LEBEN. Meine Geschichte in der Geschichte - Papst Franziskus - E-Book

LEBEN. Meine Geschichte in der Geschichte E-Book

Papst Franziskus

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Beschreibung

»Die Geschichte unseres Lebens nachzulesen ist wichtig, um uns zu erinnern und denjenigen etwas weiterzugeben, die uns zuhören. Um aber lernen zu leben, müssen wir lernen zu lieben. Das sollten wir nicht vergessen!« Papst Franziskus Zum ersten Mal erzählt Papst Franziskus die Geschichte seines Lebens anhand der Ereignisse, die die Menschheit in den letzten achtzig Jahren geprägt haben. Und er teilt mit uns die Ursprünge seiner Ideen, die sein Pontifikat auszeichnen und die viele als gewagt ansehen: seine Appelle gegen Armut und Umweltzerstörung, seine Ermahnungen führender Politiker, in Fragen der Völkerverständigung, der Ungleichheit und der Rüstungspolitik einen Kurswechsel einzuschlagen. Vom Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 1939, als der zukünftige Papst knapp drei Jahre alt war, bis zum heutigen Tag nimmt Jorge Mario Bergoglio uns an die Hand und führt uns anhand seiner Erinnerungen durch die wichtigsten historischen Ereignisse unserer Zeit. Die Stimme des Papstes wechselt sich ab mit der eines Erzählers, der Momente aus dem Alltag des zukünftigen Papstes schildert und in den jeweiligen historischen Kontext einbettet. Mit den Worten des Papstes: » LEBEN möchte Hoffnung schenken, damit die Menschen, vor allem die jüngeren, die Stimme eines älteren Menschen hören und darüber nachdenken können, was unser Planet durchgemacht hat, um die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Wenn wir ein gewisses Alter erreicht haben, ist es wichtig, das Buch der Erinnerungen von Zeit zu Zeit wieder aufzuschlagen: um uns an die schlechten Dinge zu erinnern, an die toxischen, die wir erlebt haben, an die Sünden, die wir begangen haben, aber auch an all das Gute, das Gott uns geschenkt hat. Das ist eine Übung, der wir uns alle widmen sollten, bevor es zu spät ist!«

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Seitenzahl: 276

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JORGEMARIOBERGOGLIO wurde am 17. Dezember 1936 in Buenos Aires, Argentinien, als Sohn italienischer Einwanderer geboren. 1969 wurde er zum Priester des Jesuitenordens, der Gesellschaft Jesu, geweiht. Nach seiner Ernennung zum Weihbischof 1992 wurde er 1998 zum Erzbischof von Buenos Aires und 2001 zum Kardinal ernannt. Im März 2013 wird er zum Papst, zum 266. Oberhaupt der Katholischen Kirche, gewählt und trägt den Namen Franziskus.

FABIOMARCHESERAGONA ist Vatikanista für die Mediengruppe Mediaset; er begleitet den Papst für die Nachrichtensendungen Tg5, Tg4, Studio Aperto und Tgcom24, einem 24-Stunden-Nachrichtenkanal, für den er jeden Sonntag die Sendung Stanze Vaticane konzipiert und moderiert. Im Januar 2021 führte er ein weltweit exklusives Fernsehinterview mit Papst Franziskus, das von Speciale Tg5 ausgestrahlt und von fünfeinhalb Millionen Zuschauern gesehen wurde.

Die italienische Originalausgabe erschien 2024 unter dem TitelLIFE. La mia storia nella Storia bei HarperCollins Italia S.p.A, Mailand

Die im Buch zitierten Bibelstellen folgen der deutschsprachigen Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift

© 2016 Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart

Deutsche Erstausgabe

© 2024 für die deutschsprachige Ausgabe by HarperCollins in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

© 2024 HarperCollins Italia S.p.A., Milano

© 2024 Fabio Marchese Ragona

First published in 2024 in Italian under the title:

Life. La mia storia nella Storia

Papa Francesco con Fabio Marchese Ragona

All rights reserved.

Published by arrangement with Delia Agenzia Letteraria

Covergestaltung von wilhelm typo grafisch nach einer Idee von © Marcello Dolcini

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783749907632

www.harpercollins.de

Einführung

EINFÜHRUNG

Wir müssen aus der Geschichte lernen, vor allem aus ihren dunklen Kapiteln, um die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden. Dazu hat Papst Franziskus in letzter Zeit wiederholt aufgefordert und dabei den hohen Stellenwert der Erinnerung hervorgehoben, die den wertvollsten Rahmen für das Leben jedes Einzelnen bildet. Geschichte studiert man natürlich mit Hilfe von Büchern, aber auch durch das lebendige Wort derjenigen, die im Laufe eines langen Lebens – im Guten wie im Schlechten – bedeutsame Momente selbst erlebt haben, dabei dem Herrn oftmals begegnet sind und davon persönlich Zeugnis ablegen können.

Im Buch Exodus fordert Gott Moses auf, zum Pharao zu gehen und ihm ehrfurchtgebietende Zeichen anzukündigen, »damit du deinem Sohn und deinem Enkel erzählen kannst, was ich den Ägyptern angetan und welche Zeichen ich unter ihnen vollbracht habe« (10,2). So soll der Pharao in Erstaunen versetzt und überzeugt werden, aber auch in Moses’ Volk soll auf diese Weise die Erinnerung verankert werden, »dass ich der HERR bin«, der Gott, zu dem sich die Gläubigen bekennen, indem sie Sein Leben erzählen.

