Leonardo da Vinci - Walter Isaacson - E-Book

Leonardo da Vinci E-Book

Walter Isaacson

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Beschreibung

Unehelich, Vegetarier, homosexuell, Linkshänder, leicht ablenkbar und durchaus ketzerisch – Leonardo da Vinci verlangte der Gesellschaft des 15. und 16 Jahrhunderts so manches ab. Und er gab viel zurück. Er schälte das Fleisch von Schädeln, um die Gesichtsphysiognomie zu erkunden, zeichnete die Muskulatur der Lippen nach – und malte erst dann das einzigartige Lächeln der Mona Lisa! Er studierte, wie Lichtstrahlen auf die Hornhaut treffen ‒ und schaffte dadurch die wechselnden Perspektiven in seinem Gemälde "Das Abendmahl". Leonardos lebenslanger Enthusiasmus, Grenzen zu überschreiten, faszinierte bereits die einflussreichen Familien in Florenz und Mailand und gilt bis heute als wegweisendes Rezept für Kreativität und Innovationen. Walter Isaacson erzählt Leonardos Leben in völlig neuer Manier, indem er dessen künstlerisches und wissenschaftliches Wirken zueinander in Bezug setzt. Er zeigt dabei auf, dass Leonardos Genialität auf Fähigkeiten basierte, die jeder von uns in sich trägt und stärken kann: etwa leidenschaftliche Neugier, aufmerksame Beobachtung oder spielerische Einbildungskraft. Leonardo erinnert uns bis heute daran, wie wichtig es ist, nicht nur ständig neues Wissen zu erlangen, sondern dieses auch immer wieder zu hinterfragen, der Fantasie freien Raum zu lassen und abseits festgelegter Muster zu denken – so wie alle großen Geister der Weltgeschichte.

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Das Buch

Er schälte das Fleisch von Schädeln, um die Gesichtsphysiognomie zu erkunden, zeichnete die Muskulatur der Lippen nach – und malte dann das einzigartige Lächeln der Mona Lisa. Er studierte, wie Lichtstrahlen auf die Hornhaut treffen – und schaffte dadurch die wechselnden Perspektiven in seinem Gemälde Das Letzte Abendmahl.

Bestsellerautor Walter Isaacson erzählt Leonardos Leben in völlig neuer Manier, indem er dessen künstlerisches und wissenschaftliches Wirken zueinander in Bezug setzt. Er zeigt dabei auf, dass Leonardos Genialität auf Fähigkeiten basierte, die jeder von uns in sich trägt und stärken kann: etwa leidenschaftliche Neugier, aufmerksame Beobachtung oder spielerische Einbildungskraft. Leonardo erinnert uns bis heute daran, wie wichtig es ist, nicht nur ständig neues Wissen zu erlangen, sondern dieses auch immer wieder zu hinterfragen, der Fantasie freien Raum zu lassen und abseits festgelegter Muster zu denken – so wie alle großen und innovativen Geister der Weltgeschichte.

Die Autoren

Walter Isaacson, geboren 1952 in New Orleans, ist Professor für Geschichte sowie Schriftsteller und einer der weltweit renommiertesten Biografen. Er ist CEO des Aspen-Instituts, war CEO von CNN und Redakteur beim Time Magazine. Seine Biografie über Steve Jobs wurde ein Weltbestseller.

Karin Schuler, Jahrgang 1965, studierte Latein und Geschichte in Tübingen und Bonn. Sie übersetzte aus dem Englischen u.a. Werke von Karen Armstrong, Peter Brown, Robin Lane Fox, Barbara und Allan Pease und Victor Sebestyen.

Andreas Thomsen, Jahrgang 1962, studierte Klassische Archäologie und Alte Geschichte. Er übersetzt aus dem Englischen und Italienischen, u.a. Werke von I. Della Portella, Andrea Marcolongo und Josiah Ober.

Walter Isaacson

Leonardo da Vinci

Die Biografie

Aus dem Amerikanischen von Karin Schuler und Andreas Thomsen

Propyläen

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel Leonardo da Vinci bei Simon & Schuster, New York.

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ISBN 978-3-8437-1884-4

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018© 2017 by Walter IsaacsonLektorat: Palma Müller-ScherfCovergestaltung: Morian & Bayer-Eynck, CoesfeldCoverabbildung: © Bridgeman Images

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Inhaltsverzeichnis

Über das Buch und die Autoren

Titelseite

Impressum

HAUPTPERSONEN

WÄHRUNGEN IN ITALIEN UM 1500

HAUPTABSCHNITTE VON LEONARDOS LEBEN

EINFÜHRUNG

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 1

DA VINCI

EINE GUTE ZEIT FÜR BASTARDE

SCHÜLER DER ERFAHRUNG

KINDHEITSERINNERUNGEN

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 2

UMZUG

FLORENZ

BRUNELLESCHI UND ALBERTI

ERZIEHUNG

VERROCCHIO

FALTENWÜRFE, CHIAROSCURO UND SFUMATO

KRIEGER MIT HELMEN

FESTSPIELE UND THEATERAUFFÜHRUNGEN

DIE ARNOLANDSCHAFT

TOBIAS UND DER ENGEL

DIE TAUFE CHRISTI

DIE VERKÜNDIGUNG

DIE MADONNEN

GINEVRA DE’ BENCI

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 3

L’AMORE MASCULINO

DER HEILIGE SEBASTIAN

DIE ANBETUNG DER KÖNIGE AUS DEM MORGENLAND

LIEGEN GELASSEN

DER HEILIGE HIERONYMUS

REGUNGEN DES GEISTES

VERZWEIFLUNG

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 4

KULTURDIPLOMAT

DIE BEWERBUNG

MILITÄRTECHNIKER

DIE IDEALE STADT

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 5

DIE SAMMLUNGEN

EIN BLATT

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 6

THEATERSTÜCKE UND FESTSPIELE

MUSIK

ALLEGORISCHE ZEICHNUNGEN

GROTESKEN

LITERARISCHE BELUSTIGUNGEN

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 7

SCHÖNHEIT UND ANMUT

SALAI

ZEICHNUNGEN VON ALTEN UND JUNGEN MÄNNERN

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 8

EIN TIBURIO FÜR DEN MAILÄNDER DOM

FRANCESCO DI GIORGIO WIRD HINZUGEZOGEN

EINE REISE MIT FRANCESCO NACH PAVIA

VITRUV

EIN ABENDESSEN MIT GIACOMO ANDREA

LEONARDOS FASSUNG

ZUSAMMENARBEIT UND DER VITRUVIANISCHE MENSCH

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 9

EIN WOHNSITZ BEI HOFE

DER ENTWURF DES STANDBILDS

DER GUSS

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 10

SELBSTSTUDIUM

DIE VERBINDUNG VON EXPERIMENT UND THEORIE

MUSTER UND ANALOGIEN

NEUGIER UND BEOBACHTUNG

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 11

THEATRALISCHE HÖHENFLÜGE

VOGELBEOBACHTUNG

FLUGMASCHINEN

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 12

MASCHINEN

PERPETUUM MOBILE

REIBUNG

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 13

GEOMETRIE

LUCA PACIOLI

DIE VERFORMUNG VON KÖRPERN

DIE QUADRATUR DES KREISES

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 14

ANATOMISCHE ZEICHNUNGEN

DIE SCHÄDELZEICHNUNGEN

UNTERSUCHUNGEN ZU DEN PROPORTIONEN DES MENSCHLICHEN KÖRPERS

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 15

DER AUFTRAG

DIE ERSTE VERSION (LOUVRE)

DIE ZWEITE VERSION (LONDON)

TEAMWORK

KOPF EINER JUNGEN FRAU

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 16

BILDNIS EINES MUSIKERS

CECILIA GALLERANI, DIE DAME MIT DEM HERMELIN

LA BELLE FERRONNIÈRE

PORTRÄT EINER JUNGEN BRAUT, AUCH BEKANNT ALS LA BELLA PRINCIPESSA

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 17

DER PARAGONE

FANTASIE UND REALITÄT

DIE ABHANDLUNG

SCHATTEN

FORMEN OHNE KONTURLINIEN

OPTIK

PERSPEKTIVE

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 18

DER AUFTRAG

EIN MOMENT IN BEWEGUNG

DIE PERSPEKTIVE IN DAS LETZTE ABENDMAHL

VERFALL UND RESTAURIERUNG

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 19

CATERINAS TOD

RINGEN UM BERUFLICHEN ERFOLG

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 20

DIE RÜCKKEHR

DAS LEBEN MIT FÜNFZIG

ISABELLA D’ESTES UNGEMALTES PORTRÄT

MADONNA MIT DER SPINDEL

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 21

DER AUFTRAG

VERSCHIEDENE FASSUNGEN

DAS GEMÄLDE

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 22

LEDA UND DER SCHWAN

SALVATOR MUNDI

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 23

SKRUPELLOSER KRIEGER

NICCOLÒ MACHIAVELLI

LEONARDO UND BORGIA

ABSCHIED VON BORGIA

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 24

DIE UMLEITUNG DES ARNO

TROCKENLEGUNG DER PIOMBINO-SÜMPFE

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 25

DER AUFTRAG

DIE KONZEPTION

DIE ZEICHNUNGEN

DAS GEMÄLDE

MICHELANGELO

KONKURRENTEN

AUFGABE

»SCHULE DER WELT«

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 26

DER TOD VON SER PIERO

ABSCHIED AUS FLORENZ

FRANCESCO MELZI

ZWISCHENSPIEL IN FLORENZ: ERBSTREITIGKEITEN

MAILANDS HERRLICHE ABLENKUNGEN

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 27

DER HUNDERTJÄHRIGE

SEKTIONEN

ANALOGIEN

MUSKELN UND KNOCHEN

LIPPEN UND LÄCHELN

DAS HERZ

DIE AORTENKLAPPE

DER FÖTUS

VERLORENES WISSEN

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 28

DER MIKROKOSMOS UND DER MAKROKOSMOS

WASSER

ABLENKUNGEN, STRUDEL UND WIRBEL

DIE REVISION DER ANALOGIE

FLUTEN UND FOSSILIEN

ASTRONOMIE

DER BLAUE HIMMEL

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 29

DIE VILLA MELZI

LEONARDO-PORTRÄTS

AUF NACH ROM

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 30

DAS WORT WIRD FLEISCH

JOHANNES DER TÄUFER

JOHANNES DER TÄUFER MIT ATTRIBUTEN DES BACCHUS

DER ENGEL DER VERKÜNDIGUNG UND DER ANGELO INCARNATO

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 31

DER HÖHEPUNKT

DER AUFTRAG

IST ES WIRKLICH LISA?

DAS GEMÄLDE

DIE AUGEN UND DAS LÄCHELN

ANDERE VERSIONEN

FÜR DIE EWIGKEIT

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 32

DIE LETZTE REISE

FRANZ I.

DER BESUCH DES KARDINALS

ROMORANTIN

DIE SINTFLUTZEICHNUNGEN

DAS ENDE

Anmerkungen zum Kapitel

KAPITEL 33

GENIE

VON LEONARDO LERNEN

Anmerkungen zum Kapitel

CODA

Anmerkungen zum Kapitel

DANKSAGUNG

ABKÜRZUNGEN HÄUFIG ZITIERTER QUELLEN UND LITERATUR

ABBILDUNGSNACHWEIS

Feedback an den Verlag

Empfehlungen

HAUPTPERSONEN

Cesare Borgia (um 1475–1507). Italienischer Kriegsherr, unehelicher Sohn Papst Alexanders VI., Gegenstand von Machiavellis Vom Fürsten und Arbeitgeber Leonardos.

Donato Bramante (1444–1514). Architekt, Freund Leonardos in Mailand, arbeitete an den Kathedralen von Mailand und Pavia sowie am Petersdom im Vatikan.

Caterina Lippi (um 1436–1493). Elternloses Bauernmädchen aus der Nähe von Vinci, Mutter Leonardos; später verheiratet mit Antonio di Piero del Vaccha, bekannt als Accattabriga.

Charles d’Amboise (1473–1511). Von 1503 bis 1511 französischer Statthalter in Mailand, Schirmherr Leonardos.

Beatrice d’Este (1475–1497). Stammt aus der ehrwürdigsten Familie Italiens, verheiratet mit Ludovico Sforza.

Isabella d’Este (1474–1539). Beatrices Schwester und Marchesa von Mantua; versuchte vergeblich, Leonardo dazu zu bewegen, ein Porträt von ihr zu malen.

Francesco di Giorgio (1439–1501). Künstler, Ingenieur und Architekt, arbeitete mit Leonardo am Turm der Mailänder Kathedrale, reiste mit ihm nach Pavia, übersetzte Vitruv und zeichnete eine Version des Vitruvianischen Menschen.

Franz I. (1494–1547). Ab 1515 König von Frankreich, Leonardos letzter Schirmherr.

Papst Leo X., Giovanni de’ Medici (1475–1521). Sohn von Lorenzo de’ Medici, 1513 zum Papst gewählt.

Ludwig XII. (1462–1515). Ab 1498 König von Frankreich, eroberte 1499 Mailand.

Niccolò Machiavelli (1469–1527). Florentiner Diplomat und Schriftsteller, wurde 1502 als Unterhändler zu Cesare Borgia geschickt; ein Freund Leonardos.

Giuliano de’ Medici (1479–1516). Sohn von Lorenzo, Bruder Papst Leos X., Leonardos Schirmherr in Rom.

Lorenzo »il Magnifico« de’ Medici (1449–1492). Bankier, Kunstmäzen, von 1469 bis zu seinem Tod de facto Herrscher von Florenz.

Francesco Melzi (um 1491/92–um 1568). Stammt aus einer Mailänder Adelsfamilie, kam 1507 in Leonardos Haushalt, wurde sein Ziehsohn und Erbe.

Michelangelo Buonarroti (1475–1564). Florentiner Bildhauer und Konkurrent Leonardos.

Luca Pacioli (1447–1517). Italienischer Mathematiker, Mönch und Freund Leonardos.

Piero da Vinci (1427–1504). Florentiner Notar, Vater Leonardos, heiratete nicht Leonardos Mutter, aber vier andere Frauen und hatte elf weitere Kinder.

Andrea Salai, geboren als Gian Giacomo Caprotti da Oreno (1480–1524). Kam mit zehn Jahren in Leonardos Haushalt und wurde »Salai« (»kleiner Teufel«) genannt.

Ludovico Sforza (1452–1508). Ab 1481 de facto Herrscher Mailands, von 1494 bis zu seiner Vertreibung durch die Franzosen im Jahr 1499 Herzog von Mailand; Schirmherr Leonardos.

Andrea del Verrocchio (um 1435–1488). Florentiner Bildhauer, Goldschmied und Künstler, in dessen Werkstatt Leonardo von 1466 bis 1477 in die Lehre ging und arbeitete.

WÄHRUNGEN IN ITALIEN UM 1500

Der Dukat war die venezianische, der Florin die florentinische Goldmünze. Beide enthielten 3,5 Gramm (0,12 Unzen) Gold, was nach dem derzeitigen Goldpreis (Mai 2018) einem Wert von etwa 130 Euro entspricht. Ein Dukat oder Florin entsprach etwa 7 Lire oder 120 Soldi, beides Silbermünzen dieser Zeit.

HAUPTABSCHNITTE VON LEONARDOS LEBEN

Vinci1452–1464

Florenz1464–1482

Mailand1482–1499

Florenz1500–1506

Mailand1506–1513

Rom1513–1516

Frankreich1516–1519

EINFÜHRUNG

Ich kann auch malen

Aus Leonardos Notizbüchern (um 1495): eine Skizze für Das Letzte Abendmahl, geometrische Studien zur Quadratur des Kreises, oktogonale Kirchenentwürfe und eine Passage in Spiegelschrift.

Als Leonardo an der Schwelle zu seinem dreißigsten Lebensjahr stand, schrieb er einen Bewerbungsbrief an Ludovico Sforza, den Herrscher von Mailand, und zählte darin die Gründe auf, die für seine Anstellung sprachen. In Florenz war er als Maler leidlich erfolgreich gewesen, hatte zuweilen jedoch Schwierigkeiten gehabt, seine Aufträge zu beenden. Nun suchte er nach neuen Herausforderungen.

In den ersten zehn Absätzen seines Schreibens stellt Leonardo seine technischen Fähigkeiten heraus, ebenso sein Können beim Entwerfen von Brücken, Kanälen, bewehrten Fahrzeugen und öffentlichen Bauten. Erst ganz am Ende, im elften Absatz, merkt er an, darüber hinaus auch ein Künstler zu sein. »Ferner werde ich (…) in der Malerei wohl etwas leisten, was sich vor jedem anderen, wer immer es auch sei, sehen lassen kann«, schreibt er.1

Ja, malen konnte Leonardo. Tatsächlich sollte er später zwei der berühmtesten Bilder der Welt, Das Letzte Abendmahl und die Mona Lisa, erschaffen. Doch nach seiner eigenen Auffassung war er ebenso ein Mann der Wissenschaft und Technik. Mit einer verspielten und zugleich obsessiven Leidenschaft betrieb er wegweisende Studien: zu Anatomie, Fossilien, Vögeln und Flugmaschinen, über Optik, Botanik und Geologie, zu Wasserbewegungen und Waffenkunde und über das Herz. Er wurde zum Archetypen eines Renaissancemenschen und zur Inspiration für all jene, die glaubten, die »unendlichen Werke der Natur«– wie er es nannte– seien allesamt in einem mit wunderbaren Formen angefüllten Ganzen miteinander verwoben.2 Seine Fähigkeit, Kunst und Wissenschaft miteinander zu verbinden, die nicht zuletzt in seiner als Vitruvianischer Mensch bekannten Zeichnung eines ideal proportionierten Mannes innerhalb eines Kreises und Quadrates zum Ausdruck kommt, machte ihn zum kreativsten Genie aller Zeiten.

Leonardos wissenschaftliche Untersuchungen inspirierten sein künstlerisches Schaffen. Er zog Leichnamen die Gesichtshaut ab, beschrieb die Muskeln, die die Lippen bewegten– und malte dann das berühmteste Lächeln aller Zeiten. Er studierte menschliche Schädel, machte Schichtzeichnungen von Knochen und Zähnen– und stellte anschließend die asketische Agonie am Körper des Heiligen Hieronymus dar. Er erforschte die mathematischen Grundlagen der Optik, zeigte, wie Lichtstrahlen auf die Hornhaut treffen– und erschuf die magischen Illusionen der wechselnden Perspektiven in Das Letzte Abendmahl. Durch seine Studien zu Licht und Optik perfektionierte er den Gebrauch von Schattierungseffekten und Perspektive auf der Leinwand, sodass es ihm gelang, auf einer zweidimensionalen Oberfläche Gegenstände dreidimensional wirken zu lassen. Die Fähigkeit, eine plane Oberfläche wie einen erhabenen Körper und losgelöst von der Fläche erscheinen zu lassen, war nach Leonardos Ansicht »die erste Aufgabe des Malers«.3 So wurde die Darstellung von Räumlichkeit nicht zuletzt dank seiner Arbeiten zu einer der größten Neuerungen der Renaissancekunst.

Mit zunehmendem Alter verfolgte Leonardo seine wissenschaftlichen Studien immer weniger um der Vervollkommnung seiner Kunst willen, sondern aus dem tiefen Bedürfnis heraus, die Schönheit der Schöpfung zu ergründen. Als er sich mit der Frage befasste, warum der Himmel blau erscheint, tat er dies nicht allein seiner Malerei wegen. Seine Neugier ging tiefer und war auf liebenswerte Weise fanatisch.

Dennoch lassen sich Leonardos Gedanken über den blauen Himmel und seine Wissenschaft nicht von seiner Kunst trennen. Sie waren die Triebfedern einer Leidenschaft, die alles wissen wollte, was es über die Welt zu wissen gab und wie der Mensch in sie hineinpasst. Er hatte Ehrfurcht vor der Natur und ein Gefühl für die Harmonie ihrer Zusammenhänge, die er im Kleinen wie im Großen erkannte. In seinen Notizbüchern zeichnete er Haarlocken, Wasserstrudel oder Luftwirbel und stellte Berechnungen über die mathematischen Grundlagen solcher Spiralen an. Als ich in Windsor Castle die wallende Kraft der »Sintflutzeichnungen« bewunderte, die Leonardo am Ende seines Lebens angefertigt hatte, fragte ich den Kurator Martin Clayton, ob er glaube, dass Leonardo sie als Kunstwerke oder aus wissenschaftlicher Neugier geschaffen habe. Noch während ich sprach, erkannte ich, wie dumm meine Frage war. »Ich denke nicht, dass Leonardo diese Unterscheidung gemacht hätte«, antwortete er.

