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Das Manifest von Papst Franziskus
Am 13. März 2013 wurde Jorge Mario Bergoglio SJ zum 266. Oberhaupt der katholischen Kirche gewählt. Als Papst Franziskus hat er seitdem für unzählige Reformen im Vatikan gesorgt und die Kirche – trotz aller Kritik – wieder näher an die ursprüngliche Botschaft Jesu Christi herangeführt:
Was ihr einem eurer Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan.
Im März 2023 jährt sich Franziskus´ Papstwahl. Zum Anlass dieses 10-jährigen Jubiläums hat er 10 Gebete verfasst, die die wichtigsten Missstände unserer Zeit benennen und Bitten formulieren, wie wir die Gesellschaft so umbauen, dass auch sie wieder den Geist Jesu Christi atmet und wir in Solidarität für alle Menschen des Planeten ein gutes Leben garantieren.
Die Kirche nimmt er dabei nicht aus, formuliert etwa moderne Gedanken zur Rolle der Frau in der Kirche. Auch (militär-)politisch mischt sich Papst Franziskus ein, spricht sich für ein vehementes Ende aller Kriege aus.
»Ich bitte im Namen Gottes«, das sind zehn programmatische, zutiefst humanistische Gebete, die uns zu einem friedlichen Miteinander führen – sofern wir bereit sind, sie gemeinsam zu beten.
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Seitenzahl: 190
Am 13. März 2013 wurde Jorge Mario Bergoglio SJ zum 266. Oberhaupt der katholischen Kirche gewählt. Als Papst Franziskus hat er seitdem für unzählige Reformen im Vatikan gesorgt und die Kirche – trotz aller Kritik – wieder näher an die ursprüngliche Botschaft Jesu Christi herangeführt: Was ihr einem eurer Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan.
Im März 2023 jährt sich Franziskus’ Papstwahl. Zum Anlass dieses 10-jährigen Jubiläums hat er 10 Gebete verfasst, die die wichtigsten Missstände unserer Zeit benennen und Bitten formulieren, wie wir die Gesellschaft so umbauen, dass auch sie wieder den Geist Jesu Christi atmet und wir in Solidarität für alle Menschen des Planeten ein gutes Leben garantieren. Die Kirche nimmt er dabei nicht aus, formuliert etwa moderne Gedanken zur Rolle der Frau in der Kirche. Auch (militär-)politisch mischt sich Papst Franziskus ein, spricht sich für ein vehementes Ende aller Kriege aus. »Ich bitte im Namen Gottes«, das sind zehn programmatische, zutiefst humanistische Gebete, die uns zu einem friedlichen Miteinander führen – sofern wir bereit sind, sie gemeinsam zu beten.
PAPST
FRANZISKUS
10 Gebete für eine hoffnungsfrohe Zukunft
Herausgegeben von Hernán Reyes Alcaide
Aus dem Spanischen von Barbara Röhl
Der Text dieses Buches wurde im Original in Spanisch verfasst, ins Italienische übersetzt und erschien 2022 zuerst in dieser Sprache unter dem Titel Vi chiedo in nome di Dio bei Mondadori Libri unter dem Imprint Piemme.
Für die deutsche Version wurde aus der Muttersprache von Papst Franziskus, dem spanischen Originaltext, übersetzt.
Vi chiedo in nome di Dio
by Papa Francesco
© 2022 Mondadori Libri S.p.A.