Diejenigen, die Geschichte auf diese Weise erzählen, stillen den Wissensdurst ihrer Zuhörerschaft und bereiten vor allem die Jüngsten unter ihnen darauf vor, was ihnen auf ihrem Weg begegnen könnte. Durch die Schilderung dessen, was war, sollen sie besser verstehen lernen, was sein wird.

Aus diesem Grund hat Papst Franziskus beim Welttag der sozialen Kommunikationsmittel betont, dass der Mensch ein »Erzähler« ist. »Seit unserer Kindheit hungern wir nach Geschichten, so wie wir nach Nahrung hungern. Ob es nun Märchen, Romane, Filme, Lieder oder Nachrichten sind: Geschichten beeinflussen unser Leben, auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind.« 1

Deshalb ist das Buch, das Sie in den Händen halten, aus der Absicht entstanden, Geschichte anhand einer Geschichte zu erzählen und die Schilderung der wichtigsten Ereignisse des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts der Stimme eines ganz besonderen Zeitzeugen anzuvertrauen. In diesem Sinne hat Papst Franziskus mit großer Bereitschaft zugestimmt, sein eigenes Leben im Spiegel der großen historischen Ereignisse der letzten Jahrzehnte zu verorten und nachzuzeichnen.

LEBEN ist auf Grundlage einer Reihe von Gesprächen entstanden, die ich mit dem Papst geführt habe, dem mein großer und tiefempfundener Dank gilt für das Vertrauen, das er mir erneut entgegengebracht hat. Gespräche, in denen der Papst sein Herz geöffnet und Erinnerungen wachgerufen hat, um damit Botschaften zu wichtigen Themen wie Glaube, Familie und Armut, interreligiöser Dialog, Sport, wissenschaftlicher Fortschritt, Frieden und vielen anderen zu vermitteln. Vom Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 1939, als der zukünftige Papst knapp drei Jahre alt war, bis zum heutigen Tag nimmt Jorge Mario Bergoglio seine Leserschaft an die Hand, um sie anhand seiner Erinnerungen durch die wichtigsten historischen Ereignisse unserer Zeit zu führen. Wo war der junge Jorge 1969, als die ganze Welt gespannt die erste Mondlandung verfolgte? Wie erlebte Kardinal Bergoglio 2001 den Anschlag auf das World Trade Center?

Erinnerungen eines Seelenhirten, der über die Verfolgung und Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten, über den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, über den Staatsstreich von General Videla in Argentinien und über den Fall der Berliner Mauer ebenso spricht wie über die große Wirtschaftskrise und über den Amtsverzicht von Papst Benedikt XVI.. Ereignisse, die sich mit dem Leben des Papa callejero, des »Papstes von der Straße«, verbinden, der hier seine persönlichen Erinnerungen mit uns teilt, um mit der ihm eigenen Klarsicht die geschichtlichen Begebenheiten zu erzählen, die die Welt und auch sein Leben verändert haben.

Die Stimme von Papst Franziskus wechselt sich ab mit der eines Erzählers, der Momente aus dem Alltag des zukünftigen Papstes schildert und in den jeweiligen historischen Kontext einbettet.

»Unser Leben ist das wertvollste ›Buch‹, das uns überreicht worden ist«, sagte der Papst 2022 im Rahmen einer Reihe von Generalaudienzen, die der guten »Unterscheidung der Geister« gewidmet war, »ein Buch, das viele leider nicht lesen, oder sie tun es zu, bevor sie sterben. Dennoch findet sich gerade in jenem Buch das, was man auf anderen Wegen vergeblich sucht. […] Wir können uns fragen: Habe ich jemals jemandem mein Leben erzählt? […] Es ist eine der schönsten und innigsten Formen der Kommunikation, das eigene Leben erzählen. Es lässt uns bis dahin unbekannte Dinge entdecken, kleine und einfache Dinge, aber, wie es im Evangelium heißt, gerade aus den kleinsten Dingen entstehen die großen Dinge (vgl. Lukas 16,10).« 2

In diesem Sinne blättert der Papst auf folgenden Seiten noch einmal mehr durch das wertvolle Buch, das unser Leben ist, und wird uns mitnehmen auf eine Reise voller Emotionen, Freude und Schmerzen; er wird ein Fenster zur Vergangenheit öffnen, um die Gegenwart besser zu verstehen. Bis zum letzten Kapitel, das erst noch geschrieben werden muss.

Fabio Marchese Ragona

1. Der Beginn des Zweiten Weltkrieges

I.

DER BEGINN DES ZWEITEN WELTKRIEGES

Im Radio werden wie jeden Morgen die Nachrichten verlesen. Mario Bergoglio schaltet den Apparat immer ein, bevor er zur Arbeit geht, während er in der kleinen Küche Kaffee kocht. Der Fußboden glänzt noch feucht, denn seine Frau Regina hat bereits einen kurzen Moment der Ruhe genutzt, um ihn zu wischen. Der Duft und das Aroma des schwarzen, dampfenden Getränks wecken in Mario Erinnerungen an Italien und seine Kindheit in Portacomaro bei Asti im Piemont, ein bisschen so, wie es dem Erzähler in Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ergeht, als er sich durch den Geschmack einer in Lindenblütentee getauchten Madeleine an seine Tante Léonie und die Welt seiner Kindheit erinnert. Marios Erinnerungen jedoch werden durch das Weinen seines zweitgeborenen Sohnes Óscar gestört, das die gesamte Nachbarschaft nicht zur Ruhe kommen lässt.