Ich habe mit diesem Buch begonnen, weil Leonardo da Vinci das ultimative Beispiel für das Leitthema meiner früheren Biografien ist. In denen ging es mir um die Frage, wie die Fähigkeit, unterschiedliche Disziplinen, nämlich Kunst, Technik, Natur- und Geisteswissenschaften, miteinander zu verknüpfen, zum Schlüssel für Innovation, Vorstellungskraft und Genialität wird. Benjamin Franklin etwa, mit dem ich mich vor einer Weile befasst habe, war der Leonardo seiner Zeit. Ohne Schulbildung formte er sich selbst zu einem einfallsreichen Universalgelehrten und Aufklärer, der Amerikas bester Wissenschaftler, Erfinder, Diplomat, Autor und Geschäftsstratege wurde. Er ließ einen Drachen steigen und fand heraus, dass es sich bei Blitzen um elektrische Phänomene handelt, woraufhin er den Blitzableiter erfand. Er entwickelte die Bifokalbrille, Heizöfen, Musikinstrumente, erstellte eine Karte des Golfstroms und begründete den einzigartigen schlichten amerikanischen Humor.

Wenn Albert Einstein bei der Entwicklung seiner Relativitätstheorie nicht weiterkam, holte er seine Geige hervor und spielte Mozart, weil ihm das half, mit den Harmonien des Universums wieder in Einklang zu kommen. Ada Lovelace, die ich in einem Buch über Erfinder porträtierte, verband die poetische Sensibilität ihres Vaters Lord Byron mit der Liebe ihrer Mutter zur Mathematik, um einen Universalrechner zu entwerfen. Steve Jobs pflegte den Höhepunkt seiner Produkteinführungen mit einem Bild von Straßenschildern einzuleiten, die für die Überschneidung von Technologie und freien Künsten standen. Leonardo war sein Held. »Er sah die Schönheit in Kunst und Technik gleichermaßen«, sagte Jobs, »und es war seine Fähigkeit, diese beiden Disziplinen miteinander zu verbinden, die ihn zum Genie machte.«4

Ja, er war ein Genie: unfassbar einfallsreich, leidenschaftlich neugierig und auf mehreren Gebieten kreativ. Dennoch sollten wir Vorsicht walten lassen bei der Verwendung dieses Begriffs. Leonardo mit dem Etikett »Genie« zu versehen macht ihn erstaunlicherweise kleiner, als er ist. Es ist beinahe so, als sagte man, er sei erleuchtet worden. Giorgio Vasari, ein Künstler des 16. Jahrhunderts und früher Biograf Leonardos, beging genau diesen Fehler: »Zuweilen vereinen sich allerdings auf übernatürliche Weise in einem einzigen Körper Schönheit, Anmut und Tugend im Übermaß, so dass dieser Mensch, wohin er sich auch wendet, in allen seinen Taten göttlich ist und sich, alle anderen hinter sich lassend, als etwas zu erkennen gibt, das in der Tat von Gott geschenkt und nicht durch menschliche Fähigkeiten erworben wurde.«5 Tatsächlich beruhte Leonardos Genie jedoch auf seinem eigenen Willen und Ehrgeiz; ebenso wenig wie Newton oder Einstein wurde er von Gott mit einem so leistungsfähigen Intellekt ausgestattet, dass sich dieser dem Begriffsvermögen von uns Normalsterblichen entziehen könnte. Leonardo hatte so gut wie keine Schulausbildung und konnte nur schlecht Latein oder schriftlich dividieren. Sein Genie war von einer Art, die wir verstehen und von der wir sogar lernen können. Es basierte auf Neugier und genauer Beobachtung, auf Fähigkeiten also, die wir selbst besitzen und an deren Verbesserung wir arbeiten können. Außerdem hatte er eine so ausgeprägte Vorstellungskraft, dass es schon an Fantasterei grenzte– auch dies etwas, das wir uns bewahren und bei unseren Kindern fördern sollten.

Leonardos Fantasie durchdrang alles, womit er sich befasste: seine Theaterinszenierungen, seine Pläne, Flüsse umzuleiten, seine Zeichnungen idealer Städte, seine Entwürfe von Flugmaschinen und beinahe jeden Aspekt seiner Kunst und Ingenieurskunst. Sein Brief an den Herrscher von Mailand ist ein Beispiel dafür, denn seine militärtechnischen Fähigkeiten schlugen sich zu diesem Zeitpunkt vor allem in seiner inneren Vorstellung nieder. Seine Aufgabe bei Hof bestand zunächst auch nicht im Bau von Waffen, sondern in der Inszenierung von Festspielen. Selbst auf dem Höhepunkt seiner Karriere waren die meisten seiner Kampf- und Flugapparate eher visionär als praktisch einsetzbar.

Zuerst dachte ich, Leonardos Anfälligkeit fürs Fantasieren sei eine Schwäche, ein Zeichen für den Mangel an Disziplin und Sorgfalt, die in seiner Neigung ihren Ausdruck fand, Kunstwerke und Abhandlungen nicht fertigzustellen. Im Prinzip lag ich damit auch richtig, denn ohne ihre Umsetzung bleibt jede Vision eine Halluzination. Aber ich gelangte auch zu der Erkenntnis, dass seine Fähigkeit, die Grenze zwischen Fantasie und Realität zu verwischen, entscheidend für seine Kreativität war, denn ohne Vorstellungskraft bleibt jedes Können fruchtlos. Weil Leonardo jedoch Beobachtung und Vorstellungskraft miteinander zu verbinden wusste, machte ihn das zum perfekten Erfinder.

Mein Ausgangspunkt für dieses Buch waren nicht Leonardos künstlerische Meisterwerke, sondern seine Notizbücher. Sein Geist enthüllt sich meines Erachtens am besten in den über 7200 Seiten seiner Notizen und Kritzeleien, die wie durch ein Wunder bis heute erhalten sind. Papier erweist sich damit einmal mehr als ein hervorragender Datenspeicher, dessen Inhalte auch nach fünfhundert Jahren noch lesbar sind, was unseren heutigen Tweets wohl kaum gelingen wird.

Glücklicherweise konnte Leonardo es sich nicht leisten, Papier zu verschwenden, sodass jeder Quadratzentimeter seiner Seiten mit unterschiedlichsten Zeichnungen und Spiegelschriftnotizen vollgestopft ist. Sie scheinen willkürlich zu sein, liefern in Wahrheit jedoch tiefe Einblicke in seine Gedankensprünge und Assoziationen. Ohne erkennbaren Grund nebeneinandergekritzelt finden sich mathematische Berechnungen, Skizzen seines jungen Liebhabers, Zeichnungen von Vögeln, Flugmaschinen, Theaterrequisiten, Wasserstrudeln, Blutgefäßen, grotesken Köpfen, Engeln, Siphons, Pflanzenhalmen und zersägten Schädeln. Hinzu kommen Ratschläge anderer Maler, Bemerkungen über Augen und Optik, Waffen und Krieg, Fabeln, Rätsel und Malstudien. Die fächerübergreifende Brillanz quillt geradezu aus jeder Seite und gewährt wundervolle Einblicke in einen Geist, der mit der Natur tanzt. Leonardos Notizbücher sind das umfassendste die menschliche Neugier belegende Zeugnis, das jemals geschaffen wurde, ein wundersamer Führer zu einer Person, die der bedeutende Kunsthistoriker Kenneth Clark »in seiner unnachgiebigen Neugier (…) einmalig in der Geschichte«6 nannte.

Meine Lieblingspreziosen in seinen Notizbüchern sind die von Wissensdrang diktierten To-do-Listen. Eine von ihnen, in den 1490er-Jahren in Mailand entstanden, besteht aus einer Auflistung von Dingen, die er gerne tun und lernen möchte. »Mailand und seine Vororte vermessen«, lautet der erste Eintrag. Dieses Vorhaben hat einen ganz praktischen Grund, der sich auf einen anderen, weiter unten in der Liste erscheinenden Punkt bezieht: »Mailand zeichnen.« Andere Einträge zeigen, wie sehr er auf der Suche nach Menschen war, deren Hirn er anzapfen konnte: »Lass dir von einem Meister der Rechenkunst zeigen, wie man ein Dreieck quadriert (…). Erkundige dich bei Giannino Bombardieri, wie der Turm von Ferrara aufgemauert wurde…). Frag Benedetto Protinari, wie man in Flandern über das Eis läuft (…). Lass dir von einem Meister der Wasserbaukunst erzählen, wie man ein Schleusentor, einen Schiffskanal und eine Mühle auf lombardische Art instand setzt (…). Lass dir von Maestro Gianni Francese, dem Franzosen, die versprochenen Maße der Sonne geben.«7 Sein Wissensdurst scheint wahrlich unstillbar gewesen zu sein.

Wieder und wieder, Jahr um Jahr, listet Leonardo Dinge auf, die er tun und lernen muss. Einige davon betreffen detaillierte Beobachtungen, mit denen die meisten von uns sich nur selten aufhalten. »Beobachte den Fuß der Gans. Wäre er immer in der gleichen Weise ausgebreitet oder geschlossen, so könnte das Tier überhaupt keine Bewegung machen.« Andere Einträge drehen sich um Warum-ist-der-Himmel-blau-Fragen, Phänomene also, die scheinbar so alltäglich sind, dass wir uns keine Gedanken darüber machen. »Warum ist der Fisch im Wasser schneller als der Vogel in der Luft, obgleich es umgekehrt sein sollte, da das Wasser schwerer und dichter ist als die Luft…?«8

Am besten sind die vollkommen wahllos erscheinenden Einträge. »Beschreibe die Zunge des Spechts«, weist er sich selbst an.9 Wer auf dieser Welt würde eines Tages ohne erkennbaren Grund plötzlich wissen wollen, wie die Zunge eines Spechts aussieht? Es ist keine Information, die Leonardo zum Malen eines Bildes oder für das Verständnis des Vogelfluges benötigt hätte. Aber es gibt, wie wir noch sehen werden, tatsächlich faszinierende Dinge über die Spechtzunge zu lernen. Der Hauptgrund für sein Interesse war jedoch der Umstand, dass Leonardo eben Leonardo war: neugierig, leidenschaftlich, stets von Staunen erfüllt.

