jillian biss sich auf die Lippe, sie ließ Jonas nur ungern so allein, aber am Gesicht seiner Mutter erkannte sie, dass es keinen Widerspruch zu erheben gab – nicht von ihr und erst recht nicht von ihrem Sohn.
»Bis morgen.« Sie warf ihm einen letzten besorgten Blick zu, bevor sie die Treppe hinunterstürmte.
Jillian war schon beinahe aus der Tür, als Samantha Hill das Mädchen zurückrief: »Du hast Jonas etwas zu essen gemacht?«
Jillian wandte sich um, sie wirkte nach außen hin ganz ruhig, aber in ihr brodelte es. »Ja, das habe ich.«
»Das war lieb von dir, danke. Wir können nicht immer da sein und Jonas braucht …«
»Niemanden!«, unterbrach Jillian Samantha. »Jonny ist sehr viel erwachsener und selbstständiger, als ihr alle denkt. Wieso seht ihr denn nicht, was er alles kann? Samantha, er schreibt Songs! Richtig gute Songs, die mich zum Weinen bringen, was sonst wirklich nicht besonders oft passiert. Und ich bin nicht hier, weil Jonas nicht ohne mich oder meine verbrannte Pizza auskommen würde, sondern weil er ein toller Junge ist und mein bester Freund!«
Die Wahrheit gesagt zu bekommen war nie leicht, aber wenn man es dann auch noch von der kleinen Jillian, die sonst immer so fröhlich und ausgelassen war, so knallhart ins Gesicht gesagt bekam, dann war das einfach nur ein Schock. »Jillian. Ich weiß nicht, was ich sagen soll … es tut mir leid.«
»Entschuldige dich nicht bei mir, sondern bei Jonas. Ich habe immer eine Mutter, er nur manchmal. Schönen Tag noch.«
Als die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, schüttelte Samantha wieder nur hilflos mit dem Kopf. Sie war sich bewusst, dass sie keine gute Mutter war, aber es so gesagt zu bekommen, war schon etwas anderes. Was sollte sie denn tun? Sie musste arbeiten, sie musste doch das Geld verdienen, das sie später brauchten, um Jonas’ Studium finanzieren zu können. Nur, dass sie bei diesem Gedanken wieder einmal vergaß, ihren Sohn zu fragen, ob er auch studieren wollte.
Jillian starrte schon seit zehn Minuten flehend die Zeiger der Uhr an, aber die Zeit schien heute einfach nicht vergehen zu wollen. Tick-tack, tick-tack. Im Klassenzimmer herrschte tonloses Schweigen. Zu hören war nur das Geräusch der vielen kratzenden Füller auf Papier. Sie hatte das Tafelbild über ›rudimentäre Organe‹ schon in ihren Hefter geschmiert und langweilte sich nun zu Tode. Für Jillian war die Schule nur eine lästige Verpflichtung, die sich irgendwann einmal irgendein Erwachsener ausgedacht hatte, um die Jugendlichen in Schach zu halten. Für sie war es pure Zeitverschwendung, drinnen zu sitzen und sich von ihrem Lehrer etwas erzählen zu lassen, was sie ohnehin nicht interessierte und wieder vergessen würde, sobald er den Mund wieder schloss. Was aber noch lange nicht hieß, dass Jillian ihren Lehrer nicht respektierte – im Gegenteil, sie mochte Herrn Kant sogar.
Sie warf einen Blick zu Jonas, der eine Bank weiter saß und konzentriert in sein Buch starrte. Dann rollte sie die Augen himmelwärts und konnte sich ein herzhaftes Gähnen nicht verkneifen. Als ihr Blick zufällig wieder nach vorne fiel, bemerkte sie, dass ihr Biologielehrer sie belustigt musterte. Ihr Gähnen war ihm scheinbar nicht entgangen. Sie strahlte ihn an und formte mit den Lippen ein aufrichtig gemeintes ›Entschuldigung‹. Er schüttelte nur lächelnd mit dem Kopf und wandte sich wieder seinen Aufzeichnungen zu.
Oh ja, sie mochte Herrn Kant. Er war witzig und locker, konnte aber auch sehr streng sein, wie sie es schon oft am eigenen Leib hatte erfahren müssen. Warum allerdings gerade er Lehrer geworden war, konnte sie nicht verstehen. Ihr reichte es schon, sich einmal am Tag mit Naturwissenschaften herumquälen zu müssen, er tat tagein, tagaus nichts anderes. Schon der Gedanke daran verursachte bei ihr eine Gänsehaut.
Jonas dagegen war ein sehr engagierter Schüler, teils durch den Druck, den seine Eltern ihm machten; teils aber auch, weil er durch ihre Erziehung der festen Überzeugung war, dass gute Noten für späteren beruflichen Erfolg unerlässlich waren. Vielleicht hätte vieles mehr Sinn gemacht, wäre vieles leichter gewesen, wenn er nur schon gewusst hätte, was er beruflich machen wollte. Und zwar wirklich, was er wollte und nicht, was seine Eltern ihm einredeten …
Jonas versuchte, sich auf seine Aufzeichnungen zu konzentrieren. So viel er verstand, war ein rudimentäres Organ ein Organ, das zwar rückgebildet, aber nicht rückentwickelt war. Verwirrt blätterte er nochmals die dafür angegebenen Seiten in seinem Lehrbuch durch. Eigentlich war Biologie eines seiner Lieblingsfächer, aber jetzt, da sie sich langsam dem Abitur näherten und der Stoff immer anspruchsvoller wurde, fiel es ihm Stunde um Stunde schwerer. Zwar waren die Tafelbilder größtenteils nur noch Wiederholungen, aber sie wurden jetzt so detailliert aufgeführt, dass er einfach nicht mehr durchblickte. Vor allem nicht, wenn Jillian neben ihm weiterhin mit ihren Fingernägeln auf den Tisch klopfte. Genervt wandte er sich ihr zu, um sie zur Ruhe zu bringen, da läutete es auch schon zur Pause.
