Nemesis-Spiele - James Corey - E-Book

Nemesis-Spiele E-Book

James Corey

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Beschreibung

Die Portale sind geöffnet

Dutzende interstellare Portale haben sich geöffnet, und in Strömen machen sich Glücksritter auf, um neue Sonnensysteme zu entdecken und zu bevölkern. Gleichzeitig steht das alte Sonnensystem kurz vor dem Zusammenbruch: Schiffe verschwinden spurlos, im Geheimen schließen sich Armeeverbünde zusammen, und Terroranschläge zwingen die inneren Planeten des Sonnensystems, wie Erde und Mars, in die Knie. Für Kapitän James Holden und seine Crew beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, wenn sie das, was von unserem Sonnensystem noch übrig geblieben ist, retten wollen ...

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DAS BUCH

Dutzende interstellare Portale haben sich geöffnet, und in Strömen machen sich Glücksritter auf, um neue Sonnensysteme zu entdecken und zu bevölkern. Gleichzeitig steht das alte Sonnensystem kurz vor dem Zusammenbruch: Schiffe verschwinden spurlos, im Geheimen schließen sich Armeeverbünde zusammen, und Terroranschläge zwingen die inneren Planeten des Sonnensystems in die Knie. Für Kapitän James Holden und seine Crew beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, wenn sie das, was von unserem Sonnensystem noch übrig geblieben ist, retten wollen …

THE EXPANSE

James Coreys internationale Bestsellerserie sprengt alle Maßstäbe der Science-Fiction. Die TV-Verfilmung wird bereits als beste Science-Fiction-Serie aller Zeiten gefeiert.

Erster Roman: Leviathan erwacht

Erste Story: Der Schlächter der Anderson-Station

Zweiter Roman: Calibans Krieg

Zweite Story: Der Gott des Risikos

Dritter Roman: Abaddons Tor

Dritte Story: Der Mahlstrom

Vierter Roman: Cibola brennt

Fünfter Roman: Nemesis-Spiele

Sechster Roman: Babylons Asche

Siebter Roman: Persepolis erhebt sich

Achter Roman: Tiamats Zorn

DIE AUTOREN

Hinter dem Pseudonym James Corey verbergen sich die beiden Autoren Daniel James Abraham und Ty Corey Franck. Beide schreiben auch unter ihrem eigenen Namen Romane und leben in New Mexico. Mit ihrer erfolgreichen gemeinsamen Science-Fiction-Serie THE EXPANSE haben sie sich weltweit in die Herzen von Lesern und Kritikern gleichermaßen geschrieben.

www.diezukunft.de

JAMES COREY

NEMESISSPIELE

Roman

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Titel der amerikanischen Originalausgabe

NEMESIS GAMES

Deutsche Übersetzung von Jürgen Langowski

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Redaktion: Ralf Dürr

Copyright © 2015 by Daniel Abraham and Ty Franck

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe byWilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,NeumarkterStraße28,81673München

Umschlaggestaltung: Animagic, Bielefeld,unter Verwendung eines Motivs von Daniel Dociu

Umschlagillustration: Daniel Dociu

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-16495-9V006

www.diezukunft.de

Für Ben Cook, ohne den …

PROLOG   Filip

Die beiden Werften standen direkt nebeneinander auf jener Seite Callistos, die immer von Jupiter abgewandt blieb. Das verschmierte breite Band der Milchstraße strahlte erheblich heller als die Sonne, die hier nur noch der größte Stern in der unendlichen Nacht war. Auf den Kraterrändern brannten grelle Arbeitslampen und beleuchteten die Gebäude, Ladevorrichtungen und Gerüste. Aus dem Regolith aus Steinstaub und Eis ragten die Gerippe halb fertiggestellter Raumschiffe empor. Zwei Werften, eine zivile und eine militärische, eine von der Erde betrieben und eine im Besitz des Mars. Beide wurden von denselben Anti-Meteor-Railguns beschützt. Beide sollten die Schiffe bauen und reparieren, mit denen die Menschen in die neuen Welten jenseits der Ringe fliegen würden, wenn oder falls der Kampf auf Ilus seinen Abschluss fand.

Beide steckten in größeren Schwierigkeiten, als irgendjemand dort ahnte.

Filip schlitterte vorwärts, die anderen Mitglieder seines Teams folgten dichtauf. Die LED-Leuchten des Raumanzugs waren beinahe blind, die Keramikbeschichtung war stark abgeschliffen und konnte das Licht nicht mehr richtig reflektieren. Sogar das Helmdisplay war so trüb, dass man kaum noch etwas erkennen konnte. Die Stimmen, die er über Funk hörte – Mitteilungen der Raumschiffe, Sicherheitsmeldungen, das Geplauder von Zivilisten –, wurden passiv empfangen. Er lauschte, sendete aber nichts. Der Ziellaser, den er sich auf den Rücken geschnallt hatte, war abgeschaltet. Er und sein Team bewegten sich fast unsichtbar im Schatten. Der kleine Countdowntimer auf der linken Seite seines Displays zeigte knapp fünfzehn Minuten an. Mit der offenen Hand tätschelte Filip die Luft, die kaum dicker war als das Vakuum. Diese Gürtler-Geste gab seinen Begleitern zu verstehen, dass sie langsam weitergehen sollten. Die Teammitglieder rückten vor.

Hoch über ihm in der Leere, viel zu weit entfernt, um sie mit bloßem Auge zu erkennen, tauschten die marsianischen Kriegsschiffe, die die Werft bewachten, militärisch knappe Meldungen aus. Die stark beanspruchte Flotte hatte nur zwei Schiffe abgestellt. Höchstwahrscheinlich waren es nur zwei. Nicht auszuschließen, dass irgendwo in der Schwärze noch weitere Einheiten lauerten, die eigene Abwärme eindämmten und sich gegen Radarstrahlen abschirmten. Es war möglich, aber unwahrscheinlich. Und das Leben war, wie Filips Vater immer sagte, eine lebensgefährliche Angelegenheit.

Vierzehn Minuten und dreißig Sekunden. Zwei sekundäre Timer erschienen neben dem ersten. Einer zählte fünfundvierzig Sekunden ab, der andere zwei Minuten.

»Transportschiff Frank Aiken, Sie sind klar zum Anflug.«

»Bestätigt, Carson Lei«, antwortete Cyns vertraute Stimme. Filip konnte hören, dass der alte Gürtler lächelte. »Coyos sabe best ai sus bebe da unten?«

Irgendwo über ihnen tastete die Frank Aiken die marsianischen Schiffe mit unschuldigen Laserortungsstrahlen ab, die auf die gleiche Frequenz eingestellt waren wie der auf Filips Rücken. Nichts in der Antwort des marsianischen Kommunikationsoffiziers ließ vermuten, dass er auch nur die leiseste Furcht empfand.

»Ich verstehe Sie nicht, Frank Aiken. Bitte wiederholen Sie.«

»Entschuldigung, Entschuldigung«, gab Cyn lachend zurück. »Sind den freundlichen Herrschaften vielleicht irgendwelche guten Bars bekannt, in denen ein armer Gürtler einen ordentlichen Drink bekommt, sobald wir die Oberfläche erreicht haben?«

»Da kann ich Ihnen nicht helfen, Frank Aiken«, antwortete der Marsianer. »Behalten Sie den Kurs bei.«

»Sabez sa. Hart wie Stein und geradlinig wie eine Kugel, so fliegen wir.«

Filips Trupp erreichte den Rand des Kraters und blickte auf das Niemandsland der marsianischen Militärwerft hinunter. Alles sah aus, wie er es erwartet hatte. Die Hangars und Lagergebäude waren gut zu erkennen. Nun nahm er den Ziellaser ab, stellte den Sockel auf das schmutzige Eis und fuhr das Gerät hoch. Die anderen waren bereits weit genug ausgeschwärmt, um alle Wachen ständig im Auge behalten zu können, und folgten seinem Beispiel. Die Laser waren alt, und die Stative, auf denen sie montiert waren, stammten von den unterschiedlichsten Geräten. Noch ehe sich die winzige rote LED im Sockel grün färbte, war der erste Sekundärtimer abgelaufen.

Auf dem zivilen Kanal war der Dreiklang eines Sicherheitsalarms zu hören, dann meldete sich eine beunruhigte Frau zu Wort.

»Hier auf dem Feld ist ein Lademech außer Kontrolle geraten. Er ist … ah, verdammt. Er läuft direkt auf die Meteorabwehrkanonen zu.«

Filip hörte die panische Frauenstimme und die Alarmsignale, als er mit seinem Team am Kraterrand entlanglief. Dünne Staubwolken stiegen auf und sanken nicht wieder herab. Die Wolken breiteten sich aus, als sei es neblig. Der Lademech, der auf die Notabschaltung nicht reagierte, zockelte über das Niemandsland in die großen Augen der Abwehrkanonen hinein und blendete sie mehrere Minuten lang. Wie es den Vorschriften entsprach, kamen vier marsianische Marinesoldaten aus dem Bunker gerannt. Dank der motorgetriebenen Rüstungen schlitterten sie über die Oberfläche des Mondes wie Eisläufer. Jeder Einzelne von ihnen hätte Filips Team im Handumdrehen töten können und dabei nichts Schlimmeres erlebt als einen kleinen Moment des Bedauerns. Filip hasste sie alle und außerdem jeden Einzelnen von ihnen. Schon eilten die Reparaturtrupps zu dem beschädigten Abwehrgeschütz. Binnen einer Stunde wäre alles wieder in Ordnung.

Zwölf Minuten und fünfundvierzig Sekunden.