Zu den kuriosen Einträgen gehört dieser: »Geh jeden Samstag ins heiße Bad, wo du Nackte sehen wirst.«10 Man darf getrost davon ausgehen, dass Leonardos Interesse nicht nur anatomischer, sondern auch ästhetischer Natur war. Aber musste er wirklich sich selbst daran erinnern, dies zu tun? Der nächste Punkt auf der Liste ist: »Blase die Lunge eines Schweins auf und überprüfe, ob sie sich in Breite und Länge oder nur in der Breite ausdehnt.« Wie Adam Gopnik, der Kunstkritiker des New Yorker, schrieb, »bleibt Leonardo sonderbar und unfassbar verschroben, da ist nichts zu machen«.11

Ich beschloss, ausgehend von Leonardos Notizbüchern ein Buch über all diese Fragen zu schreiben. Dafür begab ich mich zunächst auf eine Pilgerreise, um die Originale in Mailand, Florenz, Paris, Seattle, Madrid, London und Windsor Castle in Augenschein zu nehmen. Auf diese Weise hielt ich mich zugleich an Leonardos Aufforderung, jede Untersuchung an den Quellen zu beginnen: »Wer an die Quelle gehen kann, geht nicht zum Krug.«12 Darüber hinaus habe ich mich in wissenschaftliche Artikel und Dissertationen über Leonardo vertieft, die jeweils Jahre fleißiger Arbeit über sehr spezifische Themen repräsentieren. In den letzten Jahrzehnten, vor allem seit der Wiederentdeckung seiner Kodizes in Madrid im Jahr 1965, hat es große Fortschritte in der Analyse und Interpretation seiner Schriften gegeben. Zudem hat die moderne Technik neue Erkenntnisse über seine Maltechniken geliefert.

Nachdem ich begonnen hatte, mich eingehend mit Leonardo auseinanderzusetzen, versuchte ich die Dinge so zu sehen, wie er es getan hatte, und bemühte mich, aufmerksamer zu sein gegenüber Phänomenen, die ich für gewöhnlich ignoriere. Wenn ich nunmehr Sonnenlicht auf Vorhänge treffen sah, dann zwang ich mich innezuhalten und zu betrachten, wie die Falten von den Schatten liebkost wurden. Ich versuchte zu erkennen, wie Licht, das von einem Objekt reflektiert wurde, auf subtile Weise die Schatten eines anderen färbte, und bemerkte, wie sich das Schimmern eines Lichtflecks auf einer glänzenden Oberfläche veränderte, wenn ich meinen Kopf zur Seite neigte. Ich versuchte die Perspektivlinien zu visualisieren, wenn ich von einem nahen zu einem weiter entfernt stehenden Baum hinüberblickte. Wenn ich irgendwo einen Wasserstrudel sah, verglich ich ihn mit einer Haarlocke. Wenn ich ein mathematisches Konzept nicht verstand, versuchte ich mit aller Macht, es mir vorzustellen. Wenn ich Menschen beim Abendessen sah, studierte ich den Zusammenhang zwischen ihren Bewegungen und Empfindungen. Und wenn ich sah, wie jemandes Lippen der Anflug eines Lächelns umspielte, versuchte ich das Geheimnis dahinter zu ergründen.

Nein, ich gelangte dabei nicht zu Einsichten, die auch nur annähernd mit denen Leonardos vergleichbar gewesen wären, oder legte auch nur ein Quäntchen seines Talents an den Tag. All das brachte mich der Fähigkeit, einen Gleiter zu konstruieren, eine neue Art des Kartenzeichnens zu erfinden oder die Mona Lisa zu malen, nicht einen Schritt näher. Ich musste mich selbst dazu zwingen, neugierig auf die Spechtzunge zu sein. Und dennoch lernte ich auf diese Weise von Leonardo, wie allein schon der Wunsch, über die Welt zu staunen, in der wir uns tagtäglich bewegen, unser Leben bereichern kann.

Es gibt drei bedeutende frühe Berichte über Leonardo, verfasst von Autoren, die beinahe seine Zeitgenossen waren. Der Maler Giorgio Vasari, geboren 1511 (also acht Jahre vor Leonardos Tod), schrieb das erste kunsthistorisch bedeutende Buch über die Lebensläufe der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten (1550). Später erschien eine erweiterte Ausgabe (1568), deren Überarbeitungen im Fall Leonardos auf weiteren Gesprächen mit Menschen beruhten, die ihn gekannt hatten, darunter auch sein Schüler Francesco Melzi.13 Als Florentiner Lokalpatriot, der er war, würdigte Vasari Leonardo und vor allem Michelangelo überschwänglich dafür, etwas geschaffen zu haben, das Vasari erstmals in der Literatur als künstlerische »Renaissance« bezeichnete.14 Zwar neigte auch Vasari bisweilen zu Übertreibungen, sagte meist jedoch die Wahrheit. Der Rest ist eine Mischung aus Klatsch, Beschönigungen, Erfindungen und unbeabsichtigten Fehlern. Das Problem besteht heute darin, zu erkennen, welche der Anekdoten in welche Kategorie gehört– etwa jene, nach der Leonardos Lehrer den Pinsel aus Ehrfurcht vor seinem Schüler aus der Hand gelegt habe.

Ein in den 1540er-Jahren entstandenes anonymes, nach der Familie, die es einst besaß, »Anonimo Gaddino« genanntes Manuskript enthält viele schillernde Geschichten aus dem Leben Leonardos und anderer Florentiner. Auch hier gibt es Ausschmückungen, so wie die Behauptung, Leonardo habe mit Lorenzo de’ Medici gearbeitet und gelebt. Aber die Schrift liefert auch eine Reihe von im wahrsten Sinne des Wortes farbigen Details, die nichtsdestotrotz wahr klingen. So scheint Leonardo rosafarbene Tuniken geliebt zu haben, die ihm nur bis zu den Knien reichten, während seine Zeitgenossen lange Gewänder zu tragen pflegten.15

Die dritte frühe Quelle stammt von dem Maler Gian Paolo Lomazzo, der sich nach seiner Erblindung dem Abfassen kunsthistorischer und kunsttheoretischer Schriften widmete. Er schrieb ein unpubliziertes Manuskript mit dem Titel Buch der Träume (Libro dei sogni), das vor 1564 entstanden sein muss. Anschließend veröffentlichte er ein siebenbändiges Traktat über die Kunst der Malerei (Trattato dell’arte della Pittura), das 1584 erschien. Er war der Schüler eines Malers, der Leonardo gekannt hatte, und befragte Leonardos Schüler Melzi, wodurch er Zugang zu Informationen aus erster Hand bekam. Vor allem enthüllte er Leonardos sexuelle Neigungen. Hinzu kommen kurze Berichte in den Schriften des Florentiner Händlers Antonio Billi und des italienischen Physikers und Historikers Paolo Giovio, die beide Zeitgenossen Leonardos waren.

Viele dieser frühen Berichte erwähnen Leonardos Aussehen und seine Persönlichkeit. Er wird als auffallend schöner, anmutiger Mann beschrieben. Er hatte wallende goldene Locken und einen muskulösen Körper, besaß eine bemerkenswerte physische Kraft und zeichnete sich durch ein elegantes Auftreten aus, wenn er in seinen farbigen Gewändern durch die Stadt ging oder ritt. »Leonardo war schön in Gestalt und Aussehen, wohl proportioniert und anmutig«, sagt Anonimo Gaddiano. Außerdem galt er als charmanter Gesprächspartner, Naturliebhaber und war bekannt dafür, Mensch und Tier gleichermaßen freundlich zu behandeln.

In Bezug auf andere Aspekte herrscht weniger Einigkeit. Im Verlauf meiner Untersuchung bin ich auf viele geheimnisumwitterte und mythisch verklärte Ereignisse im Leben Leonardos gestoßen, die– wie sein Geburtsort oder die Szene bei seinem Tod– Gegenstand heftiger Diskussionen waren oder noch sind. Zu meiner Freude und Verwunderung musste ich außerdem feststellen, dass Leonardo nicht immer ein Gigant war. Auch er hatte Fehler. Er schweifte ab, wenn er mathematische Probleme verfolgte, die zu zeitraubenden Ablenkungen wurden. Und er war dafür berüchtigt, Gemälde nicht zu beenden. Am bekanntesten sind Die Anbetung der drei Könige aus dem Morgenland, Der heilige Hieronymus und Die Schlacht von Anghiari. Als Folge davon gibt es bestenfalls fünfzehn Gemälde, die ihm ganz oder zumindest in großen Teilen zugeschrieben werden können.16

Obwohl er von seinen Zeitgenossen im Allgemeinen als freundlich und liebenswürdig charakterisiert wurde, war Leonardo manchmal auch in düsterer und aufgewühlter Stimmung. Seine Notizbücher und Zeichnungen sind wie ein Fenster in seinen fiebrigen, einfallsreichen und manischen Geist. Wäre er ein Student zu Beginn des 21. Jahrhunderts gewesen, er hätte sich vielleicht Medikamente gegen die Stimmungsschwankungen und seine Aufmerksamkeitsdefizitstörung verschreiben lassen. Man muss gar nicht auf den Topos des gestörten Künstlergenies zurückgreifen, um zu erkennen, wie glücklich wir uns schätzen dürfen, dass es Leonardo selbst überlassen blieb, seine Dämonen zu bekämpfen, während er seine Drachen heraufbeschwor.

Eines der seltsamen Rätsel in seinen Notizbüchern lautet: »Eine riesige Gestalt in Menschenform, die umso kleiner wird, je näher man ihr kommt.« Die Lösung: »Der Schatten, den ein Mann mit Lampe im Dunkeln wirft.«17 Obwohl man dasselbe über Leonardo sagen könnte, glaube ich nicht, dass ein Mensch zu sein ihn kleiner macht. Sowohl sein Schatten als auch seine reale Gestalt verdienen es, groß genannt zu werden. Tatsächlich verschaffen uns seine Fehler und Eigenheiten einen Zugang zu ihm, geben uns das Gefühl, ihm nacheifern zu können, und lassen uns die Augenblicke des Triumphs umso mehr schätzen.