In den im Hintergrund laufenden Nachrichten geht es hauptsächlich um Politik: Präsident Roberto Ortiz hat eine neue Erklärung über die »Sonderkommission zur Untersuchung antiargentinischer Aktivitäten« veröffentlicht, die 1938 eingerichtet wurde, um im Land nationalsozialistische Umtriebe einzudämmen. Weiter werden im Laufe des Tages neue Arbeitskämpfe der Confederación del Trabajo erwartet. Im September 1939 brechen in vielen argentinischen Städten heftige politische Gegensätze auf. Das »Dritte Reich« findet in Teilen der Gesellschaft Anhänger, und einige Radiostationen verherrlichen sogar zuweilen die Größe Deutschlands unter Adolf Hitler.

Vor dem Verlassen des kleinen, bunten Hauses in der Calle Membrillar 531 im Barrio Flores stürzt Mario seinen Kaffee hinunter und verabschiedet sich mit einem Kuss von Regina, die inzwischen den ein Jahr und acht Monate alten Jungen auf den Arm genommen hat, um ihn zu beruhigen. Jorge dagegen, der ältere der beiden Söhne des jungen Paares, ist schon bereit, abgeholt zu werden. Ein paar Minuten später wird seine Großmutter Rosa, Marios Mutter, die wenige Meter entfernt wohnt, erscheinen, um ihn mit zu sich nach Hause zu nehmen, wo er den ganzen Tag verbringen wird. Fast jeden Tag greift Rosa so ihrer Schwiegertochter unter die Arme, damit diese die viele Hausarbeit erledigen und sich um Óscar kümmern kann.

Nachdem Mario auch seinen Kindern einen Kuss gegeben hat, steht er mit seiner Frau schon an der Tür. In dem kurzen Augenblick der Stille wird er plötzlich durch eine Radiomeldung aufgeschreckt: Der britische Premierminister Chamberlain verkündet die Kriegserklärung seines Landes an Deutschland. Das wenige Stunden zuvor gestellte Ultimatum nach dem Überfall der Wehrmacht auf Polen hat Hitler ohne Antwort verstreichen lassen.

Es ist der Beginn des Zweiten Weltkrieges. Vor allem in Südamerika aber begreift das noch niemand so recht. In Argentinien wird der Nachricht so wenig Bedeutung beigemessen, dass sie erst am Ende der Sendung kurz vor einem musikalischen Intermezzo verlesen wird. Das italo-amerikanische Paar Bergoglio dagegen ist zutiefst bestürzt. Beide denken sofort an ihre Cousins und die übrigen Verwandten in Europa, und zugleich steigt in ihnen die Erinnerung an die oft gehörten, schrecklichen Schilderungen des Ersten Weltkrieges aus dem Munde von Marios Vater Giovanni hoch, der an der Front gekämpft hatte. Diese traurigen und sorgenvollen Gedanken werden jedoch schon wenige Sekunden später verscheucht, als Rosa zweimal kräftig an die Tür klopft. Der plötzliche Lärm bringt sogar Óscar zum Schweigen, und ihr Kommen erfüllt alle mit Freude. Jorge rennt seiner Großmutter entgegen, um sich von ihr in die Arme schließen zu lassen.

Was für eine großartige Frau, ich habe sie sehr geliebt! Meine Großmutter väterlicherseits war eine der wichtigsten Menschen für meine Erziehung und Bildung. Sie wohnte nicht einmal fünfzig Meter von unserem Haus entfernt, ich verbrachte den ganzen Tag bei ihr. Sie ließ mich spielen und sang mir Lieder aus ihrer Kindheit vor. Oft hörte ich sie auf Piemontesisch mit meinem Großvater diskutieren, und so erlernte auch ich die Sprache ihrer Erinnerungen. Manchmal nahm sie mich auch mit zu den Nachbarn, mit denen sie sich lange unterhielt und Mate trank. Oder sie nahm mich mit, wenn sie Besorgungen im Viertel zu erledigen hatte, und abends brachte sie mich zurück zu Mama und Papa, aber nicht bevor sie mich dazu gebracht hatte, die Gebete zu sprechen. Tatsächlich war sie die erste Person, die mir die christliche Botschaft nahegebracht und mich beten gelehrt hat und von dieser großartigen Gestalt zu erzählen, die ich noch nicht kannte: Jesus.

Nicht umsonst war dann auch Oma Rosa neben Francesco, meinem Großvater mütterlicherseits, meine Taufpatin. Das erste Sakrament spendete mir Don Enrico Pozzoli, ein redlicher salesianischer Missionar, der ursprünglich aus der Provinz Lodi in der Lombardei stammte und den Großvater Giovanni in Turin kennengelernt hatte. Er war es auch, der meine Eltern getraut hatte: Papa und Mama hatten sich in der Jugendbegegnungsstätte der Salesianer in Argentinien kennengelernt, und seitdem war Don Enrico jemand, der maßgeblich war für unsere Familie und später für meine Berufung zum Priesteramt.