»Na endlich!« Jillians Erleichterung war unüberhörbar. Sofort packte sie ihr Pausenbrot aus ihrer Tasche und biss hinein, wobei sie genießerisch das Gesicht verzog.
»Du warst ja ganz schön schnell fertig mit Abschreiben«, bemerkte Jonas, während er versuchte, ihre nicht mehr lesbare Schrift zu entziffern.
»Tja«, war ihr einziger Kommentar darauf.
»Du weißt schon, dass wir die Aufzeichnungen für die nächste Bio-Stunde brauchen, oder?«
»Klar, hat er doch gesagt. Ich schreib sie mir heute Abend bei dir ab.«
Jonas schüttelte ungläubig mit dem Kopf. Er wusste manchmal nicht mehr, ob er lachen oder weinen sollte. Jillian sollte das Abitur bestehen! Wieso nahm sie das alles nur so leicht? Jonas sorgte sich sehr um ihre Noten, doch viel zu sagen hatte er in diesem Fall nicht, erst recht nicht in den Pausen, in denen Justin Müller sich seit Wochen penetrant, aber erfolgreich zwischen sie drängte. Tatsächlich verbrachte Jonas in der Schule mehr Zeit ohne Jillian als zu Hause – was ihn ärgerte, da er auch noch genau neben ihr saß. »Jill, unsere nächste Bio-Stunde beginnt in zwanzig Minuten.«
Sie verschluckte sich fast an ihrem Schokoriegel. »Was?« Sie warf noch einen Blick auf das Tafelbild und sah ein, dass sie es wohl in zwanzig Minuten nicht noch einmal schaffen würde, es abzuschreiben. »Na ja. Ich werde es schon entziffern können.«
Jonas sah erneut zu ihren Aufzeichnungen und hob eine Braue. Das war doch zu bezweifeln.
»Kommst du heut nach der Schule mit zu mir? Es gibt Pfannkuchen!«, riss sie ihn dann aus seinen Gedanken.
»Machst du die Pfannkuchen?«, fragte er misstrauisch.
Jillian lachte herzlich. »Nein, meine Ma. Sie hat doch Mittwoch ihren freien Tag.«
Jonas atmete sichtlich auf. »Hoch lebe der Mittwoch!«
Wieder hallte ihr lautes Gelächter durch den ganzen Raum, was sofort Justin Müllers Aufmerksamkeit erregte. Selbstbewusst marschierte der Mädchenschwarm durch das Klassenzimmer, zog einen Stuhl an Jillians Tisch und setzte sich zu ihr. Mit seinem Charme und dem gekonnten Hollywood-Lächeln hatte er schon so manchem Mädchen den Kopf verdreht, wobei ihn sein sonnengelbes Haar und die große, schlanke Statur sicher auch nie behindert hatten.
Jillian dagegen faszinierten seine Augen. Er hatte wunderschöne grüne Augen und wenn er lächelte, strahlten sie. Natürlich wusste sie, dass Justin die Mädchen so wichtig waren wie die Schule, aber sie hatte Vertrauen darin, dass er sich ändern konnte.
»Hey! Und, schon Pläne fürs Wochenende?«
»Ja, da bin ich mit Jonas verabredet. Er will mir endlich erklären, wie das in Mathe mit den Funktionsgleichungen geht.«
Jonas ließ Justin nicht eine Sekunde aus den Augen. Er wusste genau, was er von Jillian wollte. Das, was sie alle immer nur von ihr wollten. Ohne es zu bemerken, ließ Jillian sich benutzen, um dann eiskalt abserviert zu werden – immer und immer wieder.
Justin verbarg seinen Ärger über die nicht zustande gekommene Verabredung hinter einem strahlenden Lächeln. Er hätte Jillian anbieten können, ihr die Gleichungen zu erklären, nur war leider altbekannt, dass er genauso viel Ahnung von Mathematik hatte wie ein Sack Kartoffeln. Er versuchte es mit einer anderen Taktik.
»Ja, verstehe ich. Der Test nächste Woche wird sicher nicht leicht. Wie wäre es dann, wenn wir uns nächstes Wochenende treffen? Ich bin mir sicher, Jonas hat dir am Samstag viel zu erzählen …«
Ohne die Worte gegen ihren besten Freund herauszuhören, stimmte Jillian sofort zu: »Ja, sehr gerne. Wir können ja ins Kino gehen oder so. Sorry, aber diese Woche geht das Treffen mit Jonas echt vor.«
»Keine Ursache, Jill. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.« Er warf Jonas einen gehässigen Blick zu, der ihm wütend nachsah, als er zu seinem Platz zurückging.
Jillian kicherte in sich hinein.
»Ich fass das einfach nicht!«, flüsterte Jonas ihr wütend zu.
Verwirrt sah sie ihn an. »Was?«
»Der Typ will dich nur flachlegen!«, zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen durch.
»Du hast doch einen Knall!«, regte Jillian sich auf.
»Was meinst du, was der Satz ›Erst die Arbeit, dann das Vergnügen‹ sonst noch bedeuten könnte?«
»Dass wir einfach nur viel Spaß im Kino haben werden?«
»Jillian!« Jonas sah ihr in die Augen.
Sie seufzte. »Jonny, glaubst du wirklich, ich geh gleich beim ersten Date mit ihm ins Bett?«
»Nein, aber …«
»Aber was?«, wollte sie wissen.
Er zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder seinen Notizen zu. Er hatte Justins Taktik schon so oft gesehen und sie hatte jedes Mal funktioniert. Erst kamen ein paar harmlose Gespräche, dann eine kleine Einladung ins Kino und ein paar aufgeschriebene Worte, die er höchstwahrscheinlich aus irgendwelchen Filmen nahm und dann waren er und das Mädchen ein ›Paar‹. Das Paar-Sein hielt bei Justin erstaunlich kurz an. So lange eben, bis das Mädel nachgab. Bei jenen, von denen er wusste, dass sie ihn durchschaut hatten, verschwendete er gar nicht erst seine wertvolle Zeit.
Jill war weiß Gott alt genug, um auf sich selbst aufpassen zu können. Doch stammte sie aus einer ehrlichen und liebevollen Familie, sie konnte sich einfach nicht vorstellen, warum jemand Gefühle nur vortäuschen sollte.
»Wir sind da-ha!« Jillian sprang übermütig zur Küche hinein und umarmte ihre Mutter herzlich.
»Hallo, mein Schatz. Wo ist Jonny?«
»Hier bin ich.« Lächelnd betrat nun auch Jonas die Küche. In diesem Haus hatte er sich schon immer daheim gefühlt.
»Oh wie schön, dich zu sehen.« Jillians Mutter drückte ihm wie immer einen herzlichen Kuss auf die Stirn, nahm dann sein Gesicht in beide Hände und sah ihn besorgt an. »Du hast abgenommen.«
»Ma!«, regte Jillian sich auf.
»Hast du ihm gestern etwas zu essen gemacht, Jillian Seifert?« Ihre Stimme klang streng, obwohl sie lächelte.
Jonas musste grinsen. »Natürlich hat sie das, Katrin!«, antwortete er an Jillians Stelle. »So wie immer.«
Zufrieden wandte sie sich von ihm ab und widmete sich wieder ihrem Essen. Jonas musste wieder grinsen. Jillian und ihre Mutter standen mit dem Rücken zu ihm gewandt am Herd und unterhielten sich über ihren Tag, so waren sie nicht zu unterscheiden. Jillian war das genaue Ebenbild ihrer Mutter, die wie ihre Tochter langes schwarzes Haar, haselnussbraune Augen und eine zerbrechlich wirkende Figur hatte.
»Steh nicht so dumm rum, deck den Tisch«, lachte Jillian ihn jetzt an. Sie hatte sich zu ihm umgedreht, leckte die für die Pfannkuchen vorgesehene Marmelade von einem Löffel ab und musterte ihn. »Im Grunde hat er überhaupt nicht abgenommen, Ma.«
»Jillian!« Erbost wandte sich Katrin ihrer Tochter zu, die Jonas nun in die Wange kniff. Er ertrug es mit Humor. »Er hat Pausbäckchen und sieh dir das an …« Sie knuffte ihn in den Bauch. Alle lachten.
»Du hast recht«, seufzte Katrin dann, in dem Wissen, ihre Tochter damit auf die Palme zu bringen. »Jonas ist wahrscheinlich zu dick.«
»Nein!« Ein Klagelaut war ihre Antwort und Jonas und Katrin mussten lachen.
»Ihr macht euch über mich lustig!«, fiel es Jillian endlich auf.
»Wo denkst du hin?«, fragte Jonas scheinheilig.
Jillians Mutter beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Was für ein schönes Paar sie abgeben würden, dachte sie dabei. Das Schicksal hatte Jonas und ihre Tochter füreinander bestimmt, das schien jedem klar, nur den beiden nicht. Zeit, dachte Katrin lächelnd. Mit der Zeit wird sich alles verändern, auch ihre Gefühle. Sie freute sich darauf, es mitzuerleben. Jillian und Jonas – das war wie Tag und Nacht, grundverschieden, aber das eine gäbe es ohne das andere nicht.
Lachend stolperten beide zum Tisch und setzten sich nebeneinander.
Katrin war gerade dabei, die Teller auf den Tisch zu stellen, als ihr Sohn zur Tür hereinkam.
»Hallo, Schatz.« Wie zuvor bei Jonas gab sie auch ihm einen Kuss auf die Stirn.
Jonas beobachtete, wie Tim sich ein wenig sträubte. Er schien nicht gerade bester Laune zu sein und außerdem befand er mütterliche Streicheleinheiten in seinem Alter als kindisch. Wäre Tim nicht Jillians Bruder gewesen, dann hätten Jonas und er sich sicher niemals an einem Tisch gegenübergesessen. Tim war einer dieser Justin-Typen und das sprach im Allgemeinen schon für sich. Er hielt weder viel von festen Beziehungen noch von der Schule, aber sein Praktikum im Ausland versuchte er sich hart zu erkämpfen und das verdiente Jonas’ Respekt. Tim war eigentlich ein netter Typ, etwas hochnäsig zu Jungs wie Jonas vielleicht, aber Jillian gegenüber verhielt er sich immer korrekt und das war das einzige, worauf es Jonas ankam.
»Hi, Jill. Hi, Jonny.« Mürrisch ließ Tim sich auf den Stuhl neben seiner Schwester sinken und strich sich eine der blonden Haarsträhnen aus den Augen, die ihm locker ins Gesicht hingen.