Filip hielt an und blickte zu seinem Team zurück. Zehn Freiwillige. Es waren die besten Kämpfer, die der Gürtel aufbieten konnte. Abgesehen von ihm selbst wusste niemand, warum der Überfall auf das marsianische Nachschublager so wichtig war und wohin dies letztlich führen würde. Alle waren bereit zu sterben, wenn er es ihnen befahl, weil sie wussten, wer er war. Weil sie wussten, wer sein Vater war. Filip spürte es im Bauch und in der Kehle. Nein, es war keine Furcht. Es war Stolz. Jawohl, es war Stolz.

Zwölf Minuten und fünfunddreißig Sekunden. Vierunddreißig Sekunden. Dreiunddreißig. Die Ziellaser, die sie aufgebaut hatten, erwachten zum Leben und erfassten die vier Marinesoldaten, den Bunker mit dem Reserveteam, die Grenzzäune, die Werkstätten, die Unterkünfte. Die Marsianer drehten sich um. Die Sensoren ihrer Rüstungen waren so empfindlich, dass sie sogar die winzigen Strahlen der Ziellaser registrierten. Wie ein Mann hoben sie die Waffen. Einer bemerkte Filips Team und zielte nicht mehr auf die Laser, sondern auf seine Gruppe. Auf ihn.

Er hielt den Atem an.

Vor achtzehn Tagen hatte draußen im Jupitersystem ein Schiff – Filip wusste nicht einmal, welches es war – mit zehn oder gar fünfzehn G extrem stark beschleunigt. In einer von den Computern genau vorherbestimmten Nanosekunde hatte das Schiff ein paar Dutzend Wolframstäbe ausgesetzt. Die Bündel waren mit billigen Einmalraketen im Massezentrum und einfachen Sensoren ausgerüstet gewesen. Ein Antrieb dieser Art war so primitiv, dass man ihn kaum als Maschine bezeichnen konnte. Jeden Tag bauten Sechsjährige in der Schule kompliziertere Vorrichtungen. Dieser Antrieb musste jedoch nicht sehr komplex sein, um die Metallstäbe auf hundertfünfzig Sekundenkilometer zu beschleunigen. Die Elektronik musste nur wissen, worauf sie zu zielen hatte.

In der Zeitspanne, die das Signal brauchte, um von Filips Auge über den Sehnerv ins Sehzentrum des Gehirns zu wandern, war es auch schon vorbei. Er spürte den Einschlag und sah die Staubwolken, wo gerade noch die Marinesoldaten gestanden hatten, und dann blühten am Himmel vorübergehend zwei neue Sterne auf, wo eben noch Kriegsschiffe gewesen waren. Jetzt waren die Feinde tot. Er aktivierte den Sendeteil seines Funkgeräts.

»Ichiban«, sagte er. Er war stolz darauf, dass seine Stimme so ruhig klang.

Zusammen sprangen und rutschten sie den Abhang des Kraters hinunter. Die marsianische Werft bot jetzt ein Bild wie aus einem Traum, als die Gase aus den zerstörten Werkstätten entwichen und verbrannten. Aus den Unterkünften schoss die Luft heraus und gefror. Eine Wolke aus Staub und Eis breitete sich im Krater aus. Sein Helmdisplay zeigte ihm, wo die Ziele waren.

Zehn Minuten und dreizehn Sekunden.

Filips Team teilte sich auf. Sie liefen mitten in die freie Fläche hinein und suchten sich eine Stelle, die groß genug war, um die dünnen schwarzen Carbonfaserstreben des Evakuierungsgerüsts aufzubauen. Zwei andere lösten rückstoßfreie Maschinenpistolen von den Gürteln und stellten sich auf, um jeden zu erschießen, der aus den Trümmern auftauchte. Weitere zwei rannten zur Waffenkammer, und drei begleiteten Filip zu den Vorratslagern. Kahl und abweisend erhob sich das Gebäude aus dem Staub. Der Eingang war zugesperrt. Daneben lag ein umgekippter Lademech, der Fahrer war tot oder dem Sterben nahe. Filips Techniker lief voraus und knackte mit einem motorgetriebenen Stemmeisen das Gehäuse der Türsteuerung.

Neun Minuten und sieben Sekunden.

»Josie«, sagte Filip.

»Trabajan, sa sa?«, antwortete Josie kurz angebunden.

»Ich weiß, dass du arbeitest, Josie«, erwiderte Filip. »Wenn du das nicht öffnen kannst, dann …«

Die große Tür ruckte, bebte und fuhr nach oben. Josie drehte sich um und schaltete kurz die Helmbeleuchtung ein, damit Filip den Ausdruck des faltigen Gesichts sehen konnte. Sie drangen in das Lager ein. Geschwungene Bauteile aus Keramik und Stahl, dichter als das Gestein eines Gebirges, türmten sich auf. Hunderte Kilometer hauchdünner Drähte waren auf hohe Spulen gewickelt, über die Filip nicht hinwegblicken konnte. Mächtige Pressen warteten darauf, die Platten zu formen, mit denen man die Leere aussperren und eine Blase aus Luft, Wasser und komplexen organischen Stoffen bilden konnte, die als für Menschen geeignete Umgebung galt. Gespenstisch flackernde Notlichter verstärkten den Eindruck, dass sich eine Katastrophe ereignet hatte. Er ging weiter. Ihm war nicht bewusst, dass er die Waffe gezogen hatte, aber auf einmal hatte er sie in der Hand. Miral und nicht Josie schnallte sich an einen Lademech.

Sieben Minuten.

Im Chaos auf der Werft blitzten die ersten roten und weißen Lichter der Rettungseinheiten. Das Licht schien von überall und nirgends zu kommen. Filip tappte an den Reihen mit Schweißgeräten und Metallpressen vorbei. Wannen voller Stahl und Keramikstaub, der feiner war als Talkum. Spiralkernwiderlager. Aufgestapelte Platten aus Kevlar und Schaumstoff für die Panzerung der Raumschiffe bildeten das größte Bett im Sonnensystem. In einer freien Ecke des Raumes hatten Arbeiter einen ganzen Epstein-Antrieb zerlegt wie das komplizierteste Puzzle des ganzen Universums. Filip ignorierte das alles.

Die Luft war nicht dick genug, um Schussgeräusche zu übertragen. Sein Helmdisplay warnte ihn allerdings vor schnell fliegenden Objekten auf Kollisionskurs. Im gleichen Moment erschien auf dem Stahlträger rechts neben ihm ein heller Fleck. Filip ging in Deckung. In der Mikroschwerkraft sank er viel langsamer herab als unter Schub. Der Marsianer sprang den Gang herunter. Er trug nicht die Motorrüstung der Wächter, sondern das Exoskelett eines Technikers. Filip zielte auf das Massezentrum und schoss das Magazin halb leer. Brennend rasten die mit Treibsätzen beschleunigten Patronen aus der Mündung, zogen Feuerbahnen durch die dünne Luft Callistos und hinterließen graue Abgasschwaden. Vier Geschosse trafen den Marsianer. Das Blut spritzte aus dem Körper, gefror sofort und ging als roter Schneeregen nieder. Das Exoskelett schaltete auf Notbetrieb um, die LEDs wechselten zu einem grellen Bernsteinton. Auf irgendeiner Frequenz meldete der Anzug jetzt den Rettungsmannschaften der Werft, dass etwas Schreckliches passiert war. Diese einfältige Hingabe an die Pflicht war in gewisser Weise sogar komisch.

Mirals leise Stimme ertönte in seinem Helm. »Hoy, Filipito. Sa boîte sa palla?«

Filip brauchte einen Augenblick, um den Mann zu entdecken. Er saß im Lademech, der schwarz lackierte Raumanzug verschmolz mit dem Gerät, als wären sie füreinander geschaffen. Der schwach leuchtende geteilte Kreis der Allianz der Äußeren Planeten war unter dem Dreck gerade noch zu erkennen. Nur dies unterschied Miral von irgendeinem leicht verwahrlosten marsianischen Mechfahrer. Die Behälter, über die sie gesprochen hatten, waren wie erwartet auf die Paletten geschnallt. Jeder der vier Kanister enthielt tausend Liter. Auf der gekrümmten Oberfläche stand, was sich in ihnen befand: Hochleistungsresonanzlack. Diese Energie absorbierende Beschichtung half den marsianischen Schiffen, der Entdeckung durch Feinde zu entgehen. Stealthtechnologie. Er hatte die Substanz gefunden. Eine Beklemmung, von deren Existenz er noch gar nichts gewusst hatte, fiel von ihm ab.

»Ja«, bestätigte Filip. »Das ist es.«

Vier Minuten und siebenunddreißig Sekunden.

In der Ferne surrte der Lademech. Die Geräusche wurden eher durch die Vibrationen im Boden als durch die dünne Atmosphäre übertragen. Filip und Josie gingen zur Tür. Die blitzenden Lichter hatten sich genähert und schienen ein bestimmtes Ziel anzusteuern. Filips Funkgerät schaltete durch die Kanäle, auf denen Schreie und Warnsignale zu hören waren. Das marsianische Militär rief die Rettungsfahrzeuge aus der zivilen Werft zurück, weil man befürchtete, bei den schon aktiven Rettungskräften könnte es sich um Terroristen und verdeckt operierende Feinde handeln. Die Annahme war berechtigt und wäre unter anderen Begleitumständen sogar zutreffend gewesen. Filips Helmdisplay zeigte ihm die Umrisse der Gebäude, das halb aufgebaute Evakuierungsgerüst und die mutmaßlichen Standorte von Fahrzeugen, deren Infrarot- und Lichtabstrahlung für Filips Augen nicht wahrnehmbar war. Er hatte das Gefühl, durch eine Risszeichnung zu laufen. Alles war nur in Form von Grenzlinien dargestellt, die Flächen waren nicht mit Farbe gefüllt. Als er über den Regolith schlurfte, spürte er eine starke Erschütterung im Boden. Vielleicht eine Explosion, oder ein Gebäude hatte den langsamen, zeitlupenhaften Einsturz vollendet. Mirals Lademech erschien in der offenen Tür, die Lampen des Lagers beleuchteten den Apparat von hinten. Die Kanister, die er in den Klauen trug, waren neutral schwarz. Filip ging zum Gerüst und schaltete, während er dahinschlurfte, auf den verschlüsselten Kanal um.

