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«Eine wunderbar unerwartete Geschichte über Liebe, Tod und alles, was dazwischenliegt.» Graham Norton Jeanie Masterson ist die Tochter des Bestatters in dem beschaulichen irischen Städtchen Kilcross. Von ihrem Vater hat sie die Gabe geerbt, mit den Verstorbenen sprechen zu können und deren letzte Wünsche entgegenzunehmen. Diese Fähigkeit verleiht ihr einen besonderen Status, zugleich bedeutet sie aber auch eine große Bürde: Denn sie muss entscheiden, welche Botschaften sie den Verbliebenen übermittelt und welche sie lieber für sich behält. Als ihre Jugendliebe Fionn nach London geht, fühlt Jeanie sich zum Bleiben verpflichtet, weil sie hier in Kilcross gebraucht wird. Aber vergessen kann sie ihn nie. Anne Griffin porträtiert eine junge Frau, hin- und hergerissen zwischen Pflichtgefühl und ihrem Wunsch nach Befreiung und Selbstbestimmung. Ein fesselnder und herzerwärmender Roman über das Leben, das Sterben und das, was das Leben lebenswert macht.
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Seitenzahl: 484
Anne Griffin
Roman
Eine irische Familiengeschichte über die großen Fragen des Lebens
Jeanie Masterson hat schon immer gewusst, dass sie dazu bestimmt ist, das Familienunternehmen zu leiten, ein florierendes Bestattungsunternehmen in einer kleinen irischen Stadt. Auch den Mann, mit dem sie ihr Leben teilen würde, kannte sie schon von klein auf: Niall, der in sie verliebt war, seit sie denken kann. Und so kam es dann auch.
Doch als Jeanies Eltern unerwartet ankündigen, dass sie sich zur Ruhe setzen, gerät sie in Panik. Will sie dieses Leben? Oder ist dies die letzte Chance, mit ihrem ewigen Pflichtbewusstsein und ihrer bequemen Ehe zu brechen? Und dann taucht plötzlich Fionn, ihre große Liebe, wieder auf, aber nicht so, wie sie es wollte …
Ein bewegender Roman über Liebe, Abschied und den Mut, sich für sich selbst zu entscheiden.
«Eine wunderbar unerwartete Geschichte über Liebe, Tod und alles, was dazwischenliegt.» Graham Norton
«Fesselnd und herzerwärmend.» Irish Times
Anne Griffin ist eine irische Schriftstellerin. Sie erhielt für ihre Kurzgeschichten den John McGahern Award for Literature, außerdem stand sie u. a. auf der Shortlist für den Hennessy New Irish Writing Award und den Sunday Business Post Short Story Award. Ihr Romandebüt, «Ein Leben und eine Nacht», wurde in zahlreiche Länder verkauft, u. a. in die USA, nach Kanada, Frankreich und Holland, und stand auf Platz 1 der irischen Bestsellerliste. Anne Griffin lebt in Irland.
Martin Ruben Becker lebt als Übersetzer in München und hat u. a. Bücher von Joseph Luzzi, Robert Goolrick, Favell Lee Mortimer und David Bergen übersetzt.
Die englische Originalausgabe erschien 2021 bei Sceptre, Imprint of Hodder & Stoughton, an Hachette UK company.
Die deutsche Erstausgabe erschien 2022 bei Kindler unter dem Titel «Die Bestatterin von Kilcross».
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2024
Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Listening Still» Copyright © 2021 by Anne Griffin
Redaktion Susann Rehlein
Covergestaltung Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Coverabbildung Lockdown 2020 von Edward B. Gordon
Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers
www.gordon.de
ISBN 978-3-644-02280-5
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für meine Eltern Jimmy und Bridie Griffin
Als mein Vater mir eröffnete, dass er sich aus dem Geschäft zurückzieht und die Leitung von Masterson Bestattungen mir überträgt, wollte ich nur davonlaufen. Bis ans Ende dieser Welt, bis an den Rand der Klippen, den Kopf in den Himmel recken und tief einatmen, Luft, die nichts von mir wollte. Mich ganz von einer Freiheit durchdringen lassen, die keinerlei Erwartungen an mich hegte, meine Züge glättete und meine geballten Fäuste wieder löste.
Schon einmal hatte ich davonlaufen wollen, aber es war mir nicht gelungen. Die Pflicht, verstehen Sie. Die Pflicht, die Pflicht, die Pflicht. Der Steinmetz soll das Wort dereinst in großen Lettern und am besten gleich dreimal hintereinander unter meinen Namen in den Grabstein gravieren, damit alle wissen, wer Jeanie Masterson wirklich war. Was es gewesen ist, das sie angetrieben, sie niedergedrückt und, ja, wenn ich ehrlich bin, auch beglückt hat. Meine Welt, die ich gleichzeitig liebte und fürchtete und in der ich zerrissen war zwischen allzu vielen, die mich ebenso dringend brauchten wie ich sie.
«Baltimore», sagte mein Vater. Sie würden ihren Lebensabend in Baltimore verbringen. Mum und er, Gráinne und David Masterson, würden ihre Sachen packen und in sechs Monaten oder so umziehen. Ihnen sei es verziehen, wenn Sie denken, es handele sich um Baltimore in den Vereinigten Staaten. Ich jedoch wusste, welchen Ort er meinte: das Dorf an der Küste, an der Spitze von Irlands sechstem dicken Zeh. Es liegt im County Cork, ungefähr dreihundert Kilometer in südwestlicher Richtung von Kilcross entfernt, der Stadt in den Midlands, in der wir unser Leben verbracht haben. Weder Flugzeuge noch Bonusmeilen oder Pässe wären nötig, sie würden sich bloß ins Auto setzen und dahin fahren, wo wir immer unsere Sommerferien verbracht haben, als Mikey und ich Kinder waren. Meist war es bloß ein verlängertes Wochenende, aber manchmal, wenn Dad sich von den Verpflichtungen im Bestattungsinstitut frei machen konnte, eine ganze kostbare Woche. An unsere Tür konnte man kein Schild hängen, verstehen Sie, das die Leute höflich bittet, sich später wieder zu melden. Die Toten warten nicht gerne. Obwohl man natürlich auch behaupten kann, dass sie alle Zeit der Welt haben. Es war Harry, meine Tante, unsere Einbalsamiererin, die die Stellung hielt, während wir am Pier spazieren gingen und am Sandstrand spielten und unser Softeis lutschten. Ich liebte Baltimore. Wir liebten Baltimore, und nun würden sie es zu ihrem neuen Zuhause machen und Niall und mir das Haus und die Firma überlassen.
«Aber du bist doch gerade erst sechzig geworden», rief ich aus, als meine Eltern Niall und mir gegenübersaßen und uns ihre Neuigkeit eröffneten.
Wir saßen in unserem Morgenzimmer, einem von zwei Wohnzimmern in dem großen Haus, in dem wir alle zusammen wohnten – fünf Schlafzimmer, sechs, wenn man das Zimmer mitzählte, das Mum in einen begehbaren Kleiderschrank verwandelt hatte. Sie hatte noch ein weiteres in eine Sauna umwandeln wollen, aber dagegen hatte Dad sein Veto eingelegt.
«So früh geht doch niemand in den Ruhestand!»
«Schulleiter zum Beispiel gehen auch früh in Rente», wandte Dad ein.
«Aber du bist nun mal kein Rektor. Du bist ein Geschäftsmann ohne großzügige staatliche Pension.»
«Stimmt, aber ich habe ein bisschen was zurückgelegt, und außerdem habe ich eine begabte Tochter, die sehr gut für uns alle sorgen kann. Ganz zu schweigen von dem Mann neben dir, dem besten Thanatopraktiker in ganz Irland.» Er zwinkerte Niall zu, der strahlte, als wäre er Dads Preisbulle bei der Landwirtschaftsmesse in Kilcross.
«Da hat Harry doch auch ein Wörtchen mitzureden», ant-wortete ich, bevor ich begriff, wie unhöflich ich gewesen war. «Entschuldige, Niall.» Ich streckte die Hand aus, um meinem Mann das Knie zu tätscheln. «Ich hab’s nicht so gemeint.»
«Schon in Ordnung, ich versteh dich.» Er lächelte und griff nach meiner Hand. «Wir wissen doch, wie brillant Harry ist. Hat mir schließlich alles beigebracht, was ich kann.»
«Die geht ja auch nicht weg», fügte Dad hinzu. «Die wird man nicht los, selbst wenn man es versuchte. Die wird noch mit neunzig einbalsamieren, wenn es nach ihr geht.»
«Aber du hast vorher noch nie von Ruhestand gesprochen, Dad.» Und ich hatte in Wahrheit auch nie einen Gedanken daran verschwendet, dass es so weit kommen könnte.