»Was ist los? Gab es Ärger?«, fragte Jillian und musterte ihn besorgt.
Er seufzte. »Für das Praktikum in New York brauche ich dort natürlich erst einmal eine Unterkunft. Könnt ihr euch vorstellen, wie schwer es ist, von Deutschland aus eine Wohnung in den Staaten zu suchen? Es ist ja nicht nur, dass ich mich in dieser Hinsicht überhaupt nicht auskenne und nicht weiß, in welcher Straße meine Wohnung sein muss, damit ich morgens gut und vor allem pünktlich zur Arbeit gelange. Versucht erst einmal die richtige Telefonnummer herauszubekommen, damit ihr endlich einen am anderen Ende der Leitung habt, der wirklich für die Wohnungsvermietung zuständig ist. Das läuft alles nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe.«
»Du hast es dir aber auch viel zu einfach vorgestellt«, warf Jillian ganz ohne bösen Willen ein.
»Jillian«, bat ihre Mutter und setzte sich zu ihnen an den Tisch.
»Sie hat ja recht, Ma. Ich glaube, meine kleine Schwester würde in dieser großen Stadt besser zurechtkommen als ich.«
Gedanklich stimmte Jonas ihm zu. Jillian schien nie jemanden für irgendetwas zu brauchen.
»Das ist natürlicher Überlebensinstinkt«, warf diese nun großspurig ein und alle lachten. »Nein, ich würde das nicht durchstehen, denke ich. Ein fremdes Land, eine fremde Stadt. Du bist ganz auf dich allein gestellt. Ich brauche immer jemanden um mich herum und ohne Jonny geh ich überhaupt nirgendwo hin.«
Tim beobachtete die beiden und konnte nur immer wieder den Kopf schütteln. Jedes Jahr hatte er aufs Neue gedacht, dass Jillians und Jonas’ Freundschaft sich bald verändern würde, aber es war noch immer alles beim Alten. Weder hatte sich einer der beiden in den anderen verliebt, noch waren sie zerstritten. Vielleicht musste er seine Theorie, dass es Freundschaft zwischen Junge und Mädchen nicht geben konnte, doch noch einmal überdenken. Etwas neidisch auf Jonas war er schon, wenn auch nur auf diese eine Sache: Jonas war seiner Schwester viel näher als er selbst, obwohl sie sich nur selten stritten.
Nachdem sie aufgegessen hatten, stand Tim sofort vom Tisch auf und polterte die Treppe zu seinem Zimmer hoch.
Jillian und Jonas warfen sich vielsagende Blicke zu, bevor sie aufstanden, um Jillians Mutter beim Abwasch zu helfen.
Diese warf ihrem Sohn besorgte Blicke hinterher. »Er macht sich Sorgen, dass es nicht klappt mit seinem Praktikum in New York. Es ist sein größter Traum.«
»Der soll sich wieder einkriegen«, bemerkte Jillian leichthin. »Er wird uns schon bald aus Amerika schreiben.« Das Lächeln auf ihren Lippen und die leichten Worte verrieten, dass sie zutiefst in das vertraute, was sie soeben ausgesprochen hatte.
Jonas sah kurz zu Katrin hinüber, deren Gesicht sich sichtbar entspannte. Sie vertraute dem Urteil ihrer Tochter, die mehr als jeder andere an Tim glaubte.
»Und? Habt ihr heute noch irgendetwas Bestimmtes vor?«, fragte sie dann, während sie das getrocknete Geschirr in die Schränke räumte.
Jillian warf Jonas einen kurzen Blick zu, der die Frage scheinbar einfach überhört hatte und seufzte dann: »Nein. Jonny will lieber den ganzen Tag lernen.«
Jonas hatte zwar Katrins Frage überhören können, der Vorwurf in Jillians Stimme ließ sich jedoch nicht so einfach verdrängen.
»Schreibt ihr morgen einen Test?«, erkundigte sich Jillians Mutter und sah ihre Tochter forschend an. Ihr entging nicht, dass die Schule Jillian von Jahr zu Jahr schwerer fiel. Ebenso wenig entging ihr, dass Jillian sich wirklich bemühte und immer versuchte, ihr Bestes zu geben. René und Katrin hatten schon vor Tims Geburt beschlossen, ihre Kinder zu selbstbewussten und selbstständigen Persönlichkeiten zu erziehen, darum kam ihr nicht für einen Moment in den Sinn, Jillian unter Druck zu setzen. Sie hatte immer selbst gewusst, was gut und richtig für sie war.
»Nein, das ist es ja gerade«, riss die Stimme ihrer Tochter sie aus ihren Gedanken.
Katrin entging nicht, dass sich Jonas’ Miene verfinsterte und sie wusste auch sofort, woran das lag. Sie kannte Martin und Samantha Hill, seit sie vor zwanzig Jahren in das Haus nebenan gezogen waren. Kennengelernt hatte sie die beiden als ehrliche und nette Menschen. Erlebt hatte sie sie aber auch schon als viel zu strenge und verständnislose Eltern. Sie hatten ihre Ansichten und Jonas hatte die seinen. Keiner versuchte, einen Schritt auf den anderen zuzugehen. Und obwohl sie sich sicher war, dass Jonas und seine Eltern einander sehr liebten, hatte es noch nie eine Umarmung oder tröstende Worte zwischen ihnen gegeben und ihr entgingen Jonas’ Blicke nicht, wenn er diese Zuwendungen dann von der Familie seiner besten Freundin bekam.