Das 15. Jahrhundert, in dem Leonardo, Kolumbus und Gutenberg lebten, war eine Zeit der Erfindungen, der Entdeckungen und der Verbreitung von Wissen durch neue Technologien. Kurz gesagt, es war eine Zeit ähnlich der unserigen. Darum können wir so viel von Leonardo lernen. Seine Fähigkeit, Kunst, Wissenschaft, Technik und Vorstellungskraft miteinander zu verbinden, ist und bleibt der höchste Ausdruck von Kreativität. Ein Außenseiter zu sein war für ihn vielleicht sogar von Vorteil: er war unehelich geboren, homosexuell, Vegetarier, Linkshänder, leicht abgelenkt und zuweilen Häretiker. Aber Florenz erlebte im 15. Jahrhundert gerade deshalb eine Blütezeit, weil Menschen wie er sich dort wohlfühlten. Vor allem Leonardos unstillbare Neugier und Experimentierfreude sollten uns daran erinnern, wie wichtig es ist, uns selbst und unseren Kindern klarzumachen, dass man nicht blind auf allgemein anerkanntes Wissen vertrauen darf, sondern dazu bereit sein muss, es in Frage zu stellen. So wie die begabten Außenseiter in allen Zeiten müssen auch wir unsere Vorstellungskraft einsetzen und Querdenker sein.

Anmerkungen zum Kapitel

1. Codex Atl., 391r-a/1082r; Notebooks / J. P. Richter, 1340. Die Datierung des Briefs wird in Kapitel 14 thematisiert. Es ist nur ein Entwurf im Notizbuch erhalten geblieben, nicht aber die abgeschickte Endfassung; dt.: Lücke, S. 890.

2. Kemp, Leonardo, S. vii, 4; in dieser und anderen Arbeiten befasst Kemp sich mit Mustern und Gemeinsamkeiten, die Leonardos diversen Bestrebungen zugrunde liegen.

3. Codex Urb., 133r-v; Leonardo Treatise / Rigaud, Kap. 178; Leonardo on Painting, S. 15; dt. vgl. Lücke, S. 708.

4. Interview des Autors mit Steve Jobs 2010.

5. Vasari, S. 17.

6. Kenneth Clark, Glorie des Abendlandes (Civilisation), Gütersloh 1978, S. 155.

7. Codex Atl., 222a/664a; Notebooks / J. P. Richter, 1448; Robert Krulwich, »Leonardos To-Do-List«, in: Krulwich Wonders, NPR, 18. November 2011. Portinari war ein Mailänder Händler, der Flandern bereist hatte.

8. Notebooks / Irma Richter, 91; dt.: Lücke, S. 367 und 122.

9. Windsor, RCIN919070; Notizbücher / J. P. Richter, 819.

10. Paris Ms. F, 0; Notizbücher / J. P. Richter, 1421; dt.: Thomsen.

11. Adam Gopnik, »Renaissance Man«, New Yorker, 17. Januar 2005; dt.:_ Thomsen.

12. Codex Atl., 196b/586b; Notebooks / J. P. Richter, 490.

13. Ich möchte Margot Pritzker für ein Original der zweiten Ausgabe und ihre Gelehrsamkeit danken. Vasaris Buch ist online zugänglich.

14. Vasari erklärte, sein Thema sei der Aufstieg der Künste zur Perfektion während der römischen Antike, ihr Niedergang und ihre Wiederherstellung oder vielmehr ihre Wiedergeburt (rinascimento).

15. Anonimo Gaddiano.

16. Je nach Definition und Standards divergiert die Zahl der Zuschreibungen unter den Gelehrten zwischen zwölf und achtzehn. Gemäß Luke Syson, dem Kurator der National Gallery in London und anschließend des Metropolitan Museums in New York, »begann er in seiner fast ein halbes Jahrhundert dauernden Karriere vermutlich nicht mehr als zwanzig Bilder und nur fünfzehn erhaltene Gemälde wurden nach allgemeiner Auffassung von ihm allein geschaffen. Von diesen wiederum sind vier mehr oder weniger unvollendet geblieben.« Eine Diskussion über die Leonardo zugeschriebenen Werke findet sich in der »List of Works by Leonardo da Vinci« bei Wikipedia (en.wikipedia.org/wiki/List_of_works_by_Leonardo_da_Vinci; de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Gemälde_von_Leonardo_da_Vinci)

17. Paris Ms. K, 2:1b; Notebooks / J. P. Richter, 1308.

KAPITEL 1

Kindheit

Vinci, 1452–1464

Die Stadt Vinci mit der Taufkirche Leonardos

DA VINCI

Leonardo hatte das große Glück, außerehelich geboren worden zu sein. Andernfalls hätte er, so wie alle legitimen erstgeborenen Söhne seiner Familie in den vorangegangenen fünf Generationen, Notar werden müssen.

Die Wurzeln seiner Familie lassen sich bis ins frühe 14. Jahrhundert zurückverfolgen, als sein Ur-Ur-Urgroßvater Michele in dem etwa 27 Kilometer westlich von Florenz gelegenen toskanischen Städtchen Vinci als Notar praktizierte*. Beim Aufblühen von Handel und Wirtschaft in Italien spielten Notare ein wichtige Rolle, denn sie fassten in lateinischer Sprache geschriebene Handelsverträge, Landverkaufsurkunden, Testamente und andere Rechtsdokumente ab, die sie häufig mit historischen Bezügen und literarischen Ausschmückungen versahen.

Weil Michele ein Notar war, hatte er Anspruch auf den Ehrentitel »Ser« und wurde auf diese Weise zu Ser Michele da Vinci. Sein Sohn und sein Enkel waren als Notare noch erfolgreicher, Letzterer wurde sogar Kanzler in Florenz. Der Nächste in der Linie, Antonio, fiel aus der Reihe. Er verwendete zwar den Ehrentitel Ser und heiratete eine Notarstochter, scheint mit der Familientradition jedoch gebrochen zu haben. Er zog es nämlich vor, von den Einkünften aus dem Landbesitz der Familie zu leben, der von Pächtern bewirtschaftet wurde und einen bescheidenen Ertrag an Wein, Oliven, Öl und Weizen lieferte.

Antonios ehrgeiziger Sohn Piero überwand die Trägheit seines Vaters und war erfolgreich in Pistoia und Pisa tätig, bevor er sich um das Jahr 1451 im Alter von 25 Jahren in Florenz etablierte. Ein Vertrag, den er notariell beglaubigte, gibt als seine Büroadresse den »Palazzo del Podestà«, also das Magistratsgebäude (heute das Museo Nazionale del Bargello) an, der gegenüber dem Palazzo della Signoria, dem Sitz des Stadtparlaments, liegt. Er wurde der Notar vieler Klöster und religiöser Ordensgemeinschaften, der jüdischen Gemeinde von Florenz und zumindest in einem Fall auch der Medici.1

Während eines Besuchs in seiner Heimatstadt hatte Piero dann eine Beziehung mit einem unverheirateten Bauernmädchen, aus der im Frühling 1452 ein Sohn hervorging. In seiner selten verwendeten Notarhandschrift erinnerte Antonio, der Großvater des Jungen, ganz unten auf der letzten Seite eines Notizbuchs, das bereits seinem Großvater gehört hatte, an die Geburt des Jungen. »1452: Mir ist ein Enkel geboren worden, der Sohn meines Sohnes Ser Piero, am 15. Tag des April, einem Samstag, um die dritte Nachtstunde [etwa 22 Uhr]. Er trägt den Namen Leonardo.«2

Leonardos Mutter wurde weder in Antonios Geburtsnotiz noch in einer anderen Geburts- oder Taufakte der Erwähnung für wert befunden. Aus einem Steuerdokument erfahren wir fünf Jahre später, dass ihr Name Caterina lautete. Ihre Identität war den modernen Gelehrten lange ein Rätsel. Man glaubte, sie sei Mitte zwanzig gewesen, und einige Forscher hielten sie für eine arabische oder chinesische Sklavin.3 Tatsächlich war sie ein armes, sechzehn Jahre altes Waisenmädchen namens Caterina Lippi aus der Umgebung von Vinci. Der Kunsthistoriker Martin Kemp aus Oxford und der Archivforscher Giuseppe Pallanti aus Florenz haben erst 2017 Beweise dafür vorgelegt, ihren Hintergrund dokumentiert (und damit gezeigt, dass es noch immer etwas über Leonardo zu entdecken gibt).4

Im Jahr 1436 als Tochter eines armen Bauern geboren, wurde Caterina mit vierzehn zur Waise. Sie kam mit ihrem kleinen Bruder bei der Großmutter unter, die ein Jahr später, im Jahr 1451, starb. Dazu gezwungen, für sich selbst und ihren Bruder zu sorgen, ging sie im Juli desselben Jahres eine Beziehung mit dem prominenten und wohlhabenden, zu diesem Zeitpunkt vierundzwanzigjährigen Piero da Vinci ein.

Auf eine Heirat bestand nur geringe Aussicht. Obwohl ein früher Biograf sie als »von gutem Blut«5 beschrieb, stammte Caterina doch aus einer anderen sozialen Schicht. Außerdem war Piero zu diesem Zeitpunkt wohl bereits mit seiner zukünftigen Frau Albiera, der sechzehnjährigen Tochter eines bekannten Florentiner Schuhmachers, verlobt, die im Gegensatz zu Caterina eine standesgemäße Partie darstellte. Piero und Albiera heirateten acht Monate nach Leonardos Geburt. Die für beide Seiten in gesellschaftlicher wie in beruflicher Hinsicht vorteilhafte Eheschließung war vermutlich arrangiert und die Mitgift bereits vor Leonardos Geburt festgelegt worden.

Um den Schein zu wahren und die Dinge zu ordnen, sorgte Piero kurz nach Leonardos Geburt dafür, dass Caterina einen mit der Familie da Vinci verbundenen Bauern und Ziegelbrenner heiratete. Er hieß Antonio di Piero Buti del Vaccha und wurde Accattabriga genannt, was so viel wie »Streithammel« bedeutet (auch wenn er gar keiner gewesen zu sein scheint).