«Das stimmt, mein Schatz», warf Mum ein, «doch dein Dad und ich haben das Gefühl, wir sollten die Zeit, die wir noch haben, für uns nutzen. Solange er noch eine Angel halten und ich mich endlich meinen Gedichten widmen kann.»
Mum und Dad lächelten sich liebevoll an.
«Gedichte, Mum? Ich dachte, du hättest das Schreiben nach diesem Abendkurs aufgegeben, als du fandest, das wäre alles viel zu kompliziert und was zum Teufel denn so falsch wäre an den guten alten Reimen.»
«Ich will damit sagen, Jeanie, dass, solange ich den Friseurladen hatte, nie genug Zeit dafür war. Außerdem steht das Haus, das wir in Baltimore immer gemietet haben, zum Verkauf. Wenn das nicht Kismet ist, dann weiß ich auch nicht.» Sie lächelte in sich hinein und berührte mit ihren perfekt manikürten Fingern die Spitzen ihrer schulterlangen, elegant gefärbten Haare, war entzückt von ihrer eigenen Wortwahl.
«Ich dachte, du glaubst gar nicht an so etwas wie den sechsten Sinn, Mum.»
«Ach, Jeanie, jetzt fang nicht wieder damit an. Du weißt genau, dass ich dir und deinem Vater glaube, wenn ihr sagt, ihr könnt die Toten hören. Ich hab nur allmählich wirklich genug davon, dass sie sich dauernd in unser Leben einmischen. Dein Vater hat eine Pause verdient.»
«Aber es ist völlig in Ordnung, mich hier mit ihnen alleinzulassen, ja?»
«Wir dachten, das ist genau das, was du willst, Jeanie!» Ich konnte sehen, dass sie gekränkt war. Sie legte sich eine Hand an die Brust. «Du hast doch von nichts anderem mehr gesprochen als davon, wie du ihnen zuhörst. Wie du hörst, was sie zu sagen haben, die Probleme regelst, die sie mit sich rumschleppen.»
Vielleicht, als ich fünf war, wollte ich kindischerweise sagen.
«Und was ist mit Mikey?», lenkte ich das Gespräch auf ihr Lieblingsthema. «Was ist seine Rolle in dem Ganzen hier?»
Mikey, mein zwei Jahre älterer Bruder. Wenn ich, als ich klein war, versuchte, ihn den Leuten irgendwie zu erklären, sagte ich immer, er sei anders; bis er mit dreizehn die Diagnose erhielt: Autismus – allerdings nur eine leichte Form, wie Mum gern präzisierte. Diese Tests hatten mir schließlich das richtige Vokabular an die Hand gegeben. Mikey war «hoch funktional», «hoch leistungsfähig», allerdings nicht immer so, wie wir es gerne gehabt hätten.
«Wir haben mit ihm gesprochen und …»
«Ihr habt mit ihm gesprochen, bevor ihr mit mir geredet habt, Mum?» Mikey war derjenige, den wir normalerweise vor allem, was in dieser Familie anstand, schützten – wir ließen ihn so lange in Ruhe, bis alles zu Ende gedacht und für jede nur mögliche Unterstützung gesorgt war.
«Nur so allgemein.»
«Echt jetzt, wir wissen doch alle, dass Mikey mit irgendwas Allgemeinem nichts anfangen kann. Entweder es ist konkret und steht fest, oder es ist nichts für ihn.»
«Na ja, er wollte ganz genau wissen, wann der Umzug sein wird und wie er seine Zeitschriftensammlung dahin kriegt. Wir haben gemeinsam nach dem richtigen Umzugsunternehmen dafür gesucht. Er ist ja ein solcher Experte bei so vielen Dingen», sagte Mum stolz.
«Dann zieht er also mit euch um?»
«Natürlich kommt er mit. Hier wird er kaum bleiben können. Das erwarten wir auch nicht von dir, Jeanie. Er ist unser Sohn, wir wollen ihn bei uns haben.» So hatte es Mum immer schon gehalten, ihr Sohn ganz in ihrer Nähe.
«Aber mich nicht?»
Mum wirkte schockiert angesichts einer solch kindischen Frage ihrer zweiunddreißigjährigen Tochter, und wer könnte es ihr verdenken? Schon erstaunlich, was man so sagt, wenn man in Panik ist.
«Aber du bist verheiratet, Jeanie. Du lebst hier mit Niall zusammen.» Sie zeigte sogar auf ihn, für den Fall, dass ich vergessen hatte, um wen es sich handelte. «Das ist dein Le-ben hier, deine Arbeit. Wir haben nicht angenommen …» Sie sah Dad an. «David, du kannst hier gerne auch mal was sagen.
«Deine Mutter hat recht, Jeanie. Das Ganze gibt dir doch die Chance, das Geschäft so zu führen, wie du willst, und das Ruder zu übernehmen. Jetzt kannst du alle Entscheidungen selbst treffen und musst dich nicht ständig mit mir abstimmen. Es hat so viele Vorteile, sein eigener Herr zu sein.»
«Und was ist, wenn ich das gar nicht will? Was ist, wenn ich es genau so haben will, wie es jetzt ist, oder wenn ich etwas völlig anderes will? Vielleicht liegt, was ich will, ja auch Hunderte von Kilometern entfernt.» Und das auch noch, das habe ich auch noch in Panik gesagt.
«Also, wir haben wirklich nicht gedacht … Ich meine, ist es denn so? Gibt es da etwas, was du tun möchtest und von dem wir noch nichts wissen?»
Alle drei wandten mir jetzt die Gesichter zu – Mum mit offenem Mund, Dad mit gerunzelter Stirn und Niall mit einem sorgenvollen Ausdruck, den ich überhaupt nicht hatte provozieren wollen – und warteten auf meine Antwort. Ich konnte mir gerade noch das Geständnis verkneifen, dass ich mich immer schon gefragt hatte, wie es wäre, ein völlig anderes Leben zu führen. Aber wenn ich jetzt fortginge, um diesem Traum zu folgen, und Dad gleichzeitig in den Ruhestand ginge, tja, das wäre es dann für die Toten, niemand wäre mehr da, der ihnen zuhörte. Ich war die Letzte, verstehen Sie, die Letzte, die den Toten zuhörte, mit mir riss diese Linie ab.
«Leute», redete ich mich heraus, «ich will nur sagen, dass ihr mich hier mit einem Fait accompli konfrontiert habt. Als hätte ich in dieser Sache überhaupt nichts zu entscheiden.»
«Okay, warte mal, Jeanie», sagte Dad und hob beschwichtigend die Hände, «deine Mutter und ich wollen nur, dass du glücklich bist. Wir dachten, unsere Neuigkeit wäre eine schöne Überraschung für dich.» Dann blickte er auf den Kuchen, den er gekauft hatte, mit einem Kärtchen davor, auf dem «Herzlichen Glückwunsch» stand. Als ich ins Zimmer gekommen war, hatte ich bei dem Anblick erwartungsvoll gelächelt. Dad hatte gegrinst und mir gesagt, den Kuchen gebe es gleich, erst müssten sie mir was erzählen. Jetzt musterte er den Kuchen, als wäre er der Hund, den wir demnächst einschläfern lassen mussten. «Das ist dein Lieblingskuchen – Streuselkuchen.»
Hilfe suchend wandte er sich an Niall. «Aber du bist doch froh über die ganze Sache, Niall, oder?»
«Ich …», setzte Niall, den Blick auf mich gerichtet, vorsichtig an – ein Mann, der sich in die Enge getrieben fühlte und nicht wusste, was er sagen sollte. «… ich freue mich für euch beide. Ihr habt euch wirklich eine Pause verdient. Und ich kann euch gar nicht genug danken für diese Chance. Wahrscheinlich kommt es nur ein wenig überraschend.»
«Wusstest du das auch alles schon?» Die Frage war mir herausgerutscht.
«Nein!» Niall starrte mich ungläubig an.
«Himmel noch mal, Jeanie, lass den Mann doch mal in Ruhe!» Mum riss die Hutschnur.
«Was? Findest du jetzt, dass ich eklig zu meinem Mann bin, oder was?»
«Jeanie, können wir uns alle mal beruhigen?» Dad schob sich bis zur Sesselkante vor und hob die rechte Hand wie ein Verkehrspolizist. «Niall, geh doch mal rüber und bring uns was zu trinken, bevor wir uns hier gegenseitig meucheln. Für uns Gin Tonic und für die hier irgendwas, was sie ruhigstellt.»
Dad blickte mich an, während Niall das Zimmer verließ, und kam dann tapfer herüber, um sich neben mich zu set-zen.