Sie liebte ihn genauso wie ihren eigenen Sohn, darum wählte sie ihre Worte äußerst sorgfältig. »Jonas, ich denke, dass du dir zu viel zumutest, indem du jeden Tag nur lernst. Du brauchst eine Auszeit. Du bist ein so guter Schüler. Lass dich nicht so sehr unter Druck setzen.«
»Niemand setzt mich unter Druck. Ich mach das nur für mich«, war prompt die trotzige Antwort.
Jillian sah zu Jonas auf und in seinem Gesicht konnte sie lesen, dass er selbst spürte, dass Lügen ihm noch immer nicht gut über die Lippen kamen. Eigentlich war er immer offen und ehrlich zu ihr, doch wenn die Sprache auf die Beziehung zu seinen Eltern kam, biss jeder auf Granit. Für sie war das pure Sturheit seinerseits. Sie konnte ja nicht wissen, wie tief allein der Gedanke daran Jonas verletzte, geschweige denn ein Gespräch darüber mit einem Mädchen, das – wie Jonas fand – alles in seinen Eltern hatte, was ein Kind sich nur erträumen konnte.
Keiner sprach das Thema weiter an und Jillian lenkte geschickt ein: »Am Samstag lernen wir wieder zusammen und danach machen wir einen DVD-Abend.«
Katrin lächelte ihrer Tochter ermutigend zu. »So? Schon wieder?«
Jillian lächelte. Sie freute sich schon sehr darauf. Die DVD-Abende waren bei ihr und Jonas Tradition geworden. Es wurde alles angesehen, von den schlimmsten Liebesschnulzen bis zu den aufregendsten Horrorfilmen. Dabei gab es dann immer Popcorn und Cola, fast wie im Kino, nur eben viel gemütlicher. Sie und Jonas lagen dann immer auf seiner Schlafcouch, mit einer Kuscheldecke zugedeckt und wenn es draußen langsam dunkel wurde, zündete er sogar Kerzen an.
»Wir fahren diesen Samstag ins Kino«, rief Katrin ihrer Tochter in Erinnerung, ohne sie von dem DVD-Abend mit Jonas abbringen zu wollen.
Jillian schlug sich die Handfläche gegen die Stirn. »Oh, Mann! Das hatte ich völlig vergessen.«
Jonas sah Jillian fragend an. Er hatte sich auf diesen Samstagabend gefreut, aber schon gab ihre Mutter Entwarnung: »Das ist nicht schlimm, Kleines. Da Tim nun auch beschlossen hat nicht mitzukommen, habe ich seit langer Zeit mal wieder ein Date mit deinem Vater.«
Jillian lachte erleichtert auf. »Na, da könnt ihr ja froh sein, uns los zu sein.«
»Da kannst du dir sicher sein. So, ihr beiden. Ich danke euch vielmals für die Hilfe«, erwiderte Katrin lächelnd.
»Gern geschehen«, antwortete Jonas ohne nachzudenken. »Die Pfannkuchen waren super lecker.«
»Wie man sieht …« Jillian grinste und knuffte ihn nochmals in den Bauch. Wieder wurde die Küche von warmem Gelächter erfüllt.
Als sie zusammen das Haus verließen, lächelte Katrin in sich hinein. Sie schob die Gardine des Fensters über der Spüle zurück und beobachtete sie noch eine ganze Weile.
Jillian stand fröstelnd an der Haustür, um sich von Jonas zu verabschieden.
»Also, wir sehen uns dann morgen früh.«
»Als ob ich das vergessen würde.« Jillian lachte, obwohl ihr beim Gedanken an die Schule nicht wirklich danach zumute war. »Bis dann!«, rief sie noch und wandte sich zum Gehen.
Jonas überlegte. Dann bückte er sich, formte mit schnellen Bewegungen einen kleinen Ball aus dem frisch gefallenem Neuschnee und warf ihn Jillian an den Hinterkopf.
Als sie erschrocken aufschrie, lachte er sie lauthals aus. Völlig verdattert stand sie da und sah ihn unschlüssig an.
»Zieh deine Jacke an! Zeit für eine Schneeballschlacht.«
Das war ihr Zeichen, wieder übers ganze Gesicht zu strahlen. Sie würde den Nachmittag nicht allein oben in ihrem Zimmer verbringen müssen. Schnell zog sie ihre Jacke vom Haken an der Garderobe, schlüpfte hinein und stürzte sich dann mitten in eine kalte und lustige Schneeballschlacht.
Katrin sah zuerst ihrer Tochter ins Gesicht und dann Jonas. Sie konnte nicht ausdrücken, wie dankbar sie war, dass sie einander hatten. Sie konnte sich noch gut an den Tag erinnern, als sie die beiden das erste Mal zusammen gesehen hatte, das musste jetzt bereits dreizehn Jahre her sein.
Damals hatte allerdings kein Schnee gelegen. Der Tag hatte in der Schwebe zwischen Frühling und Sommer gehangen. Sie hatte Jillian zum Spielen rausgeschickt, weil sie an diesem Tag wieder besonders aufgedreht gewesen war. Sie hatte einen Kuchen für Tims Geburtstagsfeier backen wollen, aber immer war Jillian in die Küche gekommen, ganz schlecht gelaunt vor lauter Langeweile.
Schmollend war sie dem Rat ihrer Mutter gefolgt, sich draußen etwas zum Spielen zu suchen. Als Katrin dann wie heute aus dem Küchenfenster geschaut hatte, um nach ihrer Tochter zu sehen, lagen sie und Jonas nebeneinander unter dem großen Kirschbaum. Duzende Blütenblätter waren durch die Luft gewirbelt. Dieses Bild würde sie niemals vergessen. Auf sie hatte alles so magisch gewirkt, wie der Beginn eines wundervollen Märchens.
