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Papst Franziskus wird von Menschen inner- wie außerhalb der Kirche als authentische Stimme wahrgenommen, die Orientierung bietet. In seinem neuesten Buch beschreibt der Papst, wie er sich selbst von den klassischen Leitbildern für ein gelungenes Leben motivieren lässt – den Tugenden. Für Franziskus sind das keine verstaubten Theorien von Gelehrten für besonders Fromme, sondern gelebtes Leben: Tugenden sind die "Muskeln", die uns die Kraft geben, Gutes zu tun. Und ebenso definiert er Laster nicht als etwas, das man verbieten oder bekämpfen müsste, sondern als etwas, womit wir uns selbst schwächen. Im Gespräch mit dem bekannten Gefängnisseelsorger Marco Pozza entwirft Franziskus eine echt christliche Lebenskunst. Für alle, die sich der Schönheit und der Herausforderung des Glaubens stellen wollen.
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Seitenzahl: 184
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Papst FranziskusMit Marco Pozza
Von Lastern und den Tugenden
Die Balance des Lebens finden
Aus dem Italienischen von Gabriele Stein
Titel der Originalausgabe:
Dei vizi e delle virtù
Copyright © 2021 Libreria Editrice Vaticana, Città del Vaticano
© 2021 Mondadori Libri S.p.A., Milano
All rights reserved
Deutsche Erstausgabe
© Verlag Herder GmbH, Freiburg in Breisgau 2022
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Als Bibelübersetzung ist zugrunde gelegt:
Die Bibel. Heilige Schrift
Des Alten und Neuen Bundes.
Vollständige deutschsprachige Ausgabe
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2005
Umschlaggestaltung: Verlag Herder
Umschlagmotiv: © Stefano Spaziani, Rom, 2021
E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern
ISBN Print: 978-3-451-39214-6
ISBN E-Book (Epub): 978-3-451-82693-1
ISBN E-Book (PDF): 978-3-451-82694-8
Einleitung
Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit
Papst FranziskusDer Gerechtigkeitssinn
Marco PozzaMatutin – Die Nacht im Gefängnis
Wankelmut und Tapferkeit
Papst FranziskusMut und Prophetie
Marco PozzaLaudes – Das Erwachen
Zorn und Mäßigung
Papst FranziskusKonflikt und Vergebung – Der unvermeidliche Konflikt
Marco PozzaTerz – Die Schule
Torheit und Klugheit
Papst Franziskus»Nicht einen Geist der Verzagtheit, sondern der Besonnenheit«
Marco PozzaSext – Die Arbeit
Unglaube und Glaube
Papst Franziskus»Dein Glaube hat dich gerettet«
Marco PozzaNon – Die Erfahrung des Bösen
Eifersucht und Liebe
Papst FranziskusDer einzigartige Wert der Liebe
Marco PozzaVesper – Abendbrot ohne Familie
Verzweiflung und Hoffnung
Papst FranziskusDie Hoffnung lässt nicht zugrunde gehen
Marco PozzaKomplet – Die Sehnsucht nach dem Guten
Quellen
Die Schönheit des neuen Lebens in Christus lässt sich besser in Bildern als in Begriffen ausdrücken. Denn »auf Bilder und Metaphern zurückzugreifen, um die demütige Macht des Reiches zu verkünden, bedeutet nicht, ihre Bedeutung und Dringlichkeit herunterzuspielen. Es ist die barmherzige Art und Weise, die dem Hörer den Freiraum lässt, sie anzunehmen und auch auf sich selbst zu beziehen« (Botschaft zum Welttag der sozialen Kommunikationsmittel 2017).
Es gibt Momente, da sagt ein Bild viel mehr als ein Wort: In solchen ›Augenblicken‹ sind die Augen die Lehrmeister des Mannes und der Frau. Im Lauf der zweitausendjährigen Geschichte der Kirche haben unzählige Künstler ihren Verstand geschärft, indem sie sich mit dem Leben Christi und, jeder auf seine Weise, mit den großen Geheimnissen des christlichen Lebens auseinandergesetzt haben: von der Menschwerdung über das Kreuz bis hin zur Aussendung des Heiligen Geistes.