«Empfindest du das als Verrat, Jeanie, bist du deshalb so wütend? Weil wir dich allein lassen? Das tun wir aber nicht, mein Liebes. Überhaupt nicht. Wir merken einfach, dass wir es ein bisschen ruhiger angehen lassen müssen. Und das ist sehr schwer, wenn man es ausgerechnet dort machen will, wo man auch arbeitet. Niall und dir geht es eines Tages ja vielleicht genauso mit diesem Ort und dann, na ja …»
Und dann, na ja, und dann müsst ihr verkaufen, hätte der Satz vollständig gelautet, wenn Dad mutig genug gewesen wäre, ihn zu beenden, denn bislang hatte ihnen ihre Tochter sehr zu ihrer Enttäuschung keine Enkelkinder geschenkt und würde die Firma nicht an die nächste Generation weitergeben.
«Schau mal, Liebes, es tut uns leid, okay? Wir haben ehrlich nicht gedacht, dass dich das so aufregen würde. Wir hätten mal bei dir vorfühlen müssen und nicht erst damit ankommen, wenn alles schon unter Dach und Fach ist. Das verstehen wir, Gráinne, oder?»
«Ja, natürlich, mein Liebling.» Mum streckte die Hand aus, um mir das Knie zu tätscheln. Das genügte schon, damit ich mich ganz schrecklich fühlte und mich um ein Lächeln bemühte.
Da beschloss Dad, dass dies der richtige Zeitpunkt war, seine Tochter in eine Umarmung zu ziehen.
«Wir haben einfach nur die Situation falsch eingeschätzt. Sei nicht zu streng mit uns, ja? Wir kriegen das alles schon geregelt. Wir müssen ja nicht im Schweinsgalopp hier rauspreschen. Wir können es ein bisschen langsamer angehen, es in Ruhe und richtig machen. Wie hört sich das für dich an?»
Ich schmiegte mich an den Mann, der mich immer beschützt hatte, mir den richtigen Weg gezeigt, wenn ich mich verrannt hatte. Meine Finger wanderten über den weichen Stoff seines Wollanzugs. Dad war immer makellos angezogen, trug nur Kleidung vom Allerfeinsten. Die schlichte Wahrheit war, dass ein Teil von mir nicht mit den Toten allein sein wollte. Es bedeutete mir etwas, dass Dad sie auch hören konnte, dass wir diese Gabe teilten, um die wir beide nicht gebeten hatten, aber mit der wir auf die Welt gekommen waren. Denn manchmal war es nicht so leicht, worum die Toten uns baten, wenn sie in ihren Särgen lagen. Selbst wenn Dad nicht so viel darüber sprach, wie ich es mir gewünscht hätte, bedeutete es mir etwas, jemanden zu haben, der die Last und auch das Glück dieser Gabe einschätzen konnte. Und doch, dachte ich, wenn mein Vater es geschafft hatte, bevor ich auf die Welt kam, dann konnte ich das sicher auch. War es denn wirklich zu viel verlangt, diesen Mann nun in Frieden in seinen wohlverdienten Ruhestand gehen zu lassen, ohne dass er sich um mich sorgen musste?
Ich quetschte ein leises «Okay» heraus, als Niall mit einem Tablett voller Drinks durch die Tür kam.
«Guter Mann, Niall.» Dad ließ mich los, um seinen Platz mir gegenüber wieder einzunehmen.
«Mikey kommt also wirklich damit klar, dass ihr mit ihm wegzieht?», fragte ich, jetzt mit einer Art zaghafter Ruhe in mir, während mir Niall einen Gin Tonic in die Hand drückte. «Vielen Dank», formte ich mit den Lippen.
«Scheint so.» Dad nahm einen ersten Schluck und seufzte anerkennend.
«Aber er hasst Veränderungen.»
«Na ja, anscheinend nicht, wenn es darum geht, von den Toten wegzukommen. Darin ist er deiner Mutter ganz ähnlich.»
Dad lächelte seine Frau an, und Niall setzte sich wieder neben mich, nippte an seinem Drink und musterte mich verstohlen. In meinem Bedauern darüber, wie ich mich eben verhalten hatte, und meinem Wunsch, alles richtig zu machen und seine Sorgen zu vertreiben, wandte ich mich ihm mit einem Lächeln zu, nahm wieder seine Hand, die vorher meine gehalten hatte, drückte sie und versuchte, ihn glauben zu machen, ebenso wie mich selbst, dass alles gut werden würde.
Am nächsten Morgen beobachtete ich durchs Küchenfenster, wie Niall und Mikey im Garten plauderten, Ehemann und Bruder, an diesem trockenen Tag. Noch kein Regen. Seit einem Monat fühlte es sich an, als existierte keine andere Wetterlage in Kilcross, nur diese schweren Tropfen, die aus einem elend grau verhangenen Himmel fielen und dazu führten, dass sich die Regentonnen bis zum Überlaufen füllten, Abflussrohre überliefen und sich grüne Wiesen in schlammbraune Flächen verwandelten. Aber an jenem Aprilmorgen gab es Licht und Farben und nun auch noch Nialls Gelächter. Von seinem Morgenlauf zurückgekehrt, lehnte er sich mit der Schulter an unsere Hintertür, um wieder zu Atem zu kommen, und lachte über irgendetwas, das Mikey gesagt hatte. Ich konnte mir kaum vorstellen, was das gewesen sein sollte. Mikey war nicht gerade für seinen Humor bekannt. Meine Wertschätzung für Nialls immerwährende Freundlichkeit Mikey gegenüber verdrängte für einen Moment meine anhaltende Panik angesichts der Ankündigung vom vorigen Abend. Ich lächelte und kämpfte gegen meinen Impuls an, herausfinden zu wollen, was Mikey denn da gesagt hatte, und ließ ihn stattdessen einfach so stehen, diesen Augenblick reinster Freude darüber, dass mein Bruder jemandem zum Lachen gebracht hatte. Das sollte gehütet werden und aufbewahrt zusammen mit dem Rest meiner Geschichte, die davon berichtete, wer ich war und warum ich immer noch hier war.
Mein Bruder zeigte auf etwas in seinem Schuppen – ich nenne es Schuppen, aber in Wirklichkeit war es ein Haus: Schlafzimmer, Badezimmer, Wohnzimmer, Küchenecke, PlayStation –, der Traumschuppen eines jeden Mannes. Meine Mutter hatte auf diesem Wort bestanden, und wir waren ihrem Beispiel gefolgt, da es so für alle leichter war. Das Wort Schuppen bewahrte sie vor der Wahrheit, dass mein Bruder in Wirklichkeit ausgezogen war. Niall änderte jetzt seine Haltung, um auch hineinzuschauen, und nickte. Während Mikey noch mehr gestikulierte, intensivierte sich Nialls Nicken. Das Gelächter war jetzt verklungen, aber auf Nialls Gesicht lag immer noch ein aufmunterndes Lächeln. Ich nahm an, dass es um das neue Regal ging, das helfen sollte, Mikeys überbordende Sammlung von Büchern, Zeitschriften und DVDs zur Militärgeschichte unterzubringen. Mikey war in der Schule in zwei Fächern herausragend gewesen: Geschichte und Werken. Sein Geschick bei Letzterem versetzte ihn jederzeit in die Lage, seiner Obsession für Erstere Platz in selbst gebauten Regalen zu verschaffen. Mikey hatte diese Expansion schon seit einer Weile ins Gespräch gebracht, mehr sich selbst gegenüber als uns. Mein Bruder brauchte sehr lange, um sich auf irgendwelche Veränderungen einzustellen. Er musste sich selbst erst behutsam dazu überreden, bevor er schließlich die Arme ausbreiten und die Veränderung willkommen heißen konnte. Ich fragte mich, ob er wirklich ganz begriffen hatte, was wegen des Ruhestands meiner Eltern auf ihn zukam.
Niall wandte sich zum Haus um und gab Mikey zu verstehen, dass er weitermachen musste. Er entdeckte mich und winkte. Mikey schaute auch her und lächelte. Ein Lächeln von meinem Bruder war so selten wie ein leerer Wäschekorb in unserem Haus, aber wenn es mal dazu kam, war es ganz und gar authentisch. Nichts, was mein Bruder tat, schien anders als vollkommen echt sein zu können.
Ich beugte mich über die Spüle, um das Fenster zu öffnen, stellte mich auf die Zehenspitzen – mit meinen nicht mal ganz eins sechzig sind meine Möglichkeiten, irgendwo ranzukommen, eher begrenzt.
«Kommt ihr zwei rein? Ich habe Kaffee und Toast fertig.»
«Klingt gut.» Niall sah Mikey fragend an.
«Hab zu tun, Schwester. Neues Regal.»
Ich lächelte. «Gut, wenn du es dir anders überlegst, weißt du ja, wo wir sind.»
Während Niall ins Haus kam, blickte Mikey wieder in seinen Schuppen und nickte, als wäre es das jetzt, als wäre die Zeit gekommen, diese Veränderung mit beiden Händen zu ergreifen und sie sich zu eigen zu machen. Dann verschwand er nach drinnen.