Wenn ich mich an die Zeit, die ich mit meiner Großmutter verbracht habe – damals war ich knapp drei Jahre alt, also noch sehr klein –, erinnere, ist es nicht so leicht, mir jene Tage im Jahr 1939 zu vergegenwärtigen, als die Bosheit der Menschen den Zweiten Weltkrieg entfesselte. In meinem Gedächtnis sind nur Momentaufnahmen aus unserem Alltag hängengeblieben: Das Radio lief immer im Hintergrund, mein Vater schaltete es schon am Morgen ein und hörte mit meiner Mutter zusammen den staatlichen Rundfunksender, der damals Estación de Radiodifusión del Estado (LRA1) hieß; außerdem gab es Radio Belgrano und Radio Rivadavia, die ebenfalls täglich über den Kriegsverlauf berichteten. Meine Mutter schaltete das Radio auch am Samstagnachmittag ab 14 Uhr ein, damit wir Kinder eine Oper hören konnten. Ich erinnere mich daran, dass sie uns vor Beginn der Sendung in groben Zügen die Handlung erzählte. Bei einer besonders schönen Arie oder einem Höhepunkt der Handlung versuchte sie, unsere Aufmerksamkeit zu wecken. Ich muss zugeben, dass wir uns oft ablenken ließen, schließlich waren wir ja noch klein! Während Verdis Otello beispielsweise ermahnte Mama uns mit den Worten: »Passt auf, jetzt ermordet er Desdemona im Bett!« Dann wurden wir mucksmäuschenstill und warteten gespannt darauf, was folgen würde.

Um auf den Krieg zurückzukommen: Bei uns nahm man die bedrohliche Atmosphäre nicht so sehr wahr, weil wir weit von den Schauplätzen entfernt waren, auf denen das Schicksal der Menschheit entschieden wurde. Im Gegensatz zu vielen anderen Argentiniern habe ich vom Zweiten Weltkrieg erfahren, weil bei uns zu Hause darüber gesprochen wurde. Aus Italien erreichten uns, wenn auch mit einem Monat Verspätung, offene Briefe unserer Verwandten, in denen sie uns über das Geschehen informierten. Sie waren es, die uns Informationen über den Krieg in Europa übermittelten. Ich nenne diese Briefe offen, weil sie vom Militär kontrolliert wurden: Die Post wurde geöffnet, gelesen, wieder geschlossen und erhielt dann den Stempel ZENSUR. Ich weiß noch, wie Mama, Papa oder Oma diese Briefe laut vorlasen, die sich mir fest eingeprägt haben. In einem von ihnen berichteten sie uns beispielsweise davon, dass einige Frauen aus dem Dorf, die sie kannten, nach Bricco Marmorito nahe Portacomaro Stazione gegangen waren, um auszukundschaften, ob Kontrollen durch das Militär zu erwarten waren. Ihre Ehemänner waren in Bricco geblieben, um zu arbeiten, und das war offensichtlich verboten. Hätten die Frauen bei ihrer Rückkehr etwas Rotes angehabt, hätten die Männer sich sofort verstecken müssen. Weiße Kleider dagegen bedeuteten, dass es keine Patrouillen in der Gegend gab und die Männer weiterarbeiten konnten.

Aber dies ist nur eins der Beispiele, wie das Leben damals aussah. Wie viel Tod! Wie viel Zerstörung! Wie viele junge Männer wurden an die Front geschickt, um zu sterben! Auch wenn die Ereignisse mehr als achtzig Jahre zurückliegen, darf man nie die unzähligen Familien vergessen, deren Leben vollständig zerstört wurde. Der Krieg zerfrisst dein Innerstes, das sieht man in den Augen der Kleinsten, die keine Freude mehr in ihren Herzen tragen, sondern nur noch Angst und Traurigkeit. Denken wir an die kleinen Kinder! Denken wir an diejenigen, die noch nie in ihrem Leben Frieden erlebt haben, die schon im Krieg geboren sind, die mit diesem Trauma leben müssen und es lebenslang in sich tragen. Was können wir für sie tun? Wir müssen uns diese Frage stellen und den Weg zum Frieden suchen, den Weg, der diesen Kleinen eine sichere Zukunft sein kann.

Auch ich selbst habe den Zweiten Weltkrieg als Kind erlebt, hatte aber Glück, weil Argentinien von dieser Tragödie nicht wie andere Länder betroffen war. Es gab allerdings einige Seegefechte. Eines der wenigen Ereignisse, an das ich mich auch deshalb erinnere, weil mir meine Eltern später davon erzählt haben, fand genau an meinem dritten Geburtstag, am 17. Dezember 1939, statt. Im Radio hieß es, das deutsche Kriegsschiff Admiral Graf Spee sei an der Mündung des Río de La Plata von britischen Schiffen eingekreist und schwer beschädigt worden. Gegen Hitlers Befehl, den Kampf fortzusetzen, entschied Kapitän Langsdorff im Einvernehmen mit seinen Offizieren, das Schiff zu versenken, evakuierte sich selbst und die Mannschaft auf verschiedene Boote und fuhr nach Buenos Aires. Einige Tage später, in der Nacht vom 19. zum 20. Dezember, beging der Kapitän, auf der Kriegsflagge seines Schiffs liegend, in einem Hotelzimmer Selbstmord. Seine Männer wurden in Argentinien in den Provinzen Córdoba oder Santa Fe interniert. Den Sohn eines dieser Matrosen habe ich als einen guten Menschen kennengelernt, der in Argentinien geheiratet und eine Familie gegründet hat.

