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Eine schmerzhaft-schöne Geschichte über Liebe, Verlust, Hoffung – und über eine Frau, die zurück ins Leben findet. Nach einem Schicksalsschlag sucht Rosie Zuflucht auf ihrer Heimatinsel vor der Küste Irlands: auf Roaring Bay mit seinen zwei Stränden und anderthalb Bars, den Klippen, Schafen und Vögeln. Jahrelang hat die Suche nach ihrer verschwundenen Tochter ihr Leben bestimmt und ihre Ehe in eine tiefe Krise gestürzt. Nun erlebt Rosie endlich wieder Momente des Glücks. Den Sommer über springt sie als Kapitänin ein und steuert die Fähre ihres gesundheitlich angeschlagenen Vaters übers Meer. Nirgendwo sonst fühlt sie so viel Hoffnung wie auf der «Aoibhnea», die durch die Fluten gleitet. Doch nach und nach brechen auf der Insel alte Rivalitäten wieder auf. Als Rosie erfährt, dass ihr Vater bankrott ist und die Fähre nicht mehr halten kann, muss sie sich entscheiden: Wird sie abreisen und in ihr altes Leben zurückkehren oder bleiben und kämpfen? «Ein außergewöhnliches Lektüreerlebnis.» Sunday Express
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Seitenzahl: 417
Anne Griffin
Roman
DER BESTSELLER WELLENGANG AUS IRLAND
Nach einem Schicksalsschlag sucht Rosie Driscoll Zuflucht auf ihrer Heimatinsel vor der Küste Irlands: auf Roaring Bay mit seinen zwei Stränden und anderthalb Bars, den Klippen, Schafen und Vögeln. Jahrelang hat die Suche nach ihrer verschwundenen Tochter ihr Leben bestimmt und ihre Ehe in eine tiefe Krise gestürzt. Nun springt sie den Sommer über für ihren Vater als Kapitänin ein und steuert die kleine Inselfähre übers Meer – und erlebt endlich wieder Momente des Glücks. Doch dann brechen auf der Insel alte Rivalitäten wieder auf. Als Rosie erfährt, dass ihr Vater bankrott ist und die Fähre nicht mehr halten kann, muss sie sich entscheiden: Wird sie abreisen und in ihr altes Leben zurückkehren? Oder wird sie bleiben und kämpfen?
Eine schmerzhaft schöne Geschichte über eine Frau, die zurück ins Leben findet
Anne Griffin ist eine irische Schriftstellerin. Sie erhielt für ihre Kurzgeschichten den John McGahern Award for Literature, außerdem stand sie u.a. auf der Shortlist für den Hennessy New Irish Writing Award und den Sunday Business Post Short Story Award.
Ihr Romandebüt, «Ein Leben und eine Nacht», wurde in zahlreiche Länder verkauft, u.a. in die USA, nach Kanada, Frankreich und Holland, und stand auf Platz 1 der irischen Bestsellerliste. Anne Griffin lebt in Irland.
Martin Ruben Becker lebt als Übersetzer in München und hat u.a. Bücher von Joseph Luzzi, Robert Goolrick, Favell Lee Mortimer und David Bergen übersetzt.
Die englische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel «The Island of Longing» bei Sceptre, UK.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2024
Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«The Island of Longing» Copyright © 2023 by Anne Griffin
Redaktion Susann Rehlein
Covergestaltung Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Coverabbildung Gisela Goppel / 2Agenten.com
ISBN 978-3-644-01906-5
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für Adam: Mögest du mir nie verloren gehen
Sie erkannte das Mädchen wieder.
Sie erkannte das Mädchen ohne jeden Zweifel wieder.
Die Gesäßtasche meines Vaters ist immer ausgebeult wegen der ganzen Gummibänder und Sicherheitsnadeln darin. Man kann nie wissen, wann man so was mal gebrauchen kann, sagt er gern und übersieht großzügig, dass ich mich darüber lustig mache, schaut zum Sims des Küchenfensters hinüber, wo der Teekessel steht, der gerade nicht benutzt wird. Oder wenn wir auf der Fähre sind, schaut er hinüber zu Cairn Rock, den er schon tausendmal beim Passieren des nördlichen Endes der Insel gesehen hat. In seinem Blick liegt all die Weisheit, die ihm ganz unbestreitbar eigen ist. Ihm, Danny Driscoll, siebenundsiebzig, Fährmann, Vater, Großvater, krummbeinig und kreuzlahm.
Mein Vater hat anderen ihre Unverfrorenheiten immer verziehen. Er hat Verständnis dafür, dass man in dieser Welt nur durchkommt, indem man mal die eine oder andere Grenze überschreitet. Na und, was macht das schon, sagt er dann. Haben wir uns nicht alle der Überheblichkeit schuldig gemacht? Solange dabei niemand bestohlen, getötet oder gequält wird, ist doch alles gut.
Aber dieses letzte Jahr hat ihn samt seiner beneidenswerten Einstellung verändert, wie es auch mich verändert hat.
Ich habe meinen Vater und seinen Glauben an sich und seine fehlerbehaftete Existenz vom ersten Augenblick an geliebt – damals vor neunundvierzig Jahren. Nicht dass ich mich an meine Geburt erinnern könnte oder an das erste Mal, als ich ihn sah. Aber es kommt mir so vor, als könnte ich genau das. Genauso wie daran, dass ich in unserem kleinen Häuschen auf der Insel in West Cork geboren wurde und Patsy Regan an der Seite meiner Mutter war und ihr sagte, dass sie eine Tochter zur Welt gebracht hat, genau wie sie’s vorhergesagt hatte, mit allen zehn wundervollen Fingerchen und winzigen Zehen und einem Wuschelkopf voller schwarzer Haare, die sich nicht bändigen ließen, ganz gleich, wie entschlossen meine Mutter und meine beiden neugierigen Brüder es in den folgenden Tagen auch versuchten.
Sie tauften mich auf den Namen Rosie Driscoll. Zwanzig Jahre später wurde ich Fährkapitänin, so wie mein Vater Kapitän war. Und noch einmal neunundzwanzig Jahre danach kehrte ich gebrochen, aber willens, wieder das Ruder zu übernehmen, aus Dublin auf die Insel zurück. Noch immer Ehefrau – auch wenn mein Mann zu Hause in der Stadt wohl seine eigene Meinung dazu hatte – und Mutter.
Mutter.
Der Wohlklang dieses Wortes ließ mich anlässlich meiner Rückkehr an diesen Ort frösteln, da ich gar nicht mehr überzeugt war, diese Bezeichnung noch zu verdienen. Ich habe zwei Kinder: Colmán, Cullie genannt, dreiundzwanzig, immer noch in Dublin, und Saoirse, zwei Jahre älter. Saoirse pflegte als kleines Mädchen ihrem Großvater auf Schritt und Tritt zu folgen, als wäre sie an ihm festgebunden. Wenn wir im Urlaub hier waren, stolperte sie in ihren Gummistiefeln hinter ihm her, versuchte, die Stufen zum Steuerhaus zu erklimmen, und lachte vergnügt, wenn er das Signal zum Ablegen gab.
Beide sind meine Kinder, und beide müssen schon lange ohne mich auskommen.