«Er scheint gut drauf zu sein», sagte ich, als Niall in die Küche trat.
«Das ist er, obwohl dieses Regal und das Umräumen ihn aufregen.»
«Du hast aber nichts wegen gestern Abend zu ihm gesagt?»
«Himmel, nein.»
Ich gab ihm seinen Kaffee. «Wie war das Laufen?»
«Großartig. Zehn Kilometer heute Morgen. Dublin-Marathon, ich komme!» Er grinste.
«Meinst du nicht, du greifst da ein bisschen vor, Niall?», neckte ich ihn.
«Wieso? Wo ist da der große Unterschied? Zehn Kilometer? Zweiundvierzig Kilometer? Außerdem muss man sich große Ziele stecken. Hab ich ja bei dir genauso gemacht.» Groß gewachsen, wie er mit seinen eins neunzig war, konnte er mir seine Liebe kundtun, indem er sich anmutig herunterbeugte und mich auf die Stirn küsste. Ich hatte mich mein ganzes Leben zu hochgewachsenen Menschen hingezogen gefühlt, neidisch und wie gebannt von ihrer Fähigkeit, über die Köpfe anderer hinwegschauen oder das oberste Regal erreichen zu können oder aufgrund dieser paar Extrazentimeter schon bedeutend zu erscheinen und nicht so in der Menge verloren wie ich.
«Wie sieht’s denn in der Stadt aus? Wird sie allmählich wach?»
«Acht Uhr, da wird es wohl Zeit. Arthur macht schon seine Runde. Sagt, er kommt nachher vorbei.» Seit Jahren nahm Arthur, unser Briefträger, sein zweites Frühstück bei uns am Küchentisch ein. «Keine Anrufe bislang?»
«Nein. Im Moment ist alles still.»
«Vielleicht wird es ja ein ruhiger Tag. Vielleicht halten sie noch ein bisschen durch. In den Midlands gibt es im April nicht oft solche wolkenlosen Tage. Bei so einem Prachtwetter will keiner sterben.»
Ich blickte hinaus und blinzelte angesichts des blendenden Lichts, genoss diesen Aufwand, den es betrieb, und wünschte mir, da draußen sein zu können unter dieser klaren Bläue. Wenn es etwas gab, was ich heute gebrauchen konnte, dann waren es Frieden und Stille. Keine Anrufe, keine Todesfälle, kein Reden, kein Zuhören. Einfach nur Stille. Vielleicht sogar ein Spaziergang draußen in Barra Bog.
«Wie geht es dir jetzt, nach dieser großen Ankündigung? Ist der Schock ein bisschen verflogen?» Niall sah mich über seinen Becher hinweg an, während er den ersten und einzigen Schluck Kaffee an diesem Tag nahm. Wir hatten an dem vorigen Abend nicht weiter über dieses Thema gesprochen; ich war zu erschöpft gewesen, als wir schließlich meine Eltern verlassen hatten und ins Bett gegangen waren, und hatte um Aufschub gebeten. Seine Frage jetzt zerstörte meine vorgetäuschte Aufgeräumtheit, die Behauptung, dass alles in bester Ordnung wäre, sodass ich um Halt nach Mums Stuhl am Kopfende des Tisches tasten musste.
«Das wird schon alles gut gehen, Jeanie.» Niall setzte sich neben mich. Seine Hände, immer noch feucht vom Laufen, griffen nach meinen. «Wir schaffen das schon, du und ich, oder? Wir sind doch ein tolles Team. Wir können den Laden hier schmeißen, gar kein Problem.»
Ich wandte mich von ihm ab, musterte die Küchenwände, die immer noch hellgelb waren wie in meiner Kindheit und unweigerlich alle zehn Jahre frisch gestrichen wurden. Wenn meine Eltern wegzogen, konnte ich das ändern, wenn es mir beliebte. Ich konnte jeden Schrank rausschmeißen, jede Fliese aufstemmen, Wände einreißen, wenn mir danach war. Ich öffnete den Mund, um ihm eine Antwort zu geben, wurde aber vom Läuten des Telefons unterbrochen und von meinem Vater, der den Anruf in der Diele annahm.
«Masterson Bestattungen. David Masterson am Apparat.»
In seiner Begrüßung meinte ich Hoffnung und Vorfreude auf die Freiheit zu hören, die er bald in seinen Händen halten würde.
Es war meine Tante Harry, die als Erste begriff, dass auch ich über Vaters Gabe verfügte, im Gegensatz zu ihr, die dieses Gen eben nicht hatte, wie sie nicht müde wurde zu sagen. Als Kleinkind liebte ich es, ihr hinterherzulaufen, in den Vorbereitungsraum, und jede ihrer Bewegungen aufmerksam zu verfolgen. Ich saß unter dem Vorbereitungstisch, damals hatten wir nur einen, während sie die Toten wusch, und kicherte, wenn ich die Beine anzog, weil es an der Seite heruntertropfte. Ich sollte wohl dazusagen, dass ich, weil ich von klein auf mit den Toten, ob nackt oder bekleidet, zu tun hatte, nie verstanden habe, dass die übrige Welt so eine Umgebung vielleicht erschreckend finden könnte. Für mich waren die Toten so natürlich wie die beiden Ringeltauben, die in unserer Eiche im Garten siedelten. Ich mochte es, wenn Harry ihre Glieder massierte, sodass die Balsamierflüssigkeit überall hinkam. Sie mochten es auch. Ich konnte sie seufzen hören. Ich stimmte in ihr Gelächter ein, wenn die Kitzeligen unter ihnen sich nicht mehr einkriegen konnten.
«Ist das komisch, Jeanie?», fragte Harry dann, die sich durch mein Kichern schließlich überzeugen ließ und ihre Arbeit unterbrach.
«Ja», antwortete ich lachend und wartete, weil ich genau wusste, was jetzt kommen würde.
«Na, wenn das so lustig ist, dann pass mal auf, jetzt schnappe ich dich!» Schon hatte sie angefangen, in ihrem weißen Laborkittel und den roten Doc Martens hinter mir herzutippeln. Und ich sprang auf und wackelte los, allerdings nicht zu schnell, weil ich es liebte, wenn sie mich fing und mich hoch in die Luft schleuderte und dann auf einen Stuhl setzte, um mich durchzukitzeln. Am schlimmsten war es unter den Armen, ihre Finger mussten mich nicht einmal richtig berührt haben, und schon wand ich mich genüsslich. Und dann pustete sie mir auf den Bauch. Und die ganze Zeit über wartete die jeweilige Tote geduldig, manchmal lachte sie mit, und manchmal weinte sie, weil sie vielleicht an ihre eigenen Kleinen dachte, die sie nie wieder durchkitzeln würde. Wobei ich mit meinen zwei Jahren natürlich noch nicht so genau im Bilde war über die Gründe und Abgründe menschlicher Emotionen. Es war einfach das, was sie taten – sie lachten, weinten oder redeten. Das war meine Welt.
Mum mochte es nicht, wenn ich in den Vorbereitungsraum ging, und holte mich oft zu sich in ihren Friseursalon nebenan. Aber dann heulte ich nur und sagte: «Da, da», und zeigte auf unser Bestattungsinstitut. Also trug sie oder eine ihrer Auszubildenden mich wieder zurück, während ich so lange schrie und mich wand, bis ich wieder bei Dad, Tante Harry und den Toten war.
Es heißt, dass es Harry erst, als ich richtig sprechen gelernt hatte, dämmerte, dass ich die Toten genauso hören konnte wie ihr Bruder. Harry hörte Musik, während sie arbeitete – David Bowie, Patti Smith und Leonard Cohen, obwohl sie manchmal sagte, dass seine Musik selbst für die Toten zu düster sei. Sie hatte auch mal eine The-Clash-Phase. Das sorgte für Probleme, wenn die Familien der Klienten kamen und Dad von der Rezeption, wo er sie in Empfang nahm, um die Einzelheiten zu besprechen, hereinrauschte und ihr sagte, sie solle «den verdammten Krach» leiser machen.
«Entschuldige, Dave», rief sie über die Musik hinweg und lächelte in sich hinein. Harry war der einzige Mensch, der Dad Dave nannte.
«Sie will den anderen hören», rief ich Harry an diesem einen Tag zu, nachdem sie noch kurz in Dads Büro vorbeigeschaut hatte, bevor sie mit ihrem morgendlichen Balsamieren anfing. Ich war damals vielleicht vier Jahre alt. Ich saß an einem kleinen Tisch, den Dad für mich im Vorbereitungsraum in der Hoffnung aufgestellt hatte, dass ich dann nicht mehr herumlief und seine Schwester hinter mir her, sondern dass ich stattdessen einfach malte. Er hatte mir sogar Malbücher gekauft.