So habe ich also von der Tragödie des Zweiten Weltkrieges erfahren, und ein paar Jahre später, als ich etwa zehn war, begegnete ich ihr auch im Kino: Unsere Eltern gingen mit uns in das Kino unseres Viertels, wo ich alle Filme der Nachkriegszeit gesehen habe. Besonders deutlich erinnere ich mich an Roberto Rossellinis Meisterwerk Rom, offene Stadt mit Anna Magnani und Aldo Fabrizi, aber auch an seine Filme Paisà und Deutschland im Jahr Null oder an Die Kinder beobachten uns von Vittorio De Sica aus dem Jahr 1943.

Etwas ganz anderes ist dagegen La Strada – das Lied der Straße aus dem Jahr 1954 von Federico Fellini, der Film, den ich am meisten geliebt und den ich erst gesehen habe, als ich schon älter war. Er handelt nicht vom Krieg, aber ich möchte ihn erwähnen, weil er den Blick auf die Ärmsten der Armen wie Gelsomina richtet und die Zuschauer einlädt, die Welt durch ihre Augen zu sehen.

Mit Blick auf den Wahnsinn des Krieges, der zu nichts als Zerstörung führt, muss ich an den Ehrgeiz, den Machthunger und die Gier derer denken, die diese Konflikte auslösen. Dahinter steht nicht nur eine Ideologie als falsche Rechtfertigung; dahinter steht ein gänzlich fehlgeleiteter Antrieb, der auf niemanden Rücksicht nimmt, weder auf alte Menschen noch Kinder, Mütter oder Väter. Das gilt besonders für den Zweiten Weltkrieg, der noch grausamer war als der Erste, in dem mein Großvater Giovanni Bergoglio an der Piave-Front kämpfte. Er war es, der mir, wenn ich im Haus der Großeltern war, viele leidvolle Geschichten erzählt hat. Geschichten von unzähligen Toten, zerstörten Häusern, ja sogar Kirchen. Und er erzählte mir auch, dass er mit seinen Kameraden an der Front das Lied sang:

General Cadorna hat sich an die Königin gewandt:

»Wenn du Triest sehen willst,

dann nimm eine Postkarte zur Hand.«

Bom bom bom

Zum Donner der Kanon …

Aber auch durch die Gespräche der zahllosen Flüchtlinge, die aus ihren von den Nationalsozialisten überfallenen Heimatländern hatten fliehen müssen, erfuhr ich als Kind vom Krieg. Aber darüber sprechen wir später.

Der erst dreijährige Jorge kann natürlich noch nicht das ganze Ausmaß des Krieges erfassen. In seiner Unschuld vermag er das Leiden der vielen Familien, die fliehen mussten, um ihr Leben zu retten, nicht zu ermessen. Da er jedoch seine Tage im Hause der Großeltern verbringt und deren Gespräche und Diskussionen auf Piemontesisch verfolgt, begreift er allmählich, dass auch sie, wenn auch aus anderen Gründen, von weither gekommen sind und dass in Italien noch ein Teil der Familie lebt, die den Verwandten in Argentinien Nachrichten über den Kriegsverlauf schickt.

Nach einer wirtschaftlich schwierigen Zeit hatte Giovanni Ende der 1920er-Jahre mit seiner Frau Rosa und seinem Sohn Mario beschlossen, den drei seiner sechs Brüder zu folgen, die nach Argentinien ausgewandert waren und sich in der Provinz Entre Ríos niedergelassen hatten. Rosa war damals Schneiderin und in der katholischen Laienbewegung Azione Cattolica aktiv, Mario war schon um die zwanzig, besaß ein Diplom in Buchhaltung und arbeitete für die Banca d’Italia in deren Filiale in Asti. Die Bergoglios kamen mit einer Bodenbelagsfirma in Paraná zu Wohlstand. Doch die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise von 1929 setzten dem Traum vom Aufstieg in der Neuen Welt bald ein Ende, und das Unternehmen musste 1932 Konkurs anmelden. Gemeinsam mit dem jungen Mario, der inzwischen Buchhalter im Familienbetrieb war, zogen Giovanni und Rosa nach Buenos Aires, um noch einmal von vorn zu beginnen. Dank eines kleinen Kredits von zweitausend Pesos kauften sie im Barrio Flores ein Ladengeschäft und konnten in dem volkstümlich geprägten Viertel endlich Wurzeln schlagen.

Wieder und wieder will der kleine Jorge von Oma Rosa die Geschichte der langen Atlantiküberquerung auf dem Dampfer Giulio Cesare hören, mit dem die Familie von Genua aus nach zwei Wochen Fahrt am 15. Februar 1929 in Buenos Aires gelandet war. Auf der Bank vor dem Haus sitzend berichtet Rosa mit Engelsgeduld ein ums andere Mal, wie sie in der argentinischen Hauptstadt angekommen war, in ihrem Wintermantel mit Fuchskragen völlig falsch gekleidet für die Südhalbkugel – in das Futter des Mantels hatte sie die Familienersparnisse eingenäht.

Rosa hingegen muss in diesem September 1939, der die Nachricht vom Ausbruch des Krieges in Europa gebracht hat, vor allem an ihre italienischen Verwandten denken, an die Familie Vassallo, die noch in Ligurien lebt. Giovanni seinerseits versucht von seinem Geschäft aus mit allen Mitteln Kontakt zu seinen in Portacomaro verbliebenen Verwandten aufzunehmen. Im Hintergrund läuft (wie immer) das Radio, und der Nachrichtensprecher verkündet, dass auch Frankreich Deutschland den Krieg erklärt hat und zu seinen Bündnisverpflichtungen mit Großbritannien steht. Obwohl Italien noch neutral ist – Benito Mussolini wird erst im Juni 1940 als Verbündeter Hitlers in den Krieg eintreten –, sind die Bergoglios voller Sorge und Unruhe. Während Rosa tagsüber auf Jorge aufpasst, führt sie mit ihren engsten Freundinnen lange Gespräche über ihr früheres Leben in Italien, die Erinnerungen an Verwandte und unbeschwerte Augenblicke ihrer Jugend wachrufen. Das Heimweh scheint inmitten der argentinischen goldenen Mauern die Oberhand zu gewinnen. Still und ergriffen hört der Enkel seiner Großmutter zu, der er von tiefstem Herzen zugetan ist.