Leonardos Großeltern väterlicherseits und sein Vater besaßen ein Haus mit kleinem Garten direkt an den Burgmauern im Zentrum von Vinci. Dort mag Leonardo geboren sein, auch wenn es durchaus Gründe gibt, die dagegen sprechen. Schließlich war es nicht gerade angemessen, ein schwangeres und anschließend stillendes Bauernmädchen im Haus zu haben, während Ser Piero über die Verlobung mit der Tochter einer prominenten Familie verhandelte, in die er einzuheiraten gedachte. Glaubt man einer von der lokalen Tourismus-Branche kolportierten Legende, dann könnte Leonardos Geburtshaus ebenso gut eine unweit eines Bauernhofs in etwa drei Kilometer Entfernung an der Straße von Vinci nach Anchiano gelegene Kate aus grauen Steinen gewesen sein, in der sich heute ein kleines Leonardo-Museum befindet. Ein Teil dieser Liegenschaften gehörte seit 1412 der Familie von Piero di Malvolto, einem engen Freund der da Vincis. Er war der Pate von Piero da Vinci und wurde 1452 auch der Pate seines Sohnes Leonardo– was durchaus Sinn ergäbe, sollte der Junge auf seinem Besitz geboren worden sein. Die Familien standen sich jedenfalls sehr nah. Leonardos Großvater Antonio war Zeuge eines Vertrages, in dem es um Teile des Besitzes von Piero di Malvolto in Anchiano ging. In den Notizen über den Geschäftsvorgang heißt es, Antonio habe gerade unweit des Hauses Backgammon gespielt, als man ihn um seine Zeugenschaft bat. Piero da Vinci erwarb schließlich in den 1480er Jahren einen Teil dieses Besitzes.

Zurzeit von Leonardos Geburt lebte Piero di Malvoltos siebzigjährige Mutter in Anchiano. Es gab also in fußläufiger Entfernung von Vinci eine alleinstehende Witwe, die wenigstens zwei Generationen der da Vinci-Familie eine vertrauenswürdige Freundin gewesen war. Ihr Bauernhof verfügte zudem über ein halbverfallenes Nebengebäude, das die Familie aus Steuergründen für unbewohnbar erklärt hatte. Diese Kate könnte– wie es die örtliche Überlieferung berichtet– der ideale Ort gewesen sein, um Caterina während ihrer Schwangerschaft zu beherbergen.6

Leonardo wurde an einem Samstag geboren und gleich am nächsten Tag vom örtlichen Priester in der Kirche von Vinci getauft. Ungeachtet der Umstände seiner Geburt war die Taufe ein großes öffentliches Ereignis. Er hatte zehn Paten, also weit mehr als üblich, darunter Piero di Malvolto, und zu den Gästen gehörten auch Mitglieder der lokalen Oberschicht. Eine Woche später verließ Piero Caterina und das Kind, um nach Florenz zurückzukehren, denn am darauffolgenden Montag befand er sich in seinem Büro, wo er Unterlagen seiner Klienten notariell beglaubigte.7

Leonardo hat uns keinen Kommentar über die Umstände seiner Geburt hinterlassen, aber in seinen Notizbüchern gibt es eine vielsagende Anspielung auf die Gunst, welche die Natur unehelichen Kindern gewährt. »Ein Mann, der den Geschlechtsakt widerstrebend und mit Unbehagen vollzieht, wird jähzornige und unzuverlässige Kinder zeugen«, schreibt er. »Wird der Akt hingegen mit großer Liebe und auf beiderseitigen Wunsch vollzogen, wird das Kind von großer Intelligenz, geistvoll, lebhaft und liebenswert sein.«8 Man darf wohl annehmen oder zumindest hoffen, dass er sich selbst zur letzteren Kategorie zählte.

Seine Kindheit verbrachte Leonardo in zwei verschiedenen Elternhäusern. Caterina und Accattabriga lebten auf einem kleinen Bauernhof am Stadtrand von Vinci und blieben freundschaftlich mit Piero verbunden. Zwanzig Jahre später arbeitete Accattabriga an einem Brennofen, der von Piero gemietet worden war, und beide dienten einander im Laufe der Jahre mehrfach als Zeugen bei Verträgen und Grundbucheinträgen. In den Jahren nach Leonardos Geburt bekamen Caterina und Accattabriga vier Töchter und einen Sohn. Piero und Albiera dagegen blieben kinderlos. Tatsächlich war Leonardo bereits 24, als Piero zum zweiten Mal Vater wurde. Von da an holte er jedoch auf: Er heiratete insgesamt viermal und bekam elf Kinder.

Da sein Vater sich die meiste Zeit über in Florenz aufhielt und seine Mutter ihre eigene wachsende Familie zu versorgen hatte, lebte Leonardo von seinem fünften Lebensjahr an vorwiegend im Haus der da Vinci-Familie bei seinem mußeliebenden Großvater Antonio und dessen Frau. In der Steuererhebung des Jahres 1457 listete Antonio die mit ihm lebenden Angehörigen auf, zu denen auch sein Enkelsohn gehörte: »Leonardo, Sohn des erwähnten Ser Piero, non legittimo, geboren ihm und Caterina, die nun die Frau Accattabrigas ist.«

Im selben Haushalt lebte auch Pieros jüngster Bruder Francesco, der nur fünfzehn Jahre älter war als sein Neffe Leonardo. Francesco erbte den Hang zum Müßiggang und wurde in einem Steuerdokument ausgerechnet von seinem Vater als jemand beschrieben, der sich in der Gegend herumtreibe und nichts tue.9 Er wurde Leonardos heißgeliebter Onkel und beizeiten sein Ersatzvater. (In der ersten Ausgabe seiner Biografie begeht Vasari den später korrigierten Fehler, Piero anstatt Francesco als Leonardos Onkel zu bezeichnen.)

EINE GUTE ZEIT FÜR BASTARDE

Wie Leonardos gut besuchte Taufe zeigt, war der Umstand, unehelich geboren worden zu sein, keineswegs ein Grund, sich vor der Öffentlichkeit zu schämen, wie etwa bei Jakob Burckhardt, dem Kulturhistoriker des 19. Jahrhunderts, nachzulesen ist.10 Besonders in der herrschenden aristokratischen Klasse war Illegitimität kein Hindernis. Pius II., der amtierende Papst zurzeit von Leonardos Geburt, berichtete Folgendes über einen Besuch in Ferrara, wo unter den Gästen bei seiner Willkommensfeier auch sieben– allesamt uneheliche– Prinzen der herrschenden Este-Familie zugegen waren, darunter der regierende Herzog. »Es ist eine ungewöhnliche Eigenschaft dieser Familie, dass kein legitimer Erbe jemals das Prinzipat erlangte; den Söhnen ihrer Mätressen war wahrlich mehr Glück beschieden als denen ihrer Ehefrauen.«11 (Pius selbst war Vater zweier unehelicher Kinder.) Ebenfalls während Leonardos Lebenszeit hatte Papst Alexander VI. eine Vielzahl von Mätressen und illegitimen Kindern. Eines von ihnen war Cesare Borgia, der später Kardinal, Befehlshaber der päpstlichen Truppen, ein Arbeitgeber Leonardos und Gegenstand von Machiavellis Der Fürst wurde.

Bei den Mitgliedern der Mittelschicht war die uneheliche Geburt allerdings nicht in gleicher Weise akzeptiert. Um ihre neuen Stände zu schützen, gründeten Kaufleute und Handwerker Gilden und Zünfte mit bisweilen etwas eingeengten Moralvorstellungen. Zwar duldeten einige dieser Zusammenschlüsse die unehelichen Söhne ihrer Mitglieder, doch für die Arte dei Giudici e Notai, die ehrwürdige (1197 gegründete) Gilde der Richter und Notare, zu der Leonardos Vater gehörte, galt dies nicht. »Der Notar war ein beeideter Zeuge und Skribent«, schreibt Thomas Kuehn in Illegitimacy in Renaissance Florence. »Seine Vertrauenswürdigkeit musste über jeden Zweifel erhaben sein und er musste dem Mainstream der Gesellschaft angehören.«12

Diese Einschränkungen hatten einen Vorteil: Ihre uneheliche Geburt erlaubte es einfallsreichen und freigeistigen jungen Männern, sich in einer Zeit zu entfalten, in der Kreativität zunehmend belohnt wurde. Zu den unehelich geborenen Poeten, Malern und Kunsthandwerkern gehörten Petrarca, Boccaccio, Lorenzo Ghiberti, Filippo Lippi, sein Sohn Filippino, Leon Batista Alberti– und natürlich Leonardo. Freilich war es so, dass ein Bastard zu sein das Leben auch verkomplizierte, denn es machte die Betroffenen nicht nur zu Außenseitern, sondern erzeugte darüber hinaus eine Statusambiguität. »Das Problem mit Bastarden bestand darin, dass sie zwar Teil der Familie waren, aber nicht vollständig dazugehörten«, schreibt Kuehn. Das half einigen dabei –oder zwang sie dazu–, mehr Risiko- und Improvisationsfreude an den Tag zu legen.

Obwohl Mitglied einer Mittelschichtfamilie, blieb Leonardo dennoch von ihr separiert. Wie so viele Schriftsteller und Künstler der Epoche wuchs er mit dem Gefühl auf, ein Teil der Welt und zugleich von ihr losgelöst zu sein. Dieser Schwebezustand hatte auch Auswirkungen auf das Erbrecht. Eine Mischung aus Gesetzeskonflikten und einander widersprechenden Präzedenzfällen führte zu einer Unklarheit darüber, ob ein unehelicher Sohn Erbe sein konnte. Das musste auch Leonardo viele Jahre später im Zuge von Rechtsstreitigkeiten mit seinen Stiefbrüdern feststellen. »Der Umgang mit solchen Mehrdeutigkeiten war kennzeichnend für das Leben in einem Renaissance-Stadtstaat«, erklärt Kuehn. »Und sie trugen zu der viel gerühmten künstlerischen und humanistischen Kreativität in Städten wie Florenz bei.«13

Weil die Gilde der Florentiner Notare den non legittimi verschlossen blieb, konnte Leonardo von der für seine Familie charakteristischen Gewohnheit profitieren, sich alles zu notieren, war jedoch frei darin, seinen eigenen schöpferischen Interessen nachzugehen. Und das war sein Glück, denn er hätte einen lausigen Notar abgegeben. Er langweilte sich viel zu schnell und ließ sich leicht ablenken, sobald eine Sache ihren kreativen Aspekt verloren hatte und zur Routine wurde.14

SCHÜLER DER ERFAHRUNG

Ein uneheliches Kind zu sein hatte für Leonardo noch einen weiteren Vorteil: Er musste auf keine der »Lateinschulen« gehen, an denen aufstrebende Handwerker und Kaufleute in der Frührenaissance in alten Sprachen und Geisteswissenschaften unterrichtet wurden.15 Abgesehen von einer Grundausbildung in Wirtschaftsmathematik in einer sogenannten »Abakus-Schule« war Leonardo Autodidakt. Der Umstand, ein »Mann ohne Gelehrsamkeit« zu sein, wie er selbst es mit gewisser Ironie formulierte, schien ihm häufig Unbehagen zu bereiten. Andererseits war er stolz darauf, dass das Fehlen einer formalen Schulausbildung es ihm erlaubte, aus Versuch und Praxis zu lernen. »Leonardo da Vinci, discepolo della Sperientia«,16 beschrieb er sich selbst einmal– »Schüler der Erfahrung«. Diese freigeistige Haltung bewahrte ihn davor, ein Akolyth traditioneller Denkweisen zu werden. In seinen Notizbüchern feuerte er eine Breitseite auf jene– wie er sie nannte– aufgeblasenen Narren ab, die ihn dafür verunglimpften:

Ich weiß sehr wohl, dass so mancher eitle Fant, zumal ich kein Gelehrter bin, glauben wird, er könne mich mit Recht tadeln, indem er geltend macht, ich sei ein Mann ohne Gelehrsamkeit. Törichte Leute! (…) Diejenigen, die sich mit fremden Leistungen schmücken, wollen die meinigen nicht gelten lassen (…). Sie werden behaupten, ich könne mangels Gelehrsamkeit das, was ich behandeln will, nicht richtig sagen. Nun, wissen sie denn nicht, dass meine Lehren nicht so sehr aus den Worten anderer gezogen werden, als aus der Erfahrung, die doch die Lehrmeisterin derer war, die gut geschrieben haben?17

Auf diese Weise blieb Leonardo von verstaubter Scholastik und mittelalterlichen Dogmen verschont, die sich seit dem Niedergang der Wissenschaften und des eigenständigen Denkens angesammelt hatten. Sein mangelnder Respekt vor Autoritäten und seine Bereitschaft, überliefertes Wissen in Frage zu stellen, führten ihn bei seinem Versuch, die Natur zu verstehen, zu einer empirischen Herangehensweise, welche die ein Jahrhundert später von Bacon und Galileo entwickelte wissenschaftliche Methode in gewisser Weise vorwegnahm. Seine Methode wurzelte im Experiment, in der Neugier und der Fähigkeit, über Phänomene zu staunen, für die wir uns nur noch selten begeistern, sobald wir unsere Kindheit hinter uns gelassen haben.

Hinzu kamen Leonardos ausgeprägte Beobachtungsgabe und sein starkes Bedürfnis, die Wunder der Natur zu ergründen. Er stachelte sich selbst dazu an, Formen und Schatten mit einer erstaunlichen Genauigkeit wahrzunehmen. Besonders gut konnte er Bewegungen erkennen, ganz gleich, ob es sich um den Flügelschlag eines Vogels oder die Gefühlsregungen im Gesicht eines Menschen handelte. Auf dieser Grundlage ersann er Experimente, von denen er einige nur in Gedanken, andere in Form von Zeichnungen und einige wenige mit realen Objekten ausführte. »Bevor ich fortfahre, mache ich erst ein paar Experimente«, verkündete er, »weil ich zunächst Erfahrungswerte sammeln und dann mit Argumenten zeigen will, warum es auf solche Weise geschehen muss.«18

Für ein ambitioniertes und talentiertes Kind wie Leonardo war es eine gute Zeit. 1452 hatte Johannes Gutenberg mit dem Buchdruck begonnen. Bald darauf verwendeten auch andere die von ihm erfundene Druckerpresse mit beweglichen Metalllettern, um Bücher herzustellen, die ungeschulte, aber brillante Köpfe wie Leonardo dazu befähigten, sich selbst zu bilden. Zugleich durchlebte Italien eine der seltenen Friedensperioden: Vierzig Jahre lang führten seine Stadtstaaten keine Kriege gegeneinander. Die Alphabetisierungsrate stieg, die Rechenfähigkeiten nahmen zu, auch die Einkommen wuchsen erheblich, während sich die Machtverhältnisse weg von den adeligen Landbesitzern hin zu den Kaufleuten und Bankiers in den Städten verlagerten, die von den Fortschritten im Rechts-, Buchhaltungs-, Kredit- und Versicherungswesen profitierten. Die Ottomanen waren im Begriff, Konstantinopel zu erobern, was Italien eine Flut byzantinischer Gelehrter bescherte. Sie hatten viele Manuskripte im Gepäck, die das antike Wissen von Euklid, Platon, Aristoteles und Ptolemaios enthielten. Ein Jahr vor Leonardo wurden Christoph Kolumbus und Amerigo Vespucci geboren, die eine Ära der Entdeckungen einläuteten. Und Florenz mit seiner aufstrebenden Händlerklasse und seinen nach Status strebenden Mäzenen wurde zur Wiege der Renaissancekunst und des Humanismus.

KINDHEITSERINNERUNGEN

Seine lebhafteste Kindheitserinnerung notierte Leonardo etwa fünfzig Jahre später, als er gerade den Vogelflug studierte. Er schrieb über einen Raubvogel– den Milan, der einen gefächerten Schwanz und lange elegante Flügel besitzt, die ihm weite Gleitflüge erlauben. Mit der für ihn typischen Beobachtungsschärfe erkannte Leonardo genau, wie der Milan beim Landen seine Flügel öffnet, seinen Schwanz spreizt und anschließend absenkt.19 Das weckte eine Kleinkinderinnerung in ihm: »Den Weih (Milan) so klar zu beschreiben, scheint meine Bestimmung zu sein; denn in der frühesten Erinnerung an meine Kindheit war mir immer so, als sei zu der Zeit, da ich noch in der Wiege lag, ein Weih zu mir gekommen und habe mir den Mund mit seinem Schwanz geöffnet und mich dann mehrere Male mit dem Schwanz auf die Lippen geschlagen.«20 Wie vieles, das Leonardos Geist hervorbrachte, enthält wohl auch diese Geschichte fantastische und zusammengereimte Elemente. Denn man kann sich nur schwer vorstellen, dass tatsächlich ein Vogel auf seiner Wiege gelandet ist, um mit Schwanzschlägen einen Kleinkindmund zu öffnen. Das war Leonardo offenbar bewusst, denn die von ihm verwendete Formulierung »mi parea« (»mir scheint«) deutet darauf hin, dass es sich zumindest teilweise auch um einen Traum gehandelt haben könnte.

All dies– eine Kindheit mit zwei Müttern und einem häufig abwesenden Vater, dazu eine traumartige Begebenheit, in der es um einen schlagenden Vogelschwanz geht– ist geradezu eine Steilvorlage für jeden Psychoanalytiker. Und tatsächlich befasste sich Sigmund Freud persönlich mit der Sache. Im Jahr 1910 nutzte er den Milanschwanz als Ausgangspunkt für das kurze Buch Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci.21

Freud beging jedoch einen Fehler, denn er saß einer schlechten deutschen Übersetzung des italienischen Originals auf, in welcher der Vogel fälschlicherweise als Geier bezeichnet wird. Das verleitete ihn zu einer langen Erklärung über die Symbolik des Geiers bei den alten Ägyptern, in deren Hieroglyphenschrift das Wort für Mutter mit dem Bild dieses Vogels wiedergegeben wird– was in diesem Zusammenhang natürlich vollkommen irrelevant ist, wie er später peinlich berührt zugab.22 Den Vogel-Fauxpas einmal beiseitegelassen, zielt Freuds Analyse im Wesentlichen darauf ab, dass das Wort für Schwanz in vielen Sprachen, so auch im Italienischen (coda), umgangssprachlich für »Penis« verwendet wird und dass Leonardos Erinnerung mit seiner Homosexualität zusammenhänge. »Die in der Fantasie enthaltene Situation, dass ein Geier den Mund des Kindes öffnet und mit dem Schwanz tüchtig darin herumarbeitet, entspricht der Vorstellung einer Fellatio«, schreibt Freud. Leonardos unterdrückte Sehnsüchte hätten sich, so mutmaßt er, in einer fieberhaften Kreativität kanalisiert, doch seien wegen Leonardos Verklemmtheit viele seiner Arbeiten unvollendet geblieben.

Diese Interpretation löste einige vernichtende Kritiken aus, deren bekannteste vom Kunsthistoriker Meyer Shapiro23 stammt. Tatsächlich scheint mir, dass Freuds Ausführungen mehr über ihn selbst als über Leonardo aussagen. Biografen sollten vorsichtig sein, wenn sie die Psyche von jemandem analysieren, der vor 500 Jahren gelebt hat. Ebenso gut mag Leonardos traumartige Erinnerung, so wie er selbst es sieht, sein lebenslanges Interesse am Vogelflug widergespiegelt haben. Und es braucht keinen Sigmund Freud, um zu verstehen, dass sexuelle Triebe sich in Ehrgeiz und andere Leidenschaften verwandeln können. So sah es auch Leonardo selbst. »Die Leidenschaft des Geistes treibt die Sinnenlust aus«, schrieb er in einem seiner Notizbücher.24

Bessere Einblicke in Leonardos Charakter und Beweggründe bietet eine andere persönliche Erinnerung, die sich auf einen Ausflug in der Umgebung von Florenz bezieht. Leonardo war bei dieser Gelegenheit auf eine dunkle Höhle gestoßen und hatte überlegt, ob er sie betreten solle. »(…) so gelangte ich, nachdem ich eine Weile zwischen düsteren Klippen umhergewandert war, zum Eingang einer großen Höhle, vor der ich staunend stehen blieb«, erinnert er sich. »Mit gekrümmtem Rücken, die linke Hand auf das Knie gestützt und mit der rechten die gesenkte, gerunzelte Stirn überschattend, beugte ich mich immer wieder vor, bald dahin und bald dorthin, um zu sehen, ob dort drinnen irgend etwas zu unterscheiden sei; aber daran wurde ich gehindert, durch das tiefe Dunkel, das dort herrschte. Und nachdem ich eine Weile davorgestanden hatte, regten sich plötzlich zwei Gefühle in mir, nämlich Furcht und Begierde: Furcht vor dieser düster drohenden Höhle und Begierde, zu erforschen, ob dort drinnen etwas Wunderbares sei.«25

Die Begierde gewann, seine unersättliche Neugier triumphierte. Leonardo ging hinein und entdeckte, eingebettet in die Höhlenwand, das Fossil eines Wals. »Oh gewaltiges, einst lebendiges Werkzeug der Natur«, schrieb er, »Auch du musstest also, da deine großen Kräfte dir nichts nützten, das Leben in der Stille lassen.«26 Einige Gelehrte haben behauptet, er habe eine Fantasiewanderung beschrieben oder einige Verse von Seneca auf die Schippe genommen. Aber die entsprechende Notizbuchseite und die Seiten davor und danach sind voller Beschreibungen von Schichten fossiler Muscheln, und in der Toskana wurden tatsächlich zahlreiche versteinerte Walknochen gefunden.27

Das Walfossil löste überdies die Vision einer apokalyptischen Flut aus, wie sie zeit seines Lebens zu Leonardos dunkelsten Vorahnungen gehören sollte. Auf der folgenden Seite beschreibt er nämlich ausführlich die wütende Kraft des längst toten Tieres: »Du aber, mit den zackigen Flossen schnell dahinrudernd und mit dem gegabelten Schwanz heftig um dich schlagend, riefst auf dem Meer plötzlich einen Sturm hervor, unter gewaltigem Getöse und zum Untergang der Schiffe …« Dann wurde er philosophisch. »Oh Zeit, du schnelle Rafferin der Dinge, wie viele Könige, wie viele Völker hast du schon vernichtet! Und wie viele Wandlungen von Staaten und allerlei Zuständen sind erfolgt, seit die merkwürdige Form dieses Fisches hier in den abgründigen und gewundenen Tiefen verging!« Der Gedanke an die zerstörerischen Kräfte der Natur drängte Leonardos Befürchtungen über die Gefahren, die in der Höhle auf ihn lauern mochten, in den Hintergrund. Stattdessen erfasste ihn ein existenzieller Schrecken. Hastig kritzelte er mit einem Silberstift die Beschreibung einer mit Wassermangel beginnenden und mit Feuer endenden Apokalypse auf eine rot eingefärbte Seite. »Die Flüsse werden ohne Wasser sein, die Erde wird kein Grün mehr hervorbringen, die Felder werden nicht mehr mit wogendem Getreide bedeckt sein und alle Tiere werden sterben, weil sie kein frisches Gras mehr finden«, schreibt er. »Und auf diese Weise wird die fruchtbare und ertragreiche Erde (…) im Feuer enden. Ihr Angesicht wird zu Asche verdorren und dies wird das Ende der irdischen Natur sein.«28

Die dunkle Höhle, die seine Neugier ihn zu betreten zwang, hielt für Leonardo neben wissenschaftlichen Entdeckungen also auch fantastische Visionen bereit– zwei Leitfäden, die sein ganzes Leben hindurch eng miteinander verwoben sein sollten. Leonardo würde tatsächliche wie seelische Stürme überstehen, indem er sich den dunklen Abgründen der Welt und seines Geistes stellte. Aber seine Neugier gegenüber der Natur würde ihn dazu antreiben, immer weiter zu forschen. Seine Begeisterung und seine Visionen sollten in seiner Kunst zum Ausdruck kommen, angefangen mit seiner Darstellung des sich vor dem Eingang einer Höhle quälenden heiligen Hieronymus bis hin zu seinen Zeichnungen und Schriften über apokalyptische Fluten.

Anmerkungen zum Kapitel

* Leonardo da Vinci wird bisweilen fälschlicherweise verkürzt »da Vinci« genannt, so als sei dies sein Nachname, obwohl damit nur seine Herkunft »aus Vinci« gemeint ist. Allerdings ist der Gebrauch dieser Benennung nicht so ungeheuerlich wie von einigen Puristen behauptet. Zu Leonardos Lebzeiten begannen die Italiener zunehmend, die Verwendung erblicher Nachnamen zu regeln, und viele von ihnen, wie Genovese oder DiCaprio, sind von den Herkunftsorten der Familien abgeleitet. Und sowohl Leonardo als auch sein Vater fügten ihrem Vornamen häufig den Zusatz »da Vinci« hinzu. Als Leonardo nach Mailand ging, nannte sein Freund, der Hofpoet Bernardo Bellincioni, ihn in seinen Schriften »Leonardo Vinci, der Florentiner«.

1. Alessandro Cecchi, »New Light on Leonardo’s Florentine Patrons«, in: Bambach, Master Draftsman, S. 123.

2. Nicholl, S. 39; Bramly, S. 55. Der Sonnenuntergang in Florenz war an diesem Tag um 18.40 Uhr. Die Nachtstunden wurden üblicherweise vom Läuten der Vesperglocke an gezählt.

3. Francesco Cianchi, La Madre di Leonardo era una Schiava? Museo Ideale Leonardo da Vinci, Vinci, 2008; Angelo Paratico, Leonardo Da Vinci. A Chinese Scholar Lost in Renaissance Italy, Hong Kong 2015; Anna Zamejc, Was Leonardo Da Vinci’s Mother Azeri?, Radio Free Europe, 25. November 2009.

4. Martin Kemp und Giuseppe Pallanti, Mona Lisa, Oxford 2017, S. 87. Mein Dank gilt Professor Kemp, der mir die Ergebnisse der Studie zugänglich gemacht, und Giuseppe Pallanti, der sie mit mir diskutiert hat.

5. Anonimo Gaddiano.

6. Austausch des Autors mit dem Archivforscher Giuseppe Pallanti 2017; Alberto Malvolti, »In Search of Malvolto Piero. Notes on the Witnesses of the Baptism of Leonardo da Vinci«, in: Erba d’Arno141, 2015, S. 37. Da sie in den Steuerlisten als unbewohnbar erscheint, glauben Kemp und Pallanti, Mona Lisa, nicht, dass Leonardo in dieser Kate geboren wurde.

7. Kemp und Pallanti, Mona Lisa, S. 85.

8. Leonardo, »Weimar-Blatt«, recto Schloss-Museum Weimar; Pedretti, Commentary, 2, S. 110.

9. James Beck, »Ser Piero da Vinci and His Son Leonardo«, Notes in the History of Art5,1 (1985), S. 29.

10. Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, Frankfurt a. M. 1989 (Erstveröffentlichung 1860), Kap. 4.

11. Jane Fair Bestor, »Bastardy and Legitimacy in the Formation of a Regional State in Italy. The Estense Succession«, Comparative Studies in Society and History38,3 (Juli 1996), S. 549–585.

12. Thomas Kuehn, Illegitimacy in Renaissance Florence, Chicago 2002, S. 80. Siehe auch Thomas Kuehn, »Reading between the Patrilines. Leon Battista Alberti’s ›Della Familia‹ in Light of His Illegitimacy«, I Tatti Studies in the Italian Renaissance1 (1985), S. 161–187.

13. Kuehn, Illegitimacy, S. 7, ix.

14. Kuehn, Illegitimacy, S. 80. Siehe auch Brown; Beck, »Ser Piero da Vinci and His Son Leonardo«, S. 32.

15. Charles Nauert, Humanism and the Culture of Renaissance Europe, Cambridge 2006, S. 5.

16. Codex Atl., 520r/191r-a; Notebooks / MacCurdy, 2:989.

17. Notebooks / J. P. Richter, 10–11; Notebooks / Irma Richter, 4; Codex Atl., 119v, 327v; dt.: Lücke, S. XXII.

18. Paris Ms. E, 55r; Notebooks / Irma Richter, 8; Capra, Science, S. 161, 169.

19. Paris Ms. L, 58v; Notebooks / Irma Richter, 95.

20. Codex Atl., 66v/199b; Notebooks / J. P. Richter, 1363; Notebooks / Irma Richter, 269; dt.: Lücke, S. 908.

21. Sigmund Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, Leipzig und Wien 1910.

22. Sigmund Freud–Lou Andreas-Salomé Briefwechsel, hg. v. Ernst Pfeiffer, Frankfurt 1966, S. 100.

23. Meyer Schapiro, »Leonardo and Freud«, in: Journal of the History of Ideas17,2 (April 1956), S. 147. Zur Verteidigung von Freud und zur Diskussion über den Zusammenhang der Neid-Zeichnungen mit dem Milan siehe Kurt Eissler, Leonardo da Vinci: Psychoanalytic Notes on the Enigma, New York 1961, und Alessandro Nova, »The Kite, Envy and a Memory of Leonardo da Vinci’s Childhood«, in: Lars Jones (Hg.), Coming About, Cambridge, Mass., 2001, S. 381.

24. Codex Atl., 358 v; Notebooks / MacCurdy, 1:66; Sherwin Nuland, Leonardo da Vinci, New York 2000, S. 18; dt.: Lücke, S. 23.

25. Codex Arundel, 155r; Notebooks / J. P. Richter, 1339; Notebooks / Irma Richter, 247; dt.: Lücke, S. 916 f.

26. Codex Arundel, 156r; Notebooks / J. P. Richter, 1217; Notebooks / Irma Richter, 246; dt.: Lücke, S. 917.

27. Kay Etheridge, »Leonardo and the Whale«, in: Fiorani and Kim.

28. Codex Arundel, 155b; Notebooks / J. P. Richter, 1218, 1339n; dt.: Lücke, S. 917.

KAPITEL 2

Lehrjahre

Florenz in den 1480er-Jahren. Im Zentrum die Kathedrale mit Brunelleschis Kuppel und dem Palazzo della Signoria, dem Sitz des Stadtparlaments zu seiner Rechten.

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