Mit den Jahrhunderten sind aus diesen Bildern aussagekräftige Katechesen geworden. Sie vermögen Neugier zu wecken und gleichzeitig auf das Bedürfnis nach Unendlichkeit zu antworten, das in jedem Geschöpf schlummert, das die Erde bewohnt: »Von der Jahrhunderte langen Tradition der Konzilien lernen wir, dass auch das Bild Verkündigung des Evangeliums ist. Die Künstler jeder Epoche haben die herausragenden Ereignisse des Heilsmysteriums den Gläubigen zum Betrachten und Bestaunen dargeboten und sie im Glanz der Farbe und in der Vollkommenheit der Schönheit zur Darstellung gebracht«, heißt es in der Einleitung zum Kompendium des Katechismus der Katholischen Kirche. Die Bilder sind also Fingerzeige.
Sie lassen Geschichten wieder lebendig werden, die ihrerseits Geschichten hervorbringen.
Das vorliegende Gespräch über die Laster und die Tugenden ist von der Fresken-Katechese inspiriert, mit der Giotto di Bondone in den ersten Jahren des 14. Jahrhunderts die Cappella degli Scrovegni in Padua ausgeschmückt hat. Das Kreuz Christi ist der höchste Punkt der Geschichte, ist Quelle und Gipfel zugleich: Inspiriert von der Jungfrau Maria diesen Übergang zu passieren heißt, der Umarmung Christi und seiner Heiligen entgegenzugehen. Die 14 Gemälde, auf denen Giotto die sieben Tugenden den sieben Lastern gegenüberstellt, sind ein Versuch, die Konsequenzen der Ankunft Christi auf Erden zu erzählen: die Anziehungskraft des Guten und die Abscheulichkeit des Bösen.
Die von Giotto gemalten Tugenden sind dieselben, die uns die Tradition überliefert: die vier Kardinaltugenden – Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mäßigung und Klugheit – und die drei göttlichen Tugenden: Glaube, Hoffnung und Liebe. Diesen klassischen Tugenden stellt der berühmte Maler sieben Laster gegenüber, die er im Licht seiner Sichtweise neu interpretiert: Ungerechtigkeit, Wankelmut, Zorn und Torheit als Gegenstücke zu den Kardinaltugenden; Unglaube, Verzweiflung und Eifersucht als Gegenstücke zu den göttlichen Tugenden.
Von ihrer Natur her ähneln die Tugenden unseren Muskeln: Sie müssen gekräftigt werden, das heißt, sie brauchen Training. Ausgangspunkt ist wie im Sport immer eine Situation der Schwäche, der Begrenzung, der Zerbrechlichkeit: Die Tugend ist die Kraft, die den Menschen dazu bringt, sich anzustrengen, um ein höheres Ziel zu erreichen. Das Laster hingegen ist das Eingeständnis einer Unfähigkeit, Gutes zu tun: Man lässt sich gehen und gibt sich damit zufrieden, ohne jede Mühe alles zu genießen, wonach einem der Sinn steht.
Über Laster und Tugend nachzudenken heißt also, über die Mühe und die Schönheit des alltäglichen Lebens nachzudenken. Genau hier, wo das Kommen Christi den Menschen in seiner äußersten Freiheit herausfordert, setzt Gottes großer Traum an, der Grund seiner so geheimnisvollen Nähe zu den Menschen aller Epochen: »Ich bin gekommen, damit sie Leben haben und es in Fülle haben« (Joh 10,10). Leben in Fülle.