Jillian fuhr ihren PC herunter und seufzte erleichtert. Das war es vorerst mit den Hausaufgaben, zumindest für dieses Wochenende. Wochenende! Sie ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen und streckte sich ausgiebig. In den nächsten zwei Tagen würde sie sicher keinen Finger mehr für die Schule rühren … na ja, abgesehen vom heutigen Abend, wenn Jonas ihr noch ein, zwei Dinge erklären sollte, aber das würde sicher schnell gehen. Jonas war geduldig und konnte gut erklären.
Mit dem Schreibtischstuhl rollte sie an ihr Fenster und sah in den wolkenverhangenen Himmel hoch, aus dem noch immer dicke Flocken fielen.
Der Winterdienst hat dieses Jahr ganz schön zu tun, dachte sie in diesem Moment und freute sich über die weiße Pracht in ihrem Garten. An ihrem Fenster hingen dünne Eiszapfen, die wie Diamanten funkelten, wenn die untergehende Sonne sich zeigte. Auf den Ästen des großen Kirschbaumes lag so viel Schnee, dass sie sich schwerfällig zur Erde neigten. Seit Tagen hatte es nicht mehr aufgehört zu schneien und es war kein Fleckchen Grün mehr zu sehen.
Suchend blickte sie zu dem Vogelhäuschen im Garten der Hills hinüber, wo sich auch schon viele kleine Frechdachse satt aßen. Blaumeisen, Sperlinge und sogar ein Rotkehlchen war dabei. Sie stützte den Kopf auf ihre Hände und sah den kleinen Piepmätzen dabei zu, wie sie sich um die Körner stritten.
Ihr Blick schweifte wieder in Richtung Himmel. Wegen des ständigen Graus konnte man leicht vergessen, welche Tageszeit es gerade war und auch jetzt musste sie zur Orientierung auf die Uhr sehen – zehn vor Fünf. Sie freute sich, bald würde ihr DVD-Abend mit Jonas losgehen.
In diesem Moment nahm sie eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr und schaute wieder nach draußen. Ihr Blick wanderte von dem schneebedeckten Kirschbaum über das Vogelhäuschen in Hills Garten, bis hoch zu Jonas’ Fenster. Sie grinste. Er hatte dieselbe Pose wie sie eingenommen und starrte sie belustigt an. Hätte in seinem Zimmer kein Licht gebrannt, dann hätte sie ihn durch die dicken Schneeflocken hindurch sicher nicht sehen können.
Fröhlich winkte sie ihm zu. Er hielt einige DVDs nach oben und sah sie fragend an. Durch das Schneetreiben konnte sie die ausgewählten Filme nicht erkennen, aber da sie wusste, dass mit Jonas zusammen jeder Film gut war, zeigte sie beide Daumen nach oben. Er lächelte zufrieden, bevor er wieder hinter der Gardine verschwand.
Unten in der Küche herrschte schon die größte Aufregung. Katrin und René Seifert nahmen sich nicht oft die Zeit für einen gemeinsamen Kinoabend. Jetzt freuten sie sich umso mehr darauf.
»Wo bleibt denn Jillian? Ich dachte, wir wollen gleich los«, fragte René ungeduldig an seine Frau gewandt und warf einen Blick zur Uhr. Sie würden über eine Stunde für die Fahrt in den nächsten Ort brauchen, das Schneegestöber draußen wurde von Minute zu Minute schlimmer.
Katrin legte sich ihre Lieblingsohrringe an, die sie diesen Valentinstag von ihrem Mann geschenkt bekommen hatte. Es waren zwei schlichte, goldene Stecker und doch das Wertvollste, das sie besaß, drückten sie doch Renés Liebe zu ihr aus.
Lächelnd wandte sie sich nun zu ihm um. »Jillian kommt nicht mit. Was machst du nur schon wieder?« Sie lachte herzlich, als ihr Blick auf den Knoten seiner Krawatte fiel. »Lass mich das machen.«
»Was heißt hier, sie kommt nicht mit? Was hat sie denn vor?« Enttäuschung machte sich auf dem Gesicht von Jillians Vater breit, während seine Frau versuchte, den Schaden an seiner Krawatte zu beheben.
»Sie geht rüber zu Jonas. Die beiden wollen sich ein paar Filme ansehen. Wieso ziehst du dich wenn wir ausgehen immer an, als gingen wir in die Oper?«
»Weil ich hübsch für dich sein will«, scherzte René und seine Frau zog ihm kurz an der Krawatte. Sie wusste, wie eitel ihr Mann war, da machte er fast schon seinem Sohn Konkurrenz. Und auch äußerlich hätte man sie beinahe nicht voneinander unterscheiden können, wären Tims Haare etwas kürzer und gebändigter gewesen. Ihr Mann hatte auch kein Piercing an der Unterlippe, wie sein Sohn. Sie kicherte, als sie sich ihn damit vorstellte.
»Ich finde es schade, dass aus unserem Familienabend wieder nichts geworden ist.«
Sie bemerkte, dass er schmollte und stemmte belustigt die Hände in die Hüfte. »Dann wird es eben ein Pärchenabend. Weißt du, wie lange es so etwas bei uns nicht mehr gegeben hat?«
René erkannte das gefährliche Aufblitzen in den Augen seiner Frau und beruhigte sie gleich. »Viel zu lange. Ich meinte ja nur, dass wir als Familie auch an den Wochenenden mal wieder zusammen sein sollten. Tim ist nur noch mit seinem Auslandspraktikum beschäftigt und Jillian scheint so langsam bei Jonas einziehen zu wollen.«
»Keine schlechte Idee!« Katrin war entzückt bei diesem Gedanken.