Meine Großeltern Rosa und Giovanni und mein Vater waren durch ein Wunder gerettet worden! Ich wäre nicht hier, wenn ihre Pläne nicht von einem gescheiterten Immobilienverkauf durchkreuzt worden wären. Die Abreise nach Argentinien war ursprünglich für Oktober 1927 geplant: Der Großvater hätte die Familiengrundstücke in Bricco verkauft, und mit dem Geld hätten die drei sich in Genua auf der Principessa Mafalda eingeschifft. Es handelte sich um ein großes Dampfschiff, das schon zahlreiche Überseefahrten zurückgelegt hatte, aber nun auf der Reise nach Buenos Aires einen Propellerbruch erlitt und sank. Mehr als dreihundert Tote, eine große Tragödie. Zum Glück waren die Großeltern und Papa nicht an Bord gewesen, denn obwohl die Grundstücke schon länger zum Verkauf standen, fand sich kein Käufer, und ohne das nötige Geld mussten sie die Reise wenige Tage vor der Abfahrt mit großem Bedauern aufgeben. Das Warten dauerte bis 1929, als sie ein anderes Schiff, die Giulio Cesare, bestiegen. Nach zweiwöchiger Überfahrt kamen sie in Argentinien an und wurden im Hotel de Inmigrantes empfangen, einem Aufnahmezentrum für Migranten, nicht sehr anders als jene, von denen heute die Rede ist.

Während mein Vater nie Piemontesisch sprach, vielleicht weil er zu sehr an Heimweh litt, und es unbewusst nicht zugeben wollte, sprachen meine Großeltern es regelmäßig, und deshalb kann ich behaupten, dass es meine erste Muttersprache war. Ich glaube, dass jeder Migrant, jede Migrantin, einen ähnlichen inneren Kampf ausfechten muss wie mein Vater. Das ist nicht leicht! Schon Homer erzählt davon in seiner Odyssee, aber auch der piemontesische Dichter Nino Costa, den ich sehr schätze. In einem seiner Werke drückt er die Sehnsucht derjenigen aus, die gerne in ihre Heimat zurückkehren würden, es aber nicht können. Migranten verfügen über einen großen Schatz an Erfahrungen und Geschichten, die uns bereichern und uns helfen können zu wachsen. Über den Zweiten Weltkrieg beispielsweise habe ich viel von den polnischen Einwanderern gelernt. Papas Arbeitsplatz lag nur knapp hundert Meter von unserem Haus entfernt. Er arbeitete damals als Buchhalter in einer großen industriellen Färberei, in der Großkunden Garne und Stoffe färben ließen. Nach und nach begannen dort immer mehr Menschen aus Polen zu arbeiten, die den Krieg, den Einfall der Truppen Nazideutschlands und den Tod ihrer Angehörigen mit eigenen Augen gesehen hatten. Sie hatten das Drama erlebt und waren dem Traum eines neuen Lebens in Südamerika gefolgt. Wenn ich meinen Vater an seinem Arbeitsplatz besuchte – zu dieser Zeit war ich schon acht oder neun Jahre alt –, blieb ich eine Weile dort, um ihren Geschichten zu lauschen. Es waren etwa ein Dutzend freundliche und großherzige Menschen. Sie erzählten von großem Leid, von zerstörten Familien, von Freunden, die an die Front mussten und nicht zurückkamen; von Müttern, die hofften, ihre lieben Kleinen wieder umarmen zu können und stattdessen nur eine Blume für den Tod ihrer Söhne erhielten.

Doch trotz der erlittenen Schicksalsschläge hatten diese Menschen nicht verlernt zu lächeln. Manchmal riefen sie uns Kinder zu sich, spielten uns einen Streich oder brachten uns polnische Schimpfwörter bei. Ich erinnere mich daran, wie einmal einer von ihnen zu mir sagte: »Geh zu der Frau da drüben und sag ihr das Wort …« Für mich besaß das Wort natürlich keinerlei Bedeutung, aber auf Polnisch war es wohl nicht gerade ein Kompliment! Es gab mithin auch heitere Momente jenseits der Beschäftigung mit dem Krieg. Trotzdem hatten diese Menschen auch jenen unverkennbaren, wehmütigen Gesichtsausdruck all derer, die ihre Heimat verloren haben. Dieser Verlust bleibt ein unauslöschlicher Schmerz. Auch heute müssen noch unendlich viele Menschen – wie meine Großeltern und die polnischen Einwanderer damals – ihr Land verlassen, in der Hoffnung, ein neues Leben zu finden. Stattdessen ertrinken die Flüchtlinge im Meer oder werden an der Grenze zurückgewiesen. Auch für diese menschlichen Dramen zeichnet sich das Böse im Menschen verantwortlich. Schuld sind die verhärteten Herzen, die das Wort Gottes nicht annehmen, das uns dazu auffordert, die Tür nicht zu verschließen für diejenigen, die um Aufnahme bitten, und unser Herz weit zu öffnen für alle, die Wärme ersuchen oder eine ausgestreckte Hand, um sich wieder aufzurichten.