Dieses unser Gespräch erwächst – genau wie die drei vorangegangenen über das Vaterunser, das Ave Maria und das Credo – aus der Begegnung zweier nur scheinbar gegensätzlicher Standorte: Das Zentrum der Kirche tritt in Dialog mit der Peripherie eines Gefängnisses. Zwei Perspektiven, die sich suchen, um sich zu ergänzen, die sich ergänzen, um Zeugnis abzulegen, die Zeugnis ablegen, um Christus und sein Heil zu verkünden. So gesehen ist das Gefängnis ein Kaleidoskop von Situationen: Wie sich die Fäden des Guten unvermeidlich mit denen des Bösen verschlingen, ist vielleicht an keinem anderen Ort, in keiner anderen Phase des Lebens so deutlich zu erkennen wie im Gefängnis, während der Erfahrung der Haft. Man begreift, dass es zwischen ihnen keine klare Trennung, sondern eher eine Art Grauzone gibt: Keine Geschichte ist ausschließlich von der Tugend und keine Geschichte ist ausschließlich vom Laster geprägt. Alle Geschichten sind eine rätselhafte Mischung aus Ehre und Schande, Anziehung und Abscheu, Schönheit und Lüge. Auf diesem Gebiet, das offenbar ein Niemandsland ist, lässt sich die Wirkweise der Gnade Gottes besonders gut beobachten: Sie bewirkt, dass die Übung der Tugend den Erzengel weckt, der in jedem Menschen steckt, und im Kampf gegen das Laster das wilde Tier in Schach hält, das hinter jedem Menschen lauert.
Während der Mensch sich überlegt, auf wessen Seite er stehen will, hält Gott die Sehnsucht des Anfangs wach: »Noch denke ich an die Treue deiner Jugend, an die Liebe deiner Brautzeit. Wie du hinter mir herzogst in der Wüste, im Land ohne Saat.« Dieser Treue fühlt sich der Herr selbst in den Zeiten des Unglaubens auf immer verpflichtet: »Was haben euere Väter an mir Unrechtes gefunden, dass sie von mir weggingen?« (Jer 2,2.5).
Diese Reise – gleichsam eine Art Pilgerfahrt zu den Quellen – ist von einem Abschnitt aus einem Buch von Charles Péguy inspiriert. Darin beschreibt der französische Dichter den Kampf zwischen der Gnade Gottes und der menschlichen Torheit, der in jedem Menschen tobt: »Weil sie nicht die Kraft (und nicht die Gnade) haben, der Natur anzugehören, glauben sie, dass sie der Gnade angehören. Weil sie keinen zeitlichen Mut haben, glauben sie, dass sie schon begonnen hätten, das Ewige zu durchdringen. Weil sie nicht den Mut haben, von der Welt zu sein, glauben sie, dass sie Gottes seien. Weil sie nicht den Mut haben, einer der Parteien des Menschen anzugehören, glauben sie, dass sie von der Partei Gottes seien. Weil sie nicht des Menschen sind, glauben sie, Gottes zu sein. Weil sie niemand lieben, glauben sie, Gott zu lieben.«1 Wer meint, Gott auf diese Weise lieben zu können, betrügt sich selbst. Dieser Gefahr lässt sich mit Gebet und der Übung der Tugend begegnen: einer Gutheit, die, wenn sie in der tugendhaften Tat des Geschöpfs aufstrahlt, schon ein Vorgeschmack auf den Anbeginn des Reiches Gottes auf Erden ist. Und der Ermutigung dient. »Bonum est diffusivum sui«, schreibt der heilige Thomas in seiner Summa Theologiae: Das Gute ist selbstverströmend.
Möge dies auch für die folgenden Seiten gelten – auf dass sie in uns die Leidenschaft wecken, unser Menschsein immer menschlicher werden zu lassen. Ermutigt von der Jungfrau Maria.
Papst Franziskus Don Marco Pozza
Editorische Anmerkung
Wie die drei vorangegangenen Bücher Vaterunser, Ave Maria und Ich glaube, wir glauben ist auch dieses Buch aus einem Fernsehinterview entstanden. Beim Übergang vom Bildschirm zum schriftlichen Text war eine Revision und in einigen Fällen auch eine Erweiterung der Fragen und Antworten durch die Autoren unvermeidlich. Jedes Kapitel handelt von einem Laster und der dazugehörigen Tugend und wird durch zwei weitere Texte ergänzt: eine von Papst Franziskus verfasste Vertiefung zu einem der angesprochenen Themen und eine Geschichte aus dem Leben, die Don Marco Pozza aus seiner Erfahrung als Gefängnisgeistlicher an der Justizvollzugsanstalt in Padua schöpft.
1 Charles Péguy, Nota conjuncta, übertr. von Friedhelm Kemp, Wien 1956, 167 (frz. Original: Note conjointe sur M. Descartes et la philosophie cartésienne, in: Oeuvres complètes en prose, Bd. 3, Paris 1992, 1278–1478, hier 1367) (Anm. d. Übers.).