»Status?«

»Ein bisschen Ärger«, meldete Aaman, der am Gerüst aufpasste. Filip hatte auf einmal den metallischen Geschmack der Angst im Mund.

»Hier bei uns ist alles klar, Coyo«, antwortete er so ruhig, wie er nur konnte. »Was ist los?«

»Der aufgewirbelte Dreck stört im Gerüst. Der Staub dringt in die Gelenke ein.«

Drei Minuten und vierzig Sekunden. Neununddreißig Sekunden.

»Ich komme«, sagte Filip.

Andrew schaltete sich ein. »Chefchen, wir sind in der Waffenkammer unter Beschuss.«

Filip ignorierte die Verkleinerungsform. »Wie schlimm ist es?«

»Ziemlich«, berichtete Andrew. »Chuchu ist angeschossen, wir sitzen fest. Könnte etwas Hilfe brauchen.«

»Halte durch.« Filips Gedanken rasten. Die beiden Wächter standen am Evakuierungsgerüst und waren bereit, jeden zu erschießen, der nicht zu ihnen gehörte. Die drei Bauarbeiter kämpften gerade mit einer Strebe. Filip sprang zu ihnen und fing sich am schwarzen Gerüst ab. Andrew grunzte über Funk.

Sobald er den schwarzen Dreck in der klemmenden Lasche sah, war die Sache klar. Unter Atmosphäre hätte man ihn einfach wegpusten können. Das kam hier draußen nicht infrage. Aaman stocherte hektisch mit einer Klinge herum und beförderte Bröckchen um Bröckchen heraus, um die dünnen gewundenen Führungen zu säubern, wo die Metallteile ineinandergreifen sollten.

Drei Minuten.

Aaman schob die Strebe an die richtige Stelle und versuchte, die Verbindung herzustellen. Beinahe hätte es gepasst, doch als er zog, löste sich die Strebe wieder. Filip sah, wie der Mann fluchte. Speicheltropfen flogen von innen gegen die Helmscheibe. Hätten sie doch nur eine Dose Druckluft mitgebracht.

Aber das hatten sie natürlich getan.

Er nahm Aaman das Messer ab und stieß die Klinge am Handgelenk, wo das Material wegen der Biegung am dünnsten war, durch den Anzug. Ein kurzer Schmerz verriet ihm, dass er zu fest zugestochen hatte. Das war kein Problem. Der Alarm seines Anzugs schlug an, er achtete nicht weiter darauf. Er beugte sich vor und hielt das winzige Loch über das verstopfte Verbindungsstück. Die entweichende Luft wehte den Dreck und das Eis weg. Ein kleiner Blutstropfen quoll heraus, gefror zu einer vollkommenen roten Kugel und prallte von dem Material ab. Er zog sich zurück, und Aaman ließ die Verbindung einrasten. Als der Arbeiter noch einmal zog, hielt das Stück. Der Anzug versiegelte selbsttätig das Loch, sobald Filip das Messer herauszog.

Filip drehte sich um. Miral und Josie hatten die Kanister von den Paletten genommen und auf das Gerüst geschnallt. Die blitzenden Einsatzleuchten waren trüber, die Rettungsfahrzeuge rasten im Dunst und im Chaos an ihnen vorbei. Vermutlich waren sie zum Schusswechsel in der Waffenkammer unterwegs. Hätte Filip es nicht besser gewusst, dann hätte auch er genau dort die größte Gefahr vermutet.

»Chefchen«, sagte Andrew mit gepresster, ängstlicher Stimme. »Es wird knapp.«

»No preocupes«, antwortete Filip. »Alles gut.«

Eine Wächterin legte ihm die Hand auf die Schulter. »Soll ich das in Ordnung bringen?«, fragte sie. Soll ich sie retten?

Filip hob eine Faust und schüttelte sie leicht hin und her. Nein. Sie richtete sich auf, als sie verstand, was er meinte. Zuerst dachte er, sie werde seinen Befehl missachten. Das war ihre Entscheidung. In diesem Augenblick war jede Meuterei für sich schon Strafe genug. Josie schob den letzten Kanister an die richtige Stelle und zog die Riemen an. Aaman und seine Leute montierten die letzte Strebe.

Eine Minute zwanzig Sekunden.

»Chefchen!«, schrie Andrew.

»Es tut mir leid, Andrew«, sagte Filip. Darauf folgte ein kurzes betroffenes Schweigen, dann ein Strom von Flüchen und Vorwürfen. Filip wechselte den Kanal. Die Rettungstrupps der militärischen Werft fluchten erheblich weniger. Eine Frau mit deutschem Akzent gab knappe Anweisungen, die beinahe gelangweilt klangen. Sie verhielt sich wie jemand, der an Krisen gewöhnt war. Die Stimmen, die ihr antworteten, passten sich dem sachlichen Tonfall an. Filip deutete auf das Gerüst. Chuchu und Andrew waren tot. Auch wenn sie noch nicht gestorben waren, sie waren jetzt tot. Filip nahm seine Position auf dem Gerüst ein, legte die Gurte um die Hüften, in den Schritt und über die Brust und lehnte sich an die dick gepolsterte Kopfstütze.

Siebenundfünfzig Sekunden.

»Niban«, sagte er.

Nichts geschah.

Er schaltete wieder auf den verschlüsselten Kanal um. Andrew weinte und klagte jetzt.

»Niban! Andale!«, rief Filip.

Das Evakuierungsgerüst bockte, und auf einmal hatte er wieder Gewicht. Vier chemische Raketen erzeugten unter ihm einen starken Schub, ließen die leeren Paletten durch die Gegend fliegen und warfen Mirals verlassenen Lademech um. Die Beschleunigung drückte das Blut in Filips Beine, sein Gesichtsfeld verengte sich. Der Lärm im Funk ließ nach, als sie sich entfernten. Er war der Ohnmacht nahe, alles um ihn flackerte. Der Anzug quetschte die Beine, als hätte sich ein Riese darauf gesetzt, und drückte das Blut nach oben. Er kam wieder zu sich.

Weit unter ihm war der Krater nur noch eine längliche Brandblase im Antlitz des Mondes. Lichter bewegten sich. Die Türme am Kraterrand waren dunkel, begannen jetzt aber zu flackern, als das System neu startete. Die Werften von Callisto schwankten hin und her wie Betrunkene oder wie jemand, der einen Schlag gegen den Kopf bekommen hatte.

Der Countdowntimer zeigte zwei Sekunden, dann eine.

Bei null schlug die zweite Welle ein. Den Aufprall des Felsbrockens konnte Filip nicht sehen. Wie bei den Wolframstücken flog das Objekt viel zu schnell für das menschliche Auge. Stattdessen sah er den Staub zucken, als hätte ihn jemand erschreckt, und dann lief eine heftige Schockwelle durch den Mond, die sogar die kaum existierende Atmosphäre wabern ließ.

»Festhalten«, sagte Filip, obwohl es nicht nötig war. Alle Teammitglieder auf dem Gerüst waren fest angeschnallt. In einer dickeren Atmosphäre wären sie alle umgekommen. Hier war es nicht schlimmer als ein kleines Unwetter. Aaman grunzte.

»Gibt es ein Problem?«, fragte Filip.

»Pinché Stein hat mir ein Loch in den Fuß gehauen«, erklärte Aaman. »Tut weh.«

Josie antwortete ihm: »Gratia sa, dass es nicht deinen Schwanz erwischt hat, Coyo.«

»Ich beschwer mich ja nicht, ich sag ja gar nichts«, antwortete Aaman.

Die Raketen des Gerüsts waren ausgebrannt, und die durch den Schub erzeugte Schwerkraft verschwand. Unter ihnen ging der Tod auf den Werften um. Es gab keine Lichter mehr, nicht einmal Feuer brannten noch. Filip richtete den Blick auf die fernen verschwommenen Sterne. Die Milchstraße überstrahlte sie alle. Eines dieser Lichter war jedoch kein Stern, sondern der Schweif der Pella, die ihre Crew nach dem Ausflug wieder einsammeln wollte. Alle bis auf Chuchu. Und Andrew. Filip fragte sich, warum er sich nicht schlecht fühlte, nachdem zwei Leute unter seinem Kommando gestorben waren. Sein erster Einsatz. Der Beweis, dass er eine echte Mission anführen konnte, in der viel auf dem Spiel stand. Er hatte es geschafft.

Er wollte nichts sagen. Vielleicht hatte er gar nichts gesagt. Vielleicht war ihm nur unwillkürlich ein Seufzen über die Lippen gekommen. Miral kicherte.

»Gut gemacht, Filipito«, sagte der ältere Mann. Gleich darauf fuhr er fort: »Feliz cumpleaños, sabez?«

Filip Inaros hob die Hand und bedankte sich mit einer Geste. Es war sein fünfzehnter Geburtstag.

1   Holden

Ein Jahr nach dem Angriff auf Callisto, fast drei Jahre nach dem Aufbruch mit seiner Crew nach Ilus und etwa sechs Tage nach ihrer Rückkehr schwebte James Holden neben seinem Schiff und sah dem Abbruchteam dabei zu, wie es die Rosinante zerlegte. Acht straff gespannte Kabel verankerten das Schiff an den Wänden des Liegeplatzes. Es war nur einer unter vielen im Reparaturdock der Tycho-Station, und diese Abteilung war nur eine unter vielen in der riesigen Konstruktionsanlage. In der kilometergroßen Kugel waren gleichzeitig noch tausend andere Projekte im Gange, aber Holden hatte nur Augen für sein Schiff.

Der Mech hatte die Außenhülle aufgeschnitten, zog eine große Platte weg und legte das Gerippe des Schiffs frei. Kräftige Streben, ein Gewirr von Kabeln und Leitungen. Darunter befand sich die zweite, innere Hülle.

»Na ja«, bemerkte Fred Johnson, der neben ihm schwebte. »Sie haben das Schiff ganz schön demoliert.«

Freds Bemerkung, die ohne Betonung und verzerrt über das Com-System des Anzugs hereinkam, traf ihn wie ein Fausthieb in den Bauch. Eigentlich hätte es ihn beruhigen sollen, dass Fred, der Anführer der Allianz der Äußeren Planeten und einer der drei mächtigsten Menschen im Sonnensystem, sich persönlich für den Zustand seines Schiffs interessierte. Holden fühlte sich allerdings wie ein Schuljunge, dem der Vater auf die Finger sah, damit er keinen allzu großen Unfug anstellte.

»Die innere Aufhängung ist verbogen«, meldete eine dritte Stimme über das Com-System. Es war ein sauertöpfischer Mann namens Sakai, der neue Chefingenieur der Tycho-Station, nachdem Samantha Rosenberg bei dem Unglück umgekommen war, das man inzwischen als »Vorfall in der langsamen Zone« bezeichnete. Mithilfe der Scanner und Röntgenstrahler auf dem Mech überwachte Sakai die Reparaturarbeiten von seinem Büro aus.

»Wie haben Sie das hingekriegt?« Fred deutete auf das Gehäuse der Railgun, die unter dem Schiffskiel befestigt war. Der Lauf der Waffe erstreckte sich fast über die ganze Schiffslänge, und die Stützstreben, die ihn mit dem Schiff fest verbanden, waren hier und dort deutlich verbogen.

»Ach«, entgegnete Holden. »Habe ich Ihnen noch nicht erzählt, wie wir einmal die Rosinante benutzt haben, um einen schweren Frachter in einen höheren Orbit zu schleppen, indem wir den Rückstoß der Railgun eingesetzt haben?«

»Ja, das war eine nette Geschichte«, erwiderte Sakai humorlos. »Ein paar Streben können wir wieder hinbiegen, aber ich vermute, dass wir so viele Mikrorisse in dem Material finden, dass es das Beste wäre, alle auf einmal auszutauschen.«

Fred pfiff durch die Zähne. »Das wird nicht billig.«

Der Anführer der AAP war mit Unterbrechungen der wichtigste Gönner und Sponsor der Rosinante und ihrer Crew. Holden hoffte, dass sie sich gerade in einer gnädigen Phase befanden. Ohne Preisnachlass für Stammkunden würde die Reparatur des Schiffs erheblich teurer werden. Nicht dass sie es sich nicht leisten konnten.

»In der Außenhülle sind viele schlecht geflickte Löcher«, fuhr Sakai fort. »Die Innenhülle sieht von hier aus gut aus, aber wir gehen noch mal mit einem präziseren Scanner drüber und vergewissern uns, dass sie auch wirklich dicht ist.«

Holden wollte einwenden, dass auf der Rückreise von Ilus vermutlich einige Leute den Erstickungstod erlitten hätten, wenn die Hülle nicht dicht gewesen wäre, aber er hielt sich zurück. Es war sicher nicht hilfreich, den Mann zu ärgern, der sein Schiff wieder flugtauglich machen sollte. Holden dachte an Sams schalkhaftes Lächeln und an ihre Gewohnheit, jede Kritik mit Albernheiten abzumildern. Hinter seinem Brustbein verkrampfte sich etwas. Es war Jahre her, aber manchmal holte ihn der Kummer immer noch ein.

»Danke«, sagte er nur.

»Das wird eine Weile dauern«, erwiderte Sakai. Der Mech schoss zu einem anderen Teil des Schiffs, verankerte sich mit Magnetfüßen und schnitt mit heller Schweißflamme ein anderes Stück der Außenhülle auf.

»Lassen Sie uns in mein Büro gehen«, schlug Fred vor. »In meinem Alter hält man es im Raumanzug nicht lange aus.«

Die Tatsache, dass es hier weder Schwerkraft noch Atmosphäre gab, erleichterte die Reparaturen erheblich. Der Nachteil war, dass die Techniker gezwungen waren, während der Arbeit Raumanzüge zu tragen. Holden fasste Freds Worte so auf, dass der ältere Mann auf den Kondomkatheter verzichtet hatte und dringend pinkeln musste.

»Na gut, lassen Sie uns gehen.«

Freds Büro war für eine Raumstation recht geräumig, und es roch nach altem Leder und richtigem Kaffee. Der Kapitänssafe in der Wand bestand aus Titan und gebürstetem Stahl und sah aus wie eine Requisite aus einem alten Film. Der Wandbildschirm hinter dem Schreibtisch zeigte drei Schiffsrümpfe, an denen gerade gearbeitet wurde. Es waren große, unförmige Einheiten, die rein zweckbestimmt wirkten. Wie Vorschlaghämmer. Es waren die ersten Anfänge einer eigenen Raumflotte der AAP. Holden wusste, warum die Allianz überzeugt war, sie müsse eine eigene bewaffnete Streitmacht aufbauen, aber wenn er alles bedachte, was in den letzten Jahren geschehen war, dann wurde er den Eindruck nicht los, dass die Menschheit aus ihren traumatischen Erlebnissen immer die falschen Schlüsse zog.

»Kaffee?«, bot Fred an. Als Holden nickte, machte er sich an der Kaffeemaschine auf einem Beistelltisch zu schaffen und zapfte zwei Tassen. Diejenige, die er Holden anbot, trug ein verblasstes Abzeichen. Es war der geteilte Kreis der AAP, der allerdings stark abgegriffen und fast unsichtbar war.

Holden nahm die Tasse und deutete auf den Bildschirm. »Wie lange brauchen Sie noch dafür?«

»Im Moment rechnen wir mit sechs Monaten.« Mit dem Grunzen eines alten Mannes ließ Fred sich auf seinem Stuhl nieder. »Das ist fast so, als würde es ewig dauern. In anderthalb Jahren sind die Gesellschaftsstrukturen der Menschen in dieser Galaxis nicht mehr wiederzuerkennen.«

»Die Diaspora.«

»Wenn Sie es denn so nennen wollen.« Fred nickte. »Ich nenne es ›Auf in den Wilden Westen‹. Da sind eine Menge Planwagen unterwegs ins Gelobte Land.«

Mehr als tausend Welten standen der Besiedlung offen. Menschen von allen Planeten, Stationen und Felsbrocken im ganzen Sonnensystem stürmten los, um ein Stück vom großen Kuchen zu ergattern. Im Heimatsystem beeilten sich unterdessen drei Regierungen, möglichst viele Kriegsschiffe zu bauen, um den Ansturm zu kontrollieren.

Auf der Außenhülle eines Schiffs flammte ein Schweißapparat so hell auf, dass der Monitor das Bild automatisch dunkler stellte.

»Wenn Ilus überhaupt irgendetwas war, dann eine Warnung, dass eine Menge Menschen sterben werden«, meinte Holden. »Hat da eigentlich jemand zugehört?«

»Bestimmt nicht. Wissen Sie, was damals beim großen Zug in den Westen geschah?«

»Ja.« Holden trank einen Schluck von Freds Kaffee. Er schmeckte wundervoll. Auf der Erde angebaut, ein köstliches Aroma. Ein Privileg des Anführers. »Ich habe schon verstanden, was Sie mit dem Planwagen meinten. Sie müssen wissen, dass ich in Montana aufgewachsen bin. Da erzählen sich die Leute heute noch Geschichten aus dem Wilden Westen.«

»Dann wissen Sie auch, dass der Glaube an ein vorbestimmtes Schicksal viele Tragödien nach sich zieht. Viele dieser Planwagen haben es geschafft. Viele Menschen, die durchgekommen sind, mussten sich am Ende dennoch als Hilfsarbeiter beim Eisenbahnbau, in den Bergwerken und bei reichen Farmern verdingen.«

Holden nippte an seinem Kaffee und beobachtete den Schiffsbau. »Ganz zu schweigen von den Ureinwohnern, die dort gelebt haben, ehe die Planwagen aufgetaucht sind und eine hübsche neue Seuche mitgebracht haben. Unsere Vorstellungen von einer galaktischen Bestimmung vertreiben wenigstens nichts Höheres als eine Pseudoeidechse.«

Fred nickte. »Mag sein. Bisher scheint es so. Aber bisher wurden noch nicht alle dreizehnhundert Systeme untersucht. Wer weiß, was wir dort finden.«

»Killerroboter und kontinentgroße Fusionsreaktoren, die nur darauf warten, dass jemand den Schalter umlegt, damit sie den halben Planeten in die Luft jagen können, wenn mich meine Erinnerungen nicht trügen.«

»Diese Einschätzung beruht auf einem einzigen Planeten. Es könnte noch viel verrückter werden.«

Holden zuckte mit den Achseln und trank den Kaffee aus. Fred hatte recht. Man konnte nicht einmal ahnen, was sie auf all den anderen Welten erwartete. Niemand wusste, auf welche Gefahren die angehenden Kolonisten stoßen würden, die dorthin eilten, um das neue Land für sich zu beanspruchen.