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Copyright © 2023 Kösel-Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlag: zero-media.net, München
Umschlagmotiv: Boris Stroujko / Alamy Stock Foto; FinePic®, München
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-30777-6V001
www.koesel.de
Inhalt
Einleitung
1 Im Namen Gottes bitte ich darum, den Missbrauch in der Kirche und seine Strukturen auszurotten
2 Im Namen Gottes bitte ich darum, unser Gemeinsames Haus zu schützen
3 Im Namen Gottes bitte ich um eine Kommunikation, die gegen Fake News kämpft und sich von der Hassrede abwendet
4 Im Namen Gottes bitte ich um eine Politik, die sich für das Gemeinwohl einsetzt
5 Im Namen Gottes bitte ich darum, dem Wahnsinn des Krieges Einhalt zu gebieten
6 Im Namen Gottes bitte ich darum, Einwanderern und Geflüchteten die Türen zu öffnen
7 Im Namen Gottes bitte ich darum, die gesellschaftliche Teilhabe von Frauen zu fördern und zu ermuntern
8 Im Namen Gottes bitte ich darum, das Wachstum der armen Länder zuzulassen und zu fördern
9 Im Namen Gottes bitte ich darum, einen universellen Zugang zur Gesundheitsversorgung zu schaffen
10 Im Namen Gottes bitte ich darum, in Seinem Namen keine Kriege zu schüren
Epilog
Nachwort des Herausgebers
Anmerkungen
Einleitung
Während meiner ersten nun tatsächlich zehn Jahre als Papst habt ihr jede Woche die gleiche Bitte von mir gehört: »Betet für mich«, habe ich euch bei Audienzen, Angelusgebeten und Reden gesagt. Ihr habt mich begleitet, und eure Gebete – bei den Gläubigen – oder eure guten Schwingungen – bei denen, die nicht gläubig sind – bedeuten mir eine stetige Kraftquelle, um dieses Pontifikat fortzuführen. Dafür möchte ich euch zuerst einmal danken. Doch ich will euch auch gestehen, dass ich heute ein wenig mehr als sonst wie ein »Bittsteller« zu euch komme und zehn Bitten mit euch teilen will, die ich im Namen Gottes vorbringe, damit wir uns der Welt der Zukunft voller Hoffnung stellen können.
Meine Beziehung zu Gott ist, wie bei allen Menschen, zutiefst menschlich. Wenn ihr die Bibel lest, werdet ihr gelegentlich auf Personen stoßen, die sich von Gott abwenden, sich vor Ihm verstecken oder mit Ihm streiten; so wie Abraham, als er mit Gott um die Gerechten aus Sodom »feilscht«. (Gen 18,36)
Eine Beziehung zu Gott ist gut, wenn sie sich mit dem Alter entwickelt, statt in der Kindheit steckenzubleiben, und offen ist. Sie ist eine Verbindung, die täglich reift und offen ist für Missverständnisse, Streit und die Versöhnung am nächsten Tag. So versuche ich es zu halten, wenn es auch dunkle Momente gibt.
Ich weiß, dass Er da ist, und das sage ich nicht nur so. Manchmal schweige ich nur und lasse Ihn reden, sich bemerkbar machen. Es ist eine Lebensgemeinschaft.
Manchmal verstehe ich Ihn auch nicht; Er hat so seine Art. Eines ist mir auf jeden Fall klar, und das ist der Stil Gottes mit mir und der ganzen Welt: ein Stil der Nähe, des Mitgefühls und der Innigkeit. Und ich strebe danach, dass meine Beziehung zu Ihm genauso ist.
Manchmal ist sie formell, beispielsweise, wenn ich die Sakramente feiere. Auf jeden Fall versuche ich, wenn ich in diese Förmlichkeit eintrete, dass sie nicht »gekünstelt« wirkt und mit Spontaneität vereinbar ist. Allgemein ist sie spontan und besteht nicht aus Reden, Reden und nochmals Reden. Sie bedeutet auch, in Stille und Kontemplation zu verharren.
Als junger Mensch half es mir sehr, von einem Heiligen zu lesen, der behauptete, die ganze Zeit in der Kapelle zu verbringen, und als er gefragt wurde, was er dort mache und wie er mit dem Herrn spreche, antwortete er: »Ach, keine Ahnung, Er schaut mich an und ich Ihn.« Manchmal ist die Beziehung zu Gott so, ohne Worte. Dieses Beispiel betrifft den Heiligen; ich selbst bin von dieser mystischen Stufe weit entfernt. Ich muss jeden Tag darum kämpfen.
Was ich empfinde, ist Liebe zu Gott. Du kannst Gott nicht lieben, wenn du dich nicht geliebt fühlst. Und manchmal im Leben hindert einen die Undankbarkeit daran: Sie bedeutet, sich von jemandem, der einen liebt, nicht geliebt zu fühlen. Die Hauptsache ist aber, sich geliebt zu fühlen.
Heute stelle ich euch diese zehn Themen vor, bei denen wir, die ganze menschliche Familie, unsere Kräfte zusammentun müssen und zu denen ich euch auch einige Vorschläge machen will. Ich möchte euch dazu aufrufen, gemeinsam zum Teil eines Veränderungsprozesses zu werden.
Wie diverse Analytiker ins Gespräch gebracht haben, durchlebt die Welt von heute eher eine Zeitenwende als eine Zeit des Wandels. Schon vor der Pandemie, unter deren Auswirkungen wir immer noch leiden, und dem Krieg in der Ukraine, der das Herz Europas zerreißt und katastrophale Auswirkungen auf die ganze Welt hat, stand diese Diagnose fest. Falls noch Zweifel daran bestanden, dass die Menschheit an einem Scheideweg steht, dann haben die letzten zwei Jahre sie zerstreut.
Die Kirche durchlebt einen ähnlichen Moment, insbesondere, da wir nicht mehr an eine Institution denken können, die sich von dem, was um sie herum geschieht, isoliert, sei es bezüglich der positiven oder der negativen Veränderungen, wie es das Zweite Vatikanische Konzil so schön in Gaudium et spes lehrte. Wenn die Welt sich wandelt, verändert die Kirche sich mit ihr, denn sie ist die Realität, in der sie verwurzelt ist. Daher richten sich diese Bitten im Namen Gottes auch an das gesamte Volk Gottes.
Dieser Zeitenwandel, den zu durchleben unser Los ist, hat viele Sorgen in den Vordergrund treten lassen, die vor einigen Jahren noch nicht so sichtbar waren, wie sie es verdient hätten. Ich denke zum Beispiel an die Ablehnung jeglicher Gewalt gegen Frauen oder den Kampf gegen alle Arten des Missbrauchs innerhalb und außerhalb der Kirche.
Und, ob uns nun einige der Veränderungen, die die Welt in den letzten Jahren durchgemacht hat, gefallen oder nicht, dies ist die Zeit, die wir zu durchleben haben, und wir können nicht tatenlos dabei zusehen. Der erste Anstoß dazu, alle gemeinsam diese zehn Bitten im Namen Gottes voranzubringen, ist diese tatsächliche Realität. Dabei kommt mir ein Satz des Literaturnobelpreisträgers Bertrand Russell in den Sinn, der erklärte, dass »die wirkliche Welt zu verstehen, wie sie ist und nicht, wie wir sie uns wünschen würden, der Beginn der Weisheit ist«.1
Wir sehen uns einer Welt gegenüber, die in Veränderung begriffen ist und uns auffordert, ebenfalls neue Veränderungen hervorzubringen. Das heißt nicht, das, was man sein ganzes Leben lang geglaubt oder verfochten hat, zugunsten einer vorübergehenden Mode fahren zu lassen, sondern darauf vorbereitet zu sein, dass der Glaube ein bedeutendes und kreatives Wort in dem neuen Kontext mitzureden hat, den wir schaffen müssen. Ich denke zum Beispiel an die Veränderungen, zu denen die Einführung der fortgeschrittenen Technologie in der Telekommunikation geführt hat, und daran, wie stark sie viele alltägliche Aspekte im Leben von Milliarden Menschen weltweit verändert hat. Zudem ist auf dem Gebiet der Gesundheit und der Bioethik die Einbeziehung der Künstlichen Intelligenz eine Herausforderung für die Menschheit.
Für viele Menschen ist die Welt im Begriff, nicht nur zu einem ungerechteren Ort zu werden, sondern aufgrund der Kriege und der globalen Erwärmung, die das Überleben Tausender von Arten in große Gefahr bringen – unsere eigene eingeschlossen – auch zu einem gefährlicheren. Doch wir haben den Vorteil, dass die Menschheit, die diese Situation hervorgerufen hat, sie auch beheben kann (und natürlich muss).
Denken wir an unsere Schwestern und Brüder, die Migranten und Flüchtlinge. Sie sind das vielfache konkrete und lebendige Beispiel für die katastrophalen Folgen einiger Probleme der Welt, in der wir leben. Öffnen wir diesen Anderen, die oft mit ihrer Familie Tausende Kilometer zurückgelegt und nur das einzige Ziel haben, ein wenig glücklicher zu werden, unsere Herzen und strecken wir ihnen die offenen Hände entgegen. Sie sind diejenigen, die auf der Flucht sind, doch es könnte jeden von uns treffen.
Viele der Situationen, um derentwillen ich im Namen Gottes um Umkehr bitte, erfordern gemeinschaftliche Anstrengungen, die uns vereint als die eine menschliche Familie antreffen, die wir sind. Zugleich ist wahr, dass manche der Herausforderungen, vor denen die Welt steht, sich nur unter fester Einbeziehung derer, die größere Verantwortung tragen, lösen lassen. Klar scheint jedoch in jedem der Fälle zu sein, dass wir unsere Aufgabe nicht bewältigen werden, wenn wir den Wandel nicht auf persönlicher Ebene bei jedem einzelnen von uns beginnen.
Dazu vertraue ich stark auf die Fähigkeit der jungen Menschen, sich zu organisieren, zu mobilisieren und Veränderungen zu erreichen. Bei einigen dieser Themen, zu denen ich im Namen Gottes bitte, ist es unerlässlich, dass wir eine Jugend haben, die bereit ist, sich in einer Politik zu engagieren, die im Dienste eines wahren, universellen Gemeinwohls steht. Ich erinnere mich da an die schöne Definition eines italienischen Autors, der hervorhob, dass die jungen Menschen das Potenzial besitzen, »der Politik ihre verlorene Moral zurückzugeben; sie haben die Möglichkeit, das menschliche Zusammenleben anders, neu zu definieren«.2
Denken wir zum Beispiel an den Schutz unseres Gemeinsamen Hauses. Wir erleben zwar, wie einige Länder in letzter Zeit auf diesem Gebiet aus einer »Siesta« der Untätigkeit erwachen, aber was tun wir, jeder einzelne von uns? Es geht nicht nur darum, ein gutes Gefühl zu haben, weil man den Müll recycelt oder im Rahmen seiner materiellen Möglichkeiten nach einer Lebensweise sucht, die weniger aggressiv mit der Erde umgeht. Selbst zu der Veränderung zu werden, die wir uns wünschen, ist die beste Art, von den Verantwortlichen zu fordern, dass sie dringende und notwendige Maßnahmen ergreifen.
Ich stelle auch Überlegungen zum Thema Wirtschaft an: Ist es legitim, wenn ich mich über den Mangel an Mitteln für die Krankenhäuser oder den Zustand der Straßen beklage, wenn ich, sobald ich an der Reihe bin, meine Steuern zu zahlen, in die andere Richtung sehe oder nach Schlupflöchern im Gesetz suche? Bereiten wir doch den Veränderungen, die wir von »denen da oben« fordern, mit unseren kleinen alltäglichen Handlungen den Weg.
Bei vielen dieser Themen scheint es, als hätten wir bezüglich der Diagnose der Lage bereits einen breiten Konsens gefunden; nun fehlt noch, dass wir ans Werk gehen. Der Dichter Rainer Maria Rilke schrieb einen Vers, der in dieser Richtung inspirierend sein kann: »Die Arbeit der Augen ist getan. Nun gehe und tue die Arbeit des Herzens mit den Bildern, die in dir gefangen sind«.3
Ich bitte euch also, mich dabei zu begleiten, gemeinsam diese zehn Bitten im Namen Gottes vorzubringen.
1
Im Namen Gottes bitte ich darum, den Missbrauch in der Kirche und seine Strukturen auszurotten
Ich kann nicht beginnen, ohne ein weiteres Mal um Vergebung zu bitten. Unsere Worte der Reue und des Trosts für die Opfer sexuellen Missbrauchs durch Mitglieder der Kirche werden niemals ausreichen. Wir haben zutiefst gesündigt: Tausende von Leben sind durch die, die sie behüten und beschützen sollten, zerstört worden. Was immer wir tun, um den Schaden, den wir angerichtet haben, wieder gutzumachen, wird nie genug sein.
Wir wollen der Gesellschaft in die Augen sehen und ihr mitteilen, dass wir entschlossen sind, gegen dieses Übel zu kämpfen. Dass wir einen Wandel der Strukturen suchen, die jahrelang den Rahmen für Missbrauch, Vertuschung und Fahrlässigkeit abgegeben haben. Dass wir neue Bestimmungen einführen, damit wir über das nötige Instrumentarium verfügen, um dieser Geißel auf den Grund zu gehen und sie zu bekämpfen. Angesichts dessen, wie wenig wir in der Vergangenheit unternommen haben, können wir uns in Zukunft nicht stark genug dafür einsetzen, dass diese Verbrechen sich nicht wiederholen und nicht vertuscht oder unter den Teppich gekehrt werden. Gegenüber der Tragödie des Missbrauchs muss die Haltung der Kirche ein unmissverständliches, aufrichtiges »Nie wieder« sein, das uns in die Lage versetzt, uns an einen Tisch mit den Opfern, ihren Familien und der ganzen Gemeinschaft zu setzen und ihnen zu erklären, welche Schritte wir schon getan haben und an welchen Veränderungen wir arbeiten. Die vor Jahren eingeleitete »Null-Toleranz-Politik«, um uns diesem unmenschlichen Phänomen zu stellen, muss unsere Richtschnur und unser Ziel sein. Wir machen uns den Schmerz der Opfer und ihrer Familien zu eigen, und das ist unser Anstoß, uns einmal mehr darin zu bestärken, den Schutz von Minderjährigen und vulnerablen Erwachsenen zu garantieren.
Jeder einzelne Fall ist eine Ungeheuerlichkeit. Wir arbeiten dafür, dass keiner mehr vorkommt.
Wir können uns nicht (mehr) damit herausreden, dass »die Plage des sexuellen Missbrauchs leider historisch ein in allen Kulturen und Gesellschaften verbreitetes Element« ist.4 Wenn der Missbrauch Minderjähriger durch Mitglieder der Kirche begangen wird, ist er nicht mehr nur ein abscheuliches Verbrechen, sondern wird zu einer Verletzung Gottes.
Wir müssen uns dafür engagieren, diese Verbrechen zu bekämpfen und sie zu richten, wo sie geschehen. Doch wir müssen uns auch darauf konzentrieren, den Opfern demütig Gehör zu schenken, ihnen unser Herz zu öffnen und sie bei ihrem Heilungsprozess zu begleiten; und außerdem eine Kultur der Achtsamkeit zu fördern, die über die Grenzen der Kirche hinausgeht.
Zugleich wissen wir, dass die Aufgaben des Kampfs gegen Missbrauch und die Anwendung wirksamer Instrumente, um diese Verbrechen strafrechtlich zu bekämpfen, nicht fruchten werden, wenn wir nicht schon im Vorfeld möglicher Delikte handeln. Vorbeugung spielt also eine zentrale Rolle in dieser neuen Phase, die wir einleiten wollen.
Als Gesellschaft kommt uns eine erzieherische Rolle zu. Wenn der Missbrauch auf allen Ebenen eine verbreitete Geißel ist, dann müssen wir auch alle gemeinsam darauf reagieren. Daher müssen wir, abgesehen davon, dazu aufzurufen, alle zusammen »nie wieder« zu sagen, vonseiten der Kirche zusammen mit dem ganzen Gemeinwesen und grenzüberschreitend an der Prävention von Missbrauch und dem Kampf dagegen arbeiten. Die Kultur der Achtsamkeit bedeutet zugleich Evangelisierung.
Menschen haben Tragisches erlebt, weil wir als Kirche nicht genug unternommen haben, um Minderjährige zu schützen. In unseren Gebäuden, in unserer Obhut sind Tausende von Kindern Opfer schwerer Verfehlungen geworden. Doch diese Situation hat uns dazu angetrieben, uns Wissen und Verantwortlichkeiten anzueignen, die wir der Gesellschaft zur Verfügung stellen wollen, um alle gemeinsam gegen diese Verbrechen zu kämpfen.
Die Folgen des Missbrauchs an Minderjährigen und vulnerablen Erwachsenen begleiten die Opfer jahrelang. Ich habe dieses Verbrechen einmal einen »psychologischen Mord« genannt,5 da es unumkehrbare Folgen für die geistige Gesundheit haben kann. Diese Verbrechen zerstören Biografien, zerstören die Kindheit, diesen Lebensabschnitt, der doch dem Spiel und dem Lernen gewidmet sein sollte, und verursachen körperliche, psychische und spirituelle Schäden.
Einer unserer größten Fehler, vielleicht der schwerste, war, die Berichte und Vorwürfe der Opfer nicht anzuhören. Daher wollen wir in dieser neuen Phase, die wir durchleben, den Menschen, die dieses Leid durchgemacht haben, die Hauptrolle geben.
Viele Fälle des Missbrauchs an Minderjährigen werden nicht angezeigt, vor allem die große Mehrheit, die im Familienkreis geschieht. »Tatsächlich vertrauen die Opfer sich sehr selten jemandem an und suchen Hilfe. Hinter diesem Widerstreben können Scham, Verwirrung, die Angst vor Rache, Schuldgefühle, mangelndes Vertrauen in die Institutionen oder kulturelle und soziale Konditionierung stecken, aber auch der Mangel an Informationen über Dienstleistungen und Strukturen, die Hilfen anbieten können. Unglücklicherweise führt das Leid zur Verbitterung, sogar zum Selbstmord, oder manchmal dazu, sich auf die gleiche Weise zu rächen.«6
Wir brauchen bessere Bedingungen, damit jeder Mensch, der zum Opfer von Missbrauch durch ein Mitglied der Kirche geworden ist, das Gefühl hat, in Sicherheit sein Zeugnis ablegen zu können. Es ist wichtig, Instanzen zu schaffen, die seine Integrität sichern, und uns zu verpflichten, keine Situationen entstehen zu lassen, die sie erneut zum Opfer machen, sowie ihnen spirituelle wie persönliche Begleitung zuzusichern; bei den Justizbehörden wie im Alltagsleben.
Wichtig ist ebenfalls die Vorbereitung und Ausbildung derjenigen, die im Kontakt zu Minderjährigen oder vulnerablen Erwachsenen stehen, damit sie die unverkennbaren Anzeichen erkennen, die Missbrauch bei vielen Opfern hinterlässt. Die Lösung ist nicht, darauf zu warten, dass der erstickte stumme Schrei derjenigen, die Missbrauch erlitten haben, ans Licht kommt, sondern auf die tausend Manifestationen zu achten, die der Wunsch, sich jemandem anzuvertrauen und um Hilfe zu bitten, annehmen kann. Manchmal war es nicht so, dass man sie nicht hören konnte, sondern dass man nicht wusste, wie. Und auch das wollen wir durch Schulung und Weiterbildung in unseren Institutionen verändern.
Missbrauchte Personen zu begleiten, ist eine Aufgabe, die wir an die Basis eines neuen, ganzheitlichen Ansatzes im Kampf gegen diese Verbrechen stellen. Alle, die eine verantwortliche Rolle in der kirchlichen Gemeinschaft bekleiden, müssen dafür kämpfen, die Opfer und ihre Familien zu respektieren und würdig zu behandeln.
»Und wer ein solches Kind in meinem Namen aufnimmt, der nimmt mich auf.« (Mt 18,5) Die Opfer zu begleiten und ihnen zuzuhören, ist das Fundament, auf dem wir eine neue Kultur der Prävention und des Kampfs gegen den Missbrauch aufbauen wollen. Zu dieser Aufgabe gehört auch, ihre Integrität zu achten und dafür zu sorgen, dass ihr Leben nicht an die Öffentlichkeit gezerrt wird.
Den gleichen Ansatz vertreten wir denjenigen gegenüber, denen solche Verbrechen vorgeworfen werden. Solange die Justiz sie nicht verurteilt, dürfen wir nicht vergessen, allen Beschuldigten ein gerechtes Verfahren zu garantieren; in dem Sinne, das Prinzip des in dubio pro reo, also im Zweifel für den Angeklagten, nicht einmal bei solchen abscheulichen Vergehen zu missachten.
Selbst in den Fällen, in denen die Beweismittel enorm und die Zeugenaussagen erdrückend sind, oder in denen es offensichtlich ist, dass jemand die Straftat begangen hat, muss auch immer das Recht auf Verteidigung garantiert bleiben.
Die Kongregation für die Glaubenslehre hat empfohlen, die Anzeige möglichen Missbrauchs nicht a priori auszuschließen, selbst wenn sie von unbekannten oder nicht identifizierbaren Personen vorgebracht wird. Der Umstand, dass der Ankläger anonym bleibt, darf nicht automatisch zu dem Schluss führen, die Behauptung sei falsch, obwohl Vorwürfe, die auf diesem Weg erhoben werden, mit Vorsicht betrachtet werden müssen.
Der Konsens besagt, dass es schädlich ist, eine solche Anklage nur zu ignorieren, weil kein Name darunter steht. Daher ist das Urteilsvermögen des Personals, das die Vorwürfe und Hinweise auf möglichen Missbrauch entgegennimmt, so wichtig. Weder sofort glauben noch ohne Umschweife abtun.
Wir wissen, dass die Opfer ihre Zeit und ihren Freiraum brauchen, eingeschlossen ihre eigene Art, um Hilfe zu bitten und anklagen zu können. Aus diesem Grund lehnen wir es auch ab, wenn die Routine der Nachrede, die in der Kirche auszurotten uns so viel Arbeit kostet, diese Verbrechen banalisiert, indem sie falsche Signale setzt, oder wenn wir sehen, dass unter Brüdern fälschlicherweise Dinge »unter den Teppich gekehrt« werden, um die Sache kleinzureden.
Dies sind einige der Prinzipien, die wir versucht haben, bei den verschiedenen geänderten Bestimmungen, die wir in die Kurie eingeführt haben, zur Richtschnur zu nehmen, um den Missbrauch in all seinen Stadien bekämpfen.
Wir wissen, dass die strafrechtliche Verfolgung allein nicht ausreicht, sondern ein ganzheitlicher Ansatz notwendig ist, um, beginnend mit der Erziehung und Ausbildung, an der Prävention dieser Verbrechen und dem Kampf gegen sie zu arbeiten. Doch das bedeutet nicht, dass wir nicht mit Bestimmtheit das kanonische Gesetz anwenden, das auf die diversen Szenarien zutrifft.
In diesem Jahr wurde mit der Verkündung des apostolischen Erlasses Praedicate Evangelium offiziell die Päpstliche Kinderschutzkommission als Teil der römischen Kurie eingeführt, die bei der Glaubensbehörde angesiedelt ist. Diese Institutionalisierung der wichtigen Aufgabe dieses Organs will nicht die Handlungsfähigkeit oder das Denken ihrer Mitglieder einschränken, sondern im Gegenteil die getane Arbeit aufwerten und sie mit besseren Instrumentarien für den zukünftigen Kampf gegen Missbrauch ausstatten.
In der jüngsten Vergangenheit haben wir ebenfalls den gesetzlichen Rahmen dafür geschaffen, uns gegen diese Art von Verbrechen zu positionieren. Die Fälle von Missbrauch durch Mitglieder des Klerus wurden bisher innerhalb des kanonischen Rechts als »Vergehen gegen die besonderen Verpflichtungen der Geistlichen« betrachtet, während sie von 2021 an entsprechend dem ganzheitlicheren Ansatz, den wir anregen, jetzt als »Verbrechen gegen das Leben, die Würde und die Freiheit des Menschen« eingestuft werden.7
Das Ziel der von uns unternommen Reformen, um uns mehr Instrumente zu geben, die es uns erlauben, zu urteilen, vorzubeugen und zu bekämpfen, ist es, in der Kirche eine Gemeinschaft zu schaffen, die die Rechte und Bedürfnisse von Minderjährigen und vulnerablen Personen achtet und sich ihrer bewusst ist, und den gesamten Kosmos aus Geistlichen, Mitgliedern von Einrichtungen des geweihten Lebens und Laien darin unterstützt, das Bewusstsein dafür zu stärken, dass wir die Pflicht haben, Missbrauch bei den zuständigen Autoritäten anzuzeigen.
Von 2019 an wurde die verbindliche Pflicht für alle Mitglieder, Beamten und Angestellten der römischen Kurie, das diplomatische Personal des Heiligen Stuhls, das Personal des Vatikanstaats sowie jeder Person, die ein administratives oder juristisches Mandat beim Heiligen Stuhl bekleidet, eingeführt, jeden Vorwurf sofort beim Staatsanwalt des Vatikanstaats vorzulegen, sobald sie in Ausübung ihres Amts Kenntnis davon erlangen oder einen begründeten Verdacht hegen, dass ein Minderjähriger oder eine vulnerable Person Opfer jeglicher Art von Missbrauch geworden ist.
Zudem wurden diverse Fortbildungsprogramme für das Personal der römischen Kurie und die mit dem Heiligen Stuhl verbundenen Institutionen bezüglich der Gefahren der Ausbeutung, des sexuellen Missbrauchs und der Misshandlung von Minderjährigen und vulnerablen Personen eingeführt.