In der Stadt Padua gibt es eine Kapelle, die Unserer Lieben Frau von der Nächstenliebe geweiht ist und zwischen 1303 und 1305 im Auftrag des Bankiers Enrico degli Scrovegni von Giotto di Bondone mit Fresken ausgeschmückt wurde. Das ist die weltberühmte Scrovegni-Kapelle, die als eines der größten Meisterwerke der abendländischen Kunst gilt. Der Bilderzyklus erzählt die Geschichte der Jungfrau Maria und Christi: Die menschliche Heilsgeschichte endet mit dem majestätischen Weltgericht, das über dem Eingangsportal dargestellt ist. Das ist Giottos Versuch, vom Geheimnis der Menschwerdung zu erzählen, das die Geschichte in zwei Hälften teilt: eine vor und eine nach Christus.
Was mich jedoch am meisten fasziniert, ist, dass Giotto versucht hat, in Schwarz und Weiß von dem zu erzählen, was der Kunsthistoriker Roberto Filippetti als »die Konsequenzen der Ankunft Christi im alltäglichen Leben« bezeichnet: »die Anziehungskraft des Guten, die Abscheu vor dem Bösen«. Hierzu bedient sich der Künstler der Personifikationen der sieben Tugenden und der sieben ihnen jeweils entgegengesetzten Laster. Die sieben Tugenden, die auf der warmen Wand porträtiert sind, stehen rechts von Christus: Sie sind die Straßen, die zum Heil führen. Die sieben Laster dagegen befinden sich zu seiner Linken, auf einer feuchten und eisigen Wand: Sie führen ins Verderben. Das Gute – so scheint Giotto andeuten zu wollen – ist faszinierend, und es ist leicht, ihm nachzufolgen, wenn man ihm begegnet. Das Böse dagegen ist abstoßend und sogar schwierig zu zeichnen.
Von den Lastern und den Tugenden zu erzählen, ist eine Kunst: kein Klatsch und Tratsch, sondern eine geistliche Übung. Es setzt Mut voraus: den Mut, über das Menschenbild nachzudenken, das sich im Text der Evangelien abzeichnet. Papst Franziskus, warum lohnt es sich nicht nur aus geistlicher, sondern auch aus menschlicher Sicht, über die Tugend und über das Laster nachzudenken?
Um genau zu verstehen, wohin unser Leben führt. Um genau zu verstehen, in welche Richtung wir gehen müssen, weil sowohl die Laster als auch die Tugenden die Art beeinflussen, wie wir handeln, denken, fühlen … Es gibt tugendhafte Menschen und es gibt lasterhafte Menschen, aber die meisten sind eine Mischung aus Tugenden und Lastern. Manche sind in einer bestimmten Tugend richtig gut, haben dafür aber andere Schwächen. Weil wir alle verletzlich sind. Und diese existenzielle Verletzlichkeit müssen wir ernst nehmen, weil wir sonst den Lastern in die Hände spielen und die Tugend massiv behindern. Es ist wichtig, das zu wissen: als Orientierung für unseren Weg, für unser Leben. Die Tugenden machen dich zum Beispiel stark, sie bringen dich voran, sie helfen dir zu kämpfen, die anderen zu verstehen, gerecht, ausgeglichen zu sein. Die Laster hingegen laugen dich aus. Die Tugend ist wie ein Vitamin: Sie lässt dich wachsen, du kommst voran. Das Laster ist seinem Wesen nach parasitär. Die Laster sind Parasiten, die bei dir leben, sich von dir ernähren und dich schwächen, dich herunterziehen. Jeden Tag immer weiter nach unten. Es gibt einen argentinischen Tango, der meiner Meinung nach gut beschreibt, was die Laster anrichten. Er heißt Barranca abajo, »Den Abgrund hinunter«, und du rutschst und rutschst immer tiefer … So sind die Laster.