»Avasarala ist nicht gut auf mich zu sprechen«, warf Holden ein.

»Nein, ist sie nicht«, stimmte Fred zu. »Ich schon.«

»Wie bitte?«

»Schauen Sie, die alte Dame wollte, dass Sie dort hinausfliegen und allen im Sonnensystem zeigen, wie übel es ausgehen könnte. Die Leute sollten Angst bekommen und warten, bis die Regierungen ihnen Bescheid sagen, dass sie gefahrlos hinfliegen können. Damit hätte sie die Kontrolle behalten.«

»Es war ziemlich beängstigend«, wandte Holden ein. »Habe ich mich in dieser Hinsicht nicht deutlich genug ausgedrückt?«

»Gewiss. Aber man konnte es offenbar überleben, und bald ist Ilus bereit, Frachter mit Lithium zu den hiesigen Märkten zu schicken. Die Leute werden dabei reich. Vielleicht bilden sie nur eine Ausnahme, aber bis sich das herumspricht, sind schon unzählige Menschen von all den Welten unterwegs, um sich eine eigene Goldmine zu suchen.«

»Ich wüsste nicht, was ich hätte anders machen können.«

»Überhaupt nichts«, stimmte Fred zu. »Avasarala, Premierminister Smith auf dem Mars und die anderen Politikersäcke wollen vor allem die Kontrolle behalten. Aber Sie haben dafür gesorgt, dass es ihnen nicht gelingen wird.«

»Warum sind Sie dann so erfreut?«

»Weil ich nichts kontrollieren will«, entgegnete Fred grinsend. »Und deshalb werde ich am Ende die Kontrolle haben. Ich denke langfristig.«

Holden stand auf und schenkte sich noch eine Tasse von Freds köstlichem Kaffee ein. »Ich fürchte, das müssen Sie mir noch mal ganz langsam erklären.« Er lehnte sich neben der Maschine an die Wand.

»Ich habe die Medina-Station. Ein autarkes Raumschiff, an dem jeder vorbeimuss, der durch die Ringe will. Jeder, der etwas braucht, kann bei uns Päckchen mit Samen und Notunterkünfte bekommen. Wir verkaufen Pflanzerde und Wasserfilter zum Selbstkostenpreis. Jede Kolonie, die überlebt, wird es teilweise nur deshalb schaffen, weil wir ihr geholfen haben. Hinter wem werden die Siedler wohl stehen, wenn es darum geht, eine Art galaktische Regierung zu bilden? Hinter den Leuten, die mit dem Gewehr in der Hand eine Hegemonie durchsetzen wollen? Oder hinter denen, die immer da sind, um ihnen im Krisenfall zu helfen?«

»Die Leute werden Sie unterstützen«, antwortete Holden. »Deshalb bauen Sie Schiffe. Sie müssen am Anfang hilfsbereit auftreten, weil alle Ihre Hilfe brauchen. Aber wenn es darum geht, eine Regierung zu bilden, wollen Sie auch Stärke zeigen.«

»Genau.« Fred lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Die Allianz der Äußeren Planeten hat von Anfang an alles jenseits des Gürtels eingeschlossen. Das gilt immer noch. Das Gelände ist nur … etwas größer geworden.«

»So einfach kann es doch nicht sein. Die Politiker von Erde und Mars werden keinesfalls die Hände in den Schoß legen und Ihnen die Führung der Galaxis überlassen, nur weil Sie Zelte und Fresspakete verteilen.«

»Es ist immer schwieriger, als man denkt«, gab Fred zu. »Aber so gehen wir es erst einmal an. Solange mir die Medina-Station gehört, kontrolliere ich das Zentrum des Spielfeldes.«

»Haben Sie meinen Bericht überhaupt gelesen?«, fragte Holden. Es gelang ihm nicht, den ungläubigen Unterton zu unterdrücken.

»Ich unterschätze keineswegs die Gefahren, die auf diesen Welten …«

»Vergessen Sie das, was da draußen zurückgeblieben ist«, fiel Holden ihm ins Wort. Er stellte die halb geleerte Kaffeetasse ab und marschierte quer durch den Raum, um sich über Freds Schreibtisch zu beugen. Der alte Mann wich mit gerunzelter Stirn zurück. »Vergessen Sie die Roboter und Bahnsysteme, die noch funktionieren, nachdem sie eine Milliarde Jahre außer Betrieb waren. Vergessen Sie die explodierenden Reaktoren. Vergessen Sie die tödlichen Schnecken und die Mikroben, die Ihnen in die Augen kriechen und Sie blenden.«

»Wie lang wird die Liste noch?«

Holden ließ sich nicht beirren. »Nicht vergessen sollten Sie aber die Zauberkugel, die das alles abgewendet hat.«

»Es war wirklich ein glücklicher Zufall, dass Sie dieses Artefakt gefunden haben, wenn man bedenkt …«

»Nein, das war es nicht. Es war die erschreckendste Antwort auf das Fermi-Paradoxon, die ich mir überhaupt vorstellen kann. Wissen Sie, warum es in Ihrer Analogie zum Wilden Westen keine Indianer gibt? Weil sie schon tot sind. Diese Leute, wer sie auch waren, hatten einen großen Vorsprung. Sie haben das alles erschaffen und ihren Protomolekül-Torbauer benutzt, um alle anderen umzubringen. Aber das ist noch nicht einmal das Schlimmste. Wirklich beängstigend ist, dass ihnen etwas anderes in die Quere gekommen ist, das sie einfach umgelegt hat, und jetzt vermodern die Leichen in der ganzen Galaxis. Die Frage, die wir uns wirklich stellen sollten, lautet: Wer hat diese Zauberkugel abgefeuert? Und werden deren Besitzer einverstanden sein, wenn wir die Sachen der Opfer an uns nehmen?«

Fred hatte der Crew im Verwaltungstrakt der Tycho-Station zwei Apartments überlassen. Holden und Naomi teilten sich eine Suite im Wohnring, Alex und Amos die andere. In der Praxis bedeutete dies allerdings, dass sie im Grunde nur dort schliefen. Wenn die Jungs nicht die zahlreichen Unterhaltungsmöglichkeiten der Tycho-Station in Anspruch nahmen, hockten sie anscheinend die ganze Zeit in Holdens und Naomis Apartment.

Als Holden hereinkam, saß Naomi am Esstisch und ging auf dem Handterminal eine komplizierte Aufstellung durch. Sie lächelte Holden an, ohne den Kopf zu heben. Alex lümmelte im Wohnzimmer auf dem Sofa. Der Wandbildschirm war eingeschaltet und zeigte die Grafiken und Moderatoren eines Newsfeeds. Der Tonkanal war jedoch stumm, und der Pilot hatte den Kopf zurückgelegt und die Augen geschlossen. Er schnarchte leise.

»Schlafen sie jetzt auch hier?« Holden setzte sich Naomi gegenüber an den Tisch.

»Amos holt das Essen. Wie ist es bei dir gelaufen?«

»Willst du zuerst die schlechten oder die ganz schlechten Neuigkeiten hören?«

Endlich schaute Naomi auf. Sie legte den Kopf schief und sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Hast du schon wieder dafür gesorgt, dass man uns feuert?«

»Dieses Mal nicht. Die Rosinante ist ziemlich im Eimer. Sakai sagt …«

»Achtundzwanzig Wochen«, unterbrach Naomi.

»Ja. Hast du mein Terminal angezapft?«

»Ich sehe mir gerade die Reparaturlisten an.« Sie deutete auf ihren Bildschirm. »Das ist vor einer Stunde reingekommen. Er … Sakai ist ziemlich gut.«

Nicht so gut wie Sam. Die Bemerkung lag unausgesprochen in der Luft. Naomi richtete den Blick wieder auf den Tisch, die Haare fielen herab und verdeckten ihr Gesicht.

»Ja, das wäre dann die schlechte Nachricht«, erklärte er. »Ein halbes Jahr Ausfall, und ich warte immer noch darauf, dass Fred sich bereit erklärt, die Kosten zu übernehmen. Oder wenigstens einen Teil davon. Egal wie viel.«

»Wir sind ziemlich gut bei Kasse. Gestern ist das Honorar der UN eingegangen.«

Holden nickte. Er war schon beim nächsten Punkt. »Vergessen wir mal das Geld. Wenn es um das Artefakt geht, wollen mir die Leute einfach nicht zuhören.«

Naomi deutete nach Art der Gürtler mit den Händen ein Achselzucken an. »Glaubst du denn, dieses Mal müsste es anders laufen? Sie haben doch noch nie zugehört.«

»Ich möchte endlich mal für meine optimistische Einschätzung der Menschheit gelobt werden.«

»Ich habe Kaffee gemacht.« Sie nickte in die Richtung der Küche.

»Fred hat mir einen Kaffee spendiert. Er war so gut, dass ich schlechteren nicht mehr mag. Auch in dieser Hinsicht war das Treffen mit ihm unbefriedigend.«

Die Tür des Apartments glitt auf, und Amos trampelte mit zwei großen Beuteln herein. Der Geruch von Zwiebeln und Curry erfüllte den Raum.

»Futter.« Er legte vor Holden die Beutel auf den Tisch. »He, Käpten, wann bekomme ich mein Schiff zurück?«

»Ist das Essen da?«, ließ sich Alex benommen, aber laut aus dem Wohnbereich vernehmen. Amos antwortete nicht. Er holte bereits die Schaumstoffkartons aus den Beuteln und verteilte sie auf dem Tisch. Holden hatte angenommen, er sei zu gereizt, um etwas zu essen, aber der würzige Duft der indischen Gerichte belehrte ihn eines Besseren.

»Das wird lange dauern«, sagte Naomi zu Amos. Sie hatte sich schon ein paar Sojawürfel in den Mund geschoben. »Wir haben die Aufhängung verbogen.«

»Verdammt«, schimpfte Amos. Er setzte sich und nahm sich zwei Essstäbchen. »Kaum lasse ich euch mal ein paar Wochen allein, und schon ramponiert ihr mein Mädchen.«

»Da sind außerirdische Superwaffen zum Einsatz gekommen«, gab Alex zu bedenken. Er schlurfte herbei, die vom Schlaf verschwitzten Haare standen in allen Richtungen ab. »Die Gesetze der Physik wurden geändert, und jemand hat Fehler gemacht.«

»Ist doch immer wieder der gleiche Mist.« Amos schob dem Piloten eine Portion Curryreis hinüber. »Dreh mal den Ton auf. Ich glaube, es geht um Ilus.«

Naomi aktivierte die Tonspur des Videofeeds, bis die Stimme des Sprechers zu hören war. »… die Energieversorgung teilweise wiederhergestellt, aber Quellen auf dem Planeten zufolge wird dieser Rückschlag …«

»Ist das echtes Hühnchen?« Alex öffnete eine weitere Packung. »Wir prassen jetzt aber ein wenig, oder?«

»Still«, sagte Amos. »Die reden über die Kolonie.«

Alex verdrehte die Augen, äußerte sich jedoch nicht weiter, während er die gewürzten Streifen Hähnchenfilet auf seinen Teller schob. »… gelangte diese Woche der Entwurf eines Berichts über die Einzelheiten des Angriffs auf die Callisto-Werften im letzten Jahr an die Öffentlichkeit. Der Bericht ist zwar noch nicht offiziell, aber ersten Meldungen zufolge heißt es, eine Splittergruppe der Allianz der Äußeren Planeten sei beteiligt gewesen, und die Verantwortung für die hohe Zahl von Opfern …«

Mit einem wütenden Hieb auf die Steuerung im Tisch schaltete Amos den Ton ab. »Mist. Ich wollte hören, was auf Ilus los ist, und keinen Mist über AAP-Cowboys, die sich selbst in die Luft jagen.«

»Ich frage mich, ob Fred weiß, wer hinter dem Anschlag steckt«, meinte Holden. »Die Hardliner der AAP können sich nur schwer von ihrer ›Wir gegen das ganze Sonnensystem‹-Theologie trennen.«

»Was wollten die dort überhaupt?«, überlegte Alex. »Auf Callisto gab es keine schwere Munition. Keine Atombomben. Nichts, was einen solchen Überfall rechtfertigen könnte.«

»Ach, seit wann gehen wir davon aus, dass sich diese Idioten plausibel verhalten?«, entgegnete Amos. »Reich mir mal das Naan.«

Holden lehnte sich seufzend zurück. »Ich weiß, dass ich dastehe wie ein naiver Idiot, aber nach Ilus dachte ich tatsächlich, wir bekämen vorübergehend einen echten Frieden, und niemand sieht sich mehr bemüßigt, andere Leute in die Luft zu jagen.«

»Es sieht doch so aus.« Naomi unterdrückte ein Rülpsen und legte die Essstäbchen weg. »Erde und Mars befinden sich in einer heiklen Entspannungsphase, und der legale Flügel der AAP treibt Politik und kämpft nicht mehr. Die Kolonisten auf Ilus arbeiten mit der UN zusammen, und die Leute knallen sich nicht mehr gegenseitig ab. Das ist so gut, besser kann es kaum noch werden. Wir dürfen aber nicht erwarten, dass dies auch wirklich allen gefällt. Schließlich sind und bleiben wir Menschen. Mit einem gewissen Prozentsatz von Arschlöchern muss man immer rechnen.«

»Wahrere Worte wurden nie gesprochen, Boss«, sagte Amos.

Sie waren mit Essen fertig und saßen ein paar Minuten in behaglichem Schweigen zusammen. Schließlich holte Amos das Bier aus dem kleinen Kühlschrank und reichte die Beutel herum. Alex stocherte mit dem Nagel des kleinen Fingers in den Zahnlücken. Naomi kümmerte sich wieder um den Reparaturplan.

»Na ja«, sagte sie, nachdem sie eine Weile die Zahlen betrachtet hatte. »Die gute Neuigkeit ist, dass wir die Reparatur mit dem Notgroschen bezahlen können, selbst wenn UN und AAP sich nicht beteiligen.«

»Wenn wir wieder fliegen, gibt es vermutlich viele Kolonisten, die durch die Ringe begleitet werden wollen«, meinte Alex.

»Ja, und glücklicherweise können wir unglaublich viel Mutterboden in unseren winzigen Laderaum stopfen«, schnaubte Amos. »Außerdem sind wir nicht unbedingt an mittellosen und verzweifelten Kunden interessiert.«

»Es ist doch so«, schaltete sich Holden ein. »Wenn es weiter so läuft wie bisher, wird es für ein privates Kriegsschiff wahrscheinlich ziemlich schwer, neue Auftraggeber zu finden.«

Amos lachte. »Lass mich vorsorglich sofort ein ›Ich hab’s doch gleich gesagt‹ einwerfen. Denn wenn sich mal wieder herausstellt, dass es anders kommt, bin ich möglicherweise gar nicht mehr da, um darauf herumzureiten.«

2   Alex

Was Alex Kamal an langen Flügen am meisten gefiel, war die veränderte Wahrnehmung der Zeit. Die Wochen – manchmal sogar Monate – unter Schub kamen ihm immer so vor, als verließe er den Lauf der Geschichte und existierte in einem kleinen, getrennten Universum. Seine Welt bestand nur noch aus dem Schiff und den Menschen, die auf ihm lebten. Für eine lange Zeit gab es nichts weiter zu tun außer einfachen Wartungsarbeiten. Dringlichkeit existierte in diesem Leben nicht mehr. Alles funktionierte nach Plan, und der Plan sah vor, dass nichts Kritisches geschah. Wenn er durch das unendliche Vakuum des Weltraums reiste, genoss er einen ganz unerklärlichen Frieden und ein tiefes Wohlbefinden. Nur deshalb war er überhaupt fähig, diese Arbeit zu verrichten.

Er hatte andere Menschen gekannt, meist junge Männer und Frauen, die ganz andere Erfahrungen gemacht hatten. Damals bei der Raummarine war ihm ein Pilot begegnet, der bis dahin vor allem zwischen den inneren Planeten geflogen war: Erde, Luna und Mars. Der junge Mann hatte sich zu einem Flug hinaus zu den Jupitermonden unter Alex’ Kommando versetzen lassen. Ungefähr zu der Zeit, zu der ein Einsatz zwischen den inneren Planeten beendet gewesen wäre, war der junge Mann zerbrochen. Er hatte sich über kleine Sticheleien aufgeregt und war von der Brücke bis zum Maschinenraum und wieder zurück auf dem Schiff umhergelaufen wie ein Tiger im Käfig. Beim Anflug auf Ganymed hatte Alex den Schiffsarzt gebeten, dem Burschen Beruhigungsmittel ins Essen zu geben, damit er nicht völlig außer Kontrolle geriet. Am Ende des Einsatzes hatte Alex empfohlen, den Piloten nie wieder für lange Flüge einzuteilen. Manche Piloten konnte man nicht ausbilden, sondern nur im Ernstfall erproben.

Nicht dass es nicht verschiedene Sorgen und Kümmernisse gab, die er mit sich herumtrug. Seit dem Untergang der Canterbury litt Alex an einer gewissen Grundangst. Sie waren nur vier, also war die Rosinante chronisch unterbesetzt. Amos und Holden waren die beiden starken männlichen Persönlichkeiten an Bord. Falls sie je aneinandergerieten, flog die Crew im wahrsten Sinne des Wortes auseinander. Der Kapitän und die XO waren ein Liebespaar, und falls sie sich jemals trennten, war nicht nur irgendein Job beendet. Im Grunde hatte er sich schon immer wegen ähnlicher Dinge Sorgen gemacht, ganz egal, mit welcher Crew er unterwegs gewesen war. Auf der Rosinante plagten ihn schon seit Jahren dieselben Sorgen, die jedoch nie zur Realität wurden, und das war für sich genommen schon eine Art Stabilität. Wie auch immer, Alex war jedes Mal erleichtert, wenn sie einen Flug hinter sich gebracht hatten und der nächste in Aussicht stand. Oder vielleicht nicht jedes Mal, aber doch meistens.

Die Ankunft auf der Tycho-Station hätte er als Erleichterung empfinden sollen. Die Rosinante war so kaputt wie noch nie, die Werften auf Tycho zählten zu den besten im ganzen Sonnensystem, und die freundlichsten waren sie obendrein. Der Weitertransport des Gefangenen, den sie von Neuterra mitgebracht hatten, lag nun nicht mehr in ihren Händen, und er konnte das Schiff verlassen. Die Edward Israel, die andere Hälfte des Konvois von Neuterra, flog wohlbehalten in Richtung Sonne. In den nächsten sechs Monaten gab es nichts außer Reparaturarbeiten und Freizeit. Nach allen nur denkbaren Maßstäben gab es keinen Grund, sich irgendwelche Sorgen zu machen.

»Also, welche Laus ist dir jetzt über die Leber gelaufen?«, fragte Amos.

Alex zuckte mit den Achseln, öffnete den kleinen Kühlschrank ihrer Suite, schloss ihn und zuckte abermals mit den Achseln.