«Du hättest am liebsten eins mit toten Leuten in Särgen, oder? Dann würdest du den ganzen Tag lang malen», sagte Dad, als wir im Frayn’s Newsagent and Toy Shop waren, ich seine große weiche Hand hielt und er in den verschiedenen Malbüchern blätterte, die sie dahatten.
«Was sagst du, mein Schätzchen?» Harry kam wieder herein, spitzte übertrieben die Ohren, während sie den Porti-Boy anstellte, die Balsamiermaschine, die wie ein riesiger weißer Entsafter aussah und auf dem Tresen stand und Flüssigkeit in die Frau pumpte, die auf dem Tisch lag.
«Sie möchte den anderen Song», rief ich.
Harry stellte den Lärm ab, um sicherzugehen, dass sie mich richtig verstanden hatte.
«Wer möchte den anderen Song?»
«Die Dame.» Ich zeigte mit meinem Buntstift auf die Frau mit dem weißen Haar, das so lang war, dass es sich über den Tischrand ergoss.
«Hat Agnes dir das gesagt?»
Agnes Grace, die erste Tote, die ich reden gehört hatte, oder zumindest die erste Tote, bei der ich gesagt hatte, dass ich sie reden hörte. Ich weiß nicht mehr, woran sie gestorben war.
Harry hatte sich nicht vom Porti-Boy wegbewegt. Darin war sie immer gut gewesen: kein Drama aus irgendwas zu machen.
Ich nickte.
«Also wirklich. Ich verstehe nicht, was an ‹Starman› falsch sein soll.»
«Sie mag den TV-Song lieber.»
«TV 15? Na ja, der ist auch gut, dann spiel ich den für sie. Ist aber nicht sein bester.» Harry ging rüber zu ihrer Stereoanlage. «Also dann reden sie ein bisschen mit dir, Jeanie, die Toten?»
«Ja.»
«Alle?»
«Nur einige.»
Das war das Ding mit den Toten; nicht alle wollten reden oder, wie Dad in den folgenden Jahren immer sagte, nicht alle mussten reden. Er war zu dem Schluss gekommen, dass diejenigen, die es nicht taten, offenbar alles Wichtige hatten sagen können, bevor sie gestorben waren, weil sie die Art von Tod gehabt hatten, bei der nichts unerledigt blieb. Diejenigen, die sich zu reden entschlossen, hatten der Welt und denen, die sie liebten, noch etwas mitzuteilen, da der Tod sie früher ereilt hatte, als sie sich je hätten vorstellen können. Dann gab es noch jene, die einen Vermittler brauchten, der letztendlich aussprach, was ihnen selbst womöglich immer zu schwer gefallen war. Und manchmal gab es auch die, die einfach gerne plauderten. Die vielleicht schon im Leben Freude daran gehabt hatten, warum also nicht auch im Tod?
«Du weißt, dass dein Papa sie auch hören kann?», fuhr Harry fort.
Wieder nickte ich. Ich hatte ihn oftmals beobachtet, während sie in ihren Särgen lagen und Harry um ihn herum werkelte. Die Ellbogen auf die Knie gestützt, saß er da, hatte den Kopf gesenkt, blickte zu Boden und lauschte. Ich stand dann neben ihm, und er hob seine Hand, um mir den Kopf zu tätscheln, oder oft auch, um meine Hand zu halten. Nicht ein einziges Mal hatte er mich fortgescheucht oder mir erzählt, dass dies Erwachsenendinge seien und nicht für kleine Ohren bestimmt. Indem er mir zu bleiben gestattete, lehrte er mich, dass die Toten und ihre Wünsche und Nöte unsere Aufgabe seien. Sie waren immer bei uns, in jedem Satz, den wir sprachen, in jedem Traum, den wir träumten – nichts, was wir verbergen, und nichts, dem wir aus dem Weg gehen sollten. Man musste sie respektieren und über sie sprechen, selbst wenn man erst vier Jahre alt war.
«Ich kann es allerdings nicht», sagte Harry an dem Tag. «Es gibt nur wenige Menschen, die so schlau sind.»
Ich hob den Kopf, um sie anzusehen, schaute zu, wie sie unten auf der Stereoanlage herumdrückte, um wieder zu Bowies anfänglichem «Oh, oh, oh»-Riff zu gelangen, und dann lauschte ich auf Agnes, die mitsummte.
«Oh, na großartig.» Das war Mum später an jenem Abend, als Dad ihr die Nachricht übermittelte, dass die Tochter, von der sie gehofft hatte, sie würde ihr ins Friseurgewerbe folgen oder irgendetwas anderes machen – egal was –, die Toten hörte. «Das hast du allein dir zuzuschreiben, weißt du, wenn du sie da immer mit hinschleppst.»
«Das tue ich nicht, Gráinne, und das weißt du auch. Ich habe sie so gut wie möglich ferngehalten, ganz so, wie du wolltest, aber sie ließ sich einfach nicht davon abhalten.»
Dazu sagte sie nichts. Ich saß auf dem Treppenabsatz vor ihrer Schlafzimmertür und lauschte, obwohl ich schon längst hätte schlafen sollen. Und auch wenn ich mir jetzt, da ich die Gespräche jenes Abends wiedergebe, Freiheiten herausnehme und Wörter hinzufüge, die aus den vielen Gesprächen stammen, die meine Eltern im Verlauf der nächsten achtundzwanzig Jahre immer wieder über die Toten und mich geführt haben, wesentlich mehr Wörter, als eine Vierjährige damals verstehen konnte, so begriff ich damals, als ich dort in meinem gebügelten Baumwollpyjama saß, dass diese Neuigkeit über meine besondere Begabung Mum nicht gerade glücklich machte.
«Das ist nicht richtig, David, dieser Umgang mit den Toten. Das Kind glauben machen, dass sie mit ihnen reden kann. Als Nächstes bringt sie sich noch in Schwierigkeiten, du hast es doch bei dieser Cassidy-Geschichte erlebt.» Mums Stimme klang gepresst in ihrem angestrengten Flüstern, ihrem Versuch, die Kinder nicht zu wecken.
Die Geschichte von Danny Cassidy war legendär in unserem Hause, wobei ich damals natürlich nichts davon wusste. In späteren Jahren benutzte Dad sie mir gegenüber als Beispiel dafür, warum es manchmal besser war, das, was die Toten gesagt hatten, zu beschönigen oder zu verschweigen. Mum betrachtete die Geschichte als hinreichenden Beweis dafür, dass es einem nur Ärger einbrachte, wenn man mit den Toten redete. Als er in seinem Sarg lag, hatte Danny Dad nämlich erzählt, dass er es gewesen war – eines Abends vor zwei Jahren –, der den prächtigen Blumengarten seiner Nachbarin Catherine Devine, seit dreißig Jahren eine gute Freundin, zerstört hatte, aus Rache dafür, dass sie seinen Hund getötet hatte. Na ja, sie hatte seinen Hund eigentlich nicht getötet, und in Wirklichkeit hatte Danny auch überhaupt keinen Hund. Er hatte halluziniert. Er hatte eine Nierenentzündung bekommen und war ins Delirium gefallen, in dem er alles Mögliche für wahr gehalten hatte. Catherine war vollkommen am Boden zerstört gewesen, als sie am nächsten Morgen die Verwüstung gesehen hatte, aber niemals hätte sie Danny so etwas zugetraut, zu dem sie eine überaus vertrauensvolle Beziehung hatte. Aber danach hatte sie ihren Garten links liegen lassen, hatte alles ins Kraut schießen lassen, hatte die alte Schönheit nie wiederhergestellt. Jetzt wollte er sie wissen lassen, hatte Danny gesagt, dass er es gewesen war und dass es ihm leidtat. Er wollte, dass sie sich dem, was sie liebte, wieder zuwandte. Aber inzwischen war Catherine ertaubt, und als Dad an dem Abend nach Dannys Geständnis mit ihr zusammensaß, verstand sie ihn so, dass er ihrdieses Verbrechen beichtete und nicht etwa ihr toter Nachbar. Nichts, was Dad noch vorbrachte, konnte sie davon abbringen. Am nächsten Tag, als Sergeant Reilly zu uns kam, um Dad dazu zu befragen, erläuterte Dad ihm die Verwechslung. Und obwohl der Sergeant verstand, was Sache war (er war einer der «Gläubigen» der Stadt), weigerte sich Catherine Devine, ihm Glauben zu schenken, und behauptete, Danny sei zu einem solchen Verrat nicht fähig gewesen und dass dieses «Reden» mit den Toten bloß eine willkommene Ausrede für jedes erdenkliche Verbrechen sei, während es doch in Wahrheit eine Todsünde sei, das Andenken der Toten mit falschen Anschuldigungen zu beschmutzen. Als Catherine ein Jahr später starb, nahm sie unsere Dienste nicht in Anspruch, sondern hinterließ die schriftliche Anweisung, dass sich die Doyles in Carnegie um ihre Beerdigung kümmern sollten.
«Gráinne, das passiert uns nicht noch mal», sagte Dad, als ich draußen vor ihrer Tür lauschte. «Das mit Cassidy war eine unglückselige Geschichte. Meist geht es nur ums Reden und darum, den Toten dabei zu helfen, leichter ins nächste Leben zu kommen.»
«Das nächste Leben? Verschon mich mit diesem Scheiß.»
Wahrscheinlich schlug ich mir damals auf dem Treppenabsatz die Hand vor den Mund, um mein Kichern über Mums böses Wort zu dämpfen.
«Ich bin Bestatter, Gráinne. Ich glaube an Gott und Seinen Plan.»
«Ich glaube, dass wir sterben, verwesen und dass dann Schluss ist.»
«Ja, das hast du mir oft genug erklärt. Warum hast du mich dann geheiratet, Gráinne? Ernsthaft, du wusstest doch, was für einen Beruf ich habe. Du wusstest, woran ich glaube; wenn es dich so sehr aufregt, warum willst du dann dein Leben mit so was verbringen?»
«Wenn ich damals schon gewusst hätte, dass ihr mit den Toten redet, hätte ich dich nicht geheiratet.»
«Oder vielleicht doch?» Dads Stimme wurde sanft, und ich stellte mir vor, dass er über die knarrenden Bodenbretter ging und ihr die Arme um die Taille legte. «Hättest du mir wirklich widerstehen können?»
«Oh, jetzt hör aber mal auf.» Auch Mums Stimme war nun anders, sie klang höher, und die Wand stürzte ein, jene Trennwand, die sie ihr Leben lang in Phasen der Zuneigung abrissen, aber wieder errichteten, wenn sie Streit hatten.
Vielleicht küssten sie sich oder umarmten einander in jenem Moment, als keine Stimmen mehr zu mir drangen und ich das Risiko einging, auf Zehenspitzen zu ihrer Tür zu tapsen und das Ohr fest an das Holz zu pressen.
«Ich mache mir Sorgen um sie. Wie wird ihr Leben wohl aussehen? Immer hier sein. Immer mit den Toten zu tun haben müssen. Ich meine, schau dich doch nur an.»
«Mir passt dieses Leben sehr gut und dir auch, meistens jedenfalls. Es geht uns doch gut, dir und mir, oder? Und schau dir Harry an, die hat überhaupt keine Probleme damit.»
«Harry. Genau. Ich würde nicht sagen, dass es ihr gut geht. Die ist vollkommen durchgeknallt, so viel ist klar.»
«Ach komm, der Tod gehört genauso zum Leben wie … Haareschneiden. Ja, eigentlich noch viel mehr. Es bedarf nur einer winzigen Korrektur in unserem Denken, um zu akzeptieren, dass, was hier geschieht, völlig normal ist. Es ist nicht gefährlich oder seltsam – ungewöhnlich, das schon, aber ganz bestimmt nicht schlimm. Und abgesehen von allem anderen, Gráinne, meinst du nicht, dass wir Jeanies Schicksal viel zu früh festschreiben? Sie kann also die Toten hören, na und? Wenn jemand ein guter Schwimmer ist, muss er noch lange nicht Rettungsschwimmer werden. Sie ist erst vier! Wer weiß, wo sie in dreißig Jahren ist? Vielleicht wird sie doch noch Friseurin.»
«Glaubst du? Das fände ich schön für sie. Und sie muss ja nicht unbedingt Friseurin werden, irgendetwas anderes, etwas, bei dem sie nicht all das hier mit sich herumschleppen oder den Spott der Leute ertragen muss. Die Menschen können grausam sein, was?»
«Ich glaube, unser kleines Mädchen hat die Energie und den Verstand, alles zu werden, was sie nur möchte, und so oder so alles stemmen zu können. Sie braucht dazu nur unsere Liebe und unsere Unterstützung.»
Hat er das tatsächlich gesagt, oder wünsche ich mir bloß, dass er an irgendeinem Punkt in meinem Leben wirklich bereit gewesen ist, mich gehen zu lassen?
«Da bist du ja.» Arthur stand mit dem Rücken zu unserem Küchentresen, den Kessel eingeschaltet, der erste Bissen von seinem Twix, das er sich aus dem Schrank genommen hatte, schon heruntergeschluckt. «Kurz habe ich gedacht, ich bin hier ganz allein.»
Ich drehte mich zur Uhr um, Schlag elf. Die Tradition, dass Arthur sein zweites Frühstück bei uns einnahm, hatte ihren Anfang vor Ewigkeiten genommen. Die einzigen Male, an denen es nicht so war, waren auf eine Erkrankung zurückzuführen oder auf die Tatsache, dass die Post es gewagt hatte, seine Route zu ändern. Jedes Mal war er bald wieder da gewesen. Arthur war nicht bloß unser Briefträger, sondern auch Dads Cousin zweiten Grades – oder war er ein Onkel zweiten Grades? Es war eine dieser verwirrenden Verwandtschaftsbezeichnungen, die ich nie so ganz verstanden habe. So oder so, er gehörte zur Familie. Als er um die zwanzig und sein Vater gestorben war, war er schließlich bei uns eingezogen. Dad und Arthur waren unzertrennlich, und Arthur wurde Mikeys Pate, als der geboren wurde.
«War Mikey nicht draußen in seinem Schuppen, als du kamst?», fragte ich. Mein Bruder ging normalerweise nirgendwohin, deshalb war ich verwirrt von seiner Bemerkung, dass niemand da gewesen war.
«Oh, doch, aber er hat schwer zu tun und wirkte ein bisschen gestresst. Ich hab gesagt, sieht aus wie das Mittsommernachtsfeuer mit all dem Holz, das er da lagert, das sei ja eine regelrechte Brandgefahr.»
«Oh, das hast du hoffentlich nicht gesagt. Er nimmt doch alles wörtlich, Arthur.»
«Ich weiß, aber es war mir schon rausgerutscht, bevor ich mich bremsen konnte. Ich hab gesagt, war doch nur einen Witz. Ich bringe ihm einen Tee und helfe ihm mal so für zwanzig Minuten.» Er goss Tee in zwei Tassen. «Also», sagte er, «du siehst aber gut aus heute.»
Instinktiv fasste ich nach meinem schwarzen Lockenschopf, den ich gerade erst hastig zu einem Knoten gedreht hatte. Wenn man es glättete, fiel mir das Haar bis auf den Rücken, sonst bis auf die Schultern.
«Irgendwelche Neuigkeiten?», fragte er.
Ich vermutete, dass Arthur schon über alles Bescheid wusste, die Ankündigung meiner Mutter und meines Vaters, in den Ruhestand zu gehen, und meine Reaktion darauf. Arthur war jemand, mit dem wir Tag für Tag unser Leben teilten, Dad und er führten sich wöchentlich eine Runde Freitagabend-Pints bei McCaffrey’s zu Gemüte – vorausgesetzt, Dad hatte Zeit. Das Bestattungswesen brachte etliche Herausforderungen mit sich, und Unvorhersehbarkeit stand ganz oben auf der Liste. Harry sagte immer, sie wünschte, dass die Banshees wirklich existierten, die einem den Tod vorhersagten, dann hätte sie endlich einen vernünftigen Stundenzettel, wie jeder andere Arbeiter in Irland auch.
«Na ja, Dad hat gestern Abend verkündet, dass er in den Ruhestand geht», sagte ich mit schwacher Stimme, «aber ich möchte lieber nicht darüber reden, wenn das für dich in Ordnung ist.»
«Oh, natürlich. Kein Wort mehr dazu.» Mein Verdacht hatte sich bestätigt, Arthur hielt einen Finger an die Lippen und stieß die Hacken zusammen, ganz der brave Soldat, und lächelte mich freundlich an. «Trinkst du auch einen?» Er hob eine Tasse in meine Richtung.
«Nein, jetzt nicht, danke.» Ich ging an die Spüle, füllte ein Glas mit Wasser, nahm einen Schluck und begann schon wieder, mich schuldig zu fühlen. «Also dann mal los», sagte ich und gab seinem Lächeln nach. «Wie lautet die Statistik fürs Wochenende?»
«Schwierige Sache. Aber ich denke drei. Molly Greene, Dick Darcy und Tiny Lennon.»
«Das hast du schon letztes Wochenende gesagt, und die leben immer noch.»
«Kaum noch. Molly hat diese Woche mächtig abgebaut, hat Kate mir gerade erzählt. Hab sie auf der Mary Street getroffen, bevor ich hierherkam. Sie war auf dem Weg zurück ins Saint Luke’s, zu Molly. War nur kurz nach Hause gefahren, um zu duschen.»
«Dick und Tiny sterben jetzt schon seit zwei Jahren, wenn ich dir so zuhöre.»
«Was kann ich dafür, dass die sich immer wieder aufrappeln. Tiny macht allerdings schon seit Wochen die Tür nicht mehr auf. Ich hab das Sergeant Boyle erzählt, aber der sagt nur, nee, der ist quicklebendig, will bloß nicht mit dir reden. Ich weiß nicht, was ich dem getan haben soll – ich war immer höflich, wie es sich gehört.»
«Neugierig, meinst du.»
«Wie auch immer, meine Schulden habe ich beglichen.» Für jede Wette, die er bei seinem «Totenstatistik»-Spiel verlor, brachte Arthur uns ein Twix. Der Schrank quoll inzwischen über. Gewann er, was seltener war als eine Siegerchance für Westmeath beim Sam Maguire Cup, waren wir dran. Statt Twix zu kaufen, nahmen wir sie einfach von dem Haufen, zu dem seine Verluste angewachsen waren. In Wirklichkeit war Arthur der Einzige, der das Zeug aß.
«Ich will hier sein, wenn Tiny stirbt. Ich will wissen, wo er sein Gold vergraben hat.»
Arthur war überzeugt, dass Tiny, Timothy Lennon, sechzig Zentimeter bei seiner Geburt und eins fünfundneunzig mit zweiundachtzig Jahren, eigentlich Millionär war, obwohl er in einem winzigen Cottage am Stadtrand wohnte.
«Und, wen kriegt ihr heute rein? Ich hab gesehen, dass der Wagen weg ist.»
«Bernadette O’Keefe. Dad und Niall sind los, um sie aus dem Kühlraum im Krankenhaus zu holen.»
«Mist! Sie war letztes Wochenende auf meiner Liste. Meinst du, sie gibt endlich zu, mit wem sie diese Affäre hatte?» Seine Augen waren in schelmischem Erschrecken aufgerissen.
«Du hast keine Ahnung, von wem ich rede», lachte ich.
Er schnaubte in gespielter Entrüstung. «Wieso, wer ist sie denn?»
«’ne Bäuerin aus der Gegend von Rathdrum. Hat an einem Schaf gezerrt, das sich im Zaun eingeklemmt hatte. Herzinfarkt.»
«Ach, diese O’Keefes. Die ist doch garantiert erst Mitte sechzig. Man weiß es einfach nie vorher, oder?»
«Nein. In diesem Geschäft nicht.»
«Werdet ihr mich brauchen?» Arthur half uns an den Abenden und Wochenenden aus, wenn wir ausgelastet waren.
«Ich weiß noch nicht, ich sage Dad, er soll dir Bescheid sagen.»
«In Ordnung.»
Ich drehte mich um und nickte in Richtung der beiden Tassen. «Der Tee wird kalt.»
Er nahm die Tassen, kam die paar Schritte zu mir herüber und stellte sie wieder ab.
«Du wirst das schon schaffen. Ich bin ja auch noch da, wenn der alte Mann schließlich seine Angeln zusammenpackt. Ich meine, ich weiß, da gibt’s auch noch Niall und Harry, aber wir wissen ja alle, ich bin das Hirn der ganzen Organisation.» Er lachte leise und dreckig, und wie immer musste ich lächeln und klopfte ihm dankbar gegen die Brust.
«Wo ist denn dein Glücksstift?», fragte ich, irritiert angesichts der leeren Stelle, wo er eigentlich hätte stecken sollen. Solange ich denken konnte, hatte Arthur immer den silbernen Füller in seiner Brusttasche stecken gehabt, egal, was für ein Jackett oder Hemd er gerade trug, das wässrige Grün der Post oder das klinische Weiß von Masterson. Immer derselbe, ihm testamentarisch von seinem Vater vermacht, obwohl er ursprünglich seiner Mutter gehört hatte, und ungefähr einmal im Monat nachgefüllt mit Tinte, die er im O’Dwyer’s Pen and Fishing Tackle Shop in der Water Lane kaufte.
«Ich hab ihn verloren.» Auf einen Schlag erlosch Arthurs fröhlicher Gesichtsausdruck. Er hob die Hand und rieb sich die Nasenspitze.
«Was? Aber du hast doch wie ein Luchs auf ihn aufgepasst.»
«Das kannst du laut sagen. Ich habe deinen Vater gebeten, alles auf den Kopf zu stellen, aber der Füller ist weg.»
«Oh.» Ich legte ihm die Hand auf den Arm. «Der taucht wieder auf. Das ist immer so.»
«Sicher. Mach dir keine Sorgen deswegen, du hast genug, um das du dich kümmern musst.»
«Morgen zusammen.» Harry kam durch die Küchentür – eine Erscheinung an diesem milden Frühjahrsmorgen: Sie trug ihre Sonnenbrille, Schal und Lederhandschuhe, ganz die Arktisforscherin, obwohl sie bloß nebenan wohnte, in dem Apartment über dem Friseurladen meiner Mutter. Sie nahm die Sonnenbrille ab und enthüllte ihr ovales weiches Gesicht, ihre tintenblauen Masterson-Augen mit den schwarzen Wimpern.
Arthur hatte auf der Stelle seine Fröhlichkeit wiedererlangt.
«Harry, Licht meines Lebens. Die Frau, die ich heiraten möchte. Wie geht es dir, meine Schöne?»
«Ich denke, da hätte Teresa auch ein Wörtchen mitzureden, Art, meinst du nicht?» Sie küsste ihn auf die Wange, und er nahm sie in die Arme und tanzte mit ihr durch die Küche. Harry summte dazu, sie drehten sich und lachten, die Köpfe stolz erhoben, entzückt von ihrem Schwung. Als sie fertig waren, stieß Harry einen prächtigen Seufzer aus, kam zu mir und umarmte mich, immer noch atemlos.
«Mein Bruder hat dir endlich gesagt, dass er sich vom Acker macht, hab ich gehört.»
«Dann wissen es wirklich alle schon. Wann haben sie es dir erzählt?»
«Oh, Jeanie, du kennst deinen Dad und mich doch. Es gibt nicht viel, was der eine denkt und der andere nicht längst mitgekriegt hat.» Sie musterte mich. «Kommst du mit alldem klar?»
«Das werde ich schon, sicher.» Ich lächelte sie kurz an und hoffte, sie damit zu überzeugen, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte.
«Das ist mein Mädchen. Ihr werdet es gut haben, Niall und du. Es gibt kein besseres Paar.»
Dann gingen sie – Arthur, um Mikey den Tee zu bringen, wobei zwei Twix aus seiner Gesäßtasche ragten, und Harry, die ihn den Flur entlang begleitete und über irgendetwas lachte, das er gesagt hatte.
Eine Stunde später lag Bernadette O’Keefe auf dem Vorbereitungstisch.
«Ich hab dir doch gesagt, Jeanie, ich mach das heute alles.» Niall stand über sie gebeugt. «Deshalb habe ich Harry dazu geholt. Und dein Vater bleibt auch hier, dann sind wir schon zu dritt, mehr als genug für eine Leiche.»
«Na ja, jetzt, wo ich hier bin, kann ich das auch machen.»
Er sah mich an, und ich konnte sehen, dass er drauf und dran war, mich zurechtzuweisen, dass es niemandem weiterhalf, wenn ich einen auf Märtyrerin machte, ganz sicher nicht mir selbst und ihm auch nicht. Aber er trat zurück, ahnte wohl, dass die Schlacht längst verloren war.
Also stand ich daneben, sah Harry und Niall bei ihrer perfekt abgestimmten und geschmeidigen Arbeit an Bernadettes Leiche zu und wartete. Das war das Ding, wenn man mit den Toten redete. Man hatte nur eine gewisse Zeitspanne, einen Tag oder so, manchmal zwei oder drei; vier war schon fast zu viel verlangt. Bei denen, die erst eine gewisse Strecke zu bewältigen hatten, bis sie bei uns eintrafen, reichte es manchmal nicht mehr. Deshalb war es das Beste, sich von Anfang an bereitzuhalten, da zu sein, sobald sie ins Haus gebracht wurden. Manchmal beschlossen sie zu reden, während die Balsamiermaschine auf vollen Touren lief, was nie besonders ideal war, aber die meisten warteten, bis sie einbalsamiert und eingekleidet waren und in ihren Särgen lagen, bevor sie begannen. Ihre Münder öffneten sich allerdings nicht oder so etwas. Harrys und Nialls Werk sorgte dafür, dass Augen, Münder und alle andere Öffnungen verschlossen waren, um sich nie wieder aufzutun.