Vor acht Monaten nahm ich Zuflucht auf diesem zwei Meilen langen und eine Meile breiten Landstrich, an der Seite all der anderen verlorenen Seelen, die er in die Arme geschlossen hat. Ich nehme an, dass die Insel schon immer Zufluchtsort für jene gewesen ist, die es aus der Bahn geworfen hat – so wie die sibirischen und amerikanischen Vögel, die auf unseren Klippen und in unserem Buschwerk Schutz suchen vor den Verheerungen des Atlantiks und sich für eine Weile zurückziehen müssen, um Wunden zu heilen oder zumindest zu lindern. Auch wenn ich diese Insel schon mein ganzes Leben liebe, hatte ich nie zuvor das Gefühl gehabt, dass ich mich schlicht auflösen würde, wenn ich ihre reine Luft nicht atmen dürfte, nicht dem Wasser lauschen, das ihre Küsten umspült, aber so ist es jetzt gekommen.
Hier hat sich sehr wenig verändert, seit ich mit zweiundzwanzig Jahren fortgegangen bin. Die Sprache unserer Gemeinschaft aus gebürtigen Insulanern und Zugezogenen ist immer noch geprägt von den gälischen Rachenlauten, sodass sich die Gäste manchmal fragen, ob das, was wir sprechen, überhaupt Englisch ist. Es gibt bei uns eine Grundschule, ältere Schüler müssen aufs Festland. Wir haben eine Kirche und eineinhalb Pubs – der eine ist Páidíns im Hafen, und der halbe ist der Wagtail, der theoretisch von Ende Frühjahr bis Herbstanfang aufhat, was allerdings davon abhängt, ob der Besitzer, mein Onkel Michael-Fran, in der passenden Stimmung ist und nicht zu sehr abgelenkt durch seine Tiere. Wir haben zwei Hauptstrände, einen am Hafen, der den einfallsreichen Namen An Trá trägt – Gälisch für Strand – und einen im Südosten, den Carhoona Beag. Auch an anderen Stellen der Küste finden sich schmale Sandstreifen, aber von denen ist keiner groß genug, dass man sich hinlegen oder auch nur eine Sandburg bauen könnte. Es gibt Klippen und Seevögel, zudem Kühe, Schafe, Pferde und einen Esel. Außerdem haben wir Traktoren und Aufsitzmäher. Drohnen wurden umgehend verboten – denn keiner fand es angebracht, dass irgendjemand anders als er selbst oder sein Viehzeug die Wäsche auf seiner Leine begutachtete. Wir sind eine Insel der Fischer und Schriftsteller, Bauern und Töpfer, Fährleute und Imker. Es gibt uns in allen Schattierungen und Größen. Wir sind so mürrisch, wie es nur geht, und so milde und sehnsuchtsvoll wie die sanfte Brise, die im Juni über das Land weht und uns daran erinnert, dass wir die glücklichsten Menschen Irlands sind.
Die Insel ist voller Geräusche. Angenehme Laute unterbrechen die verlässliche Stille: das Meckern einer von Críostóirs Ziegen, der liebliche Gesang der Lerche oder das Plaudern der Spaziergänger, die den Hare Hill hochmarschieren und die man so deutlich versteht, als stünden sie neben einem, wobei sich die Stimme jedes einzelnen vom anhaltenden Rauschen des Meeres abhebt. Einem Rauschen, das jeden aus dem Wasser ragenden Felsen und jede Bohle der Hafenmauer umspült und uns mit Sand und Kieseln beschenkt, über die wir laufen, um auf die Pracht des Ozeans zu schauen. Und dann hört man auch das Brummen eines Automotors in einer Meile Entfernung, eine einzigartige Kakofonie, die sich da Laut verschafft, sodass wir schon wissen, wer da kommt, bevor er knatternd um die Kurve biegt. Wir stehen nicht auf teure Autos. Unsere Straßen sind nicht breiter als anderswo Wege – und außerdem gewunden und voller Schlaglöcher und Schotter. Man wäre blöd, hier mit einem brandneuen Audi herumzukurven. Wir fahren Autos, deren Inneres schon lange keinen Staubsauger mehr gesehen hat, die Blinker funktionieren nach Lust und Laune, und der Kofferraum lässt sich nur noch mit einem Stück Strick schließen, der Motor braucht eigentlich dringend Hilfe und heult seine Not heraus, die wir ignorieren, bis er mitten auf der Straße bockt und sich weigert, noch einmal anzuspringen, ganz gleich, wie sehr wir auch betteln und flehen mögen. Aber da hat der Wagen dann auch wirklich seine Pflicht erfüllt und uns weit häufiger vonA nach B gebracht, als jeder Automechaniker auf dem Festland es je für möglich gehalten hätte.
All diese Geräusche sind mir jetzt vertraut, trösten mich, geben mir Sicherheit.
Die Personenfähre ist unsere Lebensader, denn sie bringt uns die Lebensmittel und Einkäufe vom Festland. Sie bringt die Kinder freitagabends von der weiterführenden Schule zurück und jeden Sommer Feriengäste mit Taschen voller Geld, das sie mit beiden Händen bei uns ausgeben werden. Wenn sie wieder abreisen müssen, verlassen sie uns nur widerstrebend und mit dem sehnlichen Wunsch, bald zurückzukehren. Nun haben sie die Taschen voller Honig und Töpferwaren von der Insel, Souvenirs für Verwandte und Freunde, denen sie damit auf den Geist gehen werden, dass sie auf Roaring Bay völlig vergessen hatten, welcher Wochentag war und welche Katastrophe die Welt gerade heimsuchte. Und dass sie ihre Handys in ihrem Airbnb liegen gelassen hatten und zum Hafen hinuntergeschlendert waren, um stundenlang auf der niedrigen Mauer zu sitzen, die sich in einem weiten Bogen von Diarmuids Laden-Restaurant bis zum Ende des Kais erstreckt, und ihren Kindern beim Spielen im Wasser zuzuschauen, um dann vielleicht einen zweiten Kaffee zu trinken oder im Páidíns einzukehren für einen ersten Cider, wenn die Tageszeit das denn gestattete.
Roaring Bay liegt acht Meilen vom Festland entfernt. Mit der Fähre sind es fünfundvierzig Minuten bis West Cork. In den letzten Jahren musste die Fähre – inzwischen ist es die Aoibhneas II, die Aoibhneas I gab 1985 den Geist auf – mehr Stürmen standhalten als je zuvor, muss Überfahrten bewältigen, bei denen kein Passagier draußen auf Deck stehen darf, um aufs Meer hinauszuschauen und zuzusehen, wie die Insel immer näher kommt. Wenn die Stürme richtig heftig toben, wird bei der Überfahrt wenig oder gar nicht gesprochen, und die Inselbewohner beschließen, sich auf die Bänke zu legen und sich eine Mütze Schlaf zu gönnen, während Touristen ein tapferes Lächeln aufsetzen oder sich an die Sitze krallen und aushalten, dass sich ihnen vom Heben und Senken des Schiffes der Magen umdreht. Und dann gibt es Zeiten, in denen es so gefährlich wird, dass die Fähre gar nicht mehr ablegen kann. In den letzten paar Jahren hat es mehr solcher Tage am Stück gegeben als in der ganzen Zeit zuvor, sagt er. Das Klima hat sich verändert. Deshalb sind die Schränke und Gefriertruhen der Insulaner voller Trockenfutter und Dörrfleisch, und in jedem zweiten Garten steht ein Generator für den Fall, dass der Strom ausfallen sollte.
Mehr als alles andere liebe ich es, im Steuerhaus der Fähre zu stehen und auf das weite Meer hinauszuschauen, während ich die Wellen durchpflüge. Ich gehöre genau dorthin, auf dieses Schiff, es ist mir wie auf den Leib geschneidert. Die Fähre und die Insel sind mir so zur Notwendigkeit geworden, dass ich gar nicht mehr glauben kann, dass ich sie einst verlassen habe. Natürlich war das damals die richtige Entscheidung, gar keine Frage. Für das größte Geschenk, das mir je zuteilgeworden ist, habe ich diese Inselufer verlassen, für die Liebe. Und ich habe nicht zurückgeblickt, bis die Verheerungen des Schicksals mich wieder zur Insel und der Fähre zurückgebracht haben.
