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James Corey

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Beschreibung

Im Weltall gibt es kein Gesetz ...

Die Menschheit hat das Sonnensystem kolonisiert. Auf dem Mond, dem Mars, im Asteroidengürtel und noch darüber hinaus gibt es Raumstationen und werden Rohstoffe abgebaut. Doch die Sterne sind den Menschen bisher verwehrt geblieben. Als der Kapitän eines kleinen Minenschiffs ein havariertes Schiff aufbringt, ahnt er nicht, welch gefährliches Geheimnis er in Händen hält – ein Geheimnis, das die Zukunft der ganzen menschlichen Zivilisation für immer verändern wird.

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Die Menschheit hat das Sonnensystem kolonisiert und betreibt auf Mond, Mars, dem Asteroidengürtel und vielen weiteren Planeten Raubbau. Jeder versucht, den größtmöglichen Profit aus dem Geschäft mit den Rohstoffen herauszuschlagen, der Frieden im All ist mehr als fragil und die kleinste Provokation würde ausreichen, um die Kolonien in einen schrecklichen Krieg zu verwickeln.

Jim Holden ist Kapitän des Versorgungsschiffes Canterbury, das Wasser von den Saturnringen zu den Millionen Siedlern im Asteroidengürtel transportiert. Eines Tages erhält die Canterbury ein Notsignal vom leichten Marsfrachter Scopuli, doch gerade als Holden und seine Crew das verlassene Schiffswrack inspizieren wollen, wird die Canterbury von einem unbekannten Schiff angegriffen. Alles deutet auf einen Anschlag mit marsianischer Beteiligung hin, doch um die ohnehin politisch heikle Situation zwischen Mars und dem Asteroidengürtel nicht noch weiter zu verschärfen, erhält Holden von der Firmenzentrale den Befehl, mit seiner Crew das marsianische Schlachtschiff Donnager bei der Untersuchung des Verbrechens zu unterstützen. Im Laufe der Ermittlungen trifft Holden auf Detective Miller, der den Auftrag hat, Julie Mao zu finden – Angehörige einer Friedensorganisation und Kapitänin der Scopuli. Doch die Suche nimmt ein böses Ende: Im Wrack wird die grauenhaft verstümmelte Leiche Julie Maos gefunden. Aus ihren Tagebuchaufzeichnungen geht hervor, dass sie sich mit dem Phoebe-Virus, einer geheimen und hochgefährlichen Biowaffe, infiziert hat. Holden und Miller finden heraus, dass hinter der Entwicklung des tödlichen Virus der Weltraumkonzern Protogen steckt. Und ehe die beiden sich’s versehen, sind sie in einen Kampf mit mächtigen politischen Fraktionen und noch mächtigeren Wirtschaftsbossen verstrickt, die alles daransetzen, das Phoebe-Virus in die Hände zu bekommen – und damit die Macht über die gesamte Galaxis …

JAMES COREY

LEVIATHANERWACHT

Roman

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Titel der amerikanischen OriginalausgabeLEVIATHAN WAKESDeutsche Übersetzung von Jürgen Langowski

Redaktion: Ralf DürrCopyright © 2011 by James S. A. CoreyCopyright © 2012 der deutschen Ausgabe und der Übersetzungby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: animagic Umschlagmotive: © Daniel DociuSatz: C. Schaber Datentechnik, WelsISBN 978-3-641-07631-3V005www.heyne.de

Für Jayné und Kat, die mich ermutigt haben,meinen Tagträumen über Raumschiffe nachzugehen.

PROLOG Julie

Die Scopuli war vor acht Tagen geentert worden, und jetzt war Julie Mao bereit, sich erschießen zu lassen.

Sie hatte acht Tage in einem Spind hocken müssen, bis dieser Entschluss gereift war. Während der ersten beiden Tage hatte sie regungslos ausgeharrt, denn sie war sich sicher gewesen, dass die gepanzerten Männer, die sie hineingesteckt hatten, es ernst meinten. In den ersten Stunden hatte das Schiff, auf das man sie verfrachtet hatte, nicht beschleunigt. Deshalb war sie in dem kleinen Abteil umhergeschwebt und hatte mit leichten Berührungen die Zusammenstöße mit den Wänden oder dem Raumanzug, mit dem sie sich den Platz teilte, abgefedert. Als das Schiff dann beschleunigte und der Schub ihr wieder ein Gewicht verlieh, stand sie stumm in dem engen Raum, bis die Krämpfe in den Beinmuskeln unerträglich wurden. Irgendwann rollte sie sich wie ein Embryo zusammen, hockte sich hin und pinkelte in ihren Overall. Die warme, juckende Nässe war ihr ebenso egal wie der Geruch. Sie hatte nur Angst, sie könne in der Pfütze auf dem Boden ausrutschen und stürzen. Lärm durfte sie nicht machen, denn dann hätten die Angreifer sie erschossen.

Am dritten Tag zwang sie der Durst zum Handeln. Der Lärm des Schiffs war allgegenwärtig, das unterschwellige Grollen des Reaktors und des Antriebs. Das ewige Zischen und Klappern der Hydraulik und der Stahlbolzen, wenn sich die Drucktüren zwischen den Decks öffneten und schlossen. Das Poltern schwerer Stiefel, die auf dem Metallboden vorbeiliefen. Sie wartete, bis sie den Lärm nur noch aus der Ferne hören konnte, hob den Druckanzug vom Haken und legte ihn auf den Boden des Abteils. Noch einmal lauschte sie aufmerksam, dann nahm sie den Anzug auseinander, um an den Wasservorrat zu gelangen. Es schmeckte alt und abgestanden, der Anzug war offenbar seit Urzeiten weder gewartet noch benutzt worden. Doch sie hatte seit Tagen nichts mehr getrunken, und das warme, schale Wasser aus dem Vorratstank des Anzugs war das Beste, was sie je gekostet hatte. Sie musste sich überwinden, um es nicht auf einmal hinunterzustürzen, denn dann hätte sie es doch nur erbrochen.

Als der Drang zu urinieren wieder erwachte, zog sie den Katheterbeutel aus dem Anzug und erleichterte sich mit dessen Hilfe. Auf dem Polster des dicken Anzugs saß sie schließlich auf dem Boden und hatte es fast bequem. Sie fragte sich, wer sie gefangen genommen hatte – die Koalitionsmarine, Piraten, noch schlimmere Leute. Manchmal konnte sie sogar schlafen.

Am vierten Tag zwangen sie die Einsamkeit, der Hunger, die Langeweile und die schwindende Zahl von Möglichkeiten, ihren Urin zu lagern, schließlich dazu, mit den Angreifern Kontakt aufzunehmen. Sie hatte gedämpfte Schmerzensschreie gehört, irgendwo in der Nähe wurden anscheinend ihre Schiffskameraden geschlagen oder gefoltert. Wenn sie die Aufmerksamkeit der Entführer erregte, würde man sie vielleicht einfach zu den anderen bringen. Das war in Ordnung. Schläge konnte sie ertragen. Ein geringer Preis, wenn sie dafür wieder Menschen zu sehen bekam.

Der Spind befand sich neben der inneren Luftschleuse. Während des Fluges kam hier gewöhnlich kaum jemand vorbei, aber sie kannte natürlich nicht den Bauplan dieses Schiffs. Sie überlegte sich, was sie sagen und wie sie sich verhalten sollte. Als sie endlich jemanden hörte, der sich ihr näherte, wollte sie schreien, damit man sie herausließ. Das heisere Krächzen, das aus ihrer Kehle drang, überraschte sie selbst. Sie schluckte und bewegte die Zunge, um ein wenig Speichel zu produzieren, und versuchte es noch einmal. Wieder nur ein kaum wahrnehmbares Röcheln.

Direkt vor dem Spind waren Leute. Jemand redete leise. Julie hatte schon ausgeholt, um mit der Faust gegen die Tür zu trommeln, als sie hörte, was gesprochen wurde.

Nein, bitte nicht. Bitte tun Sie das nicht.

Dave. Der Mechaniker ihres Schiffs. Dave, der alte Zeichentrickfilme sammelte und eine Million Witze kannte, flehte mit leiser, gebrochener Stimme jemanden an.

Nein, bitte nicht. Bitte tun Sie das nicht, sagte er.

Die Hydraulik und die Verschlussriegel klickten, als die innere Tür der Luftschleuse aufging. Dann ein sattes Klatschen, als etwas hineingeworfen wurde. Wieder ein Klicken, die Luftschleuse schloss sich. Das Zischen entweichender Luft.

Sobald die Luftschleuse wieder im alten Zustand war, entfernten sich die Leute von ihrer Spindtür. Julie klopfte nicht, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen.

Sie hatten das Schiff blitzblank geputzt. Eine Verhaftung durch die Marine der inneren Planeten war immer eine üble Sache, aber sie hatten alle den Umgang mit solchen Situationen geübt. Heikle AAP-Daten wurden gelöscht und mit unschuldigen Logdaten überschrieben, die zudem falsche Zeitstempel bekamen. Der Kapitän zerstörte alles, was zu gefährlich war, um es einem Computer anzuvertrauen. Als die Angreifer an Bord kamen, konnte die Besatzung unschuldig tun.

Es hatte keine Rolle gespielt.

Es hatte gar keine Fragen bezüglich der Fracht oder der Genehmigungen gegeben. Die Eindringlinge waren aufgetreten, als gehörte ihnen das Schiff, und Kapitän Darren hatte sich auf den Rücken geworfen wie ein unterwürfiger Hund. Alle anderen – Mike, Dave, Wan Li – hatten die Hände gehoben und waren seinem Beispiel gefolgt. Die Piraten oder Sklavenhändler, oder was sie auch waren, hatten sie von dem kleinen Transportschiff verschleppt, das ihre Heimat gewesen war, und mit notdürftigen Schutzanzügen versehen durch einen Andockschlauch bugsiert. Die dünne Polyesterfolie des Schlauchs war alles gewesen, was sie vor dem großen Nichts geschützt hatte. Hoffentlich riss sie nicht; und wenn doch, würden die Lungen platzen.