»Dich beschäftigt doch irgendetwas.«

»Ja, klar.«

Die Lampen waren zu dem klaren gelbblauen Farbton gewechselt, der hier den frühen Morgen andeutete. Alex hatte nicht geschlafen. Oder jedenfalls nicht viel. Amos setzte sich an die Anrichte und goss sich einen Becher Kaffee ein. »Wir machen doch gerade keine dieser Sachen, bei denen ich dir viele Fragen stellen muss, bis du endlich bereit bist, über deine Gefühle zu reden, oder?«

Alex lachte. »Das funktioniert sowieso nicht.«

»Also lassen wir das bleiben.«

Auf langen Flügen zogen sich Holden und Naomi oft zurück, ohne dass es ihnen überhaupt wirklich bewusst wurde. Es war ganz natürlich, dass Liebende eher die gemeinsame Nähe als die Gesellschaft der Crew suchten. Wäre es anders gewesen, dann hätte Alex sich Sorgen gemacht. So aber blieb ihm nur Amos als Gesellschaft. Alex war stolz darauf, mit fast jedem anderen Crewmitglied gut zurechtzukommen, und Amos bildete keine Ausnahme. Amos war ein Mann ohne Hintergedanken. Wenn er sagte, dass er eine Weile allein sein musste, dann brauchte er Zeit für sich allein. Wenn Alex ihn fragte, ob er mit ihm zusammen einen neu heruntergeladenen Film der Neo-Noir-Reihe ansehen wollte, die er abonniert hatte, dann bezog sich die Antwort immer und ausschließlich auf den Film. Es war sinnlos, sich etwas zu verkneifen, es gab keine kalte Schulter und keine Spielchen. Es war einfach, wie es war. Manchmal fragte Alex sich, was geschehen wäre, wenn Amos auf der Donnager gestorben wäre und er die letzten paar Jahre mit ihrem alten Arzt Shed Garvey verbracht hätte.

Wahrscheinlich wäre es nicht ganz so gut gelaufen. Oder Alex hätte sich auch an diese Situation angepasst. Es war schwer zu sagen.

»Ich habe Träume, die … die mich beschäftigen«, sagte Alex.

»Albträume?«

»Nein, gute Träume. Träume, die besser sind als die reale Welt. So schöne Träume, dass ich mich mies fühle, wenn ich aus ihnen erwachen muss.«

»Oh«, machte Amos nachdenklich und trank einen Schluck Kaffee.

»Hattest du schon mal solche Träume?«

»Nein.«

»Das Problem ist, dass Tali in ihnen allen vorkommt.«

»Tali?«

»Talissa.«

»Deine Exfrau.«

»Genau«, bestätigte Alex. »Sie ist immer da, und es ist immer … es ist immer gut. Ich meine, nicht so, als wären wir wieder zusammen. Manchmal sehe ich mich auf dem Mars, manchmal ist sie auf dem Schiff. Sie ist einfach nur da, und es ist gut, und dann wache ich auf, und sie ist nicht da, und es ist nicht mehr gut. Und …«

Amos legte die Stirn in Falten und schürzte nachdenklich die Lippen.

»Willst du deine Exfrau zurückhaben?«

»Nein, wirklich nicht.«

»Bist du scharf?«

»Nein, in den Träumen geht es nicht um Sex.«

»Dann bist du allein. Das ist alles, was ich da sehe.«

»Es hat da hinten angefangen.« Alex meinte die andere Seite der Ringe, als er über Neuterra gekreist war. »Ihr Name fiel mal in einer Unterhaltung, und seitdem … ich habe sie enttäuscht.«

»Jo.«

»Sie hat jahrelang auf mich gewartet, aber ich war nicht der Mann, der ich sein wollte.«

»Nö«, stimmte Amos zu. »Willst du einen Kaffee?«

»Ja, unbedingt«, antwortete Alex.

Amos schenkte ihm eine Tasse ein. Der Mechaniker tat keinen Zucker hinein, ließ aber ein Drittel für die Sahne frei. So gut lernte man sich kennen, wenn man lange auf einem Schiff flog.

»Es war nicht schön, wie wir auseinandergegangen sind«, fuhr Alex fort. Es war eine einfache Aussage, keine große Offenbarung, und doch hatte die Bemerkung das Gewicht einer Beichte.

»Nö«, pflichtete Amos ihm bei.

»Manchmal glaube ich, dies ist eine Gelegenheit.«

»Dies?«

»Die Rosinante liegt lange im Dock. Ich könnte zum Mars fliegen, sie wiedersehen und mich entschuldigen.«

»Und dann lässt du sie wieder sitzen, um rechtzeitig hier zu sein, wenn der Hauptantrieb hochfährt.«

Alex starrte in seinen Kaffeepott. »Ich möchte das in Ordnung bringen.«

Amos zuckte lebhaft mit den Achseln. »Dann flieg hin.«

Tausend Einwände fielen ihm ein. Die vier hatten sich noch nie getrennt, seit sie als Crew zusammengekommen waren. Alex empfand es als ein böses Omen, die Gruppe jetzt aufzuspalten. Vielleicht brauchte ihn auch die Reparaturmannschaft auf Tycho, oder sie nahmen im Schiff eine Veränderung vor, die er erst viel später in einem kritischen Moment bemerken würde. Noch schlimmer, vielleicht kehrte er nie mehr zurück, wenn er jetzt fortging. Wenn das Universum in den letzten Jahren eines bewiesen hatte, dann war es die Tatsache, dass man sich auf rein gar nichts verlassen konnte.

Das Zirpen eines Handterminals erlöste ihn. Amos zog das Gerät aus der Tasche, sah es an, tippte auf den Bildschirm und blickte finster drein. »Ich brauch jetzt mal etwas Ruhe.«

»Klar«, antwortete Alex. »Kein Problem.«

Vor ihrer Suite erstreckte sich die Tycho-Station in langen, sanften Kurven. Sie zählte zu den Kronjuwelen der Allianz der Äußeren Planeten. Ceres war größer, und die Medina-Station besetzte die verrückte langsame Zone zwischen den Ringen, aber die Tycho-Station war von Anfang an der ganze Stolz der AAP gewesen. Die weiten geschwungenen Linien, die eher an ein Segelschiff erinnerten als an das Design der Raumschiffe, die sie bediente, erfüllten keinen praktischen Zweck. Die Schönheit der Station war reine Prahlerei: Hier wirken die Geister, die Eros und Ceres in Rotation versetzt haben, hier ist die Werft, die das größte Raumschiff in der Geschichte der Menschheit gebaut hat. Die Männer und Frauen, die vor gar nicht einmal so vielen Generationen den Abgrund jenseits des Mars überwunden hatten, waren klug und tatkräftig genug, um so etwas zu erschaffen.

Alex wanderte eine lange Promenade hinunter. Die Menschen, denen er begegnete, waren Gürtler. Die Körper waren schmal und lang, die Köpfe größer als bei Erdbewohnern. Alex war in der relativ niedrigen Marsschwerkraft aufgewachsen, besaß jedoch nicht den Körperbau, den eine unter Schwerelosigkeit verbrachte Kindheit nach sich zog.

In der leeren Weite der breiten Korridore wuchsen Pflanzen, Ranken krochen in der Rotationsschwerkraft empor, wie sie es auch unter irdischen Bedingungen getan hätten. Kinder rannten durch die Flure und drückten sich vor dem Unterricht, wie er es damals in Londres Nova getan hatte. Er trank Kaffee und versuchte, sich an den Frieden eines langen Raumflugs zu erinnern. Die Tycho-Station war ein künstliches Gebilde, genau wie die Rosinante. Das Vakuum außerhalb der schützenden Hülle war ebenso allgegenwärtig und erbarmungslos. Es half nichts, er kam nicht zur Ruhe. Die Tycho-Station war nicht sein Schiff und nicht sein Heim. Die Leute, denen er begegnete, als er zum Gemeinschaftsbereich ging und durch die mehrlagigen durchsichtigen Keramikscheiben zum glitzernden Spektakel der Werften blickte, waren nicht seine Familie. Immer wieder fragte er sich, was Tali von alledem gehalten hätte. Wenn sie ihn an einen anderen Ort begleitet und dessen Schönheit erkannt hätte, wie es ihm umgekehrt auf dem Mars nie gelungen war.

Als er die Tasse ausgetrunken hatte, ging er weiter. Wie all die anderen Passanten schlenderte er durch die Gänge, wich den Elektrokarren aus und tauschte in der polyglotten linguistischen Katastrophe, die als Dialekt der Gürtler galt, Höflichkeiten mit den anderen Menschen aus. Er achtete kaum darauf, wohin er ging, bis er auf einmal dort war.

Die Rosinante schwebte halb entkleidet im Vakuum. Die äußere Hülle war abgeschält, und die innere strahlte hell im Licht der Arbeitslampen. Das Schiff kam ihm so klein vor. Ihre Abenteuer hatten vor allem auf der Außenhaut Narben hinterlassen. Diese Narben waren jetzt verschwunden, nur die tieferen Verletzungen waren geblieben. Von hier aus konnte er es nicht erkennen, aber er wusste genau, wo das Schiff beschädigt war. Auf der Rosinante war er länger geflogen als auf jedem anderen Schiff im Laufe seiner Pilotenkarriere, und er liebte sie mehr als alle anderen. Sogar mehr als das allererste.

»Ich bin bald wieder da«, versprach er dem Raumschiff, und wie um ihm zu antworten, flammte auf der Krümmung des Antriebstrichters eine Schweißflamme auf, die vorübergehend sogar heller war als die Sonne, wenn man sie ohne Abschirmung auf dem Mars betrachtete.

Die Suite, die Naomi und Holden sich teilten, lag gleich neben derjenigen, in der er und Amos schliefen. Die Tür bestand aus dem gleichen anheimelnden Holzimitat, und die Ziffern an der Wand glänzten so hell wie vor seinem Apartment. Alex trat ein und hörte, dass gerade eine Unterhaltung im Gange war.

»… wenn du das wirklich für nötig hältst«, sagte Naomi. Die Stimme kam aus dem Hauptraum der Suite. »Aber meiner Ansicht nach spricht alles dafür, dass du sämtliche Rückstände beseitigt hast. Ich meine, Miller ist doch nicht mehr aufgetaucht, oder?«

»Nein«, antwortete Holden und begrüßte Alex mit einem Nicken. »Aber die Vorstellung, dass wir so lange diesen Kleister im Schiff hatten und es nicht einmal wussten, jagt mir einen kalten Schauer über den Rücken. Dir etwa nicht?«

Alex hielt Holden seinen Kaffeepott hin, Holden nahm ihn entgegen und füllte ihn, ohne nachzudenken. Kein Zucker, genug Platz für die Sahne lassen.

»Und ob.« Naomi kam herüber. »Aber nicht so sehr, dass ich deshalb das ganze verdammte Schott ausbauen ließe. Die Ersatzteile sind nie so stabil wie die Originale, das weißt du doch.«

Alex hatte Naomi Nagata auf der Canterbury kennengelernt. Er sah immer noch das grobknochige zornige Mädchen vor sich, das Kapitän McDowell ihnen als die neue Maschinistin vorgestellt hatte. Fast ein Jahr lang hatte sie sich hinter ihren langen Haaren versteckt. Jetzt tauchten in dem Schwarz die ersten weißen Strähnen auf. Sie stand aufrecht und fühlte sich wohl in ihrer Haut. Selbstbewusster und stärker, als er es je für möglich gehalten hätte. Und Holden, dieser großmäulige, von sich selbst eingenommene Erste Offizier, der die unehrenhafte Entlassung aus dem Militärdienst wie einen Orden getragen hatte, war zu diesem Mann geworden, der ihm die Sahne reichte und fröhlich zugab, wie irrational seine Ängste waren. Die Zeit hatte sie wohl alle verändert. Nur dass er nicht sicher war, wie es sich bei ihm ausgewirkt hatte. Vermutlich war er in dieser Hinsicht ein wenig betriebsblind.

Amos war die Ausnahme. Amos veränderte sich nie.

»Was sagst du, Alex?«

Er grinste und antwortete im schleppenden Dialekt des Mariner Valley. »Also, Mann, ich denke mir, es hat uns nicht umgebracht, als es da war, und wird uns jetzt, wo es weg ist, erst recht nicht mehr umbringen.«

»Schön«, lenkte Holden seufzend ein.

»So sparen wir auch eine Menge Geld«, fügte Naomi hinzu. »Wir stehen in jeder Hinsicht besser da.«

»Ich weiß«, sagte Holden. »Aber ich fühle mich immer noch komisch damit.«

»Wo steckt eigentlich Amos?«, fragte Naomi. »Strolcht er immer noch herum?«

»Nein«, berichtete Alex. »Am Anfang war er so oft im Bordell, dass er sein Taschengeld in ein paar Tagen verbraucht hatte. Danach haben wir uns einfach irgendwie die Zeit vertrieben.«

»Wir müssen etwas finden, um ihn zu beschäftigen, solange wir auf Tycho sind«, sagte Holden. »Ach, wir müssen für uns alle eine Beschäftigung finden.«

»Wir könnten uns auf der Station eine Arbeit suchen«, schlug Naomi vor. »Ich weiß allerdings nicht, was hier gebraucht wird.«

»Wir haben Anfragen von einem halben Dutzend Interessenten für bezahlte Vorträge über Neuterra«, warf Holden ein.

»Genau wie alle anderen, die durch den Ring zurückgekommen sind«, antwortete Naomi lachend. »Der Feed dorthin und zurück funktioniert noch.«

»Willst du damit sagen, dass wir ablehnen sollten?«, fragte Holden. Es klang ein wenig verletzt.

»Ich will damit sagen, dass es viele Dinge gibt, für die ich mich lieber bezahlen lassen würde als ausgerechnet dafür, über mich selbst zu reden.«

Holden sank ein wenig in sich zusammen. »Da hast du auch wieder recht. Aber wir werden hier noch lange festsitzen. Wir müssen etwas zu tun haben.«

Alex holte tief Luft. Jetzt kam es. Das war der entscheidende Augenblick. Seine Entschlossenheit schwankte. Er goss sich Sahne in den Pott. Die Schwärze wich einem warmen Braunton. Der Kloß im Hals fühlte sich an, als hätte er ein ganzes Ei verschluckt.

»Also«, begann er. »Ich habe, äh … ich habe über verschiedene Dinge nachgedacht …«

Die Tür des Apartments ging auf, und Amos trat ein. »Hallo, Käpt’n. Ich brauche Urlaub.«

Naomi legte den Kopf schief und runzelte die Stirn. Holden kam ihr zuvor.

»Urlaub?«

»Ja. Ich muss was auf der Erde erledigen.«

Naomi setzte sich an der Frühstückstheke auf einen Hocker. »Was ist denn los?«

»Keine Ahnung«, antwortete Amos. »Vielleicht gar nichts, aber ich muss hin und mich vergewissern. Ich will das klären, verstehst du?«

»Ist etwas passiert?«, wollte Holden wissen. »Wenn es eine große Sache ist, könnten wir auch warten, bis die Rosinante repariert ist, und alle zusammen hinfliegen. Ich warte sowieso schon auf einen Vorwand, um Naomi endlich mal auf die Erde zu bekommen und meiner Familie vorzustellen.«

Die Verärgerung erschien und verschwand so schnell im Gesicht der Bordingenieurin, dass es Alex beinahe entgangen wäre. Das waren die Momente, die ihn nervös machten. Immer wieder machte Holden Bemerkungen, die Naomi tief trafen, ohne es zu bemerken. Sie hatte sich schon wieder gefangen, ehe Amos antwortete.

»Du musst wohl noch etwas länger nach deinem Vorwand suchen, Käpt’n. Es eilt ein wenig. Eine Frau, mit der ich mal zu tun hatte, ist gestorben. Ich muss mich einfach nur vergewissern, dass dort alles in Ordnung ist.«

»Oh, das tut mir leid«, sagte Naomi. Holden fragte im gleichen Moment: »Kümmerst du dich um ihren Nachlass?«

»Ja, etwas in dieser Art«, erklärte Amos. »Wie auch immer, ich habe eine Passage nach Ceres und dann weiter in die Schwerkraftsenke gebucht, aber ich muss wohl ein paar meiner Anteile versilbern, damit ich da unten genug Geld habe.«

Schweigen breitete sich aus. »Aber du kommst doch wieder zurück, oder?«, fragte Naomi.

»Ich will’s versuchen.« Alex entging nicht, dass die Antwort ehrlicher war als ein einfaches Ja. Amos wollte zurückkommen, aber es konnte alles Mögliche geschehen. In all den Jahren, die sie zusammen auf der Canterbury und der Rosinante geflogen waren, hatte Amos so gut wie nie, und wenn überhaupt, dann höchstens in sehr allgemeinen Begriffen, über seine Vergangenheit auf der Erde gesprochen. Alex fragte sich, ob es daran lag, dass die Vergangenheit nicht erwähnenswert war, oder ob sie zu schmerzlich war, um sich an sie zu erinnern. Bei Amos war es sogar denkbar, dass beides zugleich zutraf.

»Natürlich«, stimmte Holden zu. »Sag mir, wie viel du brauchst.«

Die Verhandlungen waren kurz, die Übertragung wickelten sie mithilfe der Handterminals ab. Amos grinste und klopfte Alex auf die Schulter.

»Alles klar. Jetzt hast du die Bude für dich allein.«

»Wann fliegst du ab?«, fragte Alex.

»In etwa einer Stunde. Ich muss mich sputen.«

»In Ordnung«, antwortete Alex. »Pass gut auf dich auf, Partner.«

»Mach ich.« Mit diesen Worten ging Amos hinaus.

Die drei verbliebenen Besatzungsmitglieder der Rosinante standen schweigend in der Küche. Holden schien schockiert, Naomi wirkte eher amüsiert. Alex schwankte zwischen den beiden Gefühlen.

»Also, das war verrückt«, sagte Holden. »Ob er wohl zurechtkommt?«

»Amos kommt überall zurecht«, meinte Naomi. »Ich mache mir eher Sorgen um die Leute, denen er auf die Zehen tritt.«

»Da hast du auch wieder recht«, stimmte Holden zu. Er sprang hoch, setzte sich auf die Theke und wandte sich an Alex. »Wie auch immer, du hast gesagt, du hättest über irgendetwas nachgedacht?«

Alex nickte. Ich habe darüber nachgedacht, wie schwer es ist, mich von der Familie zu lösen, und über die Familie, die ich zerstört habe, und dass ich meine Exfrau sehen muss, um irgendeine Erklärung zu finden, was wir füreinander waren und was wir getan haben. Das kam ihm jetzt beinahe banal vor.

»Also, weil wir ja sowieso noch lange auf Reede liegen werden, habe ich mir überlegt, einen Ausflug zum Mars zu machen und die alten Kontakte aufzufrischen.«

»Gut«, antwortete Holden. »Aber du kommst doch zurück, ehe die Reparaturen beendet sind, oder?«

Alex lächelte. »Ich will’s versuchen.«

3   Naomi

Der Golgo-Tisch war für die ersten Würfe freigegeben, das erste und zweite Ziel waren noch unberührt, und das Feld war leer. Der hämmernde Bass, der in der Blauwe Blome