Tiamats Zorn - James Corey - E-Book

Tiamats Zorn E-Book

James Corey

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Beschreibung

Das Tor in die Zukunft der Menschheit wurde aufgestoßen. Weit über tausend Welten sind auf einen Schlag erreichbar geworden. Auf einer von ihnen hat ein Mann namens Duarte ein Regime errichtet, mit dem er nun den Rest der Galaxis unterwerfen will. Nichts scheint ihn aufhalten zu können – selbst das Sonnensystem hat er bereits unter Kontrolle. Doch seine Tochter hat Geheimnisse, von denen Duarte nichts weiß, während die Crew der Rosinante einen gefährlichen Untergrundkampf gegen Duartes Imperium beginnt …

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Das Buch

Nachdem sich im Sonnensystem ein gewaltiges Tor geöffnet hat, tun sich der Menschheit immer neue Horizonte auf. Weit über 1300 Sternsysteme in der ganzen Galaxis können nun mithilfe dieser Alientechnologie angesteuert werden. Zu Hunderten verlassen Siedlerschiffe das Sonnensystem – eines davon ist ein marsianisches Kriegsschiff. Sein Kommandant Winston Duarte hat sich eine ganz bestimmte unter den neuen Welten ausgesucht, einen Planeten, auf dem das Protomolekül bereits Spuren hinterlassen hat. Mit ihrer Hilfe hat er in den folgenden Jahren nicht nur die Grenzen der Wissenschaft verschoben, sondern auch ein neues Imperium erobert – ein Imperium, das er in einem Handstreich von seinem Planeten Laconia auf alle bewohnten Welten ausgedehnt hat. Doch seine durch das Protomolekül nahezu unbesiegbaren Kampfschiffe haben ihn unvorsichtig werden lassen. Glaubt Duarte, nur weil er James Holden selbst, den Helden der Befreiungskämpfe, auf Laconia als Geisel hält, dass ihm nichts und niemand mehr etwas anhaben kann? Währenddessen versuchen Naomi Nagata, Amos, Alex und Bobbie verzweifelt, den Untergrundkampf gegen das Imperium zu organisieren. Selbst Holden ist als Gefangener nicht untätig geblieben und verfolgt einen ganz eigenen Plan …

THE EXPANSE

James Coreys internationale Bestsellerserie sprengt alle Maßstäbe der Science-Fiction. Die TV-Verfilmung wird bereits als beste Science-Fiction-Serie aller Zeiten gefeiert.

Erster Roman: Leviathan erwacht

Vierter Roman: Cibola brennt

Erste Story: Der Schlächter der Anderson-Station

Fünfter Roman: Nemesis-Spiele

Zweiter Roman: Calibans Krieg

Sechster Roman: Babylons Asche

Zweite Story: Der Gott des Risikos

Siebter Roman: Persepolis erhebt sich

Dritter Roman: Abaddons Tor

Achter Roman: Tiamats Zorn

Dritte Story: Der Mahlstrom

Die Autoren

Hinter dem Pseudonym James Corey verbergen sich die beiden Autoren Daniel James Abraham und Ty Corey Franck. Beide schreiben auch unter ihrem eigenen Namen Romane und leben in New Mexico. Mit ihrer erfolgreichen gemeinsamen Science-Fiction-Serie THE EXPANSE haben sie sich weltweit in die Herzen von Lesern und Kritikern gleichermaßen geschrieben.

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JAMES COREY

TIAMATSZORN

Roman

Deutsche Erstausgabe

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Titel der amerikanischen Originalausgabe: TIAMAT’S WRATH Deutsche Übersetzung von Jürgen Langowski
Redaktion: Ralf Dürr Copyright © 2019 by Daniel Abraham and Ty Franck Copyright © 2020 der deutschsprachigen Ausgabe byWilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München Covergestaltung: Animagic, Bielefeld Coverillustration: Daniel Dociu Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN 978-3-641-22489-9V004

Für George R. R. Martin –ein vorzüglicher Mentor und ein guter Freund

PROLOG    Holden

Chrisjen Avasarala war tot. Sie war vor vier Monaten auf Luna im Schlaf gestorben. Ein langes, gesundes Leben, am Ende eine kurze Krankheit, und sie ließ die Menschheit verändert zurück. Die Newsfeeds schickten die im Voraus produzierten Nachrufe und biografischen Dokumentationen zu den dreizehnhundert Welten hinaus, welche die Menschheit geerbt hatte. Die Laufbänder und Schlagzeilen waren übertrieben: Die letzte Königin der Erde, Tod einer Tyrannin oder Avasaralas letztes Lebewohl.

Ganz egal, was sie besagten, es traf Holden schwer. Ein Universum, das sich nicht mehr dem Willen der kleinen alten Frau beugte, vermochte er sich kaum vorzustellen. Auch als in Laconia die Bestätigung einging, dass die Berichte der Wahrheit entsprachen, hielt Holden eisern an der Überzeugung fest, sie sei noch irgendwo da draußen, gereizt und ordinär wie eh und je, und unternehme schier übermenschliche Anstrengungen, um den Lauf der Dinge ein wenig zu verändern und die schlimmsten Gräueltaten zu verhindern. Nachdem er die Nachricht gehört hatte, verging fast ein Monat, bis er sich überwinden konnte, es als wahr zu akzeptieren. Chrisjen Avasarala war tot.

Aber das hieß noch lange nicht, dass sie mit der Welt fertig war.

Ursprünglich war auf der Erde ein Staatsbegräbnis geplant, doch dann schaltete sich Duarte ein. In ihrer Amtszeit als UN-Generalsekretärin hatte Avasarala eine kritische Phase der Geschichte erlebt, und ihr Dienst nicht nur für ihre Heimatwelt, sondern für die ganze Menschheit hatte ihr einen Ehrenplatz gesichert. Der Hochkonsul Laconias hielt es für recht und billig, dass sie den letzten Ruheplatz im Herzen des neuen Reichs finden sollte. Die Beisetzung sollte daher im Staatshaus stattfinden. Man würde ihr ein Denkmal errichten, damit man sie nie vergaß.

Über Duartes Anteil an dem umfassenden Gemetzel auf der Erde, das Avasaralas Amtszeit so sehr geprägt hatte, ging man stillschweigend hinweg. Die Geschichte wurde von den Siegern geschrieben. Holden war ziemlich sicher, dass sich alle noch gut daran erinnern konnten, wie sie und Duarte auf verschiedenen Seiten gekämpft hatten. Er selbst hatte es jedenfalls nicht vergessen.

Das Mausoleum – ihr Mausoleum, da es bisher noch niemanden von hinlänglicher Bedeutung gab, der es mit ihr teilen konnte – bestand aus weißem Stein, den man mit Mikropolitur blitzblank geschliffen hatte. Inzwischen war die große Doppeltür geschlossen, die Feier war vorbei. An der Nordwand des Gebäudes prangte Avasaralas Antlitz. Es war zusammen mit den Lebensdaten und ein paar Gedichtzeilen, die er nicht kannte, in den Stein geätzt. Die Hunderte Stühle vor dem Podium, von dem aus der Priester gesprochen hatte, waren nur noch zur Hälfte besetzt. Die Gäste waren aus dem ganzen Reich angereist und versammelten sich nun, da sie hier waren, mit anderen, die sie kannten, in kleinen Gruppen. Das Gras rings um die Gruft entsprach nicht dem auf der Erde, besetzte aber die gleiche ökologische Nische und hatte ähnliche Eigenschaften, sodass man es als Gras bezeichnen durfte. Ein warmer, angenehmer Wind wehte. Mit dem Palast im Rücken konnte Holden sich beinahe einreden, er dürfte jederzeit in die Wildnis jenseits des Gebäudes spazieren und gehen, wohin auch immer er wollte.

Er trug das militärisch geschnittene laconische Blau, verziert mit den gespreizten Schwingen, die Duarte als Symbol für sein Imperium ausgewählt hatte. Der Kragen war hoch und steif und kratzte am Hals. Die Stelle, wo Holden die Rangabzeichen hätte tragen sollen, war leer. Diese Leere war anscheinend das Kennzeichen eines privilegierten Gefangenen.

»Gehen Sie zum Empfang, Sir?«, fragte ein Wächter.

Holden fragte sich, wie genau die Eskalationsstufen aussehen würden, wenn er ablehnte, weil er doch ein freier Mann sei und die Gastfreundschaft des Palasts jederzeit ausschlagen könne. Jedenfalls war er sich ziemlich sicher, dass man die betreffenden Verfahren gründlich erprobt hatte. Vermutlich würde er es nicht genießen.

»Gleich«, antwortete Holden. »Ich will nur noch …« Er deutete in die Richtung des Grabmals, als sei die Unausweichlichkeit des Todes eine Art universelle Berechtigungskarte. Eine Erinnerung, dass alle menschlichen Regeln vergänglich waren.

»Selbstverständlich, Sir«, antwortete der Wächter und zog sich in die Menge zurück. Trotzdem hatte Holden nicht das Gefühl, frei zu sein. Unaufdringlich eingesperrt war das Beste, worauf er überhaupt hoffen konnte.

Etwas abseits stand eine Frau vor dem Mausoleum und betrachtete Avasaralas Abbild. Ihr Sari war strahlend blau, nahe genug an der laconischen Farbe, um als höflich zu gelten, und weit genug davon entfernt, um zu verdeutlichen, dass die Höflichkeit nicht aufrichtig war. Selbst wenn sie nicht wie ihre Großmutter ausgesehen hätte, wäre sie dank des gar nicht so subtilen »Ihr könnt mich mal« deutlich zu erkennen gewesen. Holden schlenderte hinüber.

Sie war dunkler als Avasarala, doch die Form der Augen, mit denen sie ihn ansah, und das schmale Lächeln kamen ihm bekannt vor.

»Mein Beileid«, sagte Holden.

»Danke.«

»Wir kennen uns noch nicht, ich bin …«

»James Holden«, unterbrach ihn die Frau. »Ich weiß, wer Sie sind. Nani hat manchmal von Ihnen gesprochen.«

»Ah, das war sicher interessant. Sie hat die Dinge mitunter anders gesehen als ich.«

»Ja, das hat sie wohl. Ich bin Kajri. Sie hat mich Kiki genannt.«

»Sie war eine erstaunliche Frau.«

Zwei Atemzüge lang schwiegen sie. Kajris Sari flatterte im Wind wie eine Fahne. Holden wollte sich schon entfernen, da sprach sie weiter.

»Das hier hätte ihr nicht gefallen«, fuhr sie fort. »Ins Lager ihrer Feinde geschleppt, wo sie jetzt gefeiert wird, ohne ihnen in die Eier treten zu können. Vereinnahmt, sobald sie sich nicht mehr wehren konnte. Sie rotiert jetzt sicher so schnell im Grab, dass man mit dem Strom einen ganzen Planeten versorgen könnte, wenn man eine Turbine anschließt.«

Holden gab einen kleinen Laut von sich, der nach Zustimmung klang.

Kajri zuckte mit den Achseln. »Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht hielte sie es auch für witzig. Bei ihr war ich nie ganz sicher.«

»Ich habe ihr viel zu verdanken«, sagte Holden. »Das war mir nicht immer sofort klar, aber sie hat getan, was sie konnte, um mir zu helfen. Leider habe ich keine Gelegenheit bekommen, mich bei ihr zu bedanken. Oder … vielleicht doch, aber ich habe sie nicht ergriffen. Wenn es irgendetwas gibt, das ich für Sie und Ihre Familie tun kann …«

»Kapitän Holden, ich glaube, Sie sind nicht in der Lage, irgendjemandem einen Gefallen zu tun.«

Holden blickte zum Palast. »Ja, es ging mir schon besser. Aber ich wollte es trotzdem sagen.«

»Ich weiß die Geste zu schätzen«, erwiderte Kajri. »Und nach allem, was ich gehört habe, genießen Sie inzwischen doch ein wenig Einfluss. Der Gefangene, dem der Imperator Gehör schenkt.«

»Davon wusste ich noch gar nichts. Ich rede viel, aber mir ist nicht klar, ob überhaupt jemand zuhört. Abgesehen von den Wächtern. Die bekommen vermutlich alles mit.«

Sie kicherte, es klang wärmer und mitfühlender, als er es erwartet hätte. »Es ist nicht leicht, wenn man keinerlei Privatsphäre hat. Ich bin in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass alles, was ich sagte, aufgezeichnet, gespeichert und daraufhin untersucht wurde, ob es für mich oder meine Familie kompromittierend sein könnte. Irgendwo im Geheimdienstarchiv gibt es eine Akte, in der jedes Datum notiert ist, an dem ich meine Periode hatte.«

»Ihretwegen?« Holden nickte in die Richtung der Grabstätte.

»Ihretwegen. Aber sie hat mir auch das Werkzeug gegeben, mit dem ich es überstehen konnte. Sie hat uns gelehrt, jedes beschämende Detail unseres Lebens als Waffe einzusetzen, um die Leute zu demütigen, die uns angreifen wollen. Genau das ist das Geheimnis.«

»Was für ein Geheimnis?«

Kajri lächelte. »Auch die Menschen, die Macht über Sie haben, sind schwach. Sie scheißen, bluten und machen sich Sorgen, dass ihre Kinder sie nicht mehr lieben. Die dummen Dinge, die sie in der Kindheit getan und die alle anderen längst vergessen haben, sind ihnen peinlich. Deshalb sind sie verletzlich. Wir definieren uns durch die Menschen in unserer Umgebung, weil wir eben genau dieser Sorte von Affen angehören. Da kommen wir nicht heraus. Wenn diese Leute Sie beobachten, geben sie Ihnen gleichzeitig auch die Macht, sie selbst zu verändern.«

»Wer hat Sie das gelehrt?«

»Das war sie«, antwortete Kajri. »Aber sie wusste es nicht.«

Wie um ihr recht zu geben, kam ein Wächter über die Wiese auf sie zu, wartete in respektvollem Abstand, bis er sicher war, dass sie ihn bemerkt hatten, und ließ ihnen Zeit, das Gespräch zu beenden, ehe er sich weiter näherte. Kajri drehte sich mit hochgezogenen Augenbrauen zu ihm um.

»Madam, der Empfang beginnt in zwanzig Minuten«, sagte der Wächter. »Der Hochkonsul würde sich freuen, Sie begrüßen zu dürfen.«

»Es würde mir nicht im Traum einfallen, ihn zu enttäuschen«, sagte sie mit einem Lächeln, das Holden schon einmal auf anderen Lippen gesehen hatte. Holden bot ihr den Arm an, und Kajri hakte sich ein. Als sie sich entfernten, nickte er zu der Grabstätte mit den eingravierten Worten. WENN DAS LEBEN DEN TOD ÜBERWINDET, WILL ICH DICH DORT SUCHEN. UND WENN NICHT, DANN AUCH DORT.

»Ein interessantes Zitat«, sagte er. »Ich habe das Gefühl, ich müsste es kennen. Von wem stammt es?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete sie. »Sie hat uns nur gebeten, es an ihrem Grab anzubringen. Woher es stammt, hat sie uns nicht verraten.«

Jeder, der Rang und Namen hatte, war nach Laconia gekommen. Das entsprach auf mehreren Ebenen der Wahrheit. Duartes Plan, das Zentrum der Menschheit vom Solsystem in das Herz seines eigenen Reichs zu verlagern, war auf ein Ausmaß von zustimmender Kooperation gestoßen, das Holden zunächst schockierend gefunden hatte. Nach einer Weile blieb nur noch eine Art dauerhaft leichte Enttäuschung von der Menschheit insgesamt übrig. Die angesehensten Forschungsinstitute hatten ihre Hauptsitze nach Laconia verlegt. Vier verschiedene Balletttruppen warfen die jahrhundertealte Rivalität über Bord und teilten sich das Laconische Kunstinstitut. Berühmtheiten und Gelehrte eilten in neue, palastartige, vom Staat geförderte Anwesen in der Hauptstadt. Sogar Filme wurden dort gedreht. Die sanfte Macht der kulturellen Massenproduktion war bereit, die beruhigenden Botschaften des Hochkonsuls Duarte zu verbreiten und die Dauerhaftigkeit Laconias zu belegen.

Auch die Firmen kamen. Duarte hatte vorab Bankgebäude und Geschäftsviertel bauen lassen, die nur noch auf die Mieter warteten. Der Weltenkongress bestand nicht mehr nur aus Carrie Fisk und einem mickrigen Büro auf der Medina-Station. Vielmehr logierte er jetzt in einer wahren Kathedrale im Zentrum der Hauptstadt. Die Eingangshalle war größer als ein Hangar und mit Buntglasfenstern ausgestattet, die bis in den Himmel zu reichen schienen. Auch die Zentralverwaltung der Transportgewerkschaft war jetzt hier angesiedelt, wenngleich in einem schlichteren Gebäude mit weniger Annehmlichkeiten, sodass schon auf den ersten Blick deutlich wurde, wer die Gunst des Herrschers genoss und wer nicht. Holden konnte das alles vom Staatshaus aus sehen, das ihm zugleich Heim und Gefängnis war und ihm das Gefühl gab, er lebte auf einer Insel.

Innerhalb der Stadtgrenzen war Laconia sauberer, neuer, strahlender und besser überwacht als die meisten Raumstationen, die Holden je besucht hatte. Außerhalb herrschte eine Wildnis, die Holden nur aus Bilderbüchern kannte. Uralte Wälder mit Alienruinen, deren Zähmung und Erkundung noch Generationen dauern würde. Holden hatte Klatsch und Gerüchte über die verbliebenen Technologien gehört, die dank der frühen Arbeiten mit dem Protomolekül zu einem kümmerlichen Leben erweckt worden waren: Bohrwürmer in der Größe von Raumschiffen, hundeähnliche Reparaturdrohnen, die nicht zwischen Mechanismen und Fleisch und Blut unterschieden, Kristallhöhlen mit piezoelektrischen Effekten, die musikalische Halluzinationen und eine grässliche Übelkeit hervorriefen. Selbst als die Stadt gleichbedeutend mit der Menschheit insgesamt wurde, blieb der Planet, auf dem sie sich befand, mehr als fremdartig. Eine sehr vertraute Insel inmitten eines Ozeans von Dingen, die man noch nicht verstand. In gewisser Weise war es beruhigend, dass Duarte, der sich in der Rolle des wohlwollenden Imperators gefiel, binnen weniger Jahrzehnte nicht jedes beliebige Ziel erreichen konnte.

Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, war es erschreckend.

Die Eingangshalle war gewaltig, aber nicht überladen. Wenn Laconia nach Duartes Ebenbild gebaut war, dann fand hier eine seltsame Gehemmtheit in der Seele des Hochkonsuls ihren Ausdruck. So großartig die Stadt auch war, so hoch er seine Ziele auch gesteckt hatte, Duartes Palast und sein Sitz waren keineswegs prunkhaft oder besonders prächtig geschmückt. Im Ballsaal herrschten klare Linien und eine neutrale Farbpalette vor, die elegant wirkte, ohne sich um das zu scheren, was die Leute gerade für modisch halten mochten. Hier und dort standen Sofas und Stühle, die jederzeit anders arrangiert werden konnten. Junge Menschen in Militäruniformen servierten Wein und Gewürztee. Allem Anschein nach setzte Duarte viel eher auf Vertrauen denn auf Macht. Es war ein guter Trick, denn er funktionierte immer noch, nachdem Holden ihn durchschaut hatte.

Von einer jungen Frau nahm er ein Glas Wein entgegen und schlenderte durch die wogende Menge der Besucher. Einige Leute erkannte er sofort. Carrie Fisk vom Weltenkongress hielt an einem langen Tisch Hof. Ein halbes Dutzend Gouverneure von ebenso vielen Kolonien wetteiferten darin, als Erste über ihre Scherze zu lachen. Thorne Chao, das Gesicht des populärsten Newsfeeds aus Bara Gaon. Emil-Michelle Li in dem fließenden grünen Kleid, das sie am liebsten trug, wenn sie keinen Film drehte. Für jedes Gesicht, das Holden mit einem Namen verbinden konnte, gab es allerdings ein Dutzend oder mehr, die ihm höchstens entfernt bekannt vorkamen.

So wanderte er durch den dünnen sozialen Schleier von höflichem Lächeln und erkennendem Nicken, der sich nie bis zu einer echten Begegnung lüftete. Er war hier, weil Duarte wollte, dass man ihn hier sah, aber das Mengendiagramm der Menschen, die einerseits um die Gunst des Hochkonsuls buhlten und andererseits bereit waren, dessen Missvergnügen in Kauf zu nehmen, indem sie sich mit dem berühmtesten Staatsgefangenen gemeinmachten, wies keine sehr große Schnittmenge auf.

Einige Ausnahmen gab es allerdings.

»Ich bin nicht betrunken genug, um das hier zu ertragen.«

Camina Drummer, die Präsidentin der Transportgewerkschaft, lehnte an einem Stehtisch und hatte beide Hände um ihr Glas gelegt. Von Angesicht zu Angesicht wirkte sie älter. Die Fältchen um Augen und Mund traten deutlicher hervor, wenn keine Kamera und kein Display dazwischengeschaltet waren und eine Distanz von mehreren Milliarden Kilometern überbrückten. Sie regte sich ein wenig und machte ihm am Tisch Platz. Er nahm die Einladung an.

»Ich bin nicht sicher, wie betrunken man hier sein müsste«, antwortete er. »Bewusstlos betrunken? Aggressiv betrunken? Heulend in der Ecke sitzen?«

»Sie sind ja nicht mal beschwipst.«

»Bin ich auch nicht. Ich trinke nicht mehr viel Alkohol.«

»Damit Sie bei Verstand bleiben?«

»Außerdem setzt es meinem Magen zu.«

Drummer lächelte, lachte und hustete. »Man hat also den geehrten Gefangenen ins Volk entlassen. Vielleicht sind Sie ihnen nicht mehr so nützlich wie früher. Hat man Ihnen alles Brauchbare abgepresst?«

So wie sie es ausdrückte, hätte es ein Geplänkel unter zwei alten Kollegen sein können, die gemeinsam ihre Macht verloren hatten und in der Grauzone politischer Akzeptanz überdauerten. Es hätte auch etwas mehr sein können. Eine verborgene Frage, ob man ihn gezwungen hatte, den Untergrund auf Medina zu verraten. Ob sie beschlossen hatten, ihn zu brechen. Drummer wusste so gut wie er, dass jederzeit irgendjemand lauschte.

»Hinsichtlich der Bedrohung durch die Aliens habe ich so gut geholfen, wie ich nur konnte. Alles andere, was er mich fragen kann, und alle meine Antworten wären sowieso nicht mehr aktuell. Ich nehme an, ich bin jetzt in Laconia, weil Duarte glaubt, ich sei ihm hier von Nutzen.«

»Als ein Teil des Fliegenschwarms.«

»Flöhe«, entgegnete Holden, und als er ihre Reaktion sah: »Es ist eher ein Flohzirkus.«

»Und ob«, bekräftigte sie.

»Was ist mit Ihnen? Wie läuft die Zerschlagung der Transportgewerkschaft?«

Auf einmal strahlte Drummer, und ihr Lächeln wurde breiter. Sie antwortete mit der perfekt modulierten Stimme einer Nachrichtensprecherin, forsch und warm zugleich und so falsch wie ein Ei aus Gips. »Es freut mich sehr, dass der Übergang unter die Aufsicht der laconischen Behörden und des Weltenkongresses so reibungslos verläuft. Wir konzentrieren uns darauf, alle alten Verfahren, die gut funktioniert haben, weiterzuführen und neue Prozeduren anzupassen und zu integrieren, damit überflüssiger Ballast beseitigt wird. Wir konnten das Niveau des Handels halten und sogar steigern, ohne die Sicherheit zu gefährden, die für die Menschheit insgesamt so wichtig ist.«

»Ist es wirklich so schlimm?«

»Ich sollte nicht jammern. Es könnte schlimmer sein. Solange ich ein braver kleiner Soldat bin und Duarte mich für hilfreich hält, um Saba aus der Kälte nach Hause zu holen, lande ich nicht im Pferch.«

Am Haupteingang erhob sich Gemurmel, in der Menge machte sich Unruhe breit. Im ganzen Ballsaal verlagerte sich die Aufmerksamkeit wie Eisenfeilspäne, denen sich ein Magnet näherte. Holden hätte nicht eigens hinschauen müssen, um zu wissen, dass Winston Duarte eingetroffen war. Er tat es trotzdem.

Duartes Uniform war Holdens Kluft sehr ähnlich, und er strahlte die liebenswürdige Gelassenheit aus, die er immer an den Tag legte. Seine Personenschützer waren auffälliger als die Überwachungsmaßnahmen, denen Holden unterworfen war. Zwei schwer gepanzerte Leibwächter mit Handfeuerwaffen und Augen, in denen implantierte Technik flackerte. Cortázar traf gleichzeitig mit ihm ein, hielt sich jedoch mit der Miene eines Jugendlichen, der für das Abendessen im Kreis der Familie von einem Spiel losgerissen wurde, etwas abseits. Die echte Jugendliche – Duartes Tochter Teresa – blieb wie ein Schatten an der Seite ihres Vaters.

Carrie Fisk ließ ihren Hofstaat von Gouverneuren im Stich und eilte zu Duarte, um ihn mit Handschlag zu begrüßen. Sie redeten einen Moment, bis Fisk sich an Teresa wandte und auch dem Mädchen die Hand gab. Hinter Fisk hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt, deren Teilnehmer unaufdringlich um die beste Position rangelten, um den großen Mann zu begrüßen.

»Ist er nicht ein unheimlicher Kerl?«, fragte Drummer.

Holden grunzte nur. Er wusste nicht, was sie meinte. Vielleicht die Tatsache, dass alle in seiner Umgebung so sehr auf Gehorsam geeicht waren. Das hätte durchaus gereicht, um sich unbehaglich zu fühlen. Möglicherweise spielte sie auf etwas an, das Holden selbst schon bemerkt hatte – den unsteten Blick und den perlmuttfarbenen Schein unter der Haut. Holden hatte das Protomolekül in Aktion mindestens so gut beobachten können wie irgendjemand, der in Cortázars Labor arbeitete. Vermutlich fielen ihm deshalb die Nebenwirkungen der Behandlung, der Duarte sich unterzog, besonders deutlich auf.

Da wurde ihm bewusst, dass er den Mann anstarrte. Genau wie alle anderen, und offenbar hatte ihn deren Aufmerksamkeit mitgerissen. Er wandte sich bewusst ab und sah Drummer an. Es fiel ihm schwerer, als er vor sich selbst zugeben wollte.

Gern hätte er gefragt, ob es Neuigkeiten aus dem Untergrund gab und ob Duartes Regentschaft im weiten Vakuum zwischen den Welten ebenso besiegelt schien wie hier an seinem Amtssitz.

»Gibt es etwas Neues aus dem Untergrund?«, fragte er.

»Es gibt immer ein paar Nörgler«, antwortete sie und schritt behutsam auf der Grenze zwischen Unschuld und Verrat. »Was ist mit Ihnen? Wie verbringt der berühmte Kapitän James Holden seine Zeit? Gehen Sie oft auf Partys? Schütteln Sie vor ohnmächtiger Wut die kleine Faust?«

»Nein. Ich schmiede Pläne und warte auf den Moment zum Zuschlagen.« Sie grinsten beide, als wäre es ein Scherz gewesen.

1    Elvi

Das Universum ist immer seltsamer, als man denkt.

Das war der Lieblingssatz eines Professors gewesen, bei dem Elvi studiert hatte. Professor Ehrlich, ein knorriger alter Deutscher mit einem langen weißen Bart, der Elvi immer an Gartenzwerge erinnerte, hatte ihn jedes Mal fallen gelassen, wenn sich irgendjemand angesichts der Testresultate im Labor überrascht gezeigt hatte. Damals war ihr die Bemerkung abgedroschen vorgekommen. Natürlich wartete das Universum immer wieder mit Überraschungen auf.

Professor Ehrlich war sicher längst tot. Als Elvi Anfang zwanzig gewesen war, hatte er sich an der Grenze dessen, was die Anti-Alterungstechnologie leisten konnte, gerade noch über Wasser gehalten. Inzwischen hatte sie eine Tochter von Anfang zwanzig, älter als sie selbst damals. Hätte er noch gelebt, dann hätte Elvi ihm gern eine ausführliche und von Herzen kommende Entschuldigung geschickt.

Das Universum war nicht nur seltsamer, als man dachte, es war auch bizarrer, als man überhaupt ahnen konnte. Jedes neue Wunder, wie erstaunlich auch immer, legte nur den Grundstein für eine noch verblüffendere Erkenntnis. Das Universum und seine ewig in Veränderung begriffene Definition dessen, was als eigenartig galt. Die Entdeckung von etwas, das alle für eine außerirdische Lebensform gehalten hatten, als man das Protomolekül auf Phoebe fand, hatte die Menschheit stark erschüttert, war aber immer noch weniger erschreckend als die Einsicht, dass das Protomolekül kein Alien, sondern lediglich das Werkzeug von Aliens war. Ihre Version eines Schraubenschlüssels, der allerdings imstande war, die ganze Station auf dem Asteroiden Eros in ein Raumschiff zu verwandeln, die Venus zu kapern, das Ringtor zu bauen und der Menschheit auf einem Schlag den Zugang zu dreizehnhundert Welten zu schenken.

Das Universum ist immer seltsamer, als man denkt. Verdammt, Professor, damit haben Sie recht.

»Was ist das denn?«, fragte ihr Mann Fayez.

Sie waren auf der Brücke der Falcon. Das Schiff, das ihnen das Laconische Reich gegeben hatte. Der Bildschirm vor ihnen zeigte eine hochaufgelöste Darstellung dessen, was alle nur das Objekt nannten. Es war ein planetarischer Körper, etwas größer als Jupiter und beinahe durchsichtig wie eine schwach grünlich schimmernde, riesige Kristallkugel. Das einzige Gebilde im Adro-System.

»Die passive Spektroskopie behauptet, es bestünde fast vollständig aus Kohlenstoff«, erklärte Travon Barrish, ohne von seinem Arbeitsbildschirm aufzublicken, auf dem die Daten vorbeiliefen. Er war der Materialwissenschaftler des Teams und der nüchternste Mensch, dem Elvi je begegnet war. Kein Wunder, dass er auf Fayez’ erstaunte Frage eine sachliche Antwort gab. Sie dagegen wusste, dass ihr Mann es anders gemeint hatte. Seine Frage lautete eher: Wie kann das sein?

»Der Kohlenstoff ist zu einem dichten Gitter gepackt«, ergänzte Jen Lively, ihre Physikerin. »Es ist …«

Als sie den Satz unvollendet ließ, sprang Elvi ihr bei. »Es ist ein Diamant.«

Im Alter von sieben Jahren war Elvi Okoye mit ihrer Mutter nach Nigeria zurückgekehrt, als ihre Großtante, der Elvi nie begegnet war, gestorben war. Während ihre Mutter sich um die Bestattung kümmerte, war Elvi durch das Haus gewandert. Es war eine Art Spiel geworden. Sie hatte versucht, anhand der zurückgelassenen Dinge ein möglichst genaues Bild der Verstorbenen zu zeichnen. Auf einem Regal neben dem Bett stand das Bild eines lächelnden jungen Mannes mit dunkler Haut und hellen Augen, der ein Ehemann, Bruder oder Sohn hätte sein können. Im winzigen Bad entdeckte sie zwischen diversen Packungen mit billiger Seife und preiswerten Reinigungsmitteln eine schöne Kristallflasche mit einer geheimnisvollen grünen Flüssigkeit. Parfüm? Oder Gift? Da sie die Frau nicht gekannt hatte, waren alle von ihr hinterlassenen Objekte gleichermaßen fantastisch und fesselnd.

Einmal, als Elvi sich viele Jahre später den Mund spülte, weckte der Geruch eine Erinnerung, und ihr wurde bewusst, dass es sich bei der grünen Flüssigkeit höchstwahrscheinlich um ein Mundwasser gehandelt hatte. Ein Geheimnis war gelüftet und warf sofort neue Fragen auf. Warum hatte die alte Frau die Mundspülung in eine so kostbare Flasche abgefüllt, statt sie in dem wiederverwertbaren Behälter zu belassen, in dem sie verkauft wurde? Woher stammte die Flasche ursprünglich? War der Inhalt wirklich zur Munddesinfektion benutzt worden, oder diente die Flüssigkeit noch einem anderen geheimen Zweck, den Elvi nicht ergründen konnte? Ohne eine Erläuterung der Verstorbenen musste dies für immer ein Geheimnis bleiben. Manche Dinge konnte man eben nur im richtigen Kontext verstehen.

Auf dem Bildschirm umkreiste ein einsamer grüner Diamant mit einer glatten Oberfläche, als hätte ihn eine Maschine poliert, in einem Sonnensystem, in dem es keine weiteren Planeten gab, einen verblassenden Weißen Zwerg. Eine Flasche Mundwasser aus geschliffenem Kristall inmitten billiger Seife auf der schmutzigen Ablage eines Badezimmers. Fayez hatte recht. Die einzige Frage, auf die es hier ankam, war die nach dem Warum, aber alle, die es wussten, waren tot. Die einzige Antwort, die ihr selbst einfiel, war Professor Ehrlichs Bemerkung.

Auf Anweisung des Hochkonsuls Duarte war die Falcon speziell für sie entworfen worden, und sie hatte nur einen einzigen Auftrag – sie sollte die »toten Systeme« des Netzwerks erkunden und herausfinden, ob es irgendwelche Hinweise auf den namenlosen Feind gab, der die Schöpfer des Protomoleküls und ihre Zivilisation vernichtet hatte, oder ob man irgendwelche Erkenntnisse über die nicht physischen Geschosse fand, die sie – oder es, oder wie man auch eine extradimensionale, nicht lokalisierte Existenzform nennen wollte – zurückgelassen hatten.

Bislang hatte die Falcon drei oder vier Systeme besucht. Jedes Mal war es wie ein Wunder gewesen. Elvi mochte den Begriff tote Systeme nicht. So hatten die Menschen sie genannt, weil es dort keine Planeten gab, auf denen sie leben konnten. Sie fand die Klassifizierung jedoch unangebracht und viel zu simpel. Ja, auf einem jupitergroßen Diamanten, der um einen Weißen Zwerg kreiste, existierte sicherlich keine Lebensform, die sie verstehen konnten. Andererseits gab es keinen irgendwie vorstellbaren natürlichen Prozess, der ein solches Artefakt erklären konnte. Irgendjemand hatte dieses Objekt erschaffen. Eine Ingenieursleistung dieser Größenordnung war Ehrfurcht gebietend und löste gleichermaßen Staunen und Beklemmung aus. Das Objekt als tot zu bezeichnen, nur weil auf ihm keine Pflanzen wuchsen, kam ihr so vor, als hätte die Furcht gegenüber dem Staunen die Oberhand gewonnen.

»Alles andere haben sie ausgeräumt«, meinte Fayez, der die Teleskop- und Radarbilder des Systems durchsah. »Bis in ein Lichtjahr Entfernung von dem Stern gibt es nicht einmal einen Kometengürtel. Sie haben sich jedes Bröckchen Materie im ganzen Sonnensystem geschnappt, es in Kohlenstoff verwandelt und zu einem verdammten Diamanten gepresst.«

»Früher haben sich die Leute Diamanten zur Verlobung geschenkt«, warf Jen ein. »Vielleicht wollte jemand ganz sicher sein, dass die Antwort kein Nein ist.«

Travon riss an seinem Pult den Kopf hoch und sah Jen mehrere Sekunden lang blinzelnd an. Dank seiner rigiden Sachlichkeit war er klinisch frei von jeglichem Humor. Elvi hatte schon mehrmals beobachtet, wie Jens beißende Ironie ihn in angestrengtes Grübeln versetzt hatte.

»Ich glaube nicht …«, setzte Travon an. Elvi fiel ihm ins Wort.

»Leute, konzentriert euch auf unsere Aufgabe. Wir müssen über dieses System alles herausfinden, was wir nur können, ehe wir den Katalysator hervorholen und anfangen, etwas kaputt zu machen.«

»Verstanden, Boss«, antwortete Fayez und schenkte ihr ein Blinzeln, das niemand sonst sehen konnte.

Der Rest der Crew, die besten Wissenschaftler und Techniker aus dem ganzen Imperium, handverlesen und vom Hochkonsul persönlich ihrem Kommando unterstellt, wandte sich wieder den Displays zu. In wissenschaftlicher Hinsicht und auf die Mission bezogen, besaßen ihre Befehle die Autorität eines imperialen Gesetzes. Niemand im Team hätte es je gewagt, ihr zu widersprechen.

Der Vorbehalt war natürlich der, dass nicht alle zu ihrem Team gehörten und dass nicht alles als wissenschaftliche Angelegenheit galt.

»Willst du ihm sagen, dass wir den Einsatz verschieben?«, fragte Fayez. »Oder soll ich das tun?«

Mit einer gewissen Sehnsucht blickte sie noch einmal zum Bildschirm. Wahrscheinlich hatte der Diamant eine innere Struktur. Spuren wie die verblasste Tinte auf einem uralten Dokument, die ihnen einen kleinen Fingerzeig für das nächste Rätsel, die nächste Enthüllung und die nächste unglaubliche Fremdartigkeit geben konnte. Sie wollte nicht mit irgendjemandem reden. Sie wollte sich umsehen.

»Das übernehme ich selbst.« Elvi ging zum Aufzug.

Admiral Mehmet Sagale war ein Berg von einem Mann mit pechschwarzen Augen in einem Gesicht so platt wie ein Teller. Als Militärkommandant der Mission ließ er die Wissenschaftler meist in Ruhe. Wenn aber ein Ereignis in einen Bereich fiel, für den er seinen Befehlen zufolge verantwortlich war, zeigte er sich so unerbittlich und unbeweglich, wie es seine Körpergröße anzudeuten schien. Obendrein empfand er es immer ein wenig wie eine Strafe, in seinem spartanischen Büro zu sitzen. Als müsste er nachsitzen, weil er bei einer Prüfung geschummelt hatte. Gegenüber dieser militärischen Leitfigur nahm Elvi nicht gern die Rolle einer Bittstellerin ein. Doch im Laconischen Reich genoss das Militär immer die höchste Autorität.

»Doktor Okoye«, sagte Admiral Sagale. Er rieb sich mit den Spitzen der Wurstfinger den Nasenrücken und sah sie mit der Mischung aus Zuneigung und herablassender Gereiztheit an, mit der sie früher den Kindern begegnet war, wenn diese etwas angestellt hatten. »Wie Sie wissen, liegen wir im Zeitplan erheblich zurück. Meine Befehle gehen dahin …«

»Met, dieses System ist unglaublich«, antwortete sie. Den Spitznamen zu benutzen war ein wenig übergriffig, aber er nahm es hin. »Es ist viel zu außergewöhnlich, um es aus Ungeduld einfach zu übergehen. Wir müssen uns Zeit nehmen, dieses Artefakt gründlich zu untersuchen, ehe Sie den Katalysator aktivieren und sehen, ob etwas in die Luft fliegt!«

»Major Okoye«, erwiderte Sagale und betonte ihren militärischen Rang, um ihr nicht sehr subtil zu zeigen, wie weit sie in der Befehlshierarchie unter ihm stand. »Sobald Ihr Team die erste Datensammlung beendet hat, werden wir den Katalysator einsetzen und sehen, ob das System irgendeinen militärischen Wert hat, wie es unseren Befehlen entspricht.«

»Admiral«, beharrte Elvi. Sie wusste genau, dass sie mit Aggressivität nicht weiterkam, wenn er in dieser Stimmung war, und bemühte sich, beschwichtigend und respektvoll zu sprechen. »Ich brauche nur etwas mehr Zeit. Den Rückstand können wir auf dem Weiterflug wettmachen. Duarte hat mir das schnellste Forschungsschiff der menschlichen Geschichte gegeben, damit ich mehr Zeit für die Wissenschaft habe und weniger für die Reise aufwenden muss. Es ist genau das, worum ich Sie jetzt bitte.«

Eine Erinnerung für Sagale, dass sie einen direkten Draht zum Hochkonsul hatte, der ihre Arbeit sehr schätzte und ihr sogar ein eigenes Schiff hatte bauen lassen. Auch nicht gerade sehr subtil.

Sagale blieb ungerührt.

»Sie haben zwanzig Stunden, um Ihre Erkundung zu beenden«, entschied er und verschränkte die Hände vor dem mächtigen Bauch wie ein Buddha. »Keine Minute mehr. Informieren Sie Ihr Team.«

»Diese Sturheit ist der Grund dafür, dass man unter laconischer Herrschaft nicht gut als Wissenschaftler arbeiten kann«, erklärte Elvi. »Ich sollte irgendwo an einer Universität eine biologische Fakultät leiten. Ich bin zu alt und mag es nicht, wenn man mir Befehle erteilt.«

»Da hast du recht«, stimmte Fayez zu. »Aber wir sind nun einmal hier.«

Sie und Fayez hatten ihr Quartier aufgesucht, um zu duschen und etwas zu essen, ehe Sagale und seine Sturmtruppen die aktive Probe des Protomoleküls ausbrachten und es riskierten, ein Milliarden Jahre altes Artefakt zu zerstören, nur um herauszufinden, ob es auf eine nützliche Art und Weise zerknallte. »Wenn sie damit keine bessere Bombe bauen können, ist es ihnen egal, wenn sie es kaputt machen.«

Während sie sprach, fuhr sie zu Fayez herum. Er wich einen halben Schritt zurück. Ihr wurde bewusst, dass sie immer noch den Teller in einer Hand hatte. »Ich will nicht damit werfen«, beruhigte sie ihn. »Ich werfe nicht mit Sachen herum.«

»Das hast du aber schon einmal getan«, antwortete er. Auch er war älter geworden. Sein einstmals schwarzes Haar war jetzt fast vollständig grau, und in den Augenwinkeln hatten sich kleine Lachfalten gebildet. Das störte sie nicht. Sie mochte sein Lächeln lieber als sein Stirnrunzeln. Jetzt lächelte er. »Du hast mit Sachen geworfen.«

»Ich habe nie …«, setzte sie an und fragte sich, ob er wirklich Angst hatte, sie würde vor Frustration mit einem Teller nach ihm werfen, oder ob er sie nur neckte, um ihre Stimmung zu heben. Obwohl sie schon Jahrzehnte zusammen waren, konnte sie manchmal nicht sagen, was in seinem Kopf vor sich ging.

»Bermuda, direkt nachdem Ricki ausgezogen und zur Universität gegangen ist. Wir haben seit Jahren das erste Mal Urlaub gemacht, und du …«

»Da war eine Küchenschabe. Eine Kakerlake ist über meinen Teller gekrabbelt!«

»Dein Wurf hat mir fast den Kopf abgetrennt.«

»Ja«, gab sie zu. »Ich war erschrocken.«

Sie lachte. Fayez grinste, als hätte er in der Lotterie gewonnen. Also hatte er die ganze Zeit nur die Absicht gehabt, sie zum Lachen zu bringen. Sie stellte den Teller weg.

»Hör mal, ich weiß, dass wir nicht scharf darauf waren, zu salutieren und Befehle auszuführen, als wir unsere Ränge erworben haben«, fuhr Fayez fort. »Aber solange Laconia herrscht, ist dies unsere Realität. Also …«

Es war ihre eigene Schuld, dass sie im Wissenschaftsdirektorat gelandet war. Im Großen und Ganzen ließ Laconia die Leute in Ruhe. Die Planeten wählten Gouverneure und Abgeordnete für den Weltenkongress. Sie konnten sich eigene Gesetze geben, solange diese nicht denen des Reichs direkt widersprachen. Und im Gegensatz zu den meisten Diktaturen in der Geschichte schien Laconia nicht daran interessiert zu sein, die höhere Bildung zu beschränken. Die Universitäten der Galaxis arbeiteten weitgehend so weiter wie vor dem Machtwechsel. Manchmal sogar ein wenig besser.

Elvi hatte jedoch den Fehler begangen, die führende Expertin der Menschheit für das Protomolekül, das die verschwundene Zivilisation hinterlassen hatte, und den Untergang ebendieser Zivilisation zu werden. Als sie viel jünger gewesen war, hatte man sie als Teilnehmerin der ersten wissenschaftlichen Mission nach Ilus geschickt, um das Ökosystem der fremden Welt zu erforschen. Bis dahin war ihre Spezialisierung auf Exobiologie vor allem theoretischer Natur gewesen und hatte sich hauptsächlich auf bathypelagische und in tiefem Eis vorkommende Lebensformen konzentriert, die als gute Analogien für Bakterien galten, die man womöglich unter der Oberfläche Europas finden mochte.

Auf Europa hatten sie keine Bakterien gefunden, doch dann öffnete sich das Ringtornetzwerk, und auf einmal war die Exobiologie eine Realität, da es mehr als dreizehnhundert neue Biome zu erforschen galt. Sie war nach Ilus geflogen und hatte sich darauf gefasst gemacht, Pseudoeidechsen zu untersuchen. Stattdessen war sie sofort auf Artefakte eines galaxisweiten Krieges gestoßen, der vor der Entstehung der Menschheit stattgefunden hatte. Wie besessen hatte sie versucht, es zu verstehen. Natürlich hatte sie das getan. Ein Haus von der Größe einer Galaxis, voller Räume mit faszinierenden Dingen, die Besitzer seit Jahrtausenden tot. Den Rest ihrer beruflichen Laufbahn wollte sie dem Verlangen widmen, die ehemaligen Bewohner zu verstehen. Als Winston Duarte sie eingeladen hatte, ein Team anzuführen und genau dieses Geheimnis zu erforschen, wobei ihr unbeschränkte Mittel zur Verfügung standen, hatte sie nicht Nein sagen können.

An diesem Punkt hatte sie nur das Laconia gesehen, das jeder in den Newsfeeds zu sehen bekam. Unglaublich mächtig, militärisch unbesiegbar, aber nicht an ethnischen Säuberungen oder einem Genozid interessiert. Vielleicht sogar auf das Wohl der ganzen Menschheit bedacht. Sie hatte kaum Gewissensbisse gehabt, als sie das Geld für die Forschung genommen hatte. Besonders deshalb nicht, weil sie kaum einen anderen Weg zu erkennen vermochte. Wenn der König sagte: Komm und arbeite für mich, dann gab es nicht viele Möglichkeiten, Nein zu sagen.

Die Gewissensbisse kamen später, als sie ins Militär aufgenommen wurde und erfuhr, worauf Laconias überwältigender technologischer Vorsprung beruhte.

Als sie die Katalysatoren kennenlernte.

»Wir sollten zurückgehen«, sagte Fayez, als er die letzten Reste des Geschirrs abgeräumt hatte. »Die Zeit wird knapp.«

»Gleich, einen Moment noch.« Sie betrat das winzige private Bad, das sie sich teilten. Eines der Privilegien ihres Ranges. Aus dem Spiegel über dem Waschbecken starrte sie eine alte Frau an. Die Augen waren schon von dem gezeichnet, was sie gleich tun würde.

»Bist du da drin bald fertig?«, rief Fayez.

»Geh nur vor. Ich komme gleich nach.«

»Jesus, Elvi, du willst es dir doch nicht noch einmal ansehen, oder?«

Es. Den Katalysator.

»Es ist doch nicht deine Schuld«, fuhr Fayez fort. »Du hast die Studie nicht durchgeführt.«

»Ich habe aber eingewilligt, sie zu beaufsichtigen.«

»Liebes, meine Liebste, du Licht meines Lebens. Wie auch immer wir Laconia in der Öffentlichkeit nennen, wenn man es richtig betrachtet, ist es eine Diktatur«, erklärte Fayez. »Wir hatten nie eine andere Wahl.«

»Ich weiß.«

»Warum tust du es dir dann an?«, fragte er.

Sie antwortete nicht, weil sie es nicht erklären konnte, selbst wenn sie es gewollt hätte.

»Ich komme gleich nach.«

Der Katalysator war im Herzen der Falcon untergebracht, rundherum von dicken Schichten aus abgereichertem Uran und dem kompliziertesten faradayschen Käfig der Galaxis umgeben. Es hatte sich sehr schnell herausgestellt, dass das Protomolekül überlichtschnell kommunizierte. Die derzeit besten Theorien gingen von einer Art Quantenverschränkung aus, doch wie der Mechanismus auch funktionierte, das Protomolekül trotzte der Lokalität auf ganz ähnliche Weise wie das Ringtorsystem, das es geschaffen hatte. Cortázar und seine Mitarbeiter hatten lange gebraucht, um herauszufinden, wie man einen Teil des Protomoleküls davon abhielt, mit dem Rest zu reden. Nach Jahrzehnten hatten sie endlich eine Kombination aus Materialien und Feldern entwickelt, die ein Nodium des Protomoleküls davon abhielt, mit dem Rest Verbindung aufzunehmen.

Ein Nodium. Es. Der Katalysator.

Zwei von Sagales Marinesoldaten bewachten die Tür der Kammer. Sie trugen schwere blaue Motorrüstungen, die surrten und klickten, wenn sie sich bewegten. Beide waren mit Flammenwerfern bewaffnet. Nur für alle Fälle.

»Wir werden bald den Katalysator einsetzen. Ich will ihn überprüfen«, sagte Elvi zu dem leeren Raum zwischen den beiden Wächtern. Obwohl sie selbst einen militärischen Rang bekleidete, war sie oft unsicher, wer in einer bestimmten Situation der ranghöchste Offizier war. Ihr fehlten der Drill im Ausbildungslager und die lebenslange Erfahrung, die alle Laconier besaßen.

»Selbstverständlich, Major«, antwortete die Frau auf der linken Seite. Sie schien zu jung zu sein, um den höheren Rang zu bekleiden, aber das traf auf viele Laconier zu. Die meisten schienen für ihre Titel viel zu jung zu sein. »Brauchen Sie eine Eskorte?«

»Nein«, antwortete Elvi. Nein, das mache ich immer allein.

Die junge Marinesoldatin tippte am Handgelenk ihrer Rüstung etwas ein, worauf die Tür hinter ihr aufglitt. »Sagen Sie uns Bescheid, wenn Sie wieder herauswollen.«

Der Katalysator wurde in einem würfelförmigen Raum von vier Metern Seitenlänge aufbewahrt. Er hatte kein Bett, kein Waschbecken und keine Toilette. Es gab nur hartes Metall und einen vergitterten Abfluss. Einmal am Tag wurde der Raum mit Lösungsmittel gespült, anschließend wurde die Flüssigkeit abgesaugt und verbrannt. Die Laconier hielten sich, wenn es um das Protomolekül ging, geradezu besessen an die Verfahren zur Vermeidung jeglicher Kontamination.

Das Nodium, es, der Katalysator, war einst eine Frau von Ende fünfzig gewesen. Die offiziellen Akten, auf die Elvi zugreifen konnte, beantworteten nicht die Frage, wie sie hieß und warum sie für die Infektion mit dem Protomolekül ausgewählt worden war. Allerdings war Elvi noch nicht lange beim Militär gewesen, als sie von dem Pferch gehört hatte. Der Ort, wo verurteilte Kriminelle absichtlich infiziert wurden, damit das Imperium einen unbegrenzten Vorrat des Protomoleküls gewann, mit dem es arbeiten konnte.

Ob es auf Cortázars Arbeit oder auf einer genetischen Abweichung der Frau selbst beruhte, der Katalysator war etwas Besonderes. Sie war eine Trägerin, sie zeigte die ersten Symptome der Infektion – Haut und Skelett waren bereits verändert –, doch in den Monaten, seit sie an Bord der Falcon gekommen war, hatten sich die Veränderungen nicht weiterentwickelt. In die Phase, in der man von »Kotzzombies« sprach, die das Material erbrachen, um die Infektion zu verbreiten, kam sie nicht.

Elvi wusste, dass sie absolut sicher war, wenn sie sich in ein und demselben Raum mit dem Katalysator befand, schauderte aber trotzdem jedes Mal, wenn sie hineinging.

Die infizierte Frau sah sie mit leeren Augen an und bewegte die Lippen zu einem stummen Flüstern. Sie roch vor allem nach dem Lösungsmittel, mit dem sie jeden Tag gereinigt wurde, aber dahinter lag noch etwas anderes. Ein Gestank nach verwesendem Fleisch wie in einer Leichenhalle.

Es war normal, Tiere zu opfern. Ratten, Tauben, Schweine. Hunde. Schimpansen. Die Biologie existierte seit jeher in dem kognitiven Zwiespalt, einerseits beweisen zu wollen, die Menschen seien doch nur eine Tierart, während sie zugleich den Anspruch vertrat, es gebe moralische Unterschiede. Es war in Ordnung, im Namen der Wissenschaft einen Schimpansen zu töten. Es war nicht in Ordnung, einen Menschen zu töten.

Abgesehen von den Fällen, in denen es zulässig war.

Vielleicht hatte der Katalysator eingewilligt. Vielleicht hatte sie sich zwischen dem hier und einem viel schlimmeren Tod entscheiden müssen. Wie auch immer er ausgesehen hätte.

»Es tut mir leid«, sagte Elvi wie jedes Mal, wenn sie den Raum des Katalysators betrat. »Es tut mir so leid. Ich wusste nicht, dass sie so etwas tun. Ich hätte mich mit so etwas nie einverstanden erklärt.«

Der Kopf der Frau schwankte auf dem Hals, als wollte sie spöttisch zustimmen.

»Ich werde nicht vergessen, dass sie Ihnen dies angetan haben. Wenn ich es jemals in Ordnung bringen kann, dann werde ich es tun.«

Die Frau stemmte die Hände auf den Boden, als wollte sie sich aufrichten. Ihre Arme waren jedoch nicht stark genug, und die Hände besaßen keine Knochen und knickten ab. Es waren nur Reflexe. Das sagte Elvi sich immer. Instinkte. Das Gehirn der Frau war fort oder zu etwas verändert, das nach den üblichen Definitionen nicht mehr als Gehirn gelten konnte. In dieser Hülle lebte niemand. Nicht mehr.

Aber früher war sie eine Frau gewesen.

Elvi wischte sich die Augen trocken. Das Universum war immer seltsamer, als man dachte. Manchmal war es voller Wunder, manchmal voller Schrecken.

»Ich werde es nicht vergessen.«

2    Naomi

Naomi vermisste die Rosinante, aber sie vermisste seit einer Weile sehr viele Dinge.

Ihr altes Schiff und ihr Heim parkten nach wie vor auf Freehold. Vor ihrem Aufbruch hatten sie und Alex am Rand von Freeholds südlichstem Kontinent ein Höhlensystem gesucht, dessen Mündung groß genug war, um das Schiff hineinzubugsieren. Sie hatten es in einen trockenen Tunnel gesetzt und eine Woche damit verbracht, es mit Isoliermittel und Planen einzupacken, damit die einheimische Flora und Fauna draußen blieb. Wann immer sie zur Rosinante zurückkehrten, wäre das Schiff für sie bereit. Wenn sie nicht zurückkehrten, würde es noch Jahrhunderte dort liegen und warten.

Manchmal, kurz vor dem Einschlafen, ging sie noch einmal alles durch. Von der Spitze des Cockpits bis zum Antriebstrichter kannte sie jeden Zentimeter. Sie konnte sich in Gedanken in der Schwerelosigkeit oder unter Schub durch das Schiff hangeln. Von alten Gelehrten auf der Erde hatte sie gehört, die auf diese Weise Orte für ihre Erinnerungen schufen. Sie stellte sich Alex im Cockpit vor, wie er mit einer Sanduhr die Zeit maß. Dann hinunter zum Operationsdeck, wo Amos und Clarissa einen Golgo-Ball mit der Nummer »2« hin und her warfen. Dann hinunter in ihre Kabine zu Jim. Jim war allein dort. Jim, der die Distanz verkörperte. Eine einfache Liste. Drei Bilder, die ein und dasselbe bedeuteten und die sie nie vergaß, weil sie alle im Herzen wehtaten.

Das war ein Grund dafür, dass sie eingewilligt hatte, bei dem Hütchenspiel mitzumachen, das Saba und der Untergrund ihr vorgeschlagen hatten. Solange Jim und Amos nicht da waren, suchten Naomi die Erinnerungen heim wie Gespenster, und die Rosinante würde sich immer ein wenig so anfühlen, als spukte es dort.

Es war ja nicht nur Jim, obwohl er natürlich der Wichtigste war. Naomi hatte auch Clarissa verloren, die inzwischen an der langsamen Vergiftung durch ihre Implantate gestorben wäre, hätte sie sich nicht vorher für einen gewaltsamen Tod entschieden. Amos hatte eine höchst riskante Mission für den Untergrund übernommen und sich seither nicht mehr gemeldet. Er hatte sämtliche Abholzeiten versäumt, bis sie nicht mehr hoffen konnten, überhaupt noch etwas von ihm zu hören. Auch Bobbie, gesund und munter auf dem Kapitänssitz ihres eigenen Schiffs, war fort. All diese Menschen hatte sie verloren, aber bei Jim war es am schlimmsten.

Freehold vermisste sie dagegen überhaupt nicht. Das Erlebnis, sich unter einem riesigen leeren Himmel zu befinden, war eine Zeit lang faszinierend gewesen, aber das Unbehagen war am Ende doch stärker geworden als die Begeisterung für das Neue. Wenn sie schon als Flüchtling und Gesetzlose leben musste, dann konnte sie das wenigstens irgendwo tun, wo die Luft von sichtbaren Grenzen festgehalten wurde. Ihr neues Quartier – so kahl und öde es auch war – erfüllte immerhin diese Bedingung.

Von außen war ihre Bleibe ein gewöhnlicher Frachtcontainer, mit dem man beispielsweise einen kleinen Fusionsreaktor transportieren konnte. Solche Geräte benutzten die Siedler in den dreizehnhundert neuen Systemