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Lebensqualität und geistige Behinderung E-Book

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Beschreibung

Der Band beschäftigt sich mit dem Konzept der Lebensqualität bei Menschen mit geistiger Behinderung. Er zeichnet die Entwicklung dieses Konzepts nach und gibt einen profunden Überblick zum aktuellen Stand der nationalen, aber auch internationalen Forschung und Praxis. Zunächst geht es um die Relevanz von Lebensqualität in Kernbereichen der Pädagogik (Selbstbestimmung, Kommunikation und soziale Integration). Daran anschließend wird der Einfluss von Lebensqualität auf unterschiedliche Lebensbereiche und Aufgabenfelder verdeutlicht. Die Bedeutung des Konzeptes für Menschen im autistischen Spektrum mit kognitiver Beeinträchtigung und Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung bildet einen Schwerpunkt.

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Der Herausgeber

Professor Dr. Peter Zentel hat den Lehrstuhl für Pädagogik bei geistiger Behinderung einschließlich inklusiver Pädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Peter Zentel (Hrsg.)

Lebensqualität und geistige Behinderung

Grundlagen, Aufgabenfelder, Lebensbereiche

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-041512-6

E-Book-Formate:

pdf:           ISBN 978-3-17-041513-3

epub:        ISBN 978-3-17-041514-0

Widmung

 

 

Zum Wintersemester 2020 wurde der neue Lehrstuhl für Geistigbehindertenpädagogik einschließlich inklusiver Pädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München eingerichtet. Mit einem Neustart sind immer auch Ziele und Visionen verbunden, gerade dann, wenn wie in diesem Fall ein Team ganz neu zusammenfindet. Das Leitziel der Lehreinheit ist es, durch Lehre und Forschung zu einer Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit geistiger Behinderung beizutragen. Der Grundstein hierfür soll durch das vorliegende Buch gelegt werden, in dem der aktuelle Forschungsstand zu diesem essentiellen Thema differenziert aufgearbeitet und der Fachöffentlichkeit zugänglich gemacht wird.

Besonderen Dank gilt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Lehrstuhls Meike Engelhardt, Heide Froschauer, Melanie Holzer-Rockermair, Dr. Vera Rössler, Dr. Alisa Rudolph, Ruth Sarimski und Manuel Schwartze, die durch eigene Beiträge und kritisch-konstruktives Mitdenken zur inhaltlichen Breite und Tiefe dieses Bandes beigetragen haben.

Es ist mir eine große Freude, dass der erste Münchner Lehrstuhlinhaber des damals noch mit doppelter Denomination ausgestatteten Lehrstuhls (Geistigbehindertenpädagogik & Verhaltensgestörtenpädagogik), Prof. em. Dr. Otto Speck, das Vorwort zu diesem Buch beigesteuert hat.

München im Februar 2022

Peter Zentel

Vorwort zu »Lebensqualität und Geistige Behinderung«

Otto Speck

Lebensqualität ist ein Begriff, den es vor wenigen Jahrzehnten noch nicht gegeben hat, schon gar nicht bezogen auf Menschen mit einer geistigen Behinderung, obwohl diese damals, speziell in Anstalten, vielfach ein »Leben« fristen mussten, das eher ein bloßes Vegetieren unter ständiger Bewachung darstellte. Es bestand über Jahrhunderte hinweg kein eigentliches öffentliches Interesse an dieser Art vorenthaltener Lebensqualität. Ich wurde mit ihr noch während meiner Ausbildung zum »Hilfsschullehrer« wenige Jahre nach Kriegsende direkt konfrontiert. Davon sind mir drei Bilder haften geblieben: Zum einen eine Gruppe »geistesschwacher« Kinder in einem psychiatrischen Krankenhaus, die in einem großen Raum auf Bänken entlang den Wänden hockten und vor sich hinstarrten. Auf unsere Frage, ob diese Kinder nicht auch Spielzeug hätten, antwortete die »Wärterin«, dies habe keinen Sinn; denn sie machten alles kaputt! Das zweite Bild: Ein Riesen-Schlafsaal in einer großen Anstalt, wo etwa 50 Kinder Tag und Nacht in ihren Betten liegen oder kauern, umgeben vom bloßen Weiß der Wände, Decken, Bettbezüge und Nachthemden. Das dritte Bild: Eine Anstalt für Erwachsene: Etwa 40 Frauen sitzen auf ihren Bänken längs den Wänden und schaukeln hospitalisiert vor sich hin, ohne irgendeine Beschäftigung. Die Wärterinnen hielten lediglich »Aufsicht«.

Derartige Zustände einer Disqualifikation menschlichen Lebens waren noch lange Zeit nach Kriegsende in stationären Einrichtungen verbreitet, als sich der allgemeine Lebensstandard schon im Bereich des Wirtschaftswunders bewegte. Sie waren im öffentlichen Bewusstsein nicht existent.

Wichtige Anstöße zu einer Wende erfolgten erst Ende der sechziger Jahre durch Berichte aus den USA und aus Dänemark. Sie waren mit dem Begriff der »Normalisierung« verbunden, wie ihn Niels Erik Bank-Mikkelsen (Dänemark) vertrat. Er bezog sich zunächst auf eine Deinstitutionalisierung, also die Abschaffung der Massenunterbringungen für »Geistesschwache«. Sie sollten »ein Leben so normal wie möglich« führen können. Ein starker Impuls zu dieser Neuentwicklung war von einem Fotoband (»Weihnachten im Fegefeuer«) ausgegangen, den Burton Blatt und Fred Kaplan (USA) 1967 herausgegeben hatten und der mit erschütternden Bildern übelster Inhumanität in US-amerikanischen Anstalten großes Aufsehen erregt hatte. Bengt Nirje (Schweden), der diese besuchte, sprach von »de-humanisierenden und unpersönlichen Lebensbedingungen« für Menschen, die eigentlich nicht für richtige Menschen gehalten wurden, denen also keine Würde zukam. Die ersten Berichte über Erfahrungen mit dem »Normalisierungsprinzip« hatten 1974 Robert B. Kugel und Wolf Wolfensberger (»Geistig Behinderte – Eingliederung oder Bewahrung«) in Deutschland bekannt gemacht. Der Qualitätsbegriff war noch nicht in der Diskussion. Ich erinnere mich noch gern an diese Zeit, in der ich 1965 als Lehrer einer der ersten Schulklassen für geistig behinderte Schulneulinge unterrichten und miterleben konnte, wie sich für diese und auch ihre Eltern eine neue Welt mit befreienden Lebensperspektiven aufschloss.

Es ist generell zu begrüßen, dass sich die heilpädagogische Forschung im Bereich geistiger Behinderung nun wiederum dem Thema der »Lebensqualität« zuwendet, nachdem die ersten Ansätze dazu durch die forcierte Diskussion des Themas der Inklusion in den Hintergrund getreten waren. Man kann im Thema der Lebensqualität auch eine wichtige Ergänzung zur Inklusionsdebatte sehen und zwar dahingehend, dass die Formen sozialer Teilhabe auch unter dem Gesichtspunkt subjektiv gewerteter Lebensqualität ins Blickfeld genommen werden müssten.

Ein weiterer und allgemeiner Grund für eine zunehmende Bedeutung des Themas Lebensqualität kann darin gesehen werden, dass sich das Leben auf der Erde in einem grundlegenden Wandel, in einer »Welt-Metamorphose« (Ulrich Beck), befindet, deren Ausgang weithin offen ist. Der Bezug auf Menschen mit geistigen Behinderungen ist ein Teilaspekt dieses Wandels, der in zunehmendem Maße von der allgemeinen Sorge um die ökologische Zukunft des Lebens auf der Erde bestimmt wird. Damit potentiell verbunden könnte sich die Frage stellen, welchen Rang dabei die Sicherung der Lebensqualität von Menschen mit einer geistigen Behinderung einnehmen wird, wenn wir uns künftig mehr auf die »Grenzen des Wachstums« und damit auf ein weniger aufwendiges Leben, auf ein Leben nach dem neuen Motto »All you need is less« einzustellen haben werden. Es sollte nicht vergessen werden, dass die Humanisierung der Behindertenhilfe im vorigen Jahrhundert wesentlich auch durch den damaligen außerordentlichen Wirtschaftsaufschwung bedingt war. Aus dieser Sicht kann es u. U. notwendig werden, nicht nur die Lebensqualität von Menschen mit Behinderungen den allgemeinen Lebensstandards anzugleichen, wo dies noch nicht der Fall ist, sondern auch gegen Minderungen bisher erreichter Standards zu verteidigen. Die (relative) Messbarkeit von Lebensqualität kann dabei von Vorteil sein, auf die allein sie sich aber nicht reduzieren lässt. Mitentscheidend wird die Nachhaltigkeit der ethischen Einstellungen sein, d. h. die ungeminderte Akzeptanz behinderten Lebens.

Eine inhaltliche und methodische Schwierigkeit bei der Ermittlung und Bewertung von Lebensqualität von Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung besteht darin, dass das, was wir als Bedingungen von Lebensqualität in Erfahrung bringen wollen, weithin auf subjektiven Erfahrungen beruht und als Ausdruck persönlicher Bedürfnisse bzw. individuellen emotionalen Erlebens anzusehen ist, und dass diese komplexe Erfahrung vom Einzelnen auf Grund seiner kognitiven Beeinträchtigung nicht ohne weiteres als Wirklichkeit verallgemeinerbar ist. Wir sind also weithin auch auf Begleitbeobachtungen angewiesen. Diese aber können auf Grund der Divergenz heute verbreiteter Normen in einer auf Singularität ausgerichteten Gesellschaft vom Einzelnen relativiert bzw. irrig rezipiert und divergent ausgelegt werden, so dass es zu Verzerrungen und Verkürzungen kommt. Eine früher allgemein anerkannte »Normalität« kann heute nicht mehr ohne weiteres vorausgesetzt werden. Hinzu kommen allgemeine Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, dass generell kein Kind in seiner Entwicklungsgeschichte dem anderen gleicht und auch jede Familie ihre Prioritäten angesichts der Komplexität der jeweiligen Lebensbedingungen anders setzt.

Konkret sind es zwei Dimensionen, die für das persönliche Wahrnehmen von Lebenszufriedenheit oder Lebensglück wichtig sind: Ich habe sie auch personale undsoziale Integration genannt, wobei personale Integration als innere Kohärenz der Bedürfnisse, Gefühle, Denkweisen und des Handelns verstanden wird, die in Verbindung mit guten sozialen Beziehungen Lebenszufriedenheit bedeutet. Der Akzent liegt auf der komplementären Ergänzung beider Aspekte. Es wäre also einseitig und unzureichend, einen der beiden Aspekte in den Vordergrund zu stellen, beispielsweise den sozialen Aspekt. »Dabeisein ist nicht alles«, lautet ein Buchtitel aus Norwegen. Das Gleiche gilt für eine Priorisierung oder Absolutsetzung von »Selbstbestimmung«. Der personale Aspekt hat zwar unter dem Einfluss des heute dominierenden Teilhabe-Aspektes an Bedeutung eingebüßt, was sich vor allem bei der übereilten praktischen Durchsetzung des gemeinsamen Unterrichts zeigte, darf aber generell nicht vernachlässigt werden, wenn das Menschenbild insgesamt nicht verzerrt werden soll.

Dessen Bedeutung kann hier, zumal in einer Gesellschaft, die unter starkem ökonomisierendem Einfluss steht, mit einem Verweis auf Immanuel Kant (in seiner »Grundlegung der Metaphysik der Sitten«) verdeutlicht werden, der zwischen »Würde« und »Marktpreis« unterscheidet: Was dem Menschen als einzigem vernünftigen Wesen einen inneren, unbedingten und unvergleichbaren Wert verleihe, sei seine Würde. Diese beruhe darauf, dass er nicht determiniert einer äußeren Ordnung nur unterworfen sei, die ihn auch zum Mittel für Zwecke anderer machen könnte, sondern die er mit seinem eigenen Willen bejahe, d. h. die ihm, wie es Kant nennt, eine »Autonomie des Willens« verleihe. Diese aber sei zugleich eine an gemeinschaftliche Gesetze gebundene, also keine selbstische. Diese Würde erhebe ihn unendlich über jeden »Marktpreis«, der von privatem Nutzen oder persönlichen Affekten bestimmt sei. Autonomie des Willens sei als »Zweck an sich selbst« ein innerer Wert. Aus der Würde gehe das hervor, was wir Achtung nennen, und diese Achtung der Menschenwürde, der Kant sogar »Heiligkeit« zuspricht, gilt unbedingt, d. h. auch für Mitbürger, die in vieler Hinsicht auf Hilfe angewiesen sind, etwa durch Bildung. Was dabei entsteht, macht deren »Identität« aus.

Im Vordergrund steht für uns die pädagogische und sozialpolitische Aufgabe, geeignete Möglichkeiten des Teilhabens aller an einem menschenrechtlich und moralisch gestützten Zusammenleben zu entwickeln und umzusetzen. Dabei sollte es weder um eine bloße sachbezogene Sicherung materieller und kultureller Lebensbedingungen gehen noch um gleiche Chancen für alle auf dem Wege einer Abblendung individueller Unterschiede, also einer »Normalisierung« durch die Negierung von Ungleichheiten, d. h. von individuellen speziellen Bedürfnissen (»Alles ist normal«). Dies liefe auf einen Konformismus hinaus mit der Folge, dass gegebene individuelle Entwicklungs- und Lernhindernisse, die vielfach auch einer ärztlichen Begleitung bedürfen, in den Hintergrund treten bzw. vernachlässigt werden. Nicht eine (ideologisch bedingte) Abblendung individueller Verschiedenheiten sichert die Achtung der Menschenwürde, sondern am ehesten eine allgemeine und individuell besonderte Achtsamkeit und Verantwortlichkeit für die Ermöglichung sozialer Teilhabe der je verschiedenen Menschen.

München, im Oktober 2021

Otto Speck

Inhaltsverzeichnis

 

 

Widmung

Vorwort zu »Lebensqualität und Geistige Behinderung«

Otto Speck

Einleitung

Peter Zentel

I   Theoretische Grundlagen

Lebensqualität oder die Qualität eines Lebens

Peter Zentel

Diagnostische Annäherung an Lebensqualität

Manuel Schwartze

Lebensqualität und Selbstbestimmung

Michael L.   Wehmeyer

Lebensqualität und Kommunikation

Alisa Rudolph

Lebensqualität und soziale Partizipation

Stefanie Köb & Frauke Janz

II   Lebensbereiche und Aufgabenfelder

Lebensqualität von Familien von Menschen mit Behinderung

Meike Engelhardt

Lebensqualität in der Frühförderung

Klaus Sarimski

Schule und Lebensqualität

Peter Zentel & Heide Froschauer

Lebensqualität im privaten Lebensbereich Wohnen

Wolfgang Dworschak

Lebensqualität im Kontext der Arbeit und Beschäftigung von Menschen mit geistiger Behinderung

Tina Molnár

Lebensqualität und Freizeit

Noemi Heister & Stefanie Köb

Lebensqualität und Alter

Heiko Schuck

III   Lebensqualität spezifischer Zielgruppen

Autismus-Spektrum-Störungen und Lebensqualität

Vera Rössler

Lebensqualität und schwere und mehrfache Behinderung

Torsten Hammann (geb. Krämer) & Meike Engelhardt

Abkürzungen

Glossar

Die Autorinnen und Autoren

Einleitung

Peter Zentel

Das Konzept der Lebensqualität wird im Kontext der Geistigbehindertenpädagogik schon seit vielen Jahren diskutiert. Wichtige Veröffentlichungen wurden von Dworschak (2004), Seifert (2006), Schäfers (2008) und zuletzt von Schuck (2016 – mit dem Fokus auf die Lebensphase des Alters) vorgelegt. Ein Kompendium zu dieser zentralen Zielperspektive unserer Disziplin gibt es bisher nicht. International wurden in den letzten Jahren viele neue Erkenntnisse publiziert, die bisher in der deutschsprachigen Literatur wenig Beachtung gefunden haben. In diesem Herausgeberband werden deshalb bisherige Entwicklungen des Lebensqualitätskonzepts zusammengefasst und aktuelle nationale sowie internationale Erkenntnisse diesbezüglich vorgestellt.

In den vielzähligen Publikationen ist deutlich geworden, dass das Konzept der Lebensqualität zu einem besseren Verständnis der Lebensbedingungen einer Person beitragen und als Richtschnur für öffentliche Dienstleistungen und politische Maßnahmen dienen kann, um den tatsächlichen Bedürfnissen einer Person gerecht werden zu können (Brown, Schalock & Brown, 2009). Obwohl in der Literatur unterschiedliche Definitionen von Lebensqualität angeführt werden, hat sich im Kontext geistiger Behinderung das Modell von Schalock und Verdugo (2002) etabliert. Danach ist das Konzept der Lebensqualität multidimensional zu verstehen und schließt objektive und subjektive Indikatoren mit ein. Darüber hinaus wird Lebensqualität von persönlichen und umweltbezogenen Merkmalen beeinflusst, die in der Betrachtung ebenfalls Berücksichtigung finden müssen, um Menschen ganzheitlich zu verstehen (Schalock et al., 2002, 2007, 2010).

Mittlerweile stellt das Lebensqualitätskonzept ein sozial valides Rahmenmodell dar, das dazu beiträgt, das Leben von Menschen mit geistiger Behinderung und deren Familien differenziert zu betrachten und auf dieser Grundlage Verbesserungen der Lebensqualität zu erwirken. Lebensqualität hat sich von einem theoretischen Modell zu einem messbaren Konstrukt entwickelt, das für die weitere Theoriebildung und Verbesserung der Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderungen und ihren Familien bzw. ihres sozialen Umfelds genutzt werden kann, indem beispielsweise die Effektivität von Programmen und Interventionen evaluiert wird.

Lebensqualität kann in diesem Sinne als moderne Leitidee verstanden werden, die für die gesellschaftliche Gestaltung von Lebensverhältnissen auch im Kontext von Behinderung herangezogen werden kann und muss. Denn die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung und insbesondere mit geistiger Behinderung ist in vielen Bereichen immer noch nicht vergleichbar mit der von Menschen ohne Behinderung. Es sind also weitere Bemühungen notwendig, um die Lebensqualität auf ein angemessenes Niveau zu heben.

Die angedeutete Breite des Konzeptes Lebensqualität soll in diesem Buch aufgegriffen werden. Es ist gegliedert in einen ersten Teil, in dem theoretische Grundlagen und die Relevanz von Lebensqualität in Kernbereichen der Pädagogik (Selbstbestimmung, Kommunikation und soziale Integration) beschrieben werden, und einen zweiten Teil, in dem der Einfluss von Lebensqualität in unterschiedlichen Lebensbereichen und Aufgabenfeldern im Mittelpunkt steht. Zuletzt wird die Relevanz des Konzepts vor dem Hintergrund zweier spezifischer Gruppen, Menschen im autistischen Spektrum mit kognitiver Beeinträchtigung und Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung, vorgestellt.

I             Theoretische Grundlagen

Im ersten inhaltlichen Kapitel des Buches wird das Konzept der Lebensqualität zunächst allgemein beschrieben, um dann in Bezug auf die Zielgruppe Menschen mit geistiger Behinderung differenziert betrachtet zu werden. Auf der Grundlage einer historischen Rekapitulation geht Peter Zentel der Frage nach, welche Einflussgrößen auf die Lebensqualität von Menschen mit geistiger Behinderung wirken. Dabei spielt Abhängigkeit in der gesamten Lebensführung eine zentrale Rolle. Beachtung finden auch ethische Fragen, da im Zusammenhang mit der Zielgruppe – historisch aber auch noch heutzutage – häufig der Fokus von der Qualität des Lebens zur Qualität eines Lebens verschoben wird und damit das Lebensrecht infrage steht.

Manuel Schwartze nähert sich im zweiten Kapitel der diagnostischen Dimension von Lebensqualität an. Wie oben beschrieben wurde bereits in den 1990er Jahren damit begonnen, auf der Grundlage des Lebensqualitätskonzeptes diagnostische Instrumente zu entwickeln, um Lebensqualität messbar zu machen und auf dieser Grundlage die Lebensbedingungen von Menschen mit geistiger Behinderung und ihrem Umfeld zu verbessern. In dem Kapitel werden hierfür zunächst grundlegende Faktoren besprochen, die das Konstrukt Lebensqualität messbar machen, um darauf aufbauend vorhandene Instrumente zu beschreiben.

Michael L. Wehmeyer begegnet dem Konzept der Lebensqualität aus dem Blickwinkel der Leitidee der Selbstbestimmung. Durch die mit Behinderung erhöhte Abhängigkeit ist die Frage des Maßes der Selbstbestimmung ein entscheidender Faktor für das individuelle Wohlbefinden und mithin für die Lebensqualität einer Person. In diesem Kapitel wird das Konzept der Selbstbestimmung beschrieben und – empirisch begründet – ein Zusammenhang zu Lebensqualität hergestellt. Dabei wird bewusst der US-amerikanische Ansatz des Selbstbestimmungskonzeptes (Self-Determination & Self-Advocacy) in den Blick genommen, der stark operationalisiert ist, wodurch konkretere Bezüge zum Selbstbestimmungskonzept hergestellt werden können.

Mehr als die Hälfte aller Menschen mit geistiger Behinderung verfügen über Sprech- und Sprachstörungen und etwa ein Drittel spricht so unverständlich, dass sie von Fremden nicht verstanden werden. D. h. Kommunikation ist bei vielen Menschen mit geistiger Behinderung erschwert, weshalb die Gefahr besteht, dass Möglichkeiten der Selbstbestimmung und Teilhabe und damit die individuelle Lebensqualität eingeschränkt werden. In diesem Kapitel betrachtet Alisa Rudolph den Einfluss der sprachlich-kommunikativen Möglichkeiten der Zielgruppe auf die Lebensqualität und stellt Unterstützungskonzepte wie Maßnahmen der Unterstützen Kommunikation vor.

Wohlbefinden ist in hohem Maße abhängig von der Quantität und Qualität zwischenmenschlicher Interaktionen und der Möglichkeit, soziale Beziehungen zu erleben und mitgestalten zu können. Aus diesem Grund erscheint es notwendig, soziales Einbezogensein in subjektiv bedeutsame gesellschaftliche Kontexte vor dem Hintergrund der Frage der Lebensqualität zu hinterfragen. In diesem Zusammenhang setzen sich Stefanie Köb und Frauke Janz sowohl mit separativen als auch inklusiven Settings auseinander, um zu eruieren, wie und unter welchen Bedingungen soziale Partizipation unterstützt und damit die Lebensqualität erhöht werden kann.

II            Lebensqualität in unterschiedlichen Lebensbereichen und Aufgabenfeldern

Den für viele Menschen wichtigsten Lebensbereich stellt die Familie dar. Meike Engelhardt untersucht den Zusammenhang zum Thema Lebensqualität, indem sie zunächst das Konzept der familienbezogenen Lebensqualität vorstellt, im Anschluss dann den internationalen Forschungsstand mit Blick auf die Lebensqualität von Familien mit einem Kind mit geistiger Behinderung beleuchtet, auch unter der Perspektive der verschiedenen Familienmitglieder. Abschließend werden gängige Diagnostikinstrumente zur Erfassung von familienbezogener Lebensqualität und ein Ausblick auf Interventionsmöglichkeiten geboten.

Die Förderung der Lebensqualität von Kindern mit intellektueller Behinderung und ihren Familien ist ein zentrales Ziel der Frühförderung. Klaus Sarimski propagiert ein familienorientiertes Konzept von Frühförderung, das sich nicht nur auf die Förderung des Kindes und die Beratung von Eltern und Fachkräften beschränkt, sondern die Bedürfnisse aller Mitglieder der Familie berücksichtigt und versucht, die individuellen Bewältigungskräfte sowie den familiären Zusammenhalt zu stärken und soziale Unterstützung für die Familie zu mobilisieren. Dies trägt zum emotionalen Wohlbefinden der Kinder, der Entfaltung ihres Entwicklungspotentials und zum Erleben von Selbstbestimmung bei und unterstützt das Gelingen der sozialen Teilhabe.

Der Lebensbereich Schule hat erheblichen Einfluss auf die Lebensqualität von Schüler*innen mit geistiger Behinderung. Es ist neben der Familie der Lebensbereich, der das Leben von Kindern und Jugendlichen am stärksten prägt. Darüber hinaus werden in der Schulzeit die Grundlage für ein erfülltes Lebens als erwachsene Person gelegt. Peter Zentel und Heide Froschauer setzen sich in diesem Zusammenhang mit aktuellen Studien auseinander und beschreiben das Modell der »Educational Quality of Life«. Zuletzt gehen sie auf die Möglichkeiten ein, durch einen fachlich-positiven Umgang mit Herausforderndem Verhalten die Lebensqualität von Schüler*innen und Lehrer*innen zu verbessern.

Wie kein anderer Lebensbereich bietet das Wohnen die Möglichkeit, individuellen Bedürfnissen nachzukommen. Das Private stellt den Rückzugsraum dar, in dem eine Person ein Höchstmaß an Selbstbestimmung realisieren kann. Wolfgang Dworschaksetzt sich damit auseinander, welche Aspekte im Kontext Lebensqualität und Wohnen eine Rolle spielen. Hierfür geht er zu Beginn auf die Bedeutung des Wohnens für den Menschen ein, bevor die Wohnsituation von Menschen mit geistiger Behinderung skizziert wird. Er stellt ferner ein transaktionales Modell von Lebensqualität vor, das im Bereich Wohnen adäquate Anwendung finden und die Grundlage für pädagogische Begleitung sein kann. Ein Überblick zum nationalen und internationalen Forschungsstand in diesem Bereich bildet sodann die Grundlage, um abschließend eine pädagogische Perspektive auf Lebensqualität und Wohnen zu richten.

Tina Molnár geht der Frage nach, welche Rolle die Konzepte der Lebensqualität bzw. der Zufriedenheit im Zusammenhang mit den Themen Arbeit und Beschäftigung für den Personenkreis von Menschen mit geistiger Behinderung spielen. Dabei nimmt sie sowohl exklusive als auch inklusive Settings in den Blick und setzt sich in diesem Zusammenhang auch mit der Zielgruppe von Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung auseinander. Sie beschreibt die vielfältigen positiven Effekte inklusiver Beschäftigungsverhältnisse auf die Lebensqualität von Menschen mit geistiger Behinderung, die im Einklang stehen mit aktuellen arbeitsmarktpolitischen Forderungen und Maßnahmen, wie dem Budget für Arbeit, dem Budget für Ausbildung sowie der Stärkung von ausgelagerten Arbeitsplätzen der WfbM.

Dass auch eine angemessene Freizeitgestaltung die Lebensqualität von Menschen mit geistiger Behinderung positiv beeinflussen kann, zeigen Noemi Heister und Stefanie Köb. Sie stellen Freizeit als einen Lebensbereich vor, der auf der einen Seite großes Potenzial zur Entfaltung der Lebensqualität birgt, auf der anderen Seite jedoch verstärkt von Teilhabefaktoren abhängt, die es im Kontext von geistiger Behinderung zu bedenken und zu bearbeiten gilt. Aufbauend auf Opaschowskis positivem Freizeitbegriff und einer Übertragung auf die Zielgruppe werden nationale wie internationale Studienbefunde zur Freizeitpartizipation von Menschen mit geistiger Behinderung beschrieben und in Verbindung zum Lebensqualitätskonzept gesetzt.

Heiko Schuck setzt sich mit der Lebensqualität von alten Menschen mit geistiger Behinderung auseinander – einer durch Alter und Behinderung doppeldiskriminierten Gruppe. Die Beschäftigung mit dieser Zielgruppe steht erst am Anfang der Entwicklung. Auf der Auseinandersetzung mit ersten Konzepten für eine angemessene Begleitung alter Menschen mit geistiger Behinderung werden Handlungsempfehlungen entwickelt, die dazu beitragen sollen, Hilfebedürftigkeit und Abhängigkeit zu verringern und die Lebensqualität der Zielgruppe zu steigern und sichern.

III           Lebensqualität bei spezifischen Zielgruppen

Im dritten und letzten Teil des Buches wird der Fokus auf zwei spezifische Zielgruppen, Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen mit kognitiver Beeinträchtigung sowie Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung, gerichtet, die durch die Form bzw. Schwere der Behinderung besonders vulnerabel sind. Die Gefahr, dass die Behinderung für Individuen und deren Umfeld Auswirkungen auf die Lebensqualität hat, ist bei diesen beiden Gruppen besonders groß. Aus diesem Grund soll ihnen jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet werden, in denen auf der einen Seite die Spezifika der Behinderung dargestellt und auf der anderen Seite Maßnahmen zum Erreichen einer möglichst hohen Lebensqualität beschrieben werden.

Vera Rössler bezieht sich in ihrer Auseinandersetzung mit dem Konzept der Lebensqualität bei Menschen im autistischen Spektrum sowohl auf die gesamte Lebensspanne als auch auf die verschiedenen Erscheinungsformen autistischer Störungen. Damit dies gelingt, wird zunächst ein Überblick über die Bandbreite autistischer Störungen gegeben, bevor der Forschungsstand zur Lebensqualität von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit einer ASS beschrieben und anschließend für Menschen im autistischen Spektrum mit begleitenden kognitiven Einschränkungen diskutiert und reflektiert wird.

Torsten Hammann und Meike Engelhardt widmen sich der Gruppe von Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung. Sie gehen zu Beginn auf deren oftmals bestehendes Passungsproblem mit der Umwelt ein, um anschließend drei Wege zur Annäherung an die Lebensqualität der Zielgruppe vorzustellen. In einer schlaglichtartigen Darstellung werden abschließend verschiedene Lebensbereiche vor dem Hintergrund der Frage erörtert, inwiefern mit Hilfe des Konzepts der Lebensqualität die Lebenswelt von Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung verbessert werden kann. Dabei werden vor allem Möglichkeiten zur selbstbestimmten Lebensgestaltung fokussiert.

Literatur

Brown, I., Schalock, R. & Brown, R. (2009): Quality of life: its application to persons with intellectual disabilities and their families: introduction and overview. Journal of Policy and Practice in Intellectual Disabilities, 6,2–6.

Dworschak, W. (2004): Lebensqualität von Menschen mit geistiger Behinderung. Theoretische Analyse, empirische Erfassung und grundlegende Aspekte qualitativer Netzwerkanalyse. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt.

Schäfers, M. (2008): Lebensqualität aus Nutzersicht. Wie Menschen mit geistiger Behinderung ihre Lebenssituation beurteilen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Schalock, R. L. & Verdugo M. A. (2002): Handbook on Quality of Life for Human Service Practitioners. American Association on Mental Retardation, Washington, DC.

Schalock, R., Gardner, J. & Bradley, V. (2007): Quality of Life for People with Intellectual and other Developmental Disabilities: Applications across Individuals, Organizations, Communities, and Systems. American Association on Intellectual Disability, Washington, DC.

Schalock, R., Keith, K., Verdugo, M. & Gómez, L. (2010): Quality of life model development and use in the field of intellectual disability. In: R. Kober (Hrsg.): Enhancing the Quality of Life of People with Intellectual Disabilities: From Theory to Practice (S. 17–32). Springer, New York, NY

Schuck, H. (2016): Subjektive Lebensqualität von Menschen mit geistiger Behinderung in der Lebensphase Alter. Giessen [Online] http://geb.uni-giessen.de/geb/volltexte/2016/11884/ (zuletzt geprüft 29.11.2021)

Seifert, M. (2006): Lebensqualität von Menschen mit schweren Behinderungen Forschungsmethodischer Zugang und Forschungsergebnisse. Zeitschrift für Inklusion-online 02/2006. [Online] http://bidok.uibk.ac.at/library/inkl-02-06-seifert-lebensqualitaet.html, (zuletzt geprüft am 13.08.2021).

I          Theoretische Grundlagen

Lebensqualität oder die Qualität eines Lebens

Peter Zentel

Die Frage nach der Lebensqualität des Menschen zu stellen, ist wissenschaftlich betrachtet ein noch junges Phänomen. Wissenschaftliche Bemühungen, die auf eine Verbesserung der Lebensqualität abzielen, lassen sich auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg datieren. Aber schon in der Antike geht die Philosophie der Frage nach, worin der Sinn des Lebens liegt und was ein gutes und gelingendes Leben ausmacht (Woopen, 2014).

Die Qualität des Lebens kann als Grad des subjektiven Wohlbefindens eines Menschen oder einer Gruppe von Menschen beschrieben werden. Quantitativ ausgedrückt, ergibt sie sich als Summe subjektiver Bewertungen verschiedenster Lebensbereiche. Lebensqualität zielt darüber hinaus als deskriptiver Begriff auf objektive Zustände (Schäfers 2008).

Ob subjektive oder objektive Bewertungen vorgenommen werden, ist abhängig von der Absicht, mit der die Frage nach der Lebensqualität gestellt wird. Geht es um die Ermittlung der Situation einer einzelnen Person, müssen, wie später noch gezeigt werden wird, subjektive und objektive Bewertungen zusammengeführt werden. Geht es dagegen um Fragen der gesellschaftlichen Gerechtigkeit und/oder gesetzgeberischer Prozesse, muss über objektive Kriterien eine möglichst vergleichbare Grundlage für die Lebensqualität aller gelegt werden. Dazu gehören beispielsweise die gleichberechtigte Verteilung von gesellschaftlichen Gütern oder der Zugang zu relevanten Teilhabebereichen. Auch wenn nicht sichergestellt werden kann, dass auf der Grundlage dieser objektiven Werte ein einzelner Mensch eine hohe Lebensqualität hat bzw. empfindet, so können äußere, objektive Bedingungen zumindest einen Rahmen bieten, der Lebensqualität ermöglicht. Fehlt dieser Rahmen, weil eine Gruppe mit stark eingeschränkten Ressourcen und Rechten leben muss, fällt es dem Individuum deutlich schwerer, subjektiv Lebensqualität zu empfinden. Gerade wenn wir extreme Lebenssituationen betrachten, wie das Erleben von Unterdrückung, körperlicher oder psychischer Gewalt, wird deutlich, dass unter diesen Bedingungen keine oder nur geringe subjektive Lebensqualität empfunden werden kann. Diese Situation wird nach Zapf (1984) als Deprivation bezeichnet (s. u.).

Interessanterweise ist es aber auch trotz perfekter Rahmenbedingungen möglich, dass Menschen nicht glücklich sind, sie ihre Lebensqualität als gering empfinden. Zapf (ebd.) klassifiziert eine solche Situation als dissonant. Schopenhauer stellt dazu fest: »Alle äußeren Quellen des Glückes und Genusses sind ihrer Natur nach höchst unsicher, mißlich [sic], vergänglich und dem Zufall unterworfen, dürften daher, selbst unter den günstigsten Umständen, leicht stocken« (Schopenhauer, 1988, zitiert nach Birnbacher, 1998, S. 136). Und weiter führt er aus: »Eigentlicher Reichtum, d. h. großer Überfluß [sic] vermag wenig zu unserem Glück; daher viele Reiche sich unglücklich fühlen« (ebd. S. 139).

Abgesehen von den oben beschriebenen, extrem negativen Rahmenbedingungen ist es nur bedingt möglich, von objektiven, äußeren Gegebenheiten auf eine subjektiv bewertete Lebensqualität zu schließen. Sie ist in hohem Maße von individuellen Bewertungen abhängig:

»Was meine Lebensqualität erhöht, ist, mich in einem Zustand zu befinden, der dem günstig ist, was mir wichtig ist. Lustgefühle sind nicht in jeder Lebenssituation willkommen und Schmerzen nicht in jeder unwillkommen. Was über meine Lebensqualität entscheidet, ist nicht das Ausmaß, in dem meine inneren Zustände angenehm (im hedonischen Sinne) sind, sondern das Ausmaß, in dem sie mir genehm (im Sinne meiner reflexiven Präferenzen) sind. Nicht Gefühlsqualitäten entscheiden über die Lebensqualität, sondern subjektive Bewertungen von Gefühlsqualitäten« (Birnbacher, 1998, S. 136).

Diese ersten Gedanken zeigen auf, wie schwer es ist, Lebensqualität zu bestimmen und zu bewerten. Blicken wir auf Menschen mit geistiger Behinderung, so verstärken sich die Schwierigkeiten. Viele Menschen mit geistiger Behinderung leben objektiv betrachtet in prekären Verhältnissen. Dadurch, dass viele nicht auf dem ersten Arbeitsmarkt, sondern in Werkstätten für Menschen mit Behinderung tätig sind, müssen sie von einem Taschengeld leben. Wohnheime, in denen viele Menschen mit geistiger Behinderung leben, sind ärmlich gestaltet und erinnern kaum an ein individualisiertes Zuhause, in dem man sich familiär aufgehoben, wohl und geborgen fühlt. Mit anderen Worten wird Menschen mit geistiger Behinderung nicht der gleiche Standard zugestanden, der für Menschen ohne Behinderung gilt. Natürlich ist die Situation nicht mit der Lebenswelt von Menschen mit Behinderung vergleichbar, die in Großeinrichtungen in den 50er, 60er oder 70er Jahren des letzten Jahrhunderts lebten (vgl. Speck, in diesem Band). Gesellschaftliche Strömungen – im Kontext der Sonderpädagogik als Leitideen bezeichnet – wie die Normalisierungs-, Selbstbestimmungs-, Inklusions- oder Teilhabebewegung haben dazu beigetragen, dass diese unhaltbaren Zustände, die bis in die 1970er Jahre teilweise auch in Deutschland herrschten, überwunden werden konnten und sich die Lebensqualität von Menschen mit geistiger Behinderung verbessert hat (Schuck, 2016). Lebensrealitäten, die der Allgemeinheit entsprechen, wurden aber nicht erzielt. Vielmehr kann festgestellt werden:

•  Trotz nicht zu verkennender Verdienste hat die Normalisierungsbewegung (Thimm, 2008) das Ziel verfehlt, Menschen mit geistiger Behinderung zu einem Leben so normal wie möglich zu verhelfen (Schuppener et al., 2021).

•  Trotz nicht zu verkennender positiver Veränderungen, die durch die Selbstbestimmungsbewegung ausgelöst wurden (Klauß, 2019; Wehmeyer, in diesem Band), werden Menschen mit geistiger Behinderung vielfach von ihrem nichtbehinderten Umfeld unterdrückt (Kremsner, 2017).

•  Obwohl Inklusion durch die UN-Behinderterechtskonvention als rechtsverbindliches Paradigma die vielfältige ungehinderte Teilhabe in allen Lebensbereichen ermöglichen sollte (Biewer & Schütz, 2016), leben viele Menschen weiterhin isoliert in abgeschotteten Lebenswelten, sind auf das Wohlwollen der »Nichtbehinderten« angewiesen (Grundstein, 2019, zitiert nach Schuppener et al., 2021).

•  Obwohl man nicht zuletzt durch das Bundesteilhabegesetz versucht hat, individuelle Lebensentwürfe durch personenzentrierte Zugänge zu ermöglichen, werden weiterhin vielfach pauschaliert Ressourcen zugewiesen, was ein an Bedürfnissen und Neigungen ausgerichtetes Leben erschwert.

Damit drängt sich folgende Frage auf: Ist die Lebensqualität von Menschen mit geistiger Behinderung niedriger?

Grundsätzlich lässt sich konstatieren, dass mit einer geistigen Behinderung bis zum heutigen Tag eine geringe Lebensqualität assoziiert wird (Dederich 2014). Studien zur Lebensqualität zeigen aber, pauschal betrachtet, dass eine Mehrzahl an Menschen mit geistiger Behinderung mit ihrem Leben zufrieden sind (Cummins, 1995; Dworschak, 2004; Schäfers, 2008).

Hier stellt sich die Frage, mit welchem Selbstverständnis die befragten Menschen mit geistiger Behinderung sich dazu geäußert haben. In Studien zur Lebensqualität, in denen Menschen mit geistiger Behinderung selbst befragt werden, zeigen sich Anzeichen von Resignation (»resignative Anpassungsprozesse«, Schäfers, 2008, 330; »resignative Zufriedenheit«, Schreiner, 2016, 4). Das bedeutet, dass die Befragten sich arrangieren und aus dem, was ihnen zugestanden wird, das Beste machen, wohl wissend, dass andere Menschen deutlich mehr Möglichkeiten haben, sich zu verwirklichen (vgl. Dworschak, in diesem Band). Das System der Behindertenhilfe als verlängerter Arm der Gesellschaft hält einen eigenen Lebensraum vor, der gewisse Entfaltungsmöglichkeiten und deshalb durchaus eine Grundlage für das Empfinden von Lebensqualität bietet, aber nur wenn man ausblendet, dass die Welt außerhalb dieses Raumes eine andere, vielfältigere ist. Resignation könnte in diesem Zusammenhang als Einsicht beschrieben werden, dass das rahmengebende System der Behindertenhilfe keine anderen Möglichkeiten zugesteht und ein Durchbrechen der Beschränkungen nicht oder kaum möglich ist.

Wie es um die Lebensqualität von Menschen mit geistiger Behinderung tatsächlich bestellt ist, möchte das hier vorliegende Buch untersuchen, indem das gesamte Feld auf der Grundlage vorliegender nationaler und internationaler Erkenntnisse systematisch und differenziert erkundet wird. Eine globale Antwort, ob alle Menschen mit geistiger Behinderung eine hohe oder niedrige Lebensqualität empfinden bzw. ob ihnen eine solche zugesprochen wird, kann es aber nicht geben, denn die Zielgruppe und die Lebensumstände sind zu divers, als dass belastbare Aussagen möglich wären. Vielmehr sollen spezifische Bedingungen und Voraussetzungen in unterschiedlichen Lebens- und Aufgabenbereichen identifiziert werden, die Einfluss auf Lebensqualität haben.

Dieses einleitende Kapitel, in dem die Basis für das Buch gelegt werden soll, startet mit einer geschichtlichen Auseinandersetzung, bevor der Begriff definitorisch bestimmt wird. Im Anschluss wird die Anwendung von Lebensqualität bei Menschen mit geistiger Behinderung thematisiert und auf der Basis einschlägiger Modelle erörtert.

1           Die Geschichte der Lebensqualität

Lebensqualität gehört seit mehreren Jahrzehnten zu den häufig verwendeten und diskutierten Begriffen unterschiedlicher wissenschaftlicher und praktischer Kontexte. Aber unabhängig von der Begriffsbildung beschäftigt sich die Menschheit bereits seit Jahrtausenden mit der Frage nach einem guten Leben. Neise und Zank (2016) beschreiben in einer historisch-philosophischen Retrospektive aufeinander aufbauende Phasen der Auseinandersetzung mit Lebensqualität. So sehen sie vom Altertum bis in die Neuzeit hinein eine religiös-kulturelle Dimension von Lebensqualität. Ein gutes Leben ist demnach eines, das den Ansprüchen der Götter oder des einen Gottes gerecht wird. Je nach Religion kann Lebensqualität damit unterschiedlich bewertet werden: Von einer lustvollen Lebensführung bis hin zur Genügsamkeit in demütiger Armut. Das heißt, je nachdem, wie die jeweilige Religion und die vorherrschende Kultur den Menschen rahmen, verändert sich das Verständnis eines guten Lebens und damit einhergehend die Bewertung desselben.

Beeinflusst durch die Aufklärung wurde in einer nächsten Phase der Blick auf das individuelle Lebensglück gelenkt, das dem neuen Verständnis nach nicht von außen kulturell-religiös reglementiert, sondern über das vom Individuum selbst entschieden wird. »Die Aufklärung hatte somit zur Folge, dass ein Leben von hoher Qualität fortan in einer Verbindung von personenbedingten Faktoren und einem gesellschaftlichen Allgemeinwohl zu suchen war« (ebd., S. 4 f.). Allerdings hat sich dieses Verständnis aufgrund der herrschenden Verhältnisse in der Zeit der frühen Industrialisierung nur auf wenige privilegierte Menschen ausgewirkt. Das gute Leben weniger wurde durch das dramatisch schlechte Leben der neu etablierten Arbeiterklasse ermöglicht. Erst in der nächsten Phase wurden mit entsprechenden politischen Reformen durch den Druck von Gewerkschaften unter Bismarck gegen Ende des 19. Jahrhunderts zumindest vom Grundsatz her die Möglichkeit, ein gutes Leben zu führen, der Gesamtgesellschaft zugänglich.

Nach dem Zweiten Weltkrieg stand in westlichen Ländern der Aufbau eines Wohlfahrtsstaates im Mittelpunkt. Auf der Grundlage materiellen Wohlstandes, verbunden mit einer auf Konsum und Wachstum ausgerichteten Wirtschaft und Gesellschaft, wurde Wohlfahrt im Sinne eines materiellen Wohlstands verstanden, der mit einer stetigen Erhöhung des Lebensstandards einhergeht (Schuck, 2016).

Die letzte Phase beschreiben Neise und Zank (2016) ab den 1960er Jahren als ein ausdifferenziertes Verständnis von einem guten Leben, das »[…] den Versuch unternimmt der heutigen Gesellschaft und den bestehenden pluralistischen Lebensformen gerecht zu werden« (ebd., S. 5). Diese Phase hat durch die politische Agenda des amerikanischen Präsidenten Lyndon Johnson international an Bedeutung gewonnen, der in seiner Vision von einer »Great Society« ein gutes Leben für alle anstrebte und dafür den Begriff der »Quality of Life« prägte (Burch, 2017). Er hat darin Lebensqualität als das oberste Ziel seiner Politik erklärt. In Deutschland waren es die IG Metall, die 1972 eine internationale Arbeitstagung zum Thema: »Aufgabe Zukunft: Verbesserung der Lebensqualität« veranstaltete, und Willy Brandt, der Lebensqualität im selben Jahr zum Kernthema seines Wahlkampfs machte (Huschka & Wagner, 2010).

Der Begriff »Lebensqualität« kann nach Birnbacher (1998) auf Pigou zurückgeführt werden, einen britischen Ökonomen, der im Kontext einer Schrift zu »Economics of Welfare« erstmals den Begriff »quality of life« verwendet hat und als »non-economic welfare« definierte. Pigou ging davon aus, dass eine Verbesserung der Lebensqualität durch Veränderungen der Einkommensverteilung oder durch verbesserte Arbeitsbedingungen realisiert werden könnte.

2           Eugenik – Der vergessene Ursprung des Konzeptes der Lebensqualität

Kovács (2016) kritisiert, dass das Werk von Pigou in vielen Texten zur Lebensqualität nur oberflächlich rezipiert wird und seine dahinterliegenden Motive, die Kovács in der Eugenik verortet, nicht in die Rezeption einbezogen werden. In der Eugenik, so Kovács (ebd.), liegt aber der vergessene Ursprung der Auseinandersetzung mit Lebensqualität. Er führt den englischen Arzt und Sexualforscher Ellis an, der sich in seinem Buch von 1911 zum Problem der Rassendegeneration mit Lebensqualität auseinandersetzt. Darin beschrieb Ellis eine Korrelation zwischen der Weiterentwicklung von Technik und gesellschaftlichen Institutionen, die zu einem bequemeren und angenehmeren Leben führen, und der Reduktion der »Qualität« des Menschen, die er mit Lebensqualität gleichsetzt. Mit anderen Worten ist Lebensqualität für ihn ein wie auch immer gearteter Qualitätsstandard, den ein Mensch und in der Summe eine Gruppe von Menschen (z. B. die Mitglieder einer Nation) erreicht bzw. erreichen oder auch nicht. Je angenehmer und damit weniger fordernd die Lebensumwelt durch Fortschritt in Form von technischen Innovationen und unterstützenden Institutionen ist, desto größer ist die Gefahr, dass sich die »Qualität menschlichen Lebens« zurückentwickelt, da der Selektionsdruck fehlt. Um die »Qualität des Menschen« trotz der besseren Lebensbedingungen zu sichern, forderte er eugenische Maßnahmen als Korrektiv.

Die »Qualität des Menschen« und der damit verbundene »Wert« oder »Unwert« wurde in Deutschland bereits Ende des 19. Jahrhunderts (Jost, 1895; Ploetz, 1895) verstärkt in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts durch Publikationen unter anderem von Binding und Hoche (1920) sowie Lenz (1921) diskutiert und in der Zeit des Nationalsozialismus zu einem alles entscheidenden Maß. Dabei verschränken sich zwei Motive: zum einen die angesprochene Angst, die Erbmasse der Rasse bzw. des Volkes könne sich verschlechtern, zum anderen ökonomische Gründe. Menschen, die keinen Beitrag für die Gemeinschaft leisten, können nach dieser Denkweise nicht erwarten, von der Gemeinschaft gefördert oder mitgetragen zu werden. So schreibt Martin Staemmler 1933: »Es gibt kein Recht für alle. Der Hochwertige hat das Recht gefördert zu werden, der Minderwertige hat es nicht« (Staemmler, 1933, zitiert nach Schäfer, Döbber & Groß, 2010). Ein drittes Motiv wird latent mitgeführt bzw. vorgeschoben. Es ist Mitleid, Mitleid mit einem »Dasein ohne Leben«1. So heißt es im Erlass Hitlers zur Aktion T4 (1939), dass unheilbar Kranken der »Gnadentod gewährt werden kann«. Nach diesem Verständnis gibt es eine Schwelle der Qualität des Lebens, unterhalb derer ein Leben nicht mehr lebenswert ist und die Tötung demnach kein Verbrechen, sondern, in der zynischen Sprache der Nationalsozialisten, eine »Gnade«. Die Verknüpfung von vorgeschobenem Mitleid und ökonomisch/utilitaristisch geleiteten Motiven zeigt sich bereits bei Binding & Hoche (1920, S. 28): »Daß es lebende Menschen gibt, deren Tod für sie eine Erlösung und zugleich für die Gesellschaft eine Befreiung von der Last ist … läßt sich in keiner Weise bezweifeln.«

Es wird deutlich, dass sich der Bezugspunkt der Fürsorge in dieser Zeit veränderte. Während sich fürsorgliches Handeln traditionell auf den hilfsbedürftigen Menschen bezog, war man nun fürsorglich gegenüber dem Volk. Es ging damit nicht um die Lebensqualität des Einzelnen, sondern um die Lebensqualität der leistungsfähigen Volksgemeinschaft. Wie allseits bekannt, ging die »Fürsorge« für das Volk soweit, dass man Menschen mit Behinderungen sterilisierte, ihnen verbot zu heiraten, sie als bildungsunfähig aus der Schule ausschloss und als ›Ballastexistenzen‹ tötete (Klee, 2010).

Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass die Auseinandersetzung mit dem, was ein gutes Leben ausmacht, schon seit vielen Generationen die Menschheit beschäftigt. Der Begriff der Lebensqualität ist aber deutlich jünger. In seiner heutigen Verwendung hat er seine Wurzeln in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts. Von Bedeutung ist ferner, dass schon sehr früh die Frage nach der Lebensqualität mit der Frage nach der Qualität eines Lebens in Verbindung gebracht wurde (Dworschak, 2004). Das heißt, dass die Auseinandersetzung mit Lebensqualität auf der einen Seite das Potenzial hat, als Korrektiv zu dienen, um ungleiche Verteilungen innerhalb einer Gesellschaft aufzudecken, und genutzt werden kann, um die individuelle Situation von Menschen subjektiv zu bewerten. Auf der anderen Seite kann das Konzept als »Qualität eines Menschen« verstanden werden mit, wie dargestellt, entsprechend negativen Auswirkungen für Menschen mit Behinderungen.

3           Definition und konzeptionelle Fassung

Zufriedenheit und Glück, die in der Summe ein gutes Leben ausmachen, sind Zielperspektive eines jeden Menschen. Was aber als »gutes Leben« gefasst wird, ist abhängig von der jeweiligen Kultur und von disziplinären Sichtweisen. Es gibt eine Vielzahl von Definitionen, die aus unterschiedlicher Perspektive Qualitätsdimensionen des Lebens beschreiben, was u. a. daran liegt, dass Lebensqualität Gegenstand von Forschung diverser Disziplinen wie der Soziologie, Psychologie, Politologie, Philosophie oder Medizin ist. Aufgrund dieser vielfältigen Zugänge unterscheiden sich auch die entwickelten Ansätze zur Konzeptualisierung und Operationalisierung von Lebensqualität (Schäfers, 2008). Nach Noll (1997) schließt Lebensqualität »alle wichtigen Lebensbereiche ein und umfaßt nicht nur das materielle und individuelle Wohlergehen, sondern auch immaterielle und kollektive Werte, wie Freiheit, Gerechtigkeit, die Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen und die Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen« (Noll, 1997, S. 3). Die Komplexität und Multidimensionalität von Lebensqualität zeigt sich insbesondere in der Definition der WHO:

»WHO defines Quality of Life as individuals’ perception of their position in life in the context of the culture and value systems in which they live and in relation to their goals, expectations, standards and concerns. It is a broad ranging concept affected in a complex way by the person's physical health, psychological state, level of independence, social relationships, personal beliefs and their relationship to salient features of their environment« (WHO, 1997, S. 1).

Glatzer unterscheidet Lebenszufriedenheit von Lebensqualität. Lebenszufriedenheit wird als individuelle Zielvorstellung beschrieben, Lebensqualität als moderne Leitidee, die für die gesellschaftliche Gestaltung von Lebensverhältnissen herangezogen werden kann. Aus Sicht Glatzers ist Lebenszufriedenheit eine Kategorie des subjektiven Wohlbefindens, wohingegen Lebensqualität breiter zu verstehen ist, weil sie subjektiv wahrgenommene Lebensqualität und objektiv vorhandene Lebensbedingungen vereint (Glatzer, 2002).

Zapf (1984) führt diese beiden Pole in einer Matrix zusammen (Tab. 1). Er beschreibt sie als Wohlfahrtspositionen. Sie sind der Versuch, unterschiedliche Typen von Lebensqualität in einem einfachen Modell zu klassifizieren (Neise & Zank, 2016).

Tab. 1: Wohlfahrtspositionen nach Zapf (1984).

objektive LebensbedingungenSubjektives Wohlbefinden

Wenn objektive Lebensbedingungen und subjektives Wohlbefinden beide als gut eingeschätzt werden, spricht man demnach von Well-Being (Wohlbefinden). Sie ist die erstrebenswerteste Kombination und sollte Zielperspektive aller Bemühungen um Lebensqualität sein. Werden beide als schlecht bewertet, spricht man nach diesem Modell von Deprivation. Dissonanz wird als schlechtes Wohlbefinden bei objektiv guten Lebensbedingungen bezeichnet und Adaption beschreibt gutes subjektives Wohlbefinden unter schlechten Lebensbedingungen. Die beiden letzteren sind inkonsistente Mischformen, die, zumindest von außen betrachtet, einen paradoxen Widerspruch darstellen (Neise & Zank, 2016).

Weiter werden zwei prominente Ansätze angeführt, die als Ausgangspunkte die Entwicklung der empirischen Wohlfahrts- und Lebensqualitätsforschung maßgeblich beeinflusst haben: der Level-of-Living-Approach aus Skandinavien und das Quality-of-Life-Konzept aus den USA (Schuck, 2016).

Der Level-of-Living-Approach ist ein Ergebnis der schwedischen Wohlfahrtsforschung und dient dazu, auf der Grundlage spezifischer Indikatoren ausgewählter Lebensbereiche die Instrumente und Auswirkungen der Wohlfahrt zu beobachten und zu beurteilen (Wacker et al., 2005). Es ist eine Reaktion auf das eindimensionale Verständnis von Lebensqualität als materieller Wohlstand und Wachstum (Schuck, 2016). Der Level-of-Living-Approach unterscheidet individuelle Ressourcen und Determinanten, die über objektive Indikatoren bestimmt werden. Individuelle Ressourcen sind u. a. Einkommen, Vermögen, Bildung und soziale Beziehungen. »Aspekte der Lebensbedingungen, die sich der individuellen Kontrolle entziehen, z. B. die natürliche Umwelt, Gesundheit, die Infrastrukturausstattung, werden als Determinanten bezeichnet« (Noll, 1999, S. 8). Die individuellen Lebensbedingungen ergeben sich aus der Kombination aus Ressourcen und Determinanten.

Basierend auf dem Level-of-Living-Approach wurde 1973 das Sozialindikatoren-Programm der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) entwickelt.

Zieldimensionen des Programms nach Neise und Zank (2016, S. 6) sind:

•  Gesundheit,

•  Arbeit und Qualität des Arbeitslebens,

•  Verfügung über Güter und Dienstleistungen,

•  Persönlichkeitsentwicklung durch Lernen,

•  soziale Möglichkeiten und Partizipation,

•  physische Umwelt,

•  persönliche Sicherheit und Rechtswesen,

•  Zeitbudget und Freizeit.

Diese hier aufgeführten objektiven Zieldimensionen können in Bezug auf spezifische Fragestellungen operationalisiert und messbar gemacht werden. Auf dieser Grundlage können Lebensbedingungen der Bevölkerung oder Teilen davon bestimmt und ins Verhältnis gesetzt werden. »Sie stellen somit Globalmaße dar, um soziale Wandlungsprozesse zu erfassen« (ebd., S. 7). Die Stärke des Level-of-Living-Approach liegt demnach in der Objektivierbarkeit von Lebensbedingungen. Allerdings liegt darin gleichzeitig auch die Schwäche, denn subjektive Aspekte werden nicht ausreichend berücksichtigt. Schuck (2016) kritisiert in Anlehnung an Allardt (1993) die engmaschige und unflexible Vorgehensweise sowie die Beschränkung auf materielle Bedingungen. Im Gegensatz hierzu bezieht sich der US-amerikanische Quality-of-Life-Ansatz auf subjektive Wahrnehmungs- und Bewertungsprozesse. Es werden dabei vor allem immaterielle Komponenten bestimmt. Mit dem Quality-of-Life-Ansatz wollte man ermitteln, wie gesellschaftliche Veränderungen von der Bevölkerung subjektiv wahrgenommen werden. Ziel war das Erfassen des subjektiven Wohlbefindens eines einzelnen Menschen (Noll, 1999).

Die jeweilige einseitige Hinwendung zu objektiven (Level-of-Living-Approach) und subjektiven (Qualitiy-of-Life-Ansatz) Kriterien beschränkt beide Ansätze in ihrer Aussagekraft (Schuck, 2016). Neuere Ansätze sind deshalb mutidimensional und ganzheitlich, berücksichtigen und kombinieren subjektive und objektive Werte in gleicher Weise. Ein solcher Ansatz ist der von Allardt (1993) entwickelte Basic-Needs-Approach, der sich auf das individuelle Wohlbefinden (Well-Being) als konstituierendes Element von Lebensqualität bezieht. In dem Ansatz werden drei Kategorien von Grundbedürfnissen unterschieden: Having, Loving und Being (Schäfers, 2008).

•  Having beschreibt das Bedürfnis nach Wohlstand, also ökonomische Ressourcen, angemessene Wohnverhältnisse, Arbeit, Gesundheit und Bildung.

•  Loving umfasst das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und sozialen Kontakten (Belonging) auf unterschiedlichen Ebenen: Zugehörigkeit zur engen und weiteren Familie, zu einem Freundeskreis, zur Nachbarschaft, aber auch Zugehörigkeit in der Gemeinde, in Vereinen und am Arbeitsplatz.

•  Being meint das Bedürfnis nach Persönlichkeitsentwicklung und Selbstverwirklichung. Es schließt politische und private Einfluss- und Entscheidungsmöglichkeiten mit ein sowie erfüllende Arbeitstätigkeit und Freizeit (Schuck, 2016; Schäfers, 2008).

Lebensbedingungen können auf dieser Grundlage anhand objektiver und subjektiver Indikatoren eingeschätzt werden (Allardt, 1993). Tabelle 2 zeigt die Zuordnung der Grundbedürfnisse zu subjektiven und objektiven Indikatoren.

Tab. 2: Objektive und subjektive Indikatoren von Lebensqualität (ebd., 93; Übersetzung durch den Verfasser)

Objektive IndikatorenSubjektive Indikatoren

Kombiniert man die oben dargestellte Matrix von Zapf (1984; Tabelle 1) mit der von Allardt (1993; Tabelle 2), ergibt sich ein noch differenzierteres Bild. Für jede Kategorie (Having, Loving, Being) können objektive Lebensbedingungen und subjektives Wohlbefinden eingeschätzt und ins Verhältnis gesetzt werden, so dass ein individuelles »Lebensqualitätsprofil« entsteht (siehe Tabelle 3).

Tab. 3: Eigene Zusammenführung der Systematik von Allardt (1993) und Zapf (1984)

Objektive IndikatorenSubjektive IndikatorenBewertung

Die drei von Allardt genannten Grundbedürfnisse Having, Loving, Being können somit als Kernkonzepte von Wohlbefinden verstanden werden. In der Literatur gibt es noch weitere Kernkonzepte (core domains), die als konstituierend für Wohlbefinden angesehen werden. Burns (2016) nennt in diesem Zusammenhang Autonomie, Kompetenz und Verbundenheit (relatedness). Im Modell des Nested Wellbeing (Henriques, Kleinman und Asselin, 2014) werden vier Domänen des Wohlbefindens angeführt:

•  Bereich 1: Der subjektive Bereich, der die phänomenologische Erfahrung einer Person darstellt, also die bewusste Erfahrung von Glück (vs. Unglück) in Zusammenhang mit selbstbewusstem, reflektiertem Wahrnehmen der Zufriedenheit (oder Unzufriedenheit) mit dem Leben und seinen verschiedenen Bereichen;

•  Bereich 2: Der Gesundheits- und Funktionsbereich, der weiter in zwei große Funktionsdimensionen unterteilt werden kann: die biologische und die psychologische Dimension;

•  Bereich 3: Der Umweltbereich, der ebenfalls in zwei Bereiche unterteilt werden kann: die soziale und materielle Umwelt;

•  Bereich 4: Der Bereich Werte und Ideologie, der sich auf die Moral, die ethische Perspektive und die Weltanschauung des Bewerters bezieht (ebd., S. 8).

Abbildung 1 zeigt die zueinander in Beziehung stehenden Bereiche des Wohlbefindens. Henriques, Kleinman und Asselin (2014) gehen davon aus, dass echtes Wohlbefinden erreicht wird, wenn diese Bereiche positiv aufeinander abgestimmt sind. Das heißt, eine Person hat ein hohes Wohlbefinden, wenn sie glücklich und zufrieden mit ihrem Leben ist, psychologisch und biologisch gut »funktioniert« und Zugang zu den notwendigen und gewünschten materiellen Ressourcen sowie sozialen Beziehungen hat, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen.

Abb. 1: Das verschachtelte (nested) Modell der Dimensionen von Wohlbefinden nach Henriques, Kleinman und Asselin (2014).

Der Ansatz von Henriques, Kleinman und Asselin (2014) steht beispielshaft für eine Vielzahl von Studien, die sich in den letzten beiden Jahrzehnten mit Wohlbefinden auseinandergesetzt haben (z. B. Waterman, 2013; Deci & Ryan, 2000; Ryff & Singer, 1998; Seligman, 2011). Einen theoretischen Rahmen hat die Debatte um Wohlbefinden im Ansatz der Positiven Psychologie gefunden, die aufbauend auf dem Ansatz von Abraham Maslow vor allem durch Martin Seligman in den 1990er Jahren breite Aufmerksamkeit erlangt hat. Die Positive Psychologie wendet sich, quasi als Gegenentwurf zur tendenziell negativ orientierten traditionellen Psychologie, den positiven Aspekten des Menschseins zu. Im Mittelpunkt stehen neben individuellem Wohlbefinden Aspekte wie Glück, Geborgenheit, Vertrauen, individuelle Stärken und Solidarität.

Die Ausdifferenzierung des Konzeptes des Wohlbefindens und die Erkenntnisse der Positiven Psychologie haben dazu beigetragen, Lebensqualität vielschichtiger und differenzierter betrachten zu können.

4           Lebensqualität bei Menschen mit geistiger Behinderung

Eine entscheidende Frage, die sich in diesem Kapitel stellt, ist, warum man sich überhaupt mit der Lebensqualität von Menschen mit geistiger Behinderung gesondert auseinandersetzen muss. Ist Lebensqualität nicht etwas Universelles, für alle Menschen gleichermaßen Gültiges? Letztlich können drei in Zusammenhang stehende Gründe für eine spezifische Betrachtung angeführt werden.

•  Menschen mit geistiger Behinderung sind auf Unterstützung angewiesen. Dieser Tatbestand verleiht Helfenden Einfluss darauf, ob Zustände des Wohlbefindens ermöglicht werden oder nicht. Ein »Mehr an sozialer Abhängigkeit« (Hahn, 2003, S. 42) ist deshalb konstituierend für eine geistige Behinderung. »Das Mehr an sozialer Abhängigkeit muss als Konsequenz ein Mehr an Bemühungen haben, die bei allen Menschen mit Behinderung […] vorhandenen Autonomiepotenziale über Freiheitsräume, Förderung der Selbständigkeit und Assistenz zu realisieren, damit ihre Lebenswirklichkeit durch Wohlbefinden gekennzeichnet ist« (ebd., 2003, S. 44). Gibt es diese Bemühungen nicht, werden also unterstützungsbedürftige Menschen nicht in ausreichendem, erforderlichem Maß unterstützt, hat das negative Auswirkungen auf das Wohlbefinden und damit auf die Lebensqualität.

•  Menschen mit geistiger Behinderung gehören aufgrund ihrer behinderungsbedingten Einschränkungen nicht zu den »Leistungsträgern« einer Gesellschaft. Das gilt insbesondere dann, wenn eine Gesellschaft wie die unsere auf Leistung ausgerichtet ist. In einer Leistungsgesellschaft hängen Status, Einkommen und Einfluss von Menschen von deren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leistungen ab. »Idealerweise erreicht jede Person ihre verdiente [sic] Position in der Gesellschaft und wird entsprechend entlohnt« (Krämer 2018, o. S.). Das hat zur Konsequenz, dass diejenigen, die wenig »verwertbare Leistung« erbringen, eine eher niedrige, randständige Position in der Gesellschaft einnehmen. Sie sind damit abhängig vom Wohlwollen der sogenannten Leistungsträger und insofern entsprechend vulnerabel.

•  Im Kontext von geistiger Behinderung besteht die Gefahr, dass sich, wie oben dargestellt, die Situation von Lebensqualität zur Diskussion über die Qualität eines Lebens verschiebt (Dworschak, 2004). Die Qualität eines Lebens kann zum einen hinsichtlich der aktuellen oder zu erwartenden individuellen Gesamtbilanz an Leid und Glück bewertet werden, wie es beispielsweise Singer (2013) vorgeschlagen hat. Zum anderen kann im Sinne einer eugenischen und ökonomischen Abwägung die Qualität eines Lebens im Hinblick des Einflusses dieses Lebens auf die Qualität der Gesamtgesellschaft gesehen werden. Entweder durch eine befürchtete Verschlechterung des Genpools (Lenz, 1921) oder aber durch die finanzielle Belastung, die der Gesellschaft aufgebürdet wird (Binding & Hoche, 1920).

Die angeführten Gründe für eine gesonderte Lebensqualitätsdebatte im Kontext geistiger Behinderung zeigen, dass Lebensqualität vor dem Hintergrund ethischer Fragen diskutiert werden muss (Dworschak, 2004). Auch wenn zum Glück nicht mehr alle oben genannten Argumente gesellschaftsfähig sind und sich beispielsweise eine eugenische oder rein ökonomische Debatte im Sozialstaat Deutschland verbietet, kann nicht ausgeschlossen werden, dass durch zukünftige Entwicklungen (z. B. aufgrund der Verknappung von Ressourcen) der Druck auf vulnerable Gruppen wieder ansteigt. Geht es der Allgemeinheit schlecht, werden sehr schnell vermeintliche Wohltaten hinterfragt. Das folgende Zitat aus den frühen 30er Jahren des letzten Jahrhunderts von Hans Harmsen (zu der Zeit Leiter des Referats für Gesundheitsfürsorge im Centralausschuss für Innere Mission sowie Geschäftsführer des Deutschen Evangelischen Krankenhausverbandes) verdeutlicht dies auf drastische Weise:

»Es sei fraglich, meinte Harmsen, ob ›wir mit einem ungeheuren Kostenaufwand die Lebenswahrscheinlichkeit der in unseren Anstalten befindlichen Pfleglinge über das Maß der freien Außenwelt zu kultivieren haben. Und er fügt hinzu: ›Die Sterblichkeit in unseren Anstalten ist wesentlich günstiger als draußen … Würde nicht schon dadurch die Frage gelöst sein, daß wir für diese ganzen Gruppen auf ärztliche Hilfe verzichten?‹« (Der Humanist, 1999, o. S.)

4.1        »Wohltätiger Zwang« – Professionelle Sorgebeziehungen im Spannungsfeld von aktuellem und zukünftigem Wohlbefinden

Die angesprochene Unterstützungsbedürftigkeit führt immer wieder dazu, dass Entscheidungen für eine Person mit geistiger Behinderung getroffen werden müssen. Zum einen ergeben sich dadurch mitunter problematische Asymmetrien in Bezug auf die Verteilung der Macht, die, je nachdem wie verantwortungsvoll unterstützende Menschen mit der Macht umgehen, negative Folgen für Menschen mit Behinderung haben können (z. B. Kremsner, 2017). Zum anderen müssen im Zusammenhang stellvertretender Entscheidungen die aktuelle und zukünftige Lebensqualität ins Verhältnis gesetzt werden. Im Folgenden sollen vor diesem Hintergrund Situationen »wohltätigen Zwanges« in professionellen Sorgebeziehungen in den Blick genommen werden.

In Gesprächen mit Eltern wird oft von frühen traumatischen Erfahrungen mit Therapieformen berichtet, die so invasiv sind, dass sie Schmerzen und/oder erhebliches Unwohlsein auslösen und sowohl für die Kinder als auch für Eltern zu einer erheblichen Belastung werden können. Ein typisches Beispiel im Kontext von Kindern mit Entwicklungsschwierigkeiten ist die Vojta-Therapie (Vojta & Peters, 2007), mit welcher Bewegungsstörungen durch physiotherapeutische Übungen behandelt werden. Diese Übungen sind meist unangenehm, mitunter schmerzhaft, sodass Kinder während der Behandlung oft schreien und versuchen, sich der Behandlung zu entziehen, was in der Regel nicht möglich ist. Gerechtfertigt wird die Zwangsbehandlung damit, dass langfristig erhebliche Verbesserungen der Beweglichkeit und Motorik erwirkt werden können (ebd.). Auf das Thema des vorliegenden Buches bezogen heißt das, dass wohltätiger Zwang ausgeübt wird, der das aktuelle Wohlbefinden einschränkt, um langfristig eine Verbesserung der Lebensqualität zu erwirken.

Pädagogische Bemühungen sind immer wieder begleitet von wohltätigem Zwang. Nicht immer sind die Folgen mit akutem körperlichem Unwohlsein oder Schmerz verbunden, wie das im angeführten Beispiel der Vojta-Behandlung der Fall ist. Vielfach ist es psychisches »Unwohlsein«, das durch das Übergehen oder Zurückdrängen von Wünschen und Bedürfnissen eines Kindes oder eines erwachsenen Menschen ausgelöst und in Kauf genommen wird. Es wird in Kauf genommen, weil man zukünftige Folgen, die einen negativen Einfluss auf das Wohlbefinden eines Menschen haben können, verhindern oder zumindest reduzieren möchte. Zur Illustration folgen zwei Beispiele aus der Praxis:

In der Einrichtung, in der ich Zivildienst gemacht habe, gab es einen erwachsenen Bewohner, der sich wünschte, jeden Morgen zum Frühstück ein gekochtes Ei zu essen. Die Gruppenleitung untersagte dies im Hinblick auf seine Gesundheit.

 

In meiner Klasse war ein Schüler mit reduzierter Temperaturempfindlichkeit. Er fror auch im Winter kaum und wollte nur im T-Shirt in die Pause. Wir Lehrer haben täglich darauf bestanden, dass er seine Jacke anzieht, was immer wieder zu Streit führte.

In beiden Situationen ist Zwang ausgeübt worden, in beiden Situationen war das Motiv die zukünftige Gesundheit des Schülers/Bewohners. Und in beiden Fällen hatte es negative Auswirkungen auf das aktuelle Wohlbefinden. Zum einen, weil der erstrebte Zustand nicht erreicht wurde (der Genuss des Eis, das nicht Schwitzen in der Pause), zum anderen, weil damit negative soziale Interaktionen verbunden waren. Viele andere Situationen sind vorstellbar und viele ähnliche Situationen ereignen sich täglich, meist unhinterfragt.

Der Deutsche Ethikrat hat zum Thema des wohltätigen Zwanges 2018 eine Stellungnahme veröffentlicht, in der grundsätzlich die Auffassung vertreten wird, dass die Anwendung von Zwang im Kontext professioneller Sorgebeziehungen nur als letztes Mittel in Betracht gezogen werden darf (Deutscher Ethikrat, 2018). Nur dann, wenn Sorgeempfänger*innen in ihrer Fähigkeit zur Selbstbestimmung so stark eingeschränkt sind, dass keine eigenverantwortliche Entscheidung getroffen werden kann, darf Zwang ausgeübt werden. Das heißt umgekehrt, dass dann, wenn die Fähigkeit zur Selbstbestimmung nicht so stark eingeschränkt ist, Entscheidungen akzeptiert werden müssen, auch wenn sie möglicherweise zukünftigen Schaden nach sich ziehen.

In der stationären Behindertenhilfe, so der Ethikrat, kommen unterschiedliche Formen von Zwangsmaßnahmen zur Anwendung:

•  Freiheitsbeschränkende Maßnahmen (z. B. durch Steckgitter, geschlossene Türen, ruhigstellende Medikamente oder fehlende Assistenz);

•  Pflegerische Zwangsmaßnahmen (z. B. forcierte Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme, Vorenthalten von Gehhilfen, Separieren von Personen mit herausfordernden Verhaltensweisen, Vorenthalten von Informationen über Gemeinschaftsaktivitäten, Zeitschaltuhr am Fernseher);

•  Anwendung von rehabilitativ-pädagogischen Maßnahmen gegen den Willen des Bewohners (z. B. »sanfter Druck«, um Bewohner zur Teilnahme an Maßnahmen zu bewegen) (ebd. S. 166 ff.).