Neulich habe ich noch einmal nachgelesen, was der Katechismus der Katholischen Kirche über die Tugend sagt: Sie ist »eine beständige, feste Neigung, das Gute zu tun. Sie ermöglicht dem Menschen, nicht nur gute Taten zu vollbringen, sondern sein Bestes zu leisten« (Nr. 1803). Die Tugenden sind das Salz des Lebens: »Ich bin gekommen, damit sie Leben haben und es in Fülle haben«, sagt Jesus im Johannesevangelium zu seinen Jüngern (10,10). Heute scheint das Wort »Tugend« jedoch geradezu aus der Mode gekommen, beinahe ein Tabu zu sein: Fast könnte man meinen, in den Augen der Welt sei das Geheimnis eines glücklichen Lebens ein Leben ohne Tugend. Als würde man sagen: »Leben ist doch schon genug, warum soll man Leben in Fülle haben?«
Frag die Bauern: »Warum wollt ihr eine Ernte in Fülle haben?« Weil die Fülle Leben ist, Fülle heißt, Leben zu geben. Die Fülle verschließt sich nicht in sich selbst, die Fülle verschenkt sich immer. Darum ist es wichtig: um zu geben. Ein schwaches, in sich selbst verkrümmtes Leben dagegen ist ein Leben, das zu nichts dient. Nächstenliebe ist immer Fülle, genau wie die Liebe. Die Liebe hört niemals auf.
Ihr Bild hat mich beeindruckt: von der Tugend als Vitamin und dem Laster als Parasit. Vielleicht könnten wir sagen, dass das Laster eine Tugend ist, die sich weigert, mit der Gnade Gottes zu gehen, und dass aus dieser Weigerung die Erfahrung des Bösen erwächst. Im Gefängnis – das muss ich ehrlich zugeben – ist das Böse zuweilen faszinierend. Warum kann das Laster faszinierender sein als die Tugend?
Der Mensch ist wie ein Fisch: Wenn er den Köder sieht, lässt er sich locken, näher und näher und näher … Es gibt immer irgendetwas, was dich anzieht, aber die Laster sind faszinierender, weil sie dich scheinbar mit Wohltaten und Vergnügen beschenken, ohne dass du etwas dafür tun musst. Du musst nicht stärker werden, du musst dich nicht Tag für Tag immer wieder aufs Neue anstrengen, um etwas zu bekommen. Das Laster ist eine negative Geschenkhaftigkeit. Es ist wie diese Onkel und Tanten, die die Kinder verziehen, indem sie ihnen ständig Bonbons schenken … Wie gut das schmeckt! Aber dann kommen die Bauchschmerzen. So ist das Laster: Es ist das Vergnügen, das »Gute«, das du sofort und ohne Anstrengung bekommst. Aber es frisst dich innerlich auf.
Ich bringe die Tugend nicht spontan mit der Vorstellung der Vollkommenheit in Verbindung: Meiner Meinung nach ist sie eher so etwas wie eine erfülltere Art zu leben. Vielleicht ist es kein Zufall, dass der Katechismus der Katholischen Kirche die Tugenden in dem Abschnitt behandelt, der der »Berufung des Menschen« gewidmet ist, also dem Abenteuer, im vollen Wortsinn Mensch zu werden.
Wir kommen unvollständig auf die Welt, und Leben heißt, diese unsere Unvollständigkeit zu verwirklichen. Es ist keine bloße Koinzidenz, dass vier der sieben Tugenden – Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mäßigung – nicht nur im Christentum, sondern in jeder Denkrichtung thematisiert werden, der die Fülle des Menschseins am Herzen liegt: gleichsam eine Einladung, uns dafür zu begeistern, dass der Mensch immer mehr Mensch wird.
Der eine oder andere würde jetzt vielleicht sagen, dass es sich hierbei um heidnische Tugenden handelt, die das Christentum dann später übernommen hat. Es ist nicht richtig, das zu sagen, aber legitim, wenn man bedenkt, dass die griechische und lateinische Philosophie mit diesen Tugenden arbeitet.
Gibt es einen Heiligen, der Ihnen in Ihrem Nachdenken mehr geholfen hat als andere? Oder der mehr als andere über diesen Kampf, diese Gemengelage aus Lastern und Tugenden im menschlichen Herzen gesprochen hat?
Ja, das habe ich vom heiligen Ignatius gelernt. Genauer gesagt von seinem Schüler, dem heiligen Petrus Faber, der diese Fähigkeit hat, zu unterscheiden, die Laster von den Tugenden zu unterscheiden. Die Unterscheidung entsteht so: weil dich zuerst das eine und dann etwas anderes anzieht und du spürst, dass das eine nicht geht und dass das andere schöner, aber auch schwierig ist und du Position beziehen musst. Das ist das Leben des Menschen: mit jedem Schritt Position zu beziehen. Von einem Menschen, der nicht Position beziehen kann, sagt man, dass er ein Pontius Pilatus ist, ein Experte, wenn es darum geht, sich angesichts der Realität des Lebens die Hände zu waschen. Sich nicht zu entscheiden ist schon eine unmenschliche Haltung. Warum? Weil es nicht frei ist! Es ist ein Laster, das dich zur Bequemlichkeit drängt, dazu, dich mit allen gut zu stellen. »Ich wasche meine Hände in Unschuld«: Das ist nicht christlich. Ich habe einmal zu jemandem gesagt: »Was für ein kluger Mann, er macht nie einen Fehler … Ein echter Experte in Sachen Pontius Pilatus!«
Als Leitfaden für unsere Unterhaltung, Papst Franziskus, wähle ich die Gegenüberstellungen Giottos in der Scrovegni-Kapelle, wobei ich zunächst über das Laster nachdenke, um von dort aus zum Entwurf der Tugend zu gelangen. Der Anfang ist so etwas wie ein Statement: Weil das Gefängnis eine Erfahrung ist, die zu meinem Leben gehört, möchte ich mit der Ungerechtigkeit beginnen und von dort aus versuchen, Licht auf die Gerechtigkeit zu werfen. Die Ungerechtigkeit ist tyrannisch, wenn man nach Giottos Darstellung geht: Sie hat ein vorspringendes Kinn und klauenartige Hände, und sie ist mit Schwert und Lanze bewaffnet. Sie thront in einem Stadttor, das einzustürzen droht, und die Natur um sie herum ist verwildert. »Das ist nicht gerecht!«, sagen wir, wenn ein Kriterium sich als trügerisch erweist, wenn einer auf Kosten eines anderen bevorzugt wird oder wenn wir uns um ein Recht betrogen fühlen. Überdies hat es in der Praxis oft den Anschein, als gäbe es in der Welt zwei Arten von Gerechtigkeit: die der Fakten und die der Prozesse. Gerecht zu sein heißt in der Logik des Evangeliums, das Gesetz zu kennen und auf konkrete Situationen anzuwenden: Das schönste Bild hierfür, das ich im Herzen trage, ist die Gestalt Josefs, der sich zwischen dem Gesetz und Maria entscheiden muss: Er wählt Maria und stellt sie über seine eigene Ehre. Wer die Gerechtigkeit willkürlich anwendet, verfällt leicht in Ungerechtigkeit.
Richter zu sein ist nicht leicht. Dieser Beruf erfordert eine große Liebe zur Gerechtigkeit und, in der Sprache des Glaubens, große Heiligkeit. Denn der Richter muss dem Menschen ins Herz blicken, seine Absichten erkennen, sehen, was er getan hat … Nach welchem Gesetz soll er über ihn urteilen? Nach dem gerechten Gesetz … Nein, es ist nicht leicht, Richter zu sein. Im Evangelium gibt es das Gleichnis von der Witwe und dem ungerechten Richter. Er glaubt nicht an Gott, kümmert sich nur um seine Angelegenheiten, und die Menschen sind ihm egal. Ein Richter, der nicht ehrlich ist, wird manchmal gerade durch seine Unehrlichkeit allmächtig. Ich denke zum Beispiel an die Prozesse, die zurzeit geführt werden, um Regierungen zu stürzen, wie es in meiner Heimat geschieht. Sie beginnen mit Fake News: Die Medien sprechen schlecht über jemanden, zerstören ihn. Wenn er dann zerstört und völlig am Boden ist, landet der Beschuldigte vor einem Richter. Es kann sein, dass dieser Richter nicht dem Gesetz, sondern ganz bestimmten Interessen dient. Und womöglich sind in ein und demselben Fall zehn oder 15 verschiedene Urteile denkbar, weil jeder Richter sich berechtigt fühlt, sich seine eigene Rechtslehre zu schaffen, sich bei seiner Rechtsprechung nicht an objektiven Bezugspunkten, sondern daran zu orientieren, was er selbst für das Beste hält. Und das ist ungerecht. Es ist eine Form der persönlichen Auslegung und deshalb keine objektive Gerechtigkeit, sondern ein »situativer Positivismus«, der vollkommen subjektiv ist. Das ist heute in vielen Ländern gang und gäbe, um führende Politiker zu zerstören, um Autoritäten zu stürzen, um Staatsstreiche anzuzetteln. Das ist eine Ungerechtigkeit unserer Zeit, diese Relativität der Gerechtigkeit.
Die Gefängnisse sind meine Welt, und deshalb habe ich viel über eine Bedeutung des Verbs »richten« nachgedacht. Richten heißt nicht, dass man etwas als Sünde bezeichnet, sondern dass man es für ausgeschlossen hält, dass der betreffende Mensch erlöst werden kann. Die Welt richtet und sagt: »Dieser Mensch ist ein Mörder.« Die Antwort der Kirche ist eine andere: »Wenn du gebeichtet und die Absolution empfangen hast, dann bist du ein Mensch und sonst nichts, wenn Reue da ist.« Papst Franziskus, ich erinnere mich an den wunderschönen Brief, den Sie uns anlässlich eines im Gefängnis veranstalteten Symposions geschrieben haben. Darin haben Sie uns den Rat gegeben, dass die adjektivische Bestimmung dem Substantiv immer nachgeordnet sein soll. Ich möchte ihn hier im Wortlaut wiedergeben:
Lieber Don Marco,
ich habe erfahren, dass in der Justizvollzugsanstalt Due Palazzi in Padua ein Symposion stattfinden soll, um über die Strafe – insbesondere die lebenslange Freiheitsstrafe – nachzudenken. Aus diesem Anlass möchte ich den Teilnehmern meinen herzlichen Gruß übermitteln und den Menschen in Haft meine Nähe ausdrücken.
Ich möchte ihnen Folgendes sagen: Ich bin Ihnen nahe und ich bete für Sie. Ich stelle mir vor, dass ich Ihnen in die Augen sehe und in Ihren Blicken viel Erschöpfung, viele Belastungen und Enttäuschungen wahrnehme, aber auch das Licht der Hoffnung erkenne. Ich möchte Sie ermutigen, wenn Sie in sich hineinsehen, dieses Licht der Hoffnung niemals auszulöschen. Es ist sogar unsere Pflicht, es am Brennen zu halten, eine Pflicht derer, die die Verantwortung und die Möglichkeit haben, Ihnen zu helfen, damit Ihr Menschsein schwerer wiegt als Ihr In-Haft-Sein. Sie sind inhaftierte Menschen: Das Substantiv muss immer Vorrang vor dem Adjektiv haben, die Menschenwürde muss immer über den Vollzugsmaßnahmen stehen und diese erhellen.
Ich möchte Sie auch in Ihrem Nachdenken ermutigen, weil es Wege der Menschlichkeit aufzeigt, gangbare Wege, damit die Menschlichkeit durch die gepanzerten Türen hindurchdringen kann und die Herzen sich niemals panzern gegen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft für alle.
In diesem Sinne halte ich eine Umkehr für dringend erforderlich: zu einer Kultur, die es nicht hinnimmt, dass die lebenslange Freiheitsstrafe den Schlussstrich unter ein Leben ziehen kann; die nicht in die Sackgasse einer Bestrafungsgerechtigkeit einbiegt und sich nicht mit einer bloßen Vergeltungsgerechtigkeit begnügt; die offen ist für eine Versöhnungsgerechtigkeit und für konkrete Wiedereingliederungsperspektiven; und die die lebenslange Haft nicht als eine Lösung für Probleme, sondern selbst als ein Problem betrachtet, das der Lösung bedarf. Denn wenn die Würde endgültig in Haft genommen wird, dann gibt es in der Gesellschaft keinen Raum, um neu zu beginnen und an die erneuernde Kraft der Vergebung zu glauben.