Als ich im letzten Mai zurückkehrte, ging es mir, wenn ich nicht gerade am Steuer der Aoibhneas stand, schlecht. Ich war eine Mutter, der man ihr Liebstes geraubt hatte, Saoirse, meine Älteste, die vor acht Jahren in Dublin direkt vor unserer Haustür verschwunden war, als hätte es das Schicksal so für sie vorgesehen.
Auf dem Meer aber spürte ich ihren Verlust nicht auf eine derart niederschmetternde Weise wie daheim in Dublin. Stattdessen hatte ich das Gefühl, sie wäre ganz nah, wir wären beisammen. Am Steuerruder stehend, konnte ich sie buchstäblich neben mir spüren. Manchmal war sie immer noch siebzehn, manchmal jünger, aber immer voller Selbstvertrauen mit ihrem schwarzen Haar und ihrer blassen Haut. Lächelnd erzählte sie mir, dass, sobald sie ihren Abschluss an der Filmhochschule in der Tasche hätte, jeder ihrer zukünftigen Filme vom Meer handeln würde.
Ich hatte nicht damit gerechnet, sie da draußen auf dem Wasser so intensiv zu spüren. Außerdem dachte ich plötzlich, dass ich sterben müsste, wenn ich nicht das Schiff steuern dürfte. Niemand hatte mit so etwas gerechnet, weder mein Vater, der mich gebeten hatte, nach Roaring Bay zurückzukehren, noch mein Sohn, der mich ermutigt hatte, noch der Mann, mit dem ich seit sechsundzwanzig Jahren verheiratet war und der geradezu darauf bestanden hatte.
Niemand.
Sie war beinahe mit dem Fahrrad gestürzt, als der Wagen vor ihrem Haus gehalten hatte. Sie musste auf den Bürgersteig ausweichen.
Ich hatte überhaupt nicht vorgehabt, nach Roaring Bay zurückzukehren. Nichts hatte mir an jenem Morgen im letzten April zu Hause in Dublin ferner gelegen, als das Telefon klingelte und ich auf dem Display Dads Nummer erkannte. Kaum hatte ich Hallo gesagt, legte er auch schon los, in einem einzigen, langen, panischen Redeschwall erzählte er mir, dass er es immer schwieriger und schwieriger finde, nach Mammys Tod im vorigen Oktober alleine zurechtzukommen, und dass er sich jetzt, da seine Rückenschmerzen schlimmer würden, auch nicht mehr sicher sei, ob er noch lange die Fähre steuern könne. Sollte er sie also seinem Bruder Michael-Fran überlassen, der sie ganz sicher steuern würde, wenn ihm gerade danach war, und ansonsten lieber mit seinen Kühen unten auf den Feldern zusammenhockte – was würde dann aus all dem gefrorenen Fisch werden, der auf dem Festland wartete und den ganzen Rossban-Kai volltropfte? Nein, nein, vielleicht war es Zeit, die Fähre zu verkaufen. Oben auf White Island gab es einen Mann, der schon seit Jahren interessiert war. Klar, er könnte sie ihm auch leasen, wenn es keine andere Möglichkeit gab. Denn es gab keine andere Möglichkeit, oder? Er hielt inne, um die Bedeutung dieser Frage auf mich wirken zu lassen, wartete auf meine Reaktion.
Trotz meiner düsteren Stimmung hatte ich mich gezwungen, den Anruf anzunehmen, war hinausgetreten und hatte versucht, das Chaos in unserem zugewucherten Garten zu übersehen, indem ich mich auf die Seemöwen konzentrierte, die auf den Dächern der Nachbarhäuser hockten und ihr typisches Krächzen hören ließen, das wie quietschende Gartentore klang. So machte ich es immer, wenn es draußen trocken war, ich ging mit dem Telefon raus, wenn mein Vater anrief, damit ich die Kreaturen der Irish Sea hören konnte, die nicht einmal eine halbe Meile von meiner Haustür entfernt die Küste des Dorfes Blackrock säumte. Irgendwie fühlte ich mich ihm dann näher.
«Du meinst Coady Maguire, Dad? Ich dachte, du hältst ihn für einen Gauner, der bloß an seinem Profit interessiert ist und sich nicht darum schert, für einen sicheren und zuverlässigen Betrieb zu sorgen.»
«Tja, aber wer soll es denn sonst machen? Glaubst du, ich kann deine Brüder in den Staaten anrufen und sie bitten, die Fähre zu übernehmen? Die interessieren sich so wenig für das Schiff wie ich für die Wolkenkratzer, die sie bauen.» Sobald meine Brüder alt genug gewesen waren, hatten sie einer nach dem anderen meiner Mutter das Herz gebrochen, indem sie den Flieger nach L.A. genommen hatten, um dort in der Baubranche zu arbeiten. Zu Mammys Begräbnis waren sie natürlich nach Hause gekommen. Leider viel zu spät, wie sie gesagt hätte, wenn sie da noch am Leben gewesen wäre. «Und hier bei uns hat keiner eine Ahnung, wie man so eine Fähre steuert. Die vermurksen das total, das weißt du doch.»
Das war überhaupt nicht typisch für Dad, so über andere Menschen zu sprechen, dachte ich, während ich in die Bläue dieses klaren Apriltages blickte. Normalerweise behandelte er sie weitaus großzügiger, als sie es verdient hatten.
«Was ist denn mit Liam? Oder hast du ganz vergessen, dass er die Fähre will?» Liam Ó’Kiersey, mein Erzfeind, war ebenfalls Kapitän und bediente die Fähre schon seit Langem im wöchentlichen Wechsel mit Dad.
«Dann müsste ich auswandern», sagte Dad, «ich könnte es nicht ertragen, ihm dauernd dabei zuzusehen, wie er ohne Rücksicht auf Verluste mit der Aoibhneas gegen die Hafenmauer kracht. Wir zwei wissen doch, dass es außer mir nur noch einen Menschen auf der Welt gibt, der das alte Mädchen mit gebührendem Respekt behandelt. Du steuerst sie so sanft, bei dir würde nicht mal ein Ei zerdeppern, wenn du am Kai anlegst.»
Während ich wegen des Kompliments noch lächeln musste, dachte ich schon darüber nach, wie sehr meinen Vater seine Einsamkeit und seine Rückenschmerzen von der wohlwollenden Güte abgebracht hatten, mit der er normalerweise Liams Fähigkeiten als Fährkapitän beurteilte. Die Grausamkeiten des Lebens strapazierten uns beide, wie es schien, machten uns reizbar, vielleicht sogar ungnädig. Oder brachten sie uns vielmehr dazu auszusprechen, was Sache war?
«Ich glaube nicht, dass Liam dir da zustimmen würde, Dad. Wie auch immer, ich habe jetzt nicht die Zeit, hier alles stehen und liegen zu lassen, um nach Roaring Bay zu kommen, falls du darauf hinauswolltest. Es gibt nämlich … Also hier ist eine Menge los.»
Aber in Wahrheit hätte ich nicht eine einzige Sache nennen können, die so furchtbar dringend war. Ich musste einfach bloß den Redefluss meines Vaters stoppen.
«Also, daran hatte ich überhaupt noch gar nicht gedacht», sagte er, als könnte er kein Wässerchen trüben, «aber jetzt, wo du es sagst: Das ist gar keine schlechte Idee. Ich meine, du hast alle notwendigen Kurse gemacht, und dein Ticket ist noch zwei Jahre gültig.» Ticket ist der Fachjargon für ein Kapitänspatent. Er hatte recht. Ich hatte mich auf dem Laufenden gehalten, hatte die Kurse gemacht – unter anderem Überlebenstraining auf See und Erste Hilfe – weil er mich immer ermuntert hatte. Eines Tages wirst du vielleicht froh sein, hatte er gesagt, als wäre er ein Seher oder so was.
«Wie sieht es denn mit dem Sommer aus?», fuhr er fort. «Du könntest erst mal nur für ein paar Wochen kommen. Mein oller Rücken erholt sich bestimmt, wenn ich mal Pause machen kann. Und vielleicht tut es dir ja auch gut. Vielleicht ist das hier genau das, was du brauchst – mal eine Ablenkung.»
«Eine Ablenkung?»
«Also, Liebes, ich will dich wirklich nicht verärgern. Es ist nur … Also, weißt du … Ich mache mir Sorgen um dich. Das war eine ganz schön harte Zeit für dich und Hugh, besonders das letzte Jahr.»
Einen Moment lang konnte ich gar nicht antworten – wenn Leute einfach geradeheraus sagten, wie es um uns stand, traf mich das oft völlig unvorbereitet. Saoirse war schon seit acht Jahren verschwunden, aber im letzten Jahr waren wir, oder vielmehr ich, unter der Last ihres Verlustes schließlich zusammengebrochen. Ich schloss die Augen, ließ den Kopf hängen.
«Und du liebst das Schiff doch auch, Rosie. Irlands einzige weibliche Kapitänin. Du lieber Gott, was habe ich an dem Tag gestrahlt, als du dein Kapitänspatent bekommen hast. Kannst du es dir nicht wenigstens mal durch den Kopf gehen lassen? Nur darum will ich dich bitten. Ich kann noch ein oder zwei Monate durchhalten, bevor ich mit Maguire reden muss. Ich wollte es nie so weit kommen lassen, aber …»
«Ach, Dad.» Ich spürte seine Verzweiflung, als ich mich zur Terrassentür umdrehte und mich gegen den Rahmen lehnte, in dem Spinnweben hingen. «Gibt es denn keine andere Lösung?» Ich rieb mir so heftig die Stirn, dass es wehtat. «Wirklich», zog ich einen Schlussstrich unter die Erörterung dieses albernen Dilemmas, «ich kann das jetzt gerade gar nicht gebrauchen.»
Ich hatte damit gerechnet, dass er mich daraufhin in Ruhe lassen würde. Dass er sagen würde, mach dir keine Gedanken, Liebes, ich hätte dich damit gar nicht behelligen sollen. Ich werde schon eine Lösung finden.
Aber das tat er nicht.
«Rosie», sagte er in meine Panik hinein. «Bitte. Red einfach mal mit Hugh.»
Ich hatte nicht die Absicht, das zu tun. Sobald unser Gespräch beendet war, ging ich wieder nach drinnen und legte das Telefon auf unser L-förmiges Sofa, von dem aus man in den Garten sah, und schwor mir, es für den restlichen Tag nicht mehr anzurühren. Stattdessen blickte ich wieder aus dem Fenster, wanderte durch unsere Zimmer oder starrte auf die Zeitung, ohne ein Wort zu lesen.
Nein, zu Hugh würde ich kein Wort darüber sagen.
Und doch kam es dazu.
«Irgendwelche Anrufe?», hatte er gefragt, als wir uns an jenem Abend zum Essen zusammensetzten, was wir nur noch selten taten.
Ich sagte, es gebe wie üblich keine Neuigkeiten überSaoirse.
«Und sonst hat auch niemand angerufen? Cullie oder dein Vater?»
Es war nicht ungewöhnlich, dass mein Vater anrief, aber dass wir so beim Abendessen saßen und Hugh danach fragte, das war ungewöhnlich. Wie naiv von mir zu glauben, dass es eine Art Kismet war, ein göttlicher Plan, und nicht ein heimlich und ohne mein Zutun geschmiedeter.
«Er will, dass ich komme und den Sommer über aushelfe.»
«Dass du wieder die Fähre steuerst», hatte er erwidert, eher eine Feststellung denn eine Frage. Selbst diese Präzisierung kam mir nicht seltsam vor, jedenfalls nicht in dem Moment. Ich hatte bloß dabei zugesehen, wie sich Hugh mit einem Tuch von der Küchenrolle, die ich auf dem Tresen der Kücheninsel gelassen hatte, den Mund abwischte. (Hugh hatte, lange bevor sie dann total angesagt waren, eine Kücheninsel bei uns eingebaut; der Vorteil, wenn man mit einem Architekten verheiratet ist: Man ist den anderen immer Jahre voraus.)
«Es ist wegen seinem Rücken, weißt du, und wegen Mammy.»
Hugh knüllte das Tuch von der Küchenrolle zusammen und legte es neben seinen Teller, den er nun konzentriert betrachtete, als wäre er fasziniert von der Pfütze roter Soße in der Mitte.
«Ich habe Nein gesagt, er kommt schon klar. Mach dir keine Sorgen.» Ich schämte mich derart, das Thema überhaupt zur Sprache gebracht zu haben, dass es mich von meinem Hocker drängte. Ich hatte schon angefangen, das Geschirr zur Spüle hinüberzutragen, kippte den Rest Bolognese in einen Plastikbehälter und ließ heißes Seifenwasser in den Topf laufen.
«Rosie, kannst du das mal für einen Moment lassen?» Seine Frage kam leise, aber entschlossen, und als ich mich umdrehte, zeigte er auf meinen Hocker. Entnervt schüttelte ich mir die Tropfen von den Händen und griff nach einem Geschirrtuch, um sie mir abzutrocknen. Dabei fiel mein Blick durch die offene Tür auf Hughs E-Piano in der umgebauten Garage. Ich dachte an den Abend vor zwei Jahren, als er es mitgebracht hatte. Ich war in die Diele gekommen und hatte den großen Karton entdeckt, der am Treppengeländer lehnte, darauf das Bild einer jungen Frau, die völlig versunken auf einem Keyboard spielte. Ich hatte die Verpackung gemustert und dann ihn, der gerade noch einmal vom Auto mit einem Klapphocker hereinkam, den er neben den großen Karton legte. Ich brauche einfach etwas, hatte er gesagt, als er seine Schlüssel in die Keramikschale auf unserem Dielentisch legte. Sonst sagte er nichts, nur das – ich brauche etwas –, und sah dabei mich an, als wäre ich diejenige gewesen, die ihm das, was er brauchte, die ganze Zeit verweigert hatte. Und dann schleppte er den Karton durch die Küchentür und hinein in den kleinen Raum, der einmal unsere Garage gewesen war, nun Ablageplatz für lauter Krimskrams und überflüssig Gewordenes. Im Türrahmen lehnend, hatte ich zugesehen, wie Hugh alles auspackte und aufstellte. Er trat einen Schritt zurück, um das Piano eindringlich zu mustern, bevor er das Kabel einstöpselte, den Hocker auseinanderklappte und zum ersten Mal die Hand aufs Keyboard legte. Seither saß er an jedem Abend davor, nachdem er gegessen und abgeräumt hatte.
Ich setzte mich wieder an den Küchentresen und musterte ihn besorgt. Ich konnte die kleine weiße Stelle sehen, die mitten auf seiner Stirn erschien. Wenn er bekümmert oder aufgewühlt war, tauchte sie auf, eine alabasterfarbene Insel, umgeben von rosa Haut.
«Ich finde, du solltest gehen», sagte er.
Ich lachte auf, war mir sicher, dass er mich irgendwie missverstanden hatte. Ich ließ meine Finger auf der Marmorplatte kreisen, während ich die Worte zu formen begann, um es noch einmal zu erklären, aber er kam mir zuvor.
«Das ist alles viel zu viel.» Es kam fast nur als ein Flüstern heraus. Er saß jetzt kerzengerade und fuhr sich durch sein graues Haar, das einmal schwarz gewesen war. «Ich kann das nicht länger, Rosie, ich kann einfach nicht mehr.» Er sah zur Terrassentür hinüber, hinter der unser ungeliebter Garten lag, in Frühlingssonnenschein gebadet. «Jede wache Minute dreht sich alles immer nur darum, noch eine neue Möglichkeit aufzutun. Einen neuen Blickwinkel. Eine weitere Chance, Saoirse doch noch zu finden. Du hast ja mehr mit Mick gesprochen als mit mir.»
Mick. Kommissar Mick Malone, der leitende Ermittler im Fall Saoirse.
«Aber …», setzte ich an, ganz durcheinander von seiner Reaktion, als wäre er nicht auf dem Laufenden, was das Leben anbelangte, zu dem wir gezwungen waren, als wäre er bloß die Zweitbesetzung, die viel zu spät in einer Geschichte auftauchte, während alle anderen das Drehbuch längst auswendig konnten. «Ich … ich musste doch immer wieder Druck machen, sonst hätten sie irgendwann aufgegeben. Das weißt du doch.» Sobald ich das ausgesprochen hatte, wusste ich schon, dass es nicht so ganz stimmte, zumindest, was das letzte Jahr anbelangte. Aber davor war es unzweifelhaft so gewesen, waren diese Aktionen, das Suchen und Befragen mein Leben gewesen.
«Ich weiß, ich weiß.» Er schloss die Augen und strich sich mit der Hand übers Gesicht und über den Hals, fast bis zum Schlüsselbein hinunter. «Aber es fühlt sich so an, als könnte ich, als könnten wir einfach nicht mehr, Rosie. Wir haben, na ja, so gekämpft, und wir sind einfach nicht mehr die, die wir mal waren, oder?»
Zusätzlich zu unserer täglichen Belastung auch noch meine Mutter zu verlieren und dann mein Zusammenbruch. Einst war ich eine Kriegerin gewesen, jetzt war ich nur noch der Schatten dieser Frau von damals.
«Nein», stimmte ich leise zu. «Wir sind nicht mehr die, die wir mal waren.»
«Und es hört einfach nicht auf, oder? Ich möchte einfach … ich möchte eine Pause. Ich möchte wieder mal meine Ruhe haben.»
Ruhe? Was hatten wir denn überhaupt noch außer dieser Totenruhe?, dachte ich. Wir redeten nicht mehr miteinander, außer es ging um etwas Praktisches, das mit der Ermittlung zusammenhing. Eine Frage von Mick, eine Entscheidung, die wir treffen mussten. Wir verbrachten unsere Abende getrennt, er an seinem Piano, ich im Wohnzimmer, unfähig, unseren Kummer miteinander zu teilen, gingen wir uns in diesem Haus aus dem Weg.
«Ich will überhaupt nicht aufgeben.» Seine Stimme klang nicht mehr zittrig, sondern wieder gewohnt zentriert und kräftig. «Ich weiß, du glaubst das.»
«Nein, das glaube ich überhaupt nicht.» Aber er hörte mich nicht oder hatte beschlossen, mich nicht gehört zu haben.
«Ich habe nicht einen Moment lang vergessen, dass sie irgendwo da draußen ist, ohne mich, Rosie.» Er deutete auf die Terrassentür. «Ich werde nie aufhören, nach ihr zu suchen. Darum geht es hier nicht. Verstehst du? Aber für mich ist es wichtig, dass sich etwas verändert, über das wir tatsächlich die Kontrolle haben. Wir sehen das Ganze völlig unterschiedlich, oder? Und das ist so anstrengend, denn du glaubst ja, dass sie …»
«Nicht, Hugh», sagte ich, «bitte. Nicht noch mal. Ich kann das nicht.»
Ich ließ den Kopf sinken. Hugh hatte längst den Glauben aufgegeben, dass wir Saoirse jemals lebend wiederfinden könnten, während ich wusste, dass sie irgendwo dort draußen war und auf ihre Chance wartete, zu uns zurückzukehren.
«Ich glaube, dass wir beide jetzt eine Auszeit brauchen. Freiraum, Rosie. Wir brauchen Freiraum.»
Es dauerte einen Moment, bis ich ganz begriff, was er da sagte. «Also», begann ich vorsichtig, «du willst, dass ich gehe?»
«Das könnte uns beiden helfen.» Er musste gemerkt haben, dass seine Worte auch missverstanden werden konnten, und so bemühte er sich, sie zu präzisieren. «Ich meine damit nicht, dass wir uns trennen sollten. Es geht hier nur um eine Phase, einen kurzen Zeitraum, damit wir wieder zu Atem kommen. Du hast doch selbst gesagt, es ist erst mal bloß für den Sommer.»
«Aber Cullie?», antwortete ich, kaum in der Lage, seine Ehrlichkeit zu ertragen.
«Colmán ist dreiundzwanzig und hat sein eigenes Leben. Außerdem wohnt er hier ja gar nicht mehr.»
«Ich weiß, aber er wird doch glauben, dass ich ihn verlasse … genau wie Saoirse.»
«Himmel noch mal, Rosie, wie oft denn noch? Nichts davon war deine Schuld. Ich glaube das nicht, Colmán glaubt das auch nicht. Du bist die Einzige, die je auf diesen Gedanken gekommen ist.»
Ich war unfähig, diese Worte zu akzeptieren, mit denen er mich schon so viele Male zu trösten versucht hatte.
«Er wird es verstehen. Er hat immer alles verstanden.»
«Er ist wie du. Ich bin wie Saoirse, und er ist wie du. Dann soll ich also gehen?», fragte ich, und in dem nun folgenden Schweigen wartete jedes Molekül, jedes Staubkorn, jedes Spinnennetz mit mir auf seine Antwort.
Hugh wandte sich um, warf noch einmal einen Blick durch die Terrassentür auf den Garten. Dann nickte er.
Da das Beifahrerfenster heruntergelassen war, konnte sie erkennen, dass es das Mädchen aus dem Laden war, von Angelo’s, wo es die besten Klamotten gab.
Und so kehrte ich Anfang Mai widerstrebend an einen Ort zurück, von dem ich einst geglaubt hatte, dass ich ihn niemals verlassen würde. Während der Fahrt dachte ich mehrmals daran umzukehren. In Tipperary, meinem ersten Stopp, stand ich, an die Fahrertür gelehnt, an der belebten Tankstelle und sah zu, wie die Lastwagen und Pkw heran- und wieder wegfuhren, trank Wasser und biss von einem fettigen Croissant ab, legte es zurück in die Tüte, war überzeugt, dass ich, wenn ich mich wieder ins Auto setzte, den Abzweig zurück nach Dublin nehmen würde. Keine zehn Minuten später verharrte ich vor der Kreuzung, während der ungeduldige Prius hinter mir angesichts meines Zögerns angesäuert hupte. Das war nicht richtig, sagte ich mir, während ich im Rückspiegel nach dem Fahrer hinter mir spähte. Einfach wegzufahren, davonzulaufen, das war nicht richtig. Und dennoch setzte ich meine Reise fort.
In Innismahon hielt ich wieder an, wieder an einer Tankstelle, diesmal an einer kleinen und weniger überlaufenen. Ich stieg aus und spazierte auf der Auffahrt hin und her, blieb immer mal wieder stehen und beobachtete den Verkehr, wobei ich die Hand wegen der grellen Sonne schützend über die Augen hielt, während der entzückte Schrei eines Kindes weiter oben an der Straße Richtung Kirchhof meine Aufmerksamkeit erregte. Ich heuchelte Interesse, Konzentration, Normalität à la also hier bin ich, eine ganz normale Frau, die vielleicht gerade zum Einkaufen fährt oder sogar in die Ferien, während ich in Wirklichkeit ganz und gar verloren war. «Das ist …», sagte ich wiederholt und gestattete mir nicht einmal vor mir selbst, das Wort auszusprechen, das mir mein Handeln ziemlich präzise zu beschreiben schien: Wahnsinn.
Und dennoch fuhr ich abermals weiter, fuhr durch Boyerstown, Clonrath, Clonkill. Ich erreichte Rossban und saß bei laufendem Motor im Wagen vorm Parkplatz am Hafen und wartete darauf, dass jemand wegfuhr. Klappte es nicht, sagte ich mir, wäre das ein Zeichen umzudrehen. Aber innerhalb von zwei Minuten winkte ich einem Mann dankend zu, der an meinem Fenster vorbeitrabte und mir mit seinem Autoschlüssel zu verstehen gab, dass er rausfahren würde. Ich sah zu, wie er seine Schwimmweste auszog und auf den Rücksitz warf und dann das Gaspedal durchtrat, als wäre er zu spät für seine eigene Hochzeit.
Als ich aus dem Auto stieg, zog ich den Reißverschluss an meinem Hoodie zu, obwohl die Sonne schien und es recht warm war. Es war fast fünf, und schon bald würde die Aoibhneas mit ihrer blauen Flanke und der weißen Brücke an der Biegung bei No Man’s Haven auftauchen. Dann wüsste ich es ganz sicher. Sobald ich sie auftauchen sähe, wüsste ich, ob es denn so sein sollte.
«Rosie? Du lieber Gott, du bist es wirklich», rief Patsy Regan zu meiner Rechten. «Ich hab schon gedacht, also das sieht mir aber ganz nach Rosie Driscoll aus, aber andererseits, was sollte sie hier um die Jahreszeit machen? Und jetzt bist du es. Unverkennbar. Deiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.»
Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen und in die Arme der Frau geschlossen, die vor neunundvierzig Jahren mitgeholfen hatte, mich zur Welt zu bringen. Patsy musste inzwischen in ihren Achtzigern sein, hatte aber immer noch ihre adrette Eleganz. War sie überhaupt eins fünfzig groß? Alles an ihr war winzig: ihre Taille, die Handgelenke, die Finger, die Nase. Und alles, was sie trug und von dem ich immer angenommen hatte, es müsse aus der Kinderabteilung stammen, bis Rita, die Postbotin der Insel, mir erzählte, es sei alles von einer Frau in Galway maßgeschneidert, saß perfekt an ihr. Sie stach unter uns grauen Mäusen hervor, wie die erste Osterglocke in einem wintergrauen Garten. Ihre ovale Brille mit Goldrand lief an den Seiten so geschwungen aus wie eine schöne Welle in ihrem Scheitelpunkt.
«Besuchst du uns für ein paar Tage?»
«Na ja», als sie mich aus ihrer Umarmung entließ, zuckte ich mit den Schultern, «so etwas in der Art.»
«Das ist aber wunderbar.» Entzückt klatschte sie in die Hände. «Außerdem ist das Wetter perfekt für dich. Es ist einfach prächtig. Hugh ist nicht mitgekommen?»
«Nein, nein. Diesmal nicht. Er muss arbeiten.»
«Natürlich muss er das. Er wird ja dann später im Jahr nachkommen, so der liebe Gott es will.» Ich war dankbar, dass Patsy sich selbst eine Antwort gegeben und mich damit vom Haken gelassen hatte. «Ist das deiner?» Sie zeigte auf mein Auto.
«Oh, ja.» Auch ich deutete auf meinen Golf und sorgte für mehr Bestätigung, als eigentlich nötig war.
«Der Bus ist dir eine ganze Zeit hinterhergefahren, und ich habe mir den Kopf zerbrochen, wessen Nummernschild das wohl sein könnte. Bei den Dubliner Nummern kenne ich mich noch nicht so gut aus. Nächstes Mal weiß ich dann aber Bescheid. Dann kann ich dich schon an der Clonkill Road heranwinken und mich von dir mitnehmen lassen, statt den Bus zu nehmen. Obwohl ich wirklich nichts gegen den Bus habe. Ein Schwatz mit Tim ist immer gut. Kennst du den neuen Busfahrer überhaupt schon?»
Ich schüttelte den Kopf, obwohl ich mir nicht sicher war, ob Patsy das überhaupt bemerkte oder zwischendurch auch mal atmete.
«Netter Mann. Aus Liverpool. Ist rein zufällig hier gelandet. Hast du viel Gepäck dabei, Rosie?»
«Oh, ähm, bloß einen Koffer», sagte ich, verblüfft von ihrem Themenwechsel.
«Das passt aber gut. Wärst du so lieb, mir mit meinen Einkäufen zu helfen? Ich habe sie drüben an der Bushaltestelle stehen gelassen, als ich dich gesehen habe.»
«Natürlich.» Ich folgte ihr zu der Stelle, wo sechs Einkaufstüten vom SuperValu aufgereiht standen.
«Tim bestand darauf, sie mir bis zum Boot zu tragen, aber sein Ischias wird wieder schlimmer, und da habe ich ihm eine kleine Notlüge aufgetischt, dass die nette Frau drüben an der Mauer versprochen hätte, mir zu helfen. Dabei wusste ich gar nicht, dass du das bist, kannst du dir das vorstellen? Es hat so sein sollen, Rosie, es hat so sein sollen. Also, in der da sind die Eier, also sei vorsichtig mit der.»
«Warum hast du denn nicht einfach per Telefon eine Bestellung aufgegeben, Patsy, wie alle anderen auf der Insel?» Ich nahm zwei Tüten und Patsy eine, und dann sahen wir in beide Richtungen, bevor wir die Straße überquerten.
«Ich wollte eigentlich nur Brot kaufen, aber dann konnte ich all den guten Sachen einfach nicht widerstehen. Und die sind ja auch so hilfsbereit da, die haben mir ein junges Mädchen geschickt, das mir die Tüten bis zur Bushaltestelle getragen und dann mit mir gewartet hat, bis der Bus kam, und mir die Tüten auch noch hineingetragen hat. Aber die müssen auch so nett sein, Rosie», sagte sie und blieb stehen, um ihre Theorie zu erläutern, «wir Insulaner sind doch unser ganzes Leben lang ihre treuesten Kunden, oder? Eine Hand wäscht die andere, so sagt man doch?»
Wir gingen weiter, stellten die Tüten ab und holten die anderen. Als wir alle Einkaufstüten am Kai abgestellt hatten, lief Patsy wieder mit mir zum Auto zurück, wobei sie die ganze Zeit weiterplauderte, während ich meinen Koffer und eine kleine Reisetasche auslud, die sie, meinen Protesten zum Trotz, unbedingt tragen wollte. Als wir schließlich an der Kaimauer angelangt waren und all unsere Habseligkeiten beisammenhatten, hatte auch die Aoibhneas angelegt, ihre Passagiere ausgeladen und war bereit, uns aufzunehmen. Das Niedrigwasser bedeutete für die Fahrgäste, dass sie, um die Fähre zu betreten, immer die Kaitreppe nehmen mussten. Beim Hinuntersteigen stützte ich Patsy am rechten Ellbogen, während sie sich mit der linken Hand am Geländer festhielt. Erst als ich in der Kabine saß und von Patsy auf den neuesten Stand gebracht wurde, was Ritas Knöchel anbelangte, den sie sich bei einem Sturz im Gemeindezentrum im Februar verstaucht hatte, und das Brummen der Aoibhneas beim Ablegen vom Kaieinsetzte, begriff ich, dass ich jetzt nicht mehr umkehren konnte.
Es war Liam, der heute am Ruder stand, aber noch hatte er mich nicht bemerkt. Während Patsy mit einem jungen Paar zu unserer Rechten zu plaudern begann, das ich nicht kannte, fragte ich mich, ob Dad ihm gegenüber erwähnt hatte, dass ich in diesem Sommer zurückkehren würde, um mich mit ihm abzuwechseln. Ich stellte mir vor, wie er daraufhin die Augen verdreht hatte. Ich zog die Beine an, um einen schlaksigen Mann in meinem Alter vorbeizulassen. Er hatte Patsy doch tatsächlich zugezwinkert.
«Warte mal, Iggy», rief Patsy ihm hinterher und entschuldigte sich bei der jungen Frau für die Unterbrechung, indem sie ihr den Arm tätschelte. «Das hier ist Rosie. Dannys Tochter. Eine von uns. Und der da ist Iggy. Unsere neueste Anschaffung. Ein Mann, der einfach alles kann.»
Iggy lächelte. «Ich wüsste nicht, was ich ohne diese Frau tun würde. Seit ich hierhergezogen bin, hat sie mir so viel Arbeit verschafft. Die Regierung sollte sie anwerben. Arbeitslosigkeit wäre eine Sache der Vergangenheit.»
Er sprach mit einem Akzent, der auf den Norden deutete, aber zugleich weich klang. Ich tippte auf Donegal.
«Rosie, vom ersten Augenblick an wusste ich, das ist einer von den Guten. Du weißt ja, ich kann so etwas spüren.» Sie hob den Zeigefinger.
Abgesehen davon, dass sie lauter gesunden Babys zu ihrer Geburt verholfen hatte, verfügte Patsy über einen siebten Sinn, und wir Inselbewohner machten allzu gern Gebrauch von ihrer Gabe, wenn wir angesichts irgendeiner Tragödie einen winzigen Hoffnungsschimmer brauchten. Anfangs, als Saoirse gerade als vermisst gemeldet worden war, hatte Patsy gesagt: «Ich kann sie noch nicht sehen, aber ich weiß, sie ist da, und sie wird wieder auftauchen.» Ihre Meinung hatte sich nie geändert. Von dem Augenblick, als ich sie vier Tage nach Saoirses Verschwinden angerufen hatte, bis zu diesem Moment, in dem ich jetzt neben ihr auf der Fähre saß, waren ihre Worte unverändert geblieben. Und ich wusste, dass sie recht hatte. Ganz gleich, was der Rest der Welt dachte, ich wusste, eines Tages würde ich meine Saoirse wiederhaben, und zwar lebendig.
«Wie lange sind Sie schon in Roaring Bay, Iggy?», fragte ich.
«So vier, fünf Monate.»
«Er arbeitet für Diarmuid und für Christa im B&B und …»
«Und für jeden, der mich sonst noch braucht.»
«Und er ist ein sehr guter Schwimmer. Glaub mir, Rosie, kaum bricht der Morgen an, pflügt der schon durch die Wellen wie Neptun persönlich.»
«Ach, na ja.» Bei diesem Kompliment strahlte Iggy. «Schwimmen Sie auch gern?»
«Oh, ich … früher schon. In letzter Zeit allerdings nicht mehr so oft.» In Wahrheit hatte ich seit Saoirse nicht mehr mit der alten Unbekümmertheit schwimmen können, aber davor hatten wir, so kam es mir jetzt vor, das Wasser so gut wie gar nicht mehr verlassen, wenn wir einmal auf der Insel waren.
«Wirklich?» Er setzte sich neben mich. «Weil es mich überrascht hat, dass die Inselbewohner eben nicht schwimmen gehen. Ich bin immer auf der Suche nach jemandem, dem es auch Spaß macht.»
«Ja, also …» Ich bereute, ihn auf mich aufmerksam gemacht zu haben. Meine Zweifel, die Patsy, einfach indem sie sie selbst war, vorübergehend ausgeräumt hatte, stiegen wieder in mir auf. Ich blickte durch die Kabinentür hinaus und sah das Festland in der Ferne, meine Chance auf einen schnellen Abgang war nun definitiv zerronnen.
«Ich habe schon eine Petition gestartet», sagte Patsy und lehnte sich an mich, «dass wir ihn nicht wieder ziehen lassen. Ich hab ihm gesagt, ich halte nichts von Leuten, die an die Bay kommen, um hier zu leben, und dann verliebe ich mich in sie, und als Nächstes sind sie weg. Liam und dein Vater sind schon vorgewarnt, dass sie ihn nicht aufs Boot lassen, wenn sie so was wie einen Koffer bei ihm entdecken.»
«Sie verschwenden Ihre Zeit, Patsy. Ich reise mit leichtem Gepäck, das würden die niemals merken.»
«Aber du gehst ja eh nicht weg, Iggy. Das weiß ich einfach, mein Lieber, das weiß ich.» Sie kicherte und nahm das Gespräch mit dem Mädchen zu ihrer Rechten wieder auf.
Bis zum Ende der Überfahrt hatte ich bereits mit Críostóir, Phelan, Dads Crewmitglied, und Nancy, seiner Frau, und mit der Inseltöpferin Sarah gesprochen. Anders als befürchtet, hatte keiner von ihnen mir einen wissenden Blick zugeworfen. Falls sie vermuteten, dass ich eine gebrochene Frau war, die nach Hause zurückkehrte, dann hatten sie es sich nicht anmerken lassen, wofür ich ihnen dankbar war. Wir redeten über Alltägliches: Über Críostóirs Ziegenfarm, den Benzinpreis, Fangquoten, Familien und darüber, welche Kinder in welcher Klasse waren. Sie wollten wissen, wie es Cullie und Hugh ging, und zwei Mutige hatten nach Saoirse gefragt. «Also keine neue Entwicklung?», fragten sie.
«Nein», antwortete ich, und dabei beließen wir es. Keiner schien auch nur zu ahnen, dass ich wieder die Fähre steuern sollte. Dad hatte, so schien es, kein Wort darüber verloren.
Als wir anlegten, wollte ich Patsy helfen, aber Iggy war mir zuvorgekommen und trug alle sechs Tüten auf einmal vom Boot. Ich griff mir meine eigenen Sachen und stellte mich in die Schlange, um die Steintreppe zum Kai hinauf zu erklimmen. Als ich fast schon oben war, sah ich zum Steuerhaus hinauf, wo sich Liam gerade über die Reling beugte und uns beim Aussteigen zusah. Der Ruck, mit dem er sich plötzlich aufrichtete, ließ mich vermuten, dass er nichts von meiner Rückkehr gewusst hatte. Wir nickten uns kurz zu, bevor wir uns jeweils wieder um unsere eigenen Angelegenheiten kümmerten.
Dad wartete schon auf mich und umarmte mich so fest, dass ich den Koffer fallen ließ.
«Du scheinst dich ja wirklich auf mich gefreut zu haben», sagte ich, lächelte, als er mich losließ, und strich meine Kleidung glatt.
«Himmel, Liebes, aber ganz sicher.» Er errötete, schniefte und rieb sich das Kinn. «Dann wollen wir dich mal nach Hause bringen», sagte er und griff nach meiner Tasche.
«Dein Rücken, Dad.»
Ich tätschelte ihm die Hand, scheuchte ihn voraus und folgte ihm, der noch langsamer humpelte, als ich erwartet hatte, den Kai hinauf. Ich winkte Patsy zu, die gerade in das Inseltaxi stieg, das sie und all ihre Einkaufstüten die ganzen fünfhundert Meter bis zum Anfang des Kais und direkt vor ihre Haustür bringen würde.
«Komm auf einen Tee oder was Stärkeres vorbei.» Sie kicherte.
Iggy war viel schneller unterwegs als mein Vater und ich. «Morgen früh um Punkt sieben», rief er mir im Vorbeigehen über die Schulter zu. «Drüben bei Diarmuid’s. Bei Regen, Hagel oder Sonnenschein.»
Ich lachte, und es fühlte sich an, als wäre ich ein ganz anderer Mensch, eine Hochstaplerin, eine Schauspielerin, die mein Leben übernahm und so tat, als wäre alles in schönster Ordnung. Diejenigen, die mir entgegenkamen, weil sie von der Fähre ihre Einkäufe abholen wollten, riefen mir zu: «Da bist du ja. Gut, dich wiederzuhaben.»
«Wo hast du denn bloß geparkt?», fragte ich Dad. «Vor unserm Gartentor?»
Er zeigte hoch zu seinem Ford Cortina, der oben am Kai stand. «Ich kann da unten einfach nicht mehr so schnell reagieren, wenn diese Idioten rausfahren, ohne nach links und rechts zu gucken.»
Als ich auf dem Beifahrersitz saß und keiner mehr lauschen konnte, war es mir endlich möglich, das Offenkundige zur Sprache zu bringen. «Anscheinend weiß noch niemand, dass ich wieder die Fähre steuern werde.»
«Nein, ich dachte, ich warte noch ab.»
«Weil du erst sehen wolltest, ob ich auch wirklich komme? Kluger Mann, ich war mir selbst gar nicht so sicher.»
«Jetzt bist du hier, und nur das zählt. Und nun sei ein liebes Mädchen und schau dich einmal um, ob da einer kommt.» Außenspiegel waren ein Luxus auf der Insel.
«Alles frei.»
Wir fuhren an Diarmuids Laden vorbei, in dem, sogar für Mai, ordentlich was los war.
«Und wie wollen wir das angehen?», fragte ich. «Ich tauche einfach auf der Fähre auf und rufe ‹Überraschung!›. Ist das der Plan?»
«Na ja, ich könnte auch bei den Nachrichtenanfragen, ob noch Platz für eine Schlagzeile ist, aber doch, so in etwa habe ich mir das gedacht.»
«Dann weiß Liam also auch noch nichts davon?»
«Das geht den doch einen Scheißdreck an.»
In seinen Worten lag eine solche Schärfe, dass ich ihn anblickte, um zu sehen, ob das noch derselbe Mann war, der all die Jahre kein böses Wort über Liam verloren hatte, selbst damals nicht, als Liam auf dem Schulhof «Fähre» gespielt hatte, ein Spiel, das er erfunden hatte und bei dem er mich nicht mitspielen ließ und das unter anderem umfasste, die Leinen von der Fähre zu klauen und über den Schuppen mit den Sportgeräten zu werfen, als würde er die Aoibhneas vertäuen.
«Du kannst nicht mitspielen», hatte er mich das einzige Mal abgewiesen, als ich selbst einen Versuch unternommen hatte.
«Also, ich muss das schließlich auch üben. Das Schiff gehört meinem Dad, und er sagt, ich darf für ihn arbeiten, wenn ich älter bin.»
«Mädchen dürfen nicht auf Fähren arbeiten – die sind zu schwach. Und außerdem wird sie, wenn ich größer bin, meine Fähre, nicht deine. Das sagt mein Onkel auch. Und ich lass dich bestimmt nicht für mich arbeiten.»
Liam hatte damals bei seinem Onkel Tommy gelebt, dem Bruder seines Vaters, damals der zweite Fährkapitän. Liams Mutter war bei der Geburt gestorben und sein Vater, ein Alkoholiker, vier Jahre später. Tommy war weicher als sein Bruder, hatte aber trotzdem noch einiges von dieser Ó’Kiersey-Härte. Er fischte, fuhr die Fähre und brachte seinem Neffen bei, dass es im Leben darum ging, dem Meer abzuringen, was nur irgend möglich war.
«Nein, das wird nicht deine Fähre!», schrie ich voller Panik bei Liams Andeutung, dass die Aoibhneas uns eines Tages nicht mehr gehören würde. Nach der Schule war ich so schnell wie möglich zum Hafen gelaufen, um meinen Vater zu finden.
«Ist ja gut», hatte Dad gesagt, nachdem er mich angehört hatte. Er zog mich an sich und umarmte mich fest. «Schau mal, du weißt doch, dass Liams Daddy und Mammy gestorben sind, und so etwas ist für jedes Kind furchtbar traurig, und deshalb sagt er Dinge, die grausam sein können. Aber das ist nicht seine Schuld.»
«Aber er hat gesagt, die Aoibhneas gehörtdann ihm», brachte ich schniefend heraus.
«Das wird sie nicht, meine Kleine, das kann ich dir hier und heute garantieren. Das Schiff gehört uns und wird immer uns gehören. Das verspreche ich dir.Okay?»
«Okay.» Ich ließ mich überzeugen, hauptsächlich, weil ich ihn so liebte und ihn nie infrage gestellt hätte.
In den Jahren darauf versuchte ich Liam gegenüber so verständnisvoll zu sein wie mein Vater, aber es gelang mir nicht, weil Liams ständige Kommentare, dass ich nie so gut sein würde wie er und es eines Tages auch selbst merken würde, mich immer wieder fertigmachten.
Während der Fahrt ignorierte Dad meine Blicke, schaute auf die Straße und gab auch nicht für einen Moment zu erkennen, wieso sich seine Einstellung Liam gegenüber verändert hatte.
Dad schaltete einen Gang herunter, machte sich bereit für die steile letzte Wegstrecke Mac’s Hill hinauf nach Hause.
Seit ich es zuletzt bei Mammys Beerdigung vor sieben Monaten gesehen hatte, hatte sich nichts im Haus verändert. Alles war noch genauso, wie sie es bei ihrem Tod hinterlassen hatte. Allerdings wirkte es jetzt trauriger, als wären alle Farben darin verblichen. Ich setzte mich aufs Sofa und ließ den Blick vom Kamin hinüber zu Dads Sessel schweifen, der wie immer unter der Treppe stand, die zu den beiden Zimmern im ersten Stock führte und deren untere Stufen eine perfekte Ablage für eine Tasse Tee, ein Guinness oder ein Glas Bailey am Weihnachtsmorgen boten. Im Laufe der Monate, die ihn gebeugt hatten, hatte er die Sitzhöhe mit Kissen immer mehr aufstocken müssen, damit er leichter aufstehen und sich wieder hinsetzen konnte. Ich sog die Luft ein, scharf und unvermittelt, und spürte wieder diese Einsamkeit, diese Verzweiflung anlässlich der völligen Kehrtwende, die mein Leben genommen hatte. Plötzlich konnte ich mir nicht mehr vorstellen, wie ich es auch nur eine Nacht hier aushalten sollte, geschweige denn einen ganzen Sommer.
«Ich finde, du solltest morgen anfangen.» Dad kam ins Zimmer und stützte sich dabei auf einen Stock, den er auf dem Kai nicht benutzt hatte. Mich abzuholen, hatte ihm offenbar weitaus mehr Schmerzen bereitet, als ich mitbekommen hatte.
«Auf der Fähre, meinst du?»