Wir sollten uns immer daran erinnern, wie viele Italiener vor und nach dem Krieg nach Südamerika oder in die Vereinigten Staaten ausgewandert sind, wie viele unserer Familien einmal Migranten waren! Auch sie galten vielleicht einst als die »Bösen«, die »Gefährlichen«. Dabei waren auch sie nur auf der Suche nach einer besseren Zukunft für ihre Kinder. »Wo ist dein Bruder?«, wird Kain im Buch Genesis von Gott gefragt. Diese Frage stellt sich uns auch heute und muss uns aufrütteln, denn wir achten nicht darauf, was Gott geschaffen hat, und sind nicht mehr in der Lage aufeinander zu achten. Und wenn diese Achtlosigkeit sich ausbreitet, kommt es zu Tragödien wie jenen, von denen wir so oft in den Zeitungen lesen. Ich will es wiederholen, ich will es herausschreien: Lassen wir unsere Brüder und Schwestern, die anklopfen, herein! Denn wenn sie richtig integriert, begleitet und behütet werden, werden sie eine große Bereicherung für unser Leben sein. Genau wie die vor den Schrecken des Krieges geflüchteten Polen, die ich als Kind kennengelernt habe, sind auch die Migranten heute nur auf der Suche nach einem besseren Leben, finden stattdessen aber den Tod. Leider viel zu oft treffen diese Brüder und Schwestern, die sich nach Frieden sehnen, nicht auf Entgegenkommen oder Solidarität, sondern man zeigt mit dem Finger auf sie. Vorurteile zerfressen die Seele, Bosheit tötet sie ab und bringt nichts als Mord und Zerstörung hervor. Nie dürfen wir auch das Schicksal unserer jüdischen Brüder und Schwestern vergessen. Und auch damit verbinden sich viele persönliche Erinnerungen.

2. Der Holocaust

II.

DER HOLOCAUST

»Ein richtiges Ungeheuer ist er, anders kann man es nicht sagen …« Mit einer verächtlichen Geste steht Jorges Mutter Regina abrupt vom Tisch auf und lässt ihren Teller mit der Minestra stehen. Für sie zumindest scheint das Abendessen beendet zu sein. Im Gedanken an das, was sie gerade von ihrer Schwiegermutter gehört hat, knallt sie den Topf mit der übrig gebliebenen Suppe so heftig aufs Spülbecken, dass es nur so in alle Richtungen spritzt. Dabei wiederholt sie immer wieder die Worte: »Ein richtiges Ungeheuer!«

Marta, die Jüngste der Familie, ist vom Ton der mütterlichen Stimme verängstigt und fängt zu weinen an; Jorge und Óscar, die beiden Älteren, die sich, statt zu essen, mit ihren Löffeln ein Gefecht liefern, halten inne und verstummen. Besonders Jorge starrt seine Mutter erstaunt an, während Mario aufsteht, um seine kleine Tochter auf den Arm zu nehmen. Noch nie hat er seine Frau so aufgebracht erlebt. Vielleicht hat sie früher so reagiert, wenn sie sich persönlich ungerecht behandelt fühlte, aber nie angesichts einer Nachricht, die sie nicht direkt betraf. Es herrscht eine gedrückte Atmosphäre im Hause Bergoglio an jenem warmen Dezemberabend des Jahres 1941. Nach Reginas jähem Ausbruch sind alle totenstill. Zu hören ist nichts als das Plätschern des ins Becken fließenden Wassers, gemischt mit Reginas Schluchzern, während sie den Abwasch macht. Von draußen dringt gedämpft das Geschrei auf der Straße spielender Kinder herein und das leiser werdende Motorgeräusch eines halb verrosteten Lastwagens, der eine Gruppe von Arbeitern zur Nachtschicht außerhalb des Barrio Flores bringt.

Es war Großmutter Rosa, deren Berichte die heftige Reaktion ihrer Schwiegertochter ausgelöst haben. Von einem nachmittäglichen Besuch ihrer alten Freundin Margherita Muso Nero, die von Turin nach Argentinien ausgewandert war, hatte sie die neuesten Nachrichten aus Italien mitgebracht. Viele von Margheritas Verwandten waren nach Einführung der italienischen Rassengesetze 1938 ins Ausland geflohen, während andere blieben, weil sie darauf hofften, dass die Zeiten sich wieder ändern würden. In ihrem letzten Brief berichteten die Verwandten davon, dass es in anderen Ländern schon zu Verfolgungen von Juden gekommen sei und dass in den großen Städten der von den Deutschen besetzten Länder Ghettos eingerichtet worden waren, in denen Tausende zu Tode kämen. Unzählige Menschen seien in Arbeitslager deportiert worden. Tatsächlich hat das begonnen, was später unter dem Begriff »Endlösung der Judenfrage« in die Geschichte einging, sprich die Erschießung ganzer Gemeinschaften, der Einsatz mobiler Gaskammern und die Deportationen in die großen Konzentrationslager: das Stammlager Auschwitz I ist schon seit 1940 in Betrieb, das Vernichtungslager Auschwitz II, Auschwitz-Birkenau, mit seinen stationären Gaskammern und Krematorien seit Oktober 1941.

Mit Tränen in den Augen hat Rosa der Erzählung ihrer Freundin gelauscht, die ihr berichtete, dass die festgesetzten Juden mit unbekanntem Ziel gewaltsam in Waggons gepfercht wurden, die für den Transport von Vieh, nicht aber von Menschen geeignet waren. Hunderte eng zusammengedrängte Menschen mit ihren Koffern und den Erinnerungen an ihr vergangenes Leben. Kinder, die von ihren Müttern weggerissen oder von Nachbarn versteckt wurden, Ehemänner, von ihren Frauen getrennt, die mit Stöcken auf die Beine geschlagen wurden, damit sie schneller rannten.

Nach dem Besuch ihrer Freundin hat die Großmutter vor dem Abendessen den kleinen Jorge nach Hause gebracht und ist ein paar Minuten geblieben, um ihrem Sohn und der Schwiegertochter leise zu erzählen, was sie von Signora Muso Nero erfahren hat. Weil die erschütterte Rosa auf keinen Fall will, dass die Kinder die traurigen Geschichten mitbekommen, schaltet sie das Radio ein und stellt es lauter als gewohnt. Das Esszimmer wird plötzlich von Tangoklängen erfüllt: Radio El Mundo überträgt »Recuerdo« von Osvaldo Pugliese, der in Buenos Aires als der »Patron des Tango« verehrt wird. Der inzwischen fünfjährige Jorge scheint sich schon für den Tango zu begeistern. Durch diese Hintergrundmusik werden die dramatischen Geschichten der Großmutter mit noch mehr Emotionen aufgeladen; Mario denkt an seine jüdischen Freunde und spricht das Wort Ungeheuer aus, das seine Frau wenige Minuten später beim Abendessen wiederholt.

In dieser Zeit hörte ich die Erwachsenen häufig während der Mahlzeiten oder wenn ein Cousin oder Onkel zu Besuch da war, sagen: »Hitler ist ein Ungeheuer!« Natürlich blieben Mama und Papa von dem, was in Europa geschah, nicht unberührt, und wenn sie untereinander oder mit Oma sprachen, fiel der Name ebenfalls. Ich war noch zu klein, um damit etwas zu verbinden. Doch als ich älter wurde, begriff ich, wer dieser Mann war.

Papa arbeitete damals mit vielen jüdischen Menschen zusammen, mit denen er sich auch anfreundete. In seiner Färberei gab es viele Kunden, die dieser Religionsgemeinschaft angehörten, und die Garne oder Strümpfe herstellten und Stoffe färben ließen. Manchmal kamen sie mit ihrer ganzen Familie auch zu uns nach Hause. Unvermeidlich kam dann auch die Verfolgung der Juden zur Sprache, denn viele ihrer Verwandten waren über ganz Europa verstreut. Von einigen hatten sie nie wieder etwas gehört, seit sie verschleppt worden waren.

Während die Erwachsenen über solche Dinge sprachen, wurden wir Kinder zum Fußballspielen ins Freie oder in ein anderes Zimmer geschickt. Genauso ging es mir im Haus meiner Großmutter, wenn ihre alte Freundin Signora Margherita Muso Nero zu Besuch kam, eine einfache freundliche Frau. Obwohl sie etwa zehn Jahre jünger war als Oma, kam sie häufig und erzählte, was ihre Verwandten durchmachen mussten.

Auch bei diesen Gelegenheiten mussten wir Kinder den Raum verlassen, weil uns diese Gespräche nicht verstören sollten. Ab und zu aber erhaschte ich das eine oder andere Wort. Was hat Oma über Hitler geschimpft! Und auch über die, die ihn in unserem Land unterstützten. Damals gab es antisemitische Kräfte in der argentinischen Gesellschaft. Ich spreche natürlich nicht von allen, doch einige Splittergruppen, vor allem im Partido Nacionalista, vertraten die Vorstellungen des »Dritten Reichs«. Auch bei uns in Argentinien gab es judenfeindliche Gesinnung, und das hat mich immer sehr geschmerzt.

Ich habe zu Gott gebetet, dass er auch diesen Menschen und die Grausamkeiten der totalitären Regime vergeben möge. So habe ich es auch ins Gästebuch geschrieben, als ich in Polen die Lager Auschwitz und Birkenau in stiller Pilgerschaft besuchte. Ich hielt keine Rede, jedes Wort wäre zu viel gewesen im Angesicht dieser ungeheuren Grausamkeit. Vor der Todeswand, an der die Häftlinge erschossen wurden, wollte ich für die Seelen der Opfer, für diese unsere älteren Brüder und Schwestern im Glauben und für all die Gemeinschaften beten, die diese Gräueltaten menschlicher Verblendung hatten erleiden müssen. Ich besuchte auch den Hungerbunker, in dem der heiliggesprochene Franziskanermönch Maximilian Kolbe ermordet worden war; er hatte sein Leben für einen Familienvater geopfert. Besonders hat es mich immer geschmerzt, dass diese unschuldigen Menschen bei der Deportation auf infamste Weise getäuscht worden waren: Sie glaubten, in Arbeitslager gebracht zu werden, und ahnten nicht, dass sie schon bald umgebracht werden sollten. Für den Besuch der Konzentrations- und Vernichtungslager finde ich keine Worte. Doch ich kann sagen, dass man dort auch nach so vielen Jahren die Nähe des Todes und der Grausamkeit immer noch spürt. Es war tief beeindruckend.

In den 1940