«Ich habe Helen, Bernadettes Nichte, gesagt, sie soll nicht vor ungefähr zwei vorbeikommen», sagte Niall, als sie sie zu waschen begannen. «Sie wäre mit uns in den Wagen gestiegen, wenn wir sie gelassen hätten. Arme Frau, sie ist völlig aufgelöst, hatte schon die ganze Zeit kettenrauchend vor der Leichenhalle mit den Kleidern für Bernadette auf uns gewartet. Ich sagte ihr, sie hätte sie einfach hier abgeben können, aber ich glaube, die hat mich nicht mal gehört. Sie bittet darum, dass du erst mit ihr redest, wenn sie hier ist.»
«Ich kann Bernadette nicht daran hindern zu reden, wenn sie das will. Die haben keinen Zeitplan.»
Harry blickte bei der leichten Gereiztheit in meiner Stimme zu mir auf.
«Ich weiß, Jeanie. Das hab ich ihr auch gesagt. Ich gebe nur weiter, was Helen gesagt hat.»
Ich nickte und versuchte angestrengt, mich zu entspannen.
«Bist du sicher, dass ich nicht deinen Vater holen soll, damit er das hier übernimmt?», fragte Niall.
«Nein, das habe ich doch schon gesagt», fuhr ich ihn an und bedauerte auf der Stelle meinen Ton. «Entschuldige, kümmere dich nicht um mich. Ich komme zurecht mit Bernadette. Alles wird gut. So wie immer.»
Niall sah mich an, als glaube er mir kein Wort, aber er sagte nichts.
Als wir klein waren und bevor Hochzeit auch nur ein Wort war, das uns etwas sagte, spielten Niall und ich miteinander im Park. Dabei kannten sich unsere Familien nicht besonders gut oder so. Wir wohnten an den entgegengesetzten Enden der Stadt und lernten uns nur kennen, weil wir zufällig an den meisten Tagen der Woche gleichzeitig im Park waren. Meine Mutter arbeitete natürlich, und so war es nicht immer sie, die mit mir hinging. Aber ob nun mit meinem Vater, Harry und Mum oder irgendeiner ihrer Auszubildenden, die an dem entsprechenden Tag gerade arbeitete – ich war immer dort, neben Niall und seiner Mutter Annie. Gleich am ersten Tag, an dem sich unsere Wege kreuzten, starrten wir uns kurz an und tapsten brabbelnd aufeinander zu.
Ich kann mich an nichts davon erinnern, aber Niall sagt, er schon. Er erzählt, dass wir Fangen gespielt haben, einander eine Pusteblume, einen Stein oder einen interessanten Stock zeigten oder, was wahrscheinlicher ist, einen nicht mal so interessanten Stock, den wir aber schlicht magisch fanden. Unsere Mütter gingen hinter uns her, begutachteten unsere Fortschritte, diskutierten, wie Mütter das eben machen, ob sie sich nun kennen oder nicht, die Entwicklung ihrer Kleinkinder, tauschten sich über unsere Verdauung, Schlafgewohnheiten und dergleichen aus, als kennten sie sich schon ihr ganzes Leben. Sie waren zwei, drei Sekunden hinter uns, als Niall stolperte und auf der Brücke über den Teich hinfiel. Er brüllte angesichts des roten Blutes, das auf seinem Knie und seiner rechten Hand auftauchte. Ich sah eine Sekunde lang zu, wie er auf seinem Windelpo dasaß, bevor ich meinen Kopf senkte und ihm erst die Hand und dann das Knie küsste und sagte: «Is’ bald besser.» Als seine Mutter ihn erreichte, hatte Niall schon aufgehört zu brüllen und sah mich staunend an. So hat er es mir erzählt. Meine Mutter kann sich auch nicht mehr daran erinnern. Aber an dem Tag, an dem ich mit dreiundzwanzig als seine Freundin ihr Haus betrat, wandte sich seine Mutter an ihren Mann und sagte: «Hab ich dir nicht gesagt, das war Vorsehung, Simon? Von dem Moment an, als er damals hingefallen ist und sie sich zu ihm runtergebeugt hat, wusste ich, das zwischen den beiden ist Schicksal.»
Weil die Schule uns voneinander trennte, sahen wir uns im Laufe der nächsten Jahre nicht so oft. Aber wenn wir uns ab und zu mal begegneten, winkten sich unsere Mütter zu und plauderten, während ich ihn wieder kurz anstarrte, Mum meine Hand entzog und zur Wiese rannte, zu meinem Lieblingsbaum, wohin er mir folgte. Da saßen wir dann, zupften an den Gänseblümchen und flüsterten miteinander, um die Vögel nicht zu erschrecken, die auf den Zweigen landeten und wieder davonflogen. Ich sagte ihm, mein Lieblingsvogel sei der mit dem blauen Kopf. Eine Blaumeise. Ich frage mich, ob wir, hätte uns jemand in unsere unschuldigen Ohren geflüstert, dass jeweils neben uns die Person saß, die wir heiraten würden, gekichert und die Augen aufgerissen hätten angesichts dessen, dass wir beide für alle Zeit durch die Liebe verbunden sein sollten.
Niall erinnert sich, dass er immer etwas mutiger sein wollte, wenn wir uns begegneten. Er wollte mehr reden, seiner Schüchternheit ein paar schöne Sätze für mich abringen. Wenn er wusste, dass sie vorhatten, einen Abstecher in den Park zu machen, überlegte er oft, was er sagen könnte, zum Beispiel: «Heute ist es aber sehr windig» oder «Mein Bruder hat sich das Bein gebrochen». Wobei sich Gareth nie das Bein gebrochen hat, aber Niall dachte, das wäre ein interessanter Auftakt für ein Gespräch. Doch er konnte nie den Mut dazu aufbringen. Einmal, sagt er, bot er mir ein Bonbon aus einer Tüte an, die seine Mutter eigentlich für ihn und seinen Bruder gekauft hatte. Während die beiden Frauen in ihr Gespräch vertieft waren, klaute er die Tüte aus ihrer Tasche, riss sie vorsichtig auf und hielt sie mir hin. Ich war begeistert, dass das erste Bonbon gleich ein orangefarbenes war. Ich kaute oder lutschte meine Beute, und wir lächelten über unseren gemeinsamen Coup.
Er wusste, was meine Familie tat. Hatte es immer schon gewusst, wie er mir Jahre später erzählte. Er wusste allerdings nicht mehr, wann seine Mutter tatsächlich das Wort «Bestatter» zum ersten Mal in den Mund genommen hatte. Er weiß auch nicht mehr, wie sie es ihm erklärt haben könnte. Aber er sagt, es war immer da, wenn wir uns trafen, sein völliges Staunen darüber, dass ich mit Toten lebte. Er dachte, das bedeute, dass ich wirklich etwas Besonderes sein müsse, weil es etwas Besonderes war, tot zu sein. Es bedeutete, dass man mit Gott zu tun hatte. Und Gott war das Kostbarste in der Welt. Er wollte mich fragen, wie es war, für Menschen zu sorgen, die alle liebten. Seine einzige Erfahrung mit dem Tod war, als sein «Noßvater» Bert gestorben war. (Niall hatte, als er sprechen lernte, das «G» in Großvater nicht aussprechen können, und so war es bei «Noßvater» geblieben.) Er erinnerte sich an unser Bestattungsinstitut mit seinem dunklen Flur, an die Bank an der linken Wand, die Tür, die auf der Rechten zum Ausstellungsraum mit den Särgen führte, und an das Empfangszimmer daneben und das schöne Sonnenlicht, das auf Bert fiel, als er in seinem Sarg lag und sie ihm in dem Verabschiedungsraum ihren letzten Gruß entboten. Und daran, wie seine Mutter Dads Hand geschüttelt und ihm gesagt hatte, er sei wahrhaft ein Meister, so wie er dafür gesorgt hatte, dass ihr Vater an seinem letzten Tag wie ein König aussah. Sie lächelte unter Tränen und hob Niall hoch, sodass er die Hände seines Großvaters und die Seide des Innenfutters im Sarg berühren konnte, und er sagte: «Auf Wiedersehen, Noßvater. Hab dich lieb.»
Niall erzählte, seine Mutter hätte ihren Vater über alles geliebt und, solange er lebte, so viel Zeit wie möglich mit ihm verbracht und wäre dann, nachdem er gestorben war, wochenlang beinahe jeden Tag zu seinem Grab gegangen, hätte Niall mitgenommen und ihm immer wieder erzählt, wie viel Glück Noßvater gehabt hätte, dass er im Schlaf gestorben und jetzt beim lieben Gott war. «Die Toten sind etwas ganz Besonderes. Sie bekommen unsere Liebe und unsere Blumen und unsere Gebete, und man darf sie nie vergessen», hatte sie gesagt, ihn auf die Stirn geküsst und ihn fest an sich gedrückt, wie sie da vorm Grabstein ihres Vaters im trockenen Sommergras saßen.