Erschrocken drehte René sich wieder zu ihr um. »Was?«, fragte er verwirrt.
»Oh, ich kann mir alles bildlich vorstellen. Aber ich glaube, sie sollten in eine gemeinsame Wohnung ziehen und nicht ins Haus seiner Eltern. Wir könnten …«
»Stopp!«, rief René und hob abwehrend die Hände. »Du denkst doch nicht ernsthaft über so etwas nach? Das sind Kinder, nichts weiter. Sie sind wie Geschwister aufgewachsen.«
»So ein Unsinn!«, widersprach Katrin heftig. »Sie sind beide volljährig und schlau genug zu erkennen, dass sie keine Geschwister sind.«
»Genau wie deine Tochter hast du eine zu lebhafte Fantasie«, stellte René trocken fest.
Seine Frau hob eine Braue. »Genau wie dein Sohn siehst du mal wieder den Wald vor lauter Bäumen nicht. Du wirst es schon noch bemerken«, sagte sie überlegen, bevor sie ins Badezimmer verschwand, um ihrem Gesicht etwas Farbe zu verpassen.
René blieb fassungslos in der Küche zurück. Wie kam seine Frau nur auf solche Gedanken? In seinen Augen war Jillian immer noch das kleine Mädchen mit der rosa Schultasche. Sie schaffte es morgens kaum, allein rechtzeitig aus dem Bett zu kommen, von dem Unterhalten einer eigenen Wohnung ganz zu schweigen. Dann auch noch mit Jonas. Allein der Gedanke war völlig absurd. Der Junge war wie ein Sohn für ihn und er konnte sich nicht erinnern, dass er jemals eine Freundin gehabt hätte.
Genervt von der blühenden Fantasie seiner Frau schüttelte er den Kopf und ging nach draußen, um das Auto aus der Garage zu holen. Vor der Haustür angekommen, warf er einen Blick in den düsteren Himmel. Es schneite noch immer, aber die Sicht würde ausreichend sein. Dennoch müssten sie bald aufbrechen, um den Anfang des Films nicht zu verpassen.
Als Jillian Tims Zimmer betrat, war dieser gerade damit beschäftigt, wie verrückt auf den Tasten seines Computers herumzuhämmern. »Brauchst du einen Exorzisten?«
Erschrocken drehte er sich zu seiner Schwester um und lachte dann. »Wann wirst du endlich lernen, anzuklopfen?«
»Wieso? Hast du ein Rendezvous mit deinem Computer?«, entgegnete Jillian frech und schloss die Tür hinter sich.
»Nein, aber als ich damals eins mit Franziska Kler hatte, hast du auch nicht angeklopft.«
Jillian zog sich einen Stuhl zu ihm heran und kicherte bei der Erinnerung daran. »Glaub mir, auf diese Szene hätte auch ich gern verzichtet.« Sie schaute auf den flackernden Bildschirm seines Computers und dann auf seine Hände, die flink über die Tasten der Tastatur schwebten.
»Mit wem schreibst du dir da?«
Er gönnte sich eine kleine Pause und strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Das ist ein Typ aus New York, er heißt Tom. Ich hab ihm echt eine Menge zu verdanken. Er ist in meinem Alter und hat früher auch in Deutschland gelebt.«
»Wieso ist er nach New York gegangen?«, fragte Jillian interessiert.
»Aus den gleichen Gründen wie ich, schätze ich. Rastlosigkeit und zu viel Ehrgeiz. Er wollte immer schon Journalist werden.« Jillian lächelte. »Er hat dort erst einen Au-pair-Job gemacht, um sich etwas Geld zu verdienen und die Gegend zu erkunden. Ein Jahr später hat er einen Job bei der New York Times bekommen. Da staunst du, was?«
Und ob sie staunte. »Die New York Times? Diese weltberühmte Zeitung?« Tim nickte und Jillian legte ihre Hand auf seinen Arm.
»Wie genau willst du in New York anfangen?«
Er lächelte. Tim wusste, dass die Frage nicht böse gemeint war, sondern reines Interesse widerspiegelt – Jillian glaubte an ihn, das hatte sie schon immer getan.
»Ich weiß es nicht. Erschrocken?«
Stumm schüttelte sie den Kopf und hörte ihrem Bruder weiter zu. Tim stand auf und zog die Vorhänge des Fensters zu, dann schob er die Hände in die Hosentaschen und erzählte weiter: »Ich will alles vom Leben. Ich möchte nicht, dass ich später denke ›Was hab ich da nur verpasst?‹ Ich habe diesen Traum von New York schon so lange. Ich lese Bücher, schaue Filme darüber, aber so richtig habe ich diese Stadt nie verstanden. Sie ist einfach magisch und ich stelle mir jeden Morgen, wenn ich aufwache, vor, wie es wohl sein würde, dort zu leben.« Er drehte sich wieder zu seiner Schwester um und sah sie an. Ihre Augen leuchteten, so sehr freute sie sich für ihn.
»Ich möchte mit den gestressten Menschen dort morgens zur Arbeit hetzen, im Central Park spazieren gehen, jeden Freitag einen anderen Nachtclub besuchen. Ich will in diese andere Welt eintauchen, englisch sprechen, neue Leute kennen lernen und erfahren, wie sie ihr Leben leben. Sind Menschen aus anderen Ländern wirklich anders? Wie benehmen sie sich, wenn sie traurig oder wütend oder glücklich sind? Ich will Aufstiegschancen haben und trotzdem das Gefühl behalten, immer hierher zurückkommen zu können. Ich will …« Er suchte nach den passenden Worten. »… nie vergessen werden.«
Jillian war gerührt. Ihr Bruder hatte nie den nötigen Ehrgeiz gehabt, um in der Schule besonders gut abschneiden zu können, aber diesen Traum hatte er schon seit er denken konnte. Sogar über seinem Bett hing ein riesiges Plakat, auf dem die Freiheitsstatue abgebildet war. Sie wünschte sich so sehr für ihn, dass er in New York das Leben fand, das er hier niemals hatte finden können.
»Ich sehe dich genau vor mir, wie du dort stehst.« Sie lächelte warm. »Am Flughafen von New York City. Es schneit heftig und der Wind ist kalt. Dein Gepäck ist sperrig und du bekommst nicht gleich ein Taxi, aber das ist dir egal. Dein Kopf ist voller Erinnerungen und Träume.«
Tim war sprachlos.
»Komm her«, sagte er nur und breitete seine Arme aus. Jillian hatte ein unglaubliches Gespür für die Gefühle der Menschen.
Sie umarmte ihn fest und holte gedanklich noch einmal alle vergangenen Jahre zurück. Er hatte immer Zeit für sie gefunden. Als sie sich von ihm löste, sah sie ihm ins Gesicht und fragte dann: »Also hast du jetzt endlich eine Bleibe gefunden?«
Er nickte. »Ich werde vorerst mit Tom und noch einem Typen zusammen in einer WG wohnen. In der Gegend soll es viele Nachtclubs geben, in denen sie Aushilfen suchen. Vielleicht jobbe ich erst mal etwas, bevor ich mich ganz für eine Richtung entscheide. Und sollte doch alles schief gehen …«
»Dann kannst du jeder Zeit hierher zurückkommen«, beendete Jillian den Satz für ihn.
Tim lächelte seine Schwester dankbar an. Es gab nicht viele Mädchen, die waren wie sie – so klug und einfühlsam und unendlich geduldig.
»Was machst du eigentlich heute Abend? Ich habe gehört, wie Pa ein Klagelied über unseren verlorenen Familienabend angestimmt hat.«
»Ehrlich?« Jillian bekam ein schlechtes Gewissen. »Ich wollte eigentlich rüber zu Jonas. Vielleicht sollte ich doch absagen.«
»Jetzt mach mal keinen Quatsch!« Tim winkte ab. »Du weißt doch, wie unser Vater ist. Der sähe dich am liebsten noch mit Puppen spielen.«
Jillian kicherte. »Ja, ich weiß. Und was machst du?«
»Ich muss noch eine Menge Dinge für meine Zeit in New York erledigen.«
Jillian schüttelte ungläubig mit dem Kopf. »Ich kann immer noch nicht fassen, dass du wirklich bald dort sein wirst.«
Tim legte einen Arm um seine Schwester. »Es ist doch erst mal nur für ein halbes Jahr. Ich schreibe dir jeden Tag Mails, versprochen.«
Jillian stemmte die Hände in die Hüften, wie es auch ihre Mutter so gerne tat. Sie wusste genau, wie faul und vergesslich ihr Bruder sein konnte.
»Na gut.« Er ergab sich. »Jeden zweiten Tag.«
Sie lachten. »Okay, ich nehme dich beim Wort.«
In dem Moment klopfte es an der Tür. »Wenn du nicht schon in meinem Zimmer wärst, wüsste ich trotzdem, dass du das nicht sein kannst, da du ja leider nicht weißt, wie man anklopft«, stellte Tim belustigt fest und rief dann: »Kommt rein!«
Katrin und René öffneten die Tür. Es war keine Überraschung, die Kinder zusammen in Tims Zimmer zu sehen. Früher war Jillian nur dort gewesen, sodass sie anfangs ernsthaft darüber nachgedacht hatten, ihr Zimmer in einen Fitnessraum zu verwandeln. Doch als sie Jonas kennen gelernt hatte, hatte Tim seine Privatsphäre zurückgewonnen und Jillian etwas Gespür für die Ruhe im Leben.
»Wir wollten uns schon jetzt verabschieden. Wegen des Schneegestöbers müssen wir früher los, wir werden wir wohl erst in einer Stunde im warmen Kino sitzen. Die Straßen sind sehr glatt«, sagte Katrin Seifert und umarmte ihre beiden Kinder zum Abschied.
Tim warf noch einen Blick nach draußen, es hatte wieder angefangen, heftiger zu schneien. »Fahrt vorsichtig!«
»Wir rufen an, wenn wir angekommen sind«, versprach René seinem Sohn und fügte an seine Tochter gewandt hinzu: »Mach dir einen schönen Abend und grüß Jonas von uns.«
»Mache ich«, strahlte Jillian, bevor ihre Eltern die Tür wieder hinter sich schlossen.
»Das weht ganz schön da draußen.« Tim runzelte die Stirn.
Jillian ging zum Fenster, schob die Gardine beiseite und spähte in die Dunkelheit. »Alles glitzert.« Sie lächelte, als sie das Licht in Jonas’ Zimmer flackern sah.
»Geh endlich rüber. Du bist bestimmt schon wieder viel zu spät dran«, sagte Tim, als er ihrem Blick gefolgt war.
Er hat recht, stellte sie nach einem raschen Blick auf ihre Armbanduhr fest. »Na gut, bis morgen.« Sie eilte aus dem Zimmer.