Julie war mitgekommen, ohne Widerstand zu leisten, doch dann hatten die Dreckskerle sie betatscht und versucht, ihr die Sachen auszuziehen.

Fünf Jahre Jiu-Jitsu-Training bei niedriger Schwerkraft hatten sich ausgezahlt. Sie hatte eine Menge Schaden angerichtet und schon angenommen, sie könnte sogar gewinnen, bis aus dem Nichts eine Faust in einem Panzerhandschuh herabgesaust war. Die daran anschließenden Eindrücke waren etwas wirr, und schließlich hatte sie im Spind gehockt: Erschießt sie, wenn sie auch nur einen Mucks von sich gibt. Vier stumme Tage, während die anderen ihre Freunde verprügelt und einen von ihnen durch die Luftschleuse ins All geworfen hatten.

Nach sechs Tagen wurde es ruhig.

Sie pendelte zwischen bewussten Phasen und zersplitterten Träumen und bemerkte nur am Rande die Schritte und Gespräche der Leute, das Einrasten der Druckschotts und das unterschwellige Grollen des Reaktors. Einmal verstummte der Antrieb ganz und gar. Gleichzeitig setzte auch die Schwerkraft aus, und Julie erwachte aus einem Traum, in dem sie mit ihrer alten Rennpinasse dahingerast war. Auf einmal war sie gewichtslos, und ihr taten alle Muskeln weh. Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder entspannte.

Sie schwebte näher an die Tür und presste das Ohr an das kalte Metall. Zuerst geriet sie in Panik, dann vernahm sie das leise Geräusch der Luftaufbereiter. Das Schiff hatte Energie und Luft, nur der Antrieb arbeitete nicht, und niemand öffnete eine Tür, ging vorbei oder redete. Vielleicht eine Mannschaftssitzung. Oder eine Party auf einem anderen Deck. Oder sie waren alle im Maschinenraum und führten eine wichtige Reparatur durch.

Julie verbrachte den ganzen Tag damit, zu lauschen und zu warten.

Am siebten Tag war der letzte Wassertropfen verbraucht. Seit vierundzwanzig Stunden war niemand mehr in Hörweite gekommen. Sie saugte an einem Plastikschild, das sie vom Schutzanzug abgerissen hatte, bis sich etwas Speichel entwickelte, dann schrie sie. Sie schrie, bis sie heiser war.

Niemand kam.

Am achten Tag war sie bereit, sich erschießen zu lassen. Sie hatte seit zwei Tagen nichts getrunken, und ihr Abfallbeutel lief über. Sie stemmte sich mit den Schultern gegen die Rückwand des Spinds und drückte mit den Händen gegen die Seitenwände. Dann trat sie mit beiden Beinen so fest wie möglich zu. Die Krämpfe, die nach dem ersten Tritt einsetzten, ließen sie fast ohnmächtig werden. Sie kreischte.

Dummes Mädchen, sagte sie sich selbst. Sie war dehydriert. Acht Tage ohne jede Bewegung, das war mehr als genug, um eine Muskelatrophie zu entwickeln. Wenigstens hätte sie sich mal strecken können.

Sie massierte die steifen Muskeln, bis die Knoten verschwanden, streckte sich und konzentrierte sich, als wäre sie wieder im Dojo. Sobald sie ihren Körper unter Kontrolle hatte, trat sie zu. Und noch einmal. Wieder und wieder, bis durch einige Spalten Licht hereinfiel. Und weiter, bis die Tür so verbeult war, dass die drei Scharniere und der Riegel die einzigen Punkte waren, die das Türblatt noch am Rahmen festhielten.

Ein letztes Mal, und der Riegel rutschte aus der Klammer. Die Tür schwang auf.

Julie schoss aus dem Spind heraus, die Hände halb erhoben und bereit, entweder gefährlich oder verschreckt zu wirken, je nachdem, was aussichtsreicher schien.

Auf dem ganzen Deck war kein Mensch. Die Luftschleuse, das Lager für den Druckanzug, wo sie die letzten acht Tage verbracht hatte, ein halbes Dutzend weiterer Räume. Alle leer. Sie schnappte sich eine große magnetisierte Rohrzange, die gut geeignet war, um sogar in Raumanzügen steckende Schädel zu zertrümmern, und stieg die Leiter zum nächsten Deck hinab.

Dann eines tiefer und schließlich noch weiter hinunter. Sie fand Kabinen, die perfekt und beinahe militärisch in Ordnung gehalten waren. Die Messe, in der es keine Kampfspuren gab. Die Sanitätsstation, ebenfalls verlassen. Der Torpedoraum. Niemand da. Die Funkstation war nicht besetzt, abgeschaltet und verschlossen. Die paar Sensoren, die noch Daten lieferten, zeigten keine Spur von der Scopuli. Eine neue Furcht lag ihr wie ein Stein im Bauch. Deck um Deck und Raum auf Raum waren bar jeden Lebens. Irgendetwas war passiert. Vielleicht ein Strahlungsleck oder Gift in der Luft. Irgendetwas, das eine Evakuierung erzwungen hatte. Sie fragte sich, ob sie das Schiff allein fliegen konnte.

Aber wenn die anderen das Schiff aufgegeben hatten, dann hätte sie doch hören müssen, wie sie es durch die Luftschleuse verlassen hatten.

Sie erreichte das Schott des letzten Decks, auf dem sich der Maschinenraum befand. Als sich die Luke nicht automatisch öffnete, hielt sie inne. Ein rotes Licht auf der Schalttafel verriet ihr, dass der Raum von innen versiegelt worden war. Wieder dachte sie über Strahlung und größere Störungen nach. Doch welchen Sinn hätte es gehabt, in einem solchen Fall den Maschinenraum von innen zu verschließen? Außerdem war sie an zahlreichen Anzeigetafeln vorbeigekommen und hatte auf keiner einzigen blinkende Warnlichter entdeckt. Nein, Strahlung schied aus. Es musste etwas anderes sein.

Hier herrschte mehr Unordnung. Blut. Werkzeug und Behälter waren wild durcheinandergeworfen. Was auch passiert war, es hatte sich hier ereignet. Nein, es hatte hier begonnen und hinter jener verschlossenen Tür geendet.

Sie brauchte zwei Stunden mit Schweißbrenner und Brechstange, um den Zugang zum Maschinenraum zu knacken. Da sie dabei zwangsläufig die Hydraulik zerstörte, musste sie anschließend das Schott von Hand aufschieben. Ein Schwall warmer Luft wehte ihr entgegen, der nach Krankenhaus roch, aber ohne Desinfektionsmittel. Ein kupferner, Übelkeit erregender Geruch. Eine Folterkammer also. Ihre Freunde waren sicher dort drinnen, zusammengeschlagen oder in Stücke geschnitten. Julie hob die Zange und bereitete sich darauf vor, wenigstens noch einen Schädel zu zertrümmern, ehe die anderen sie töteten. Sie schwebte hinüber.

Der Maschinenraum war riesig und hatte eine gewölbte Decke wie eine Kathedrale. Der Fusionsreaktor nahm das Zentrum ein. Dort stimmte etwas nicht. Wo sie erwartet hatte, Anzeigen, Abschirmungen und Monitore zu sehen, floss etwas über den Reaktorkern, das ihr vorkam wie eine Schicht Schlamm. Langsam schwebte Julie hinüber, hielt sich aber noch mit einer Hand an der Leiter fest. Der seltsame Geruch wurde stärker.

So etwas wie den Schlamm, der um den Reaktor festgebacken war, hatte sie noch nie gesehen. Durch die Masse zogen sich Schläuche, die an Adern oder Luftröhren erinnerten. Einige Teile pulsierten. Also war es kein Schlamm.

Es lebte.

Ein Auswuchs des Dings drehte sich zu ihr herum. Verglichen mit den Ausmaßen der Masse war es nicht größer als eine Zehe oder ein kleiner Finger. Es war Kapitän Darrens Kopf.

»Hilf mir«, sagte er.

1 Holden

Hundertfünfzig Jahre früher, als der engstirnige Konflikt zwischen Erde und Mars fast zu einem Krieg ausgeartet wäre, hatte sich der Asteroidengürtel weit entfernt am Horizont befunden. Er hatte einen ungeheuren Schatz an Mineralien geborgen, der allerdings nicht wirtschaftlich zu heben gewesen war, und die äußeren Planeten waren nicht einmal in den Träumen der genialsten Strategen der großen Firmen vorgekommen. Dann hatte Solomon Epstein einen leicht veränderten Fusionsantrieb konstruiert, auf seine Dreimannjacht gepflanzt und ihn eingeschaltet. Mit einem guten Teleskop konnte man sein Schiff immer noch mit einem Bruchteil der Lichtgeschwindigkeit in die große Leere fliegen sehen. Die beste und längste Beerdigung in der Geschichte der Menschheit. Glücklicherweise hatte er die Pläne daheim in seinem Computer hinterlassen. Der Epsteinantrieb hatte der Menschheit zwar nicht die Sterne geschenkt, ihr jedoch die Planeten ausgeliefert.

Die Canterbury war einen Dreiviertelkilometer lang, in etwa wie ein Feuerwehrhydrant geformt und bestand innen überwiegend aus einem riesigen Hohlraum. Sie war ein umgebauter Kolonietransporter. Früher war sie mit Menschen, Vorräten, Schaltplänen, Maschinen, Schutzzelten und Hoffnung vollgestopft gewesen. Inzwischen lebten auf den Saturnmonden knapp zwanzig Millionen Menschen. Die Canterbury hatte fast eine Million ihrer Vorfahren dorthin befördert. Vierundfünfzig Millionen wohnten auf den Jupitermonden, auf einem Uranusmond gab es fünftausend Siedler. Dies sollte der letzte Vorposten der menschlichen Zivilisation bleiben, bis die Mormonen ihr Generationenschiff fertigstellten und zu den Sternen und in die Freiheit aufbrachen, um den restriktiven Fortpflanzungsbestimmungen der Erde zu entfliehen.

Außerdem war da noch der Gürtel.

Befragte man die AAP-Werber, wenn sie betrunken genug waren und redselig wurden, dann behaupteten sie vielleicht, im Gürtel lebten hundert Millionen. Nach den Angaben der Bevölkerungsstatistiker auf den inneren Planeten waren es eher fünfzig Millionen. Wie man es auch betrachtete, es war eine riesige Bevölkerung, die eine Menge Wasser brauchte.

Deshalb flogen die Canterbury und ein Dutzend Schwesterschiffe des Versorgungsunternehmens Pur’n’Kleen zwischen den ergiebigen Saturnringen und dem Gürtel hin und her, schafften Gletscher heran und würden damit fortfahren, bis sie zu alt waren und abgewrackt werden mussten.

Jim Holden fand diese Vorstellung sogar ein wenig poetisch.

»Holden?«

Er drehte sich zum Hangardeck um. Chefingenieurin Naomi Nagata ragte vor ihm auf. Sie war mindestens zwei Meter groß, das widerspenstige Lockenhaar hatte sie zu einem schwarzen Pferdeschwanz gebunden, und ihre Miene war eine Mischung aus Belustigung und Gereiztheit. Wie alle Gürtler hatte sie die Angewohnheit, zum Achselzucken nicht die Schultern, sondern beide Hände zu bewegen.

»Holden, hören Sie jetzt zu, oder starren Sie nur Löcher in die Luft?«

»Wir haben ein Problem«, erklärte Holden. »Und weil Sie wirklich sehr, sehr gut sind, können Sie es in Ordnung bringen, obwohl Sie weder genügend Geld noch Ressourcen haben.«

Naomi lachte.

»Sie haben tatsächlich nicht zugehört.«

»Leider nicht, nein.«

»Tja, im Grunde haben Sie es aber korrekt wiedergegeben. Die Landestützen der Knight sind in der Atmosphäre unbrauchbar, solange ich nicht die Dichtungen ausgetauscht habe. Ist das ein Problem?«

»Ich frage mal den Alten«, erwiderte Holden. »Aber wann haben wir das Shuttle zum letzten Mal in der Atmosphäre benutzt?«

»Noch nie. Allerdings besagen die Vorschriften, dass wir mindestens ein atmosphärentaugliches Shuttle haben müssen.«

»Hallo, Boss!« Amos Burton, Naomis auf der Erde geborener Assistent, rief ihr quer durch den Hangar etwas zu und winkte ihnen mit einem Arm. Er meinte Naomi. Amos mochte sich auf Kapitän McDowells Schiff befinden, Holden mochte der Executive Officer sein, doch in Amos Burtons Welt war nur Naomi der Boss.

»Was gibt es?«, rief Naomi zurück.

»Ein kaputtes Kabel. Kannst du das verdammte Ding an Ort und Stelle halten, während ich das Ersatzteil hole?«

Naomi blickte Holden fragend an. Sind wir hier fertig?, sagten die Augen. Er salutierte ironisch, worauf sie schnaubte und sich kopfschüttelnd entfernte. In dem verschmierten Overall wirkte ihr Körper besonders lang und schmal.

Sieben Jahre bei der Marine der Erde, fünf Jahre Arbeit im Weltraum mit Zivilisten, und er hatte sich immer noch nicht an den unglaublich dürren, großen Körperbau der Gürtler gewöhnt. Wenn man die Kindheit in normaler Schwerkraft verbrachte, konnte man gar nicht anders, als die Dinge auf eine ganz bestimmte Weise zu betrachten.

Am Zentralaufzug tippte Holden auf den Knopf für das Navigationsdeck und freute sich schon darauf, Ade Tukunbo zu begegnen – dieses Lächeln, die Stimme, die nach Patschuli und Vanille duftenden Haare –, doch stattdessen drückte er auf den Knopf der Krankenstation. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.

Shed Garvey, der Medizintechniker, hatte sich über den Behandlungstisch gebeugt und säuberte Cameron Pajs Armstumpf, als Holden hereinkam. Einen Monat zuvor hatte ein dreißig Tonnen schwerer Eisklotz, der sich mit einer Geschwindigkeit von fünf Millimetern pro Sekunde bewegt hatte, Pajs linken Arm eingequetscht. Unter den Menschen, die sich der gefährlichen Aufgabe widmeten, in der Schwerelosigkeit Eisberge zu zerschneiden und zu befördern, war dies eine recht häufige Verletzung. Paj nahm die Sache mit dem Fatalismus eines Profis hin. Holden beugte sich über Sheds Schulter, als der Techniker eine medizinische Made aus dem abgestorbenen Gewebe zog.

»Wie sieht’s aus?«, fragte Holden.

»Ziemlich gut, Sir«, erwiderte Paj. »Ein paar Nerven funktionieren noch, und Shed hat mir erklärt, wie die Prothese mit ihnen verbunden wird.«

»Vorausgesetzt, wir halten die Nekrose unter Kontrolle«, wandte der Sanitäter ein, »und vorausgesetzt, wir können dafür sorgen, dass die Wunde nicht zu weit abheilt, ehe wir Ceres erreichen. Ich habe die Akte durchgesehen. Paj ist lange genug dabei, um Anspruch auf eine Prothese mit Muskelfeedback, Druck- und Temperatursensoren und feinmotorischer Software zu haben. Das volle Paket. Der neue Arm wird fast so gut wie der alte sein. Die inneren Planeten haben sogar ein neues Biogel entwickelt, das den verlorenen Körperteil nachwachsen lässt, aber das wird von unserer Police nicht abgedeckt.«

»Zur Hölle mit den Inneren, zur Hölle mit ihrer Zaubergrütze. Ich hab lieber eine gute Nachbildung aus dem Gürtel als irgendetwas, das die Schweinehunde im Labor züchten. Wahrscheinlich wird man zum Arschloch, sobald man nur einen hübschen Arm von ihnen mit sich herumträgt«, sagte Paj. Dann fügte er eilig hinzu: »Oh, äh, war nicht persönlich gemeint, XO.«

»Schon gut. Ich bin nur froh, dass wir Sie wieder zusammenflicken können«, sagte Holden.

»Erzähl ihm auch den Rest«, sagte Paj mit einem bösen Grinsen. Shed errötete.

»Na ja, ich, äh, ich habe da mal was von Leuten gehört, die so eine Prothese haben.« Der Sanitäter wich Holdens Blick aus. »Anscheinend gibt es eine Phase, wenn man sich noch nicht völlig mit der Prothese identifiziert hat, in der es sich beim Wichsen so anfühlt, als würde es einem jemand anders machen.«

Holden ließ die Bemerkung einen Moment in der Luft hängen, während Shed bis über beide Ohren rot anlief.

»Gut zu wissen«, meinte Holden schließlich. »Und die Nekrose?«

»Er hat eine Infektion«, erklärte Shed. »Die Maden halten das unter Kontrolle, daher ist die Entzündung eigentlich eine gute Sache, also bekämpfen wir sie nicht zu energisch, solange sie sich nicht ausbreitet.«

»Wird er für die nächste Tour wieder fit sein?«, fragte Holden.

Pajs Miene verfinsterte sich.

»Verdammt, ja, ich werde bereit sein. Ich bin immer bereit. Das gehört doch zu meinem Job, Sir.«

»Wahrscheinlich«, ergänzte Shed. »Es kommt darauf an, wie gut die Prothese sich mit dem Körper verbindet. Wenn nicht die nächste Tour, dann spätestens die danach.«

»Verdammt auch«, protestierte Paj. »Ich kann einhändig das Eis immer noch besser steuern, als es die meisten anderen Ärsche auf diesem Kahn mit beiden Händen können.«

»Wie ich schon sagte, das ist gut zu wissen. Nur weiter so.« Holden unterdrückte ein Grinsen.

Paj schnaubte. Shed pulte eine weitere Made aus der Wunde. Holden kehrte zum Lift zurück, und dieses Mal zögerte er nicht, als er das Ziel wählte.

Die Navigation der Canterbury machte nicht sonderlich viel her. Die wandhohen Anzeigen, die Holden sich bei seiner freiwilligen Meldung für die Raummarine noch vorgestellt hatte, gab es nur auf Großkampfschiffen, und selbst dort waren sie viel eher Beiträge zum Design als nützliche Gegenstände. Ade saß vor zwei Bildschirmen, die kaum größer waren als normale Terminals, und beobachtete Kurven, die Aufschluss über Wirkungsgrad und Leistung des Reaktors der Canterbury gaben, während rechts die Protokolldaten verschiedener Systeme aufgelistet wurden. Sie trug dicke Kopfhörer, aus denen gerade noch das schwache Pochen der Bässe herausdrang. Hätte die Canterbury eine Anomalie aufgespürt, dann hätte ein Alarm sie darauf aufmerksam gemacht. Wenn ein System Fehler produzierte, schlug ein anderer Alarm an. Wenn Kapitän McDowell die Brücke verließ, sagte er ihr Bescheid, damit sie die Musik abstellen und beschäftigt tun konnte, bevor er überhaupt eintraf. Ihre heimlichen Laster waren nur eines von tausend Dingen, die Holden an Ade so anziehend fand. Er trat hinter sie und zog ihr sanft die Kopfhörer ab. »Hallo.«

Ade lächelte, tippte auf ihren Bildschirm und legte sich die Kopfhörer um den langen schlanken Hals wie ein großes technisches Schmuckstück.

»Executive Officer James Holden«, sagte sie übertrieben förmlich, was dank ihres starken nigerianischen Akzents besonders reizend klang. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ist schon komisch, dass du mich das fragst«, erwiderte er. »Ich habe mir gerade vorgestellt, wie schön es wäre, wenn jemand in meine Kabine kommt, sobald die dritte Schicht uns ablöst. Ein kleines romantisches Dinner mit dem Zeug, das sie auch in der Kantine servieren. Etwas Musik hören.«

»Ein Glas Wein trinken«, ergänzte sie. »Ein bisschen gegen die Vorschriften verstoßen. Ein hübscher Gedanke, aber mir ist heute nicht nach Sex.«

»Ich rede nicht von Sex, nur vom Essen und einer Plauderei.«

»Ich habe von Sex geredet«, gab sie zurück.

Holden kniete neben ihrem Stuhl nieder. Bei einem Drittel G, mehr gab der gegenwärtige Schub nicht her, war das durchaus bequem. Ades Lächeln wurde breiter. Dann zirpte der Bildschirm mit den Logs, sie warf einen Blick darauf, drückte zur Bestätigung auf einen Knopf und wandte sich wieder ihm zu.

»Ade, ich mag dich. Ich meine, ich genieße deine Gesellschaft«, sagte er. »Ich verstehe nicht, warum wir nicht etwas Zeit zusammen verbringen können. Angezogen.«

»Holden, Süßer, hör auf damit, ja?«

»Womit soll ich aufhören?«

»Hör auf, mich in deine Freundin zu verwandeln. Du bist ein netter Kerl, du hast einen hübschen Arsch und bist nicht schlecht im Bett. Das heißt aber nicht, dass wir verlobt sind.«

Holden wiegte sich auf den Hacken hin und her und runzelte die Stirn.

»Ade, damit es für mich funktioniert, muss es mehr sein als nur das.«

»Ist es aber nicht.« Sie nahm seine Hand. »Es ist gut, dass es nicht mehr ist. Du bist hier der XO, und ich habe nur für kurze Zeit angeheuert. Noch ein oder zwei Touren vielleicht, dann bin ich weg.«

»Ich bin auch nicht für immer an dieses Schiff gekettet.«

Ihr Lachen war zugleich freundlich und ungläubig.

»Wie lange bist du jetzt auf der Canterbury?«

»Fünf Jahre.«

»Du gehst nirgendwohin«, sagte sie. »Du fühlst dich hier wohl.«

»Wohlfühlen?«, antwortete er. »Die Canterbury ist ein hundert Jahre alter Eisfrachter. Es gibt sicher üblere Schiffe, auf denen man anheuern kann, aber dazu müsste man lange suchen. Alle hier an Bord sind entweder krass unterqualifiziert oder haben bei ihrem letzten Einsatz großen Mist gebaut.«

»Und du fühlst dich hier wohl.« Ihr Blick war nicht mehr ganz so freundlich. Sie biss sich auf die Unterlippe, blickte auf den Bildschirm und sah ihn wieder an.

»Das habe ich nicht verdient«, beklagte er sich.

»Nein, hast du nicht«, stimmte sie zu. »Hör mal, ich sagte dir doch, ich bin heute nicht in Stimmung. Ich bin launisch und muss ausschlafen. Morgen bin ich bestimmt besser drauf.«

»Versprochen?«

»Ich mach dir sogar das Abendessen. Entschuldigung akzeptiert?«

Er beugte sich vor und küsste sie auf die Lippen. Sie erwiderte den Kuss, höflich zuerst, dann leidenschaftlicher. Sie legte ihm die Finger an den Hals, dann schob sie ihn fort.

»Darin bist du wirklich viel zu gut. Du solltest jetzt gehen«, sagte sie. »Die Pflicht ruft … und so weiter.«

»Okay.« Er machte jedoch keinerlei Anstalten, sich zurückzuziehen.

»Jim«, sagte sie. Ein Knacken im Schiffscom unterbrach sie.

»Holden auf die Brücke«, befahl Kapitän McDowell. Seine Stimme klang gepresst und hallte. Holden reagierte mit einer unflätigen Bemerkung, worauf Ade lachte. Er beugte sich noch einmal vor, küsste sie auf die Wange und kehrte zum Zentralaufzug zurück. Insgeheim wünschte er McDowell Eiterbeulen und öffentliche Demütigung, weil der Kapitän ausgerechnet in diesem heiklen Moment gestört hatte.

Die Brücke war geringfügig größer als Holdens Quartier und nicht einmal halb so groß wie die Messe. Abgesehen von dem etwas größeren Display des Kapitäns, der Grund dafür waren allerdings nur die sich verschlechternde Sehkraft des Besitzers und dessen Misstrauen gegenüber der Augenchirurgie, hätte es sich auch um das Hinterzimmer eines Steuerberaters handeln können. Die Luft roch nach scharfen Reinigungsmitteln und dem übermäßig starken Matetee, den sich jemand aufgebrüht hatte. McDowell drehte sich auf seinem Sitz um, als Holden kam. Dann lehnte sich der Kapitän wieder an und deutete über die Schulter zur Comstation.

»Becca!«, befahl McDowell. »Zeigen Sie es ihm.«

Rebecca Byers, die als Kommunikationsoffizier Dienst tat, hätte die Tochter eines Hais und eines Beilfischs sein können. Schwarze Augen, scharfe Gesichtszüge, schmale Lippen, die man fast nicht sah. Es hieß, sie hätte den Job auf dem Schiff nur angenommen, um nach dem Mord an ihrem Ehemann der Strafverfolgung zu entgehen. Holden mochte sie.

»Ein Notsignal«, berichtete sie jetzt. »Wir haben es vor zwei Stunden aufgefangen. Von Callisto ist gerade die Verifizierung des Transpondersignals eingegangen. Es ist echt.«

»Ah«, machte Holden. Und dann: »Verdammt. Sind wir am nächsten dran?«

»Wir sind in einem Umkreis von einer Million Kilometern das einzige Schiff.«

»Das passt uns ja gerade sehr gut«, meinte Holden.

Becca wandte sich an den Kapitän. McDowell knackte mit den Fingerknöcheln und starrte das Display an. Der grüne Widerschein gab ihm etwas Gespenstisches.

»Es ist in der Nähe eines bekannten Asteroiden, der nicht zum Gürtel gehört.«

»Wirklich?«, fragte Holden ungläubig. »Haben sie ihn etwa gerammt? Da draußen ist doch im Umkreis von Millionen Kilometern rein gar nichts.«

»Vielleicht haben sie angehalten, weil jemand aufs Töpfchen musste. Bisher wissen wir nur, dass da draußen irgendein Idiot sitzt und ein Notsignal sendet und dass wir das nächste Schiff sind. Angenommen …«

Das Gesetz galt im ganzen Sonnensystem. In einer so lebensfeindlichen Umgebung wie dem Weltraum waren die Hilfe und Unterstützung anderer Menschen kein großzügiges Entgegenkommen. Das Notsignal verpflichtete das nächste Schiff, anzuhalten und Hilfe zu leisten – was allerdings nicht bedeutete, dass sich tatsächlich alle an das Gesetz hielten.

Die Canterbury war voll beladen. Weit mehr als eine Million Tonnen Eis waren im Laufe des letzten Monats sanft beschleunigt worden. Genau wie der kleine Gletscher, der Pajs Arm zerquetscht hatte, war auch das Schiff nur schwer zu bremsen. Die Versuchung, ein unerklärliches Versagen der Funkanlage vorzuschieben, die Logdateien zu löschen und dem großen Gott Darwin alles Weitere zu überlassen, stand immer im Raum.

Doch wenn McDowell dies wirklich vorgehabt hätte, dann hätte er Holden nicht erst auf die Brücke gerufen, und erst recht nicht über den Schiffscom. Holden verstand sein Dilemma. Der Kapitän hätte die Sache vielleicht einfach vergessen, wäre Holden nicht gewesen. Die Besatzung hätte den Kapitän dafür respektiert, dass er den Profit des Schiffs nicht schmälern wollte. Ein paar würden andererseits Holden dafür respektieren, dass er darauf bestand, die Regeln zu befolgen. So oder so, einer von ihnen würde gehasst werden, was immer sie auch entschieden.

»Wir müssen bremsen«, sagte Holden und fügte mutig hinzu: »Vielleicht gibt es ja Bergegut.«

McDowell tippte auf den Bildschirm. Sofort meldete sich Ade. Ihre Stimme klang so weich und warm, als stünde sie im Raum.

»Kapitän?«

»Ich brauche Daten, wie wir diese Kiste anhalten können«, sagte er.

»Sir?«

»Wie schwierig ist es, uns neben CA-2216862 zu manövrieren?«

»Wollen wir an einem Asteroiden anhalten?«

»Das sage ich Ihnen, wenn Sie meinen Befehl ausgeführt haben, Navigator Tukunbo.«

»Ja, Sir.« Holden hörte es klicken. »Wenn wir das Schiff sofort wenden und bis zum Anschlag aufdrehen, kommen wir bis auf fünfzigtausend Kilometer heran, Sir.«

»Können Sie ›bis zum Anschlag‹ näher definieren?«, fragte McDowell.

»Wir müssen alle auf die Druckliegen.«

»Ja, natürlich.« McDowell kratzte sich seufzend am zotteligen Bart. »Und das rutschende Eis wird an der Hülle höchstens einen Schaden von ein paar Millionen anrichten, wenn wir Glück haben. Ich werde zu alt für diesen Mist, Holden. Ehrlich.«

»Ja, Sir, das stimmt. Ich bin schon lange scharf auf Ihren Posten.« McDowell starrte ihn finster an und machte eine obszöne Geste. Rebecca wieherte vor Lachen. Der Kapitän drehte sich zu ihr herum.

»Schicken Sie eine Nachricht an den Sender, dass wir unterwegs sind, und geben Sie auf Ceres Bescheid, dass wir uns verspäten. Holden, wie steht es um die Knight?«

»Ohne Ersatzteile ist sie in der Atmosphäre nicht flugtauglich, aber im Vakuum wird sie die fünfzigtausend Kilometer leicht schaffen.«

»Sind Sie sicher?«

»Naomi hat es mir gesagt. Also ist es wahr.«

McDowell stand auf und entfaltete sich zu seiner vollen Länge von fast zweieinviertel Metern. Dabei war er dünner als ein Teenager auf der Erde. Da er nicht mehr der Jüngste war und nie unter voller Schwerkraft gelebt hatte, würde die bevorstehende Bremsphase dem alten Mann sehr zusetzen. Holden empfand starkes Mitgefühl, war jedoch fest entschlossen, McDowell nicht dadurch in Verlegenheit zu bringen, dass er es erwähnte.

»Es sieht folgendermaßen aus, Jim.« McDowell sprach leise, damit nur Holden es hören konnte. »Wir sind verpflichtet, anzuhalten und es zu versuchen, aber wir müssen uns dabei kein Bein ausreißen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Uns bleibt ja sowieso nichts anderes übrig«, sagte Holden, und McDowell wedelte mit den großen schmalen Händen herum. Auch dies war eine der vielen Gürtler-Gesten, die sich entwickelt hatten, weil die normale Gestik im Raumanzug nicht zu erkennen war.

»Es lässt sich eben nicht vermeiden«, fuhr der Kapitän fort. »Aber wenn Sie da draußen etwas Komisches bemerken, dann spielen Sie bloß nicht den Helden. Sammeln Sie einfach nur alles ein und kommen Sie zurück.«

»Und um den Rest kann sich dann das nächste Schiff kümmern?«

»Sie sollen auf die eigene Sicherheit achten«, sagte McDowell. »Das ist ein Befehl. Verstanden?«

»Verstanden«, bestätigte Holden.

Als der Schiffscom klickte und McDowell dem Rest der Mannschaft die Lage schilderte, stellte Holden sich vor, wie er auf den Decks einen stöhnenden Chor hörte. Er ging zu Rebecca.

»Also«, sagte er, »was wissen wir über das havarierte Schiff?«

»Ein leichter Frachter, auf dem Mars registriert. Eros ist der Heimathafen. Es heißt Scopuli …«

2 Miller

Detective Miller lehnte sich in das Schaumstoffpolster des Stuhls zurück, lächelte sanft und ermutigend und bemühte sich, das Gestammel des Mädchens zu verstehen.

»Und dann macht es ›Peng!‹, und auf einmal kommen die ganzen Stecher rein und heulen und legen los«, sagte das Mädchen und wedelte mit der Hand. »Sah aus wie ’ne Tanznummer, nur dass Bomie absolut keinen Blassen hatte, was da abging und so. Sie wissen schon, que?«

Havelock, der an der Tür stand, blinzelte zweimal. Das Gesicht des untersetzten Mannes zuckte ungeduldig. Deshalb würde Havelock es nie bis zum Leitenden Detective bringen. Deshalb war er ein mieser Pokerspieler.

Miller pokerte sehr gut.

»Absolut«, antwortete er und sprach auf einmal wie ein Bewohner der innersten Ebene. Er winkte ebenso lässig mit einer Hand wie das Mädchen. »Bomie hat es nicht geblickt und außerdem den Arm vergessen.«

»Hat den Arm vergessen, jau«, bekräftigte das Mädchen, als hätte Miller ihm ein Gebet vorgesprochen. Miller nickte, und das Mädchen nickte zurück, als wären sie zwei balzende Vögel.

Das gemietete Wohnloch bestand aus drei beigefarben mit schwarzen Flecken gestrichenen Räumen: Bad, Küche, Wohnzimmer. Die Streben des Klappbetts im Wohnzimmer waren mehrfach gebrochen und geflickt und ließen sich nicht mehr einziehen. So nahe an der Drehachse von Ceres waren die Schäden eher auf den Einfluss träger Masse als auf die Schwerkraft zurückzuführen. Die Luft roch nach Bier, alter Hefe und Pilzen. Billiges Essen. Wer auch immer das Mädchen so fest gevögelt hatte, dass die Streben gebrochen waren, er hatte nicht genug für das Essen bezahlt. Oder vielleicht hatte er bezahlt, und das Mädchen hatte lieber alles für Heroin, Malta und MCK ausgegeben.

Aber das war ja ihre Sache.

»Und dann, que?«, fragte Miller.

»Bomie ist verduftet, als hätte er ein Luftloch«, kicherte das Mädchen. »Keinen Bock auf Kopfnüsse und so, kennis tu?«

»Schon klar«, sagte Miller.

»Und dann kamen lauter neue Messerjungs. War mir zu heftig, ich bin dann weg.«

»Und Bomie?«

Das Mädchen ließ den Blick langsam über Miller gleiten, von den Schuhen bis zu den Knien und hinauf zum schweinsledernen Hut. Miller kicherte und versetzte dem Stuhl einen kleinen Stoß, worauf der Detective in der niedrigen Schwerkraft sofort aufrecht stand.

»Gib mir Bescheid, wenn er auftaucht, que si?«, sagte Miller.

»Como no?«, entgegnete das Mädchen. Warum nicht?

Der Tunnel draußen war weiß, wo er nicht verdreckt war. Zehn Meter breit, in beiden Richtungen leicht abschüssig. Die weißen LED-Lampen taten nicht einmal so, als könnten sie das Sonnenlicht imitieren. Ungefähr einen halben Kilometer weiter war jemand so fest gegen die Wand geprallt, dass in den Dellen das natürliche Gestein zum Vorschein kam. Das Wohnloch war noch nicht repariert, vielleicht würde es nie geschehen. Dies war die übelste Ebene, ganz oben in der Nähe der Rotationsachse. Hierherkamen keine Touristen.

Havelock übernahm die Führung, als sie zu ihrem Karren zurückkehrten. Bei jedem Schritt federte er viel zu hoch. Er kam nicht oft in die Bereiche mit niedriger Schwerkraft und fühlte sich dort nicht wohl. Miller dagegen hatte sein ganzes Leben auf Ceres verbracht, und wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass die starke Corioliskraft in dieser Gegend sogar ihn manchmal schwindeln ließ.

»Na«, stichelte Havelock, als er den Code für ihr Ziel eintippte. »Hattest du wenigstens deinen Spaß?«

»Ich weiß nicht, was du meinst«, entgegnete Miller.

Die Elektromotoren erwachten summend zum Leben, der Karren fuhr ruckend an und beförderte sie auf leise quietschenden Schaumstoffrädern durch den Tunnel.

»Ich meine deine demonstrative Unterhaltung vor dem Kerl von der Erde«, sagte Havelock. »Davon habe ich nicht mal die Hälfte verstanden.«

»Es ging nicht darum, dass Gürtler den Mann von der Erde außen vor gelassen haben«, erklärte Miller. »Es ging eher darum, dass arme Leute den gebildeten Kerl ausgegrenzt haben. Und da du es schon erwähnst, es hat mir tatsächlich Spaß gemacht.«

Havelock lachte. Er nahm es einem nicht übel, wenn man ihn aufzog. Deshalb beherrschte er alle Mannschaftssportarten so gut: Fußball, Basketball, Politik.

Miller war darin nicht sehr gut.

Ceres, die größte Hafenstadt des Gürtels und der äußeren Planeten, hatte einen Durchmesser von zweihundertfünfzig Kilometern und bestand aus Zehntausenden Kilometern von Tunneln, die in unzähligen Schichten übereinanderlagen. Die klügsten Köpfe von Tycho Manufacturing hatten eine halbe Generation gebraucht, um das Objekt in eine Drehbewegung zu versetzen, die 0,3 G erzeugte, und die Firma war heute noch sehr stolz auf diese Leistung. Inzwischen zählte Ceres mehr als sechs Millionen ständige Einwohner, und an jedem beliebigen Tag dockten bis zu tausend Schiffe an, was die Bevölkerung bis auf sieben Millionen erhöhte.

Platin, Eisen und Titan aus dem Gürtel. Wasser vom Saturn, Gemüse und Rindfleisch von den großen, mit Spiegeln ausgestatteten Gewächshäusern auf Ganymed und Europa, organische Produkte von der Erde und dem Mars. Energiespeicher von Io, Helium-3 von den Raffinerien auf Rhea und Iapetus. Ein Strom von Wohlstand und Macht, der in der Menschheitsgeschichte seinesgleichen suchte, verlief durch Ceres. Wo es Handel in dieser Größenordnung gab, existierten natürlich auch Verbrechen. Wo es Verbrechen gab, brauchte man Sicherheitskräfte zu deren Bekämpfung. Männer wie Miller und Havelock, deren Aufgabe es war, mit Elektrokarren über die breiten Rampen zu fahren, wobei die künstliche Rotationsschwerkraft von ihnen abfiel, und billige Flittchen zu fragen, was an dem Abend passiert war, als Bomie Chatterjee aufgehört hatte, für die Golden Bough Society Schutzgeld zu erpressen.

Die Hauptwache der Star Helix Security, zugleich Polizei und Militärgarnison auf der Ceres-Station, lag auf der dritten Ebene des Asteroiden, maß zwei mal zwei Kilometer und war so hoch, dass Miller von seinem Schreibtisch aus fünf Ebenen hinauflaufen konnte, ohne den Verwaltungsbereich zu verlassen. Havelock brachte den Karren zum Fuhrpark, während Miller in seinen Verschlag ging, die Aufzeichnung ihrer Befragung des Mädchens herunterlud und sie noch einmal ablaufen ließ. Er war zur Hälfte durch, als sein Partner hinter ihm auftauchte.

»Sagt dir das etwas?«, fragte Havelock.

»Nicht viel«, erklärte Miller. »Ein paar nicht organisierte Schläger aus der Gegend haben sich Bomie vorgeknöpft. Manchmal heuert jemand wie Bomie auch selbst Leute an, die nur so tun, als würden sie ihn überfallen, damit er den Helden spielen und sie abwehren kann. Das ist gut für den Ruf. Das meinte sie, als sie sagte, es sei eine Tanznummer gewesen. Die Burschen, die auf ihn losgegangen sind, waren genau von dieser Sorte, nur dass Bomie weggelaufen und nicht wieder aufgetaucht ist, statt den Superninja zu geben.«

»Und jetzt?«

»Nichts weiter«, sagte Miller. »Das ist es ja, was ich nicht verstehe. Jemand hat einen Eintreiber der Golden Bough Society ausgeschaltet, und es gibt keine Reaktion. Ich meine, Bomie ist kein großes Licht, aber …«

»Aber wenn jemand die kleinen Lichter ausknipst, kommt oben weniger Geld an«, ergänzte Havelock. »Warum hat der Golden Bough nicht Rache genommen?«

»Das gefällt mir nicht«, erklärte Miller.

Havelock lachte nur. »Ihr Gürtler«, sagte er. »Eine Sache läuft komisch, und schon glaubt ihr, das ganze Ökosystem bricht zusammen. Wenn der Golden Bough zu schwach ist, sich zu behaupten, dann ist das doch eine gute Sache. Vergiss nicht, dass sie die Bösen sind.«

»Ja, sicher«, räumte Miller ein. »Aber über das organisierte Verbrechen kannst du sagen, was du willst, es ist auf jeden Fall gut organisiert.«

Havelock setzte sich neben Millers Schreibtisch auf einen kleinen Plastikstuhl und verrenkte den Hals, um die Aufzeichnung zu betrachten.

»Also gut«, sagte Havelock. »Was, zum Teufel, ist der ›vergessene Arm‹?«

»Ein Ausdruck aus dem Boxsport«, erklärte Miller. »Das ist der Schlag, den du nicht kommen siehst.«

Der Computer zirpte, aus den Lautsprechern ertönte Captain Shaddids Stimme.

»Miller? Sind Sie da?«

»Hm«, machte Havelock. »Böses Omen.«

»Wie war das?«, fragte die Vorgesetzte scharf. Ihre Vorurteile gegen Havelock, der von den inneren Planeten stammte, hatte sie nie ganz ablegen können. Miller hob eine Hand, um seinen Partner zum Schweigen zu bringen.

»Ich bin hier, Captain. Was kann ich für Sie tun?«

»Kommen Sie bitte in mein Büro.«

»Schon unterwegs«, sagte er.

Miller stand auf, und Havelock übernahm dessen Stuhl. Sie sprachen kein Wort miteinander. Beide wussten, dass Captain Shaddid sie beide gerufen hätte, wenn sie hätte Havelock dabeihaben wollen. Auch das war ein Grund dafür, dass der Mann es nie bis zum Leitenden Detective schaffen würde. Miller ließ ihn mit der Aufzeichnung des Verhörs allein, damit er in Ruhe die subtilen Ausdrucksformen von Klasse, Stand, Herkunft und Abstammung analysieren konnte. Es war eine Lebensaufgabe.

Captain Shaddids Büro war warm und feminin eingerichtet. An den Wänden hingen Gobelins aus echtem Stoff, der Duft nach Kaffee und Zimt kam aus einem Einsatz ihres Luftfilters, der ein Zehntel von dem kostete, was sie für die echten Luxusartikel hätte ausgeben müssen. Sie trug die Uniform recht lässig, die Haare fielen den Firmenvorschriften zuwider frei auf die Schultern. Hätte man Miller aufgefordert, sie zu beschreiben, dann wäre ihm als Erstes »täuschend harmlos« eingefallen. Sie nickte, und er setzte sich auf den Besucherstuhl.

»Was haben Sie herausgefunden?« Dabei starrte sie nicht ihn, sondern die Wand an. Es war kein Verhör, sie wollte nur Konversation machen.

»Beim Golden Bough sieht es genauso aus wie bei Sohiros Truppe und der Loca Greiga. Sie sind alle noch da, aber … irgendwie abgelenkt. So würde ich es ausdrücken. Sie lassen Kleinigkeiten durchgehen. Weniger Leute im Einsatz, weniger Eintreiber. Ich weiß von einem halben Dutzend Kerlen auf mittlerer Ebene, die einfach verschwunden sind.«

Das erregte ihre Aufmerksamkeit.

»Getötet?«, fragte sie. »Ein Vorstoß der AAP?«

Die Allianz der äußeren Planeten war für die Sicherheitskräfte auf Ceres eine ständige Bedrohung. Die AAP lebte in der Tradition von Al Capone und Hamas, der IRA und den Red Martials, wurde geliebt von den Menschen, denen sie half, und gefürchtet von allen, die ihr in die Quere kamen. Sie war teils soziale Bewegung, teils eine im Entstehen begriffene Nation und teils eine terroristische Organisation. So etwas wie ein Gewissen kannte sie nicht. Captain Shaddid konnte Havelock vielleicht nicht leiden, weil er aus der Schwerkraftsenke kam, aber sie arbeitete immerhin mit ihm zusammen. Die AAP hätte ihn sofort in die Luftschleuse geschoben. Leute wie Miller konnten bestenfalls damit rechnen, eine Kugel in den Kopf zu bekommen. Natürlich eine aus Plastik, die keine wichtigen Leitungen zerstörte.

»Ich glaube nicht«, sagte er. »Wie ein Bandenkrieg kommt es mir nicht vor. Es ist … ehrlich, Boss, ich weiß nicht, was da los ist. Die Zahlen sehen großartig aus. Die Schutzgelderpressungen gehen zurück, das illegale Glücksspiel geht zurück. Cooper und Hariri haben auf der sechsten Ebene das Bordell mit den Minderjährigen ausgehoben, und soweit wir es sagen können, haben die Betreiber noch kein Ausweichquartier gefunden. Unabhängige werden etwas stärker, aber davon abgesehen sieht es hervorragend aus. Trotzdem stinkt es zum Himmel.«

Sie nickte und starrte wieder die Wand an. Ihr Interesse war ebenso schnell erlahmt, wie es erwacht war.

»Vergessen Sie das erst mal«, sagte sie. »Ich habe hier etwas, einen neuen Einsatz. Nur Sie, nicht Havelock.«

Miller verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ein neuer Einsatz?«, überlegte er laut. »Was hat das zu bedeuten?«

»Es bedeutet, dass die Star Helix Security einen Auftrag für Dienste übernommen hat, die nichts mit der Sicherheit von Ceres zu tun haben, und dafür teile ich Sie ein.«

»Werfen Sie mich raus?«

Captain Shaddid schnitt eine Grimasse.

»Es ist eine zusätzliche Aufgabe«, erklärte sie. »Die Einsätze für Ceres, die Sie bisher erledigt haben, übernehmen Sie auch weiterhin. Dies hier kommt noch hinzu … passen Sie auf, Miller, ich finde das genauso beschissen wie Sie. Ich ziehe Sie nicht aus der Hauptwache ab, Sie behalten Ihren Hauptauftrag. Dies hier ist ein Gefallen, den jemand auf der Erde einem Aktionär tun will.«

»Kümmern wir uns jetzt um Gefälligkeiten für Aktionäre?«, fragte Miller.

»Sie tun das, ja«, bestätigte Captain Shaddid. Der freundliche, entgegenkommende Tonfall war wie weggeblasen, ihre Augen waren so dunkel wie nasser Stein.

»Na gut«, sagte Miller, »dann mach ich das.«

Captain Shaddid hob ihr Handterminal, Miller fummelte an der Hüfte herum, zückte sein eigenes und akzeptierte die Richtstrahlübertragung. Was es auch war, Shaddid hielt es aus den offiziellen Akten heraus. Ein neuer Dateibaum erschien unter dem Titel JMAO auf seiner Anzeige.

»Es geht um eine vermisste Tochter«, erklärte Captain Shaddid. »Die Eltern sind Ariadne und Jules-Pierre Mao.«

Die Namen kamen ihm bekannt vor. Miller legte die Fingerspitzen auf den Bildschirm seines Handterminals.

»Mao-Kwikowski Mercantile?«, fragte er.

»Genau.«

Miller stieß einen leisen Pfiff aus.

Maokwik gehörte nicht zu den zehn größten Firmen im Gürtel, aber auf jeden Fall zu den größten fünfzig. Ursprünglich war es eine Anwaltskanzlei gewesen, die mit dem grandiosen Scheitern der venusianischen Wolkenstädte befasst gewesen war. Sie hatten die Einnahmen aus diesem Jahrzehnte dauernden Rechtsstreit benutzt, um die Geschäftsfelder zu erweitern und zu expandieren. Inzwischen beschäftigten sie sich vor allem mit interplanetarischem Transport. Die Station der Firma war unabhängig und schwebte mit der königlichen Majestät eines historischen Ozeandampfers auf den Meeren der Erde zwischen dem Gürtel und den inneren Planeten. Allein die Tatsache, dass Miller so viel über sie wusste, bedeutete, dass sie genug Geld hatten, um Männer wie ihn nach Belieben zu kaufen und zu verkaufen.

Man hatte ihn soeben eingekauft.

»Die Eltern leben auf Luna«, fuhr Captain Shaddid fort, »und genießen alle Rechte und Privilegien der Erdbewohner. Allerdings übernimmt die Firma auch hier draußen viele Transportaufträge.«

»Und sie vermissen ihre Tochter?«

»Das schwarze Schaf der Familie«, erklärte die Vorgesetzte. »Besuchte das College, hat sich mit einer Gruppe namens Far Horizons Foundation eingelassen. Studentische Aktivisten.«

»Eine Tarnorganisation der AAP«, überlegte Miller.

»Sie sind mit ihnen assoziiert«, berichtigte Shaddid ihn. Miller antwortete nicht darauf, wurde jedoch neugierig. Er fragte sich, auf welcher Seite Captain Shaddid stehen würde, wenn die AAP tatsächlich einmal angriff. »Die Familie meint, es sei einfach nur eine Entwicklungsphase. Sie haben zwei ältere Kinder, die in der Spur bleiben, deshalb tat es keinem weh, dass Julie im Vakuum umhertollt und sich als Freiheitskämpferin aufführt.«

»Aber jetzt wollen sie das Mädchen ausfindig machen«, sagte Miller.

»Genau.«

»Was hat sich verändert?«

»Sie hielten es nicht für nötig, mir diese Informationen zu geben.«

»Ach so.«

»Den letzten Aufzeichnungen nach hat sie auf der Tycho-Station gearbeitet, unterhielt hier jedoch noch eine Wohnung. Ich habe ihre Partition im Netzwerk gefunden und gesperrt. Das Passwort ist in Ihrer Akte.«

»In Ordnung«, sagte Miller. »Wie lautet mein Auftrag?«

»Sie sollen Julie Mao finden, festnehmen und nach Hause verfrachten.«

»Also eine Entführung«, sagte er.

»Ja.«

Miller starrte sein Handterminal an und öffnete aufs Geratewohl ein paar Dateien, ohne sie wirklich zu betrachten. In seinem Bauch hatte sich ein seltsamer Knoten gebildet. Er arbeitete jetzt seit dreißig Jahren für die Sicherheitskräfte auf Ceres und hatte sich von vornherein nicht viele Illusionen gemacht. Der Witz war, dass Ceres keine Gesetze hatte, sondern nur eine Polizei. Seine Hände waren nicht sauberer als die von Captain Shaddid. Manchmal stürzten Leute aus Luftschleusen. Manchmal verschwanden Beweismittel aus Schränken. Es ging nicht so sehr um Recht und Gesetz, sondern eher um die Frage, was gerechtfertigt schien. Man verbrachte sein Leben in einer steinernen Blase, und das Essen, das Wasser und sogar die Luft wurden von anderen Orten hergeschafft, die so weit entfernt waren, dass man sie kaum mit dem Teleskop erkennen konnte. Da war eine gewisse moralische Flexibilität durchaus angebracht. Aber bisher hatte er noch nie einen Entführungsjob übernommen.

»Haben Sie ein Problem damit, Detective?«, fragte Captain Shaddid.

»Nein, Boss«, antwortete er. »Ich kümmere mich darum.«

»Verschwenden Sie nur nicht zu viel Zeit darauf«, ermahnte sie ihn.

»Ja, Boss. Gibt es sonst noch etwas?«

Ihre harten Augen wurden wieder weicher, als hätte sie eine Maske übergestreift. Sie lächelte sogar.

»Wie läuft es mit Ihrem Partner?«

»Havelock ist ganz in Ordnung«, entgegnete Miller. »Wenn er dabei ist, können mich die Leute auf einmal gut leiden. Das ist nett.«

Ihr Lächeln wirkte um eine Winzigkeit aufrichtiger. Es ging doch nichts über einen kleinen rassistischen Ausfall, um sich beim Boss einzuschleimen. Miller nickte höflich und verließ das Büro.

Sein Loch befand sich auf der achten Ebene an einem hundert Meter breiten Wohntunnel, in dessen Mitte ein fünfzig Meter breiter, sorgsam kultivierter Park verlief. Die gewölbte Decke des Hauptkorridors wurde von eingelassenen Lampen erhellt und war mit einem Blau lackiert, das, wie Havelock ihm versichert hatte, einem Sommertag auf der Erde entsprach. Auf einem Planeten leben, wo die Anziehungskraft an den Knochen und Muskeln zerrte und wo es nichts als Schwerkraft gab, um die Luft an Ort und Stelle zu halten, kam Miller wie eine Schnellbahn in den Wahnsinn vor. Aber das Blau war schön.

Manche Leute folgten Captain Shaddids Beispiel und parfümierten die Luft. Natürlich nicht immer mit Kaffee und Zimt. Havelocks Loch roch nach frischem Brot. Andere bevorzugten Blumendüfte oder Semipheromone. Candace, Millers Exfrau, hatte etwas namens EarthLily genommen, das ihn immer an die Recyclingebenen hatte denken lassen. Heutzutage begnügte er sich mit dem leicht stechenden Geruch der Station selbst. Recycelte Luft, die durch Millionen Lungen gestrichen war. Kranwasser, das so sauber war, dass man es im Labor benutzen konnte, doch es bestand aus Pisse, Scheiße, Tränen und Blut und würde wieder dazu werden. Der Kreis des Lebens auf Ceres war so klein, dass man allenthalben die Krümmung erkennen konnte. So gefiel es ihm.

Er schenkte sich ein Glas Mooswhisky ein, einem auf Ceres hergestellten Gebräu aus genmanipulierter Hefe, zog die Schuhe aus und ließ sich auf dem Schaumstoffbett nieder. Er sah immer noch Candaces missbilligend gerunzelte Stirn vor sich und hörte ihr Seufzen. Vor dem Bild in seiner Erinnerung zuckte er entschuldigend mit den Achseln und machte sich wieder an die Arbeit.

Juliette Andromeda Mao. Er betrachtete ihre Arbeitspapiere und ihren Ausbildungsgang. Sie hatte sich als Pinassenpilotin hervorgetan. Ein im Alter von achtzehn Jahren aufgenommenes Bild zeigte sie in einem eng sitzenden Vakuumanzug und mit abgenommenem Helm. Ein hübsches Mädchen mit dem schmalen Körperbau der Mondbewohner und langen schwarzen Haaren. Sie grinste, als hätte sie gerade einen Kuss vom Universum bekommen. Der verlinkte Text besagte, sie habe den ersten Platz bei etwas errungen, das als »Parrish/Dorn 500K« bezeichnet wurde. Er suchte danach. Es war ein Rennen, an dem nur wirklich reiche Leute teilnehmen konnten. Ihre Pinasse – die Razorback – hatte den alten Rekord gebrochen und zwei Jahre gehalten.

Miller nippte am Whisky und überlegte, was aus dem Mädchen geworden war, das reich und einflussreich genug war, um mit einem Privatschiff umherfliegen zu können. Vom Kitzel der teuren Weltraumrennen bis zu der Rücksendung, gefesselt und in eine Kapsel gesperrt, war es ein weiter Weg. Aber vielleicht auch nicht.

»Armes reiches Mädchen«, sagte Miller zu dem Bildschirm. »Ich glaube, es muss schlimm sein, du zu sein.«

Er schloss die Dateien, trank stumm und ernst das Glas aus und starrte die Decke an. Der Stuhl, auf dem früher einmal Candace gesessen und ihn gefragt hatte, wie sein Tag verlaufen sei, war leer, doch er sah sie immer noch dort sitzen. Da sie nicht mehr da war und ihn nicht mehr zum Reden brachte, fiel es ihm leichter, sie zu verstehen. Sie war einsam gewesen. Das sah er jetzt ein. In seiner Fantasie verdrehte sie die Augen.

Eine Stunde später machte er sich, vom Drink innerlich gewärmt, eine Schale echten Reis warm und gab falsche Bohnen dazu. Hefe und Pilze konnten so ziemlich alles glaubhaft nachahmen, wenn man vorher genug Whisky getrunken hatte. Dann öffnete er die Tür seines Wohnlochs und aß das Abendessen, während er zu dem Verkehr hinausblickte, der in einer sanften Kurve vorbeiströmte. Die zweite Schicht war zu den Bahnstationen unterwegs oder verließ sie gerade. Die Kinder, die zwei Löcher weiter lebten – ein achtjähriges Mädchen und ihr vierjähriger Bruder –, empfingen mit quietschenden Umarmungen, wechselseitigen Vorwürfen und Tränen ihren Vater. Oben erstrahlte die blaue Decke, unveränderlich, statisch, beruhigend. Ein Spatz flatterte durch den Tunnel und schwebte auf der Stelle, wie er es auf der Erde nie vermocht hätte; das hatte Havelock ihm erklärt. Miller warf ihm eine falsche Bohne zu.

Er wollte über das Mao-Mädchen nachdenken, aber im Grunde war es ihm egal. In den Familien, die auf Ceres das organisierte Verbrechen in der Hand hatten, ging etwas vor, und das machte ihn schrecklich nervös.

Die Sache mit Julie Mao war ein Nebenschauplatz.

3 Holden

Nach fast zwei Tagen unter starkem Bremsschub taten Holden die Knie und der Hals weh. Und der Kopf. Teufel, die Füße auch. Er stieg gerade durch die Luke in die Mannschaftsquartiere der Knight, als Naomi aus dem Frachtraum heraufgeklettert kam. Sie zeigte ihm lächelnd den hochgestreckten Daumen.

»Der Bergungsmech ist verzurrt«, meldete sie. »Der Reaktor läuft hoch. Wir können fliegen.«

»Gut.«

»Haben wir schon einen Piloten?«, wollte sie wissen.

»Dem Schichtplan nach ist heute Alex Kamal dran, also ist er unser Mann. Ich wünschte, Valka wäre an der Reihe gewesen. Er ist kein so guter Pilot wie Alex, aber er ist ruhiger, und mir tut der Kopf weh.«

»Ich mag Alex, er ist so herrlich burlesk«, sagte Naomi.

»Ich weiß nicht, was burlesk heißt, aber wenn das bedeutet, dass er einfach nur Alex ist, dann ermüdet es mich.«

Holden kletterte die Leiter zur Operationszentrale und zum Cockpit hinauf. In der spiegelnden schwarzen Fläche einer Anzeigentafel in der Wand sah er Naomis Spiegelbild hinter sich grinsen. Er verstand nicht, wie die Gürtler, die so dünn wie Bleistifte waren, nach hohen G-Belastungen so schnell wieder auf die Beine kamen. Vermutlich lag es an Jahrzehnten der Übung und der genetischen Auswahl.

In der Zentrale schnallte Holden sich vor dem Kommandopult an. Die Beschleunigungsliege passte sich lautlos seiner Körperform an. Bei dem halben G, das Ade für den Endanflug vorgesehen hatte, fühlte sich der Schaumstoff gut an. Holden stöhnte erleichtert. Die Schalter, die aus Plastik und Metall bestanden und dazu ausgelegt waren, hohe G-Belastungen und Jahrhunderte der Benutzung zu überstehen, klickten laut. Die Knight reagierte mit einer Reihe aufflammender Diagnoselampen und einem fast unmerklichen Summen.

Ein paar Minuten später erschien Alex Kamals schütteres schwarzes Haar im Zugang, dann folgte das fröhliche runde Gesicht, nach vielen Jahren der Arbeit im Weltraum unwiderruflich dunkelbraun verfärbt. Alex war auf dem Mars aufgewachsen und daher etwas stämmiger als ein Gürtler. Im Vergleich zu Holden war er immer noch sehr schlank, trotzdem spannte sich der Raumanzug straff über dem Bauchansatz. Alex war für die marsianische Raummarine geflogen, hatte es jedoch aufgegeben, sich militärisch fit zu halten.

»Howdy, XO«, leierte er. Die Sprechweise der Bewohner des Mariner Valley, die den Wilden Westen nachahmten, nervte Holden. Auf der Erde gab es seit hundert Jahren keine Cowboys mehr, und auf dem Mars gab es keinen einzigen Grashalm, der nicht unter einer Kuppel steckte, und kein einziges Pferd, das nicht im Zoo lebte. Das Mariner Valley war von Leuten aus Ostindien, China und ein paar Texanern besiedelt worden. Anscheinend war der leiernde texanische Tonfall ansteckend, denn inzwischen redeten sie alle so. »Was macht das alte Streitross heute?«

»Bis jetzt läuft alles glatt. Wir brauchen einen Flugplan. Ade wird uns«, er blickte auf die Zeitanzeige, »in vierzig Sekunden endgültig abbremsen, also beeilen Sie sich. Ich will da raus, die Sache erledigen und die Canterbury wieder auf Kurs nach Ceres bringen, ehe die Sterne verblassen.«

»Alles klar.« Alex kletterte ins Cockpit der Knight.

Es klickte in Holdens Kopfhörer, dann meldete sich Naomi: »Amos und Shed sind an Bord. Hier unten ist alles bereit.«

»Danke. Ich warte nur noch auf die Flugdaten von Alex, dann starten wir.«

Die Mannschaft war auf das absolut notwendige Minimum beschränkt: Holden als Kommandant, Alex flog sie hin und wieder zurück, Shed sollte etwaige Überlebende versorgen, und falls es keine gab, konnten Naomi und Amos das Wrack plündern.

Es dauerte nicht lange, bis Alex nach unten rief: »Alles klar, Boss. Wir werden ungefähr vier Stunden Teekesselchen spielen. Totaler Masseverbrauch bei dreißig Prozent, aber der Tank ist voll. Gesamtzeit der Mission: elf Stunden.«

»Alles klar. Danke, Alex«, bestätigte Holden.

»Teekesselchen« war der Ausdruck der Marinepiloten für das Fliegen mit Steuerdüsen, die überhitzten Dampf als Reaktionsmasse benutzten. So nahe an der Canterbury konnte die Knight den Fusionsantrieb nicht einsetzen, und für einen so kurzen Flug wäre es ohnehin eine Verschwendung gewesen. Der Antrieb stammte aus der Zeit vor Epstein und hatte keinen guten Wirkungsgrad.

Holden aktivierte die Verbindung zur Brücke der Canterbury. »Bitte um Erlaubnis, den Stall verlassen zu dürfen. Holden hier, die Knight ist startklar.«

»Alles klar, Jim, legen Sie los«, antwortete McDowell. »Ade hält jetzt an. Seid mir ja vorsichtig da draußen. Das Shuttle ist teuer, und ich mag Naomi.«

»In Ordnung, Kapitän.« Dann sprach Holden über die interne Leitung den Piloten an. »Startfreigabe. Bringen Sie uns raus.«

Holden lehnte sich zurück und lauschte dem Knirschen, als die Canterbury die letzten Manöver durchführte. Stahl und Keramik konnten ebenso laut und unheildrohend knarren wie die Holzplanken auf den alten Segelschiffen. Oder wie die Gelenke eines Erders nach hoher G-Belastung. Holden empfand Mitgefühl mit dem Schiff.

Natürlich hielten sie nicht an. Im Weltraum hält nichts jemals wirklich an. Sie erreichten lediglich einen passenden Flugvektor im Verhältnis zu einem anderen Objekt. Jetzt folgten sie CA-2216862 auf dessen nach Jahrtausenden zählender fröhlicher Karussellfahrt um die Sonne.

Ade gab ihnen grünes Licht, Holden ließ die Luft aus dem Hangar und öffnete die Außentüren. Alex bugsierte sie mit überhitzten weißen Dampfstrahlen hinaus.

Sie machten sich auf die Suche nach der Scopuli.

CA-2216862 war ein Felsklotz von einem halben Kilometer Durchmesser, der sich vom Gürtel entfernt hatte und von Jupiters gewaltigem Schwerkraftfeld angezogen worden war. Schließlich hatte er in der Weite zwischen Jupiter und dem Gürtel seine eigene langsame Umlaufbahn um die Sonne in einem Bereich gefunden, der selbst nach den Maßstäben des Weltraums als leer galt.

Der Anblick der Scopuli, die sanft an der Seite des Asteroiden angelegt hatte und von der minimalen Schwerkraft des Felsblocks an Ort und Stelle gehalten wurde, ließ Holden erschauern. Selbst wenn man blind flog und alle Instrumente ausgefallen waren, bestand nur eine unendlich geringe Wahrscheinlichkeit, ein solches Objekt durch Zufall zu treffen. Es war wie eine Straßensperre von einem halben Kilometer Breite auf einem Millionen Kilometer durchmessenden Highway. Zufällig war es gewiss nicht zu dieser Begegnung gekommen. Er kratzte sich zwischen den Haaren, die sich im Nacken aufgestellt hatten.

»Alex, halten Sie in zwei Kilometern Entfernung an«, befahl Holden. »Ade, was kannst du mir über das Schiff erzählen?«

»Die Konfiguration des Rumpfs entspricht der Registratur. Es ist eindeutig die Scopuli. Sie strahlt weder elektromagnetisch noch im Infrarotbereich, nur der kleine Notrufsender ist aktiv. Anscheinend ist der Reaktor heruntergefahren, aber das war ein manueller Eingriff und kein Schaden, denn es gibt auch kein Strahlungsleck«, berichtete Ade.

Holden betrachtete die Bilder, die ihm die Teleskope der Knight einspielten, und das Radarbild, das die Abtaster von der Hülle der Scopuli erzeugten. »Was ist das da an der Flanke für ein Ding, das wie ein Leck aussieht?«

»Äh«, machte Ade. »Lidar zeigt mir an, dass dort ein Leck im Rumpf ist.«

Holden runzelte die Stirn. »Na gut, dann warten wir noch einen Augenblick und überprüfen die Umgebung. Hast du sonst noch etwas auf dem Schirm?«

»Nichts, und die große Anlage hier auf der Canterbury kann ein Kind aufspüren, das auf Luna mit Steinen wirft. Becca sagt, im Umkreis von zwanzig Millionen Kilometern sei rein gar nichts«, berichtete Ade.

Holden trommelte mit den Fingerspitzen einen komplizierten Rhythmus auf die Armlehne und schwebte prompt in den Gurten hoch. Ihm war heiß. Er griff zur Seite, um die nächste Luftdüse auf sein Gesicht zu richten. Vor Schweiß juckte ihm bereits die Kopfhaut.

Wenn Sie da draußen etwas Komisches bemerken, dann spielen Sie bloß nicht den Helden. Sammeln Sie einfach nur alles ein, und kommen Sie zurück. So lauteten seine Befehle. Er betrachtete das Abbild der Scopuli und das Leck im Rumpf.

»Also gut«, entschied er. »Alex, bringen Sie uns auf einen Viertelkilometer heran, und halten Sie dann die Position. Wir fliegen mit dem Mech rüber. Oh, und fahren Sie den Hauptantrieb hoch. Falls sich auf dem Schiff da drüben etwas Gemeines verbirgt, will ich so schnell wie möglich abhauen und alles hinter uns zu Schlacke zerschmelzen, klar?«

»Alles klar, Boss. Die Knight bleibt im Karnickelmodus, bis Sie etwas anderes befehlen«, bestätigte Alex.

Holden blickte noch einmal zum Kommandopult und suchte nach einem roten Warnlicht, das es ihm erlauben würde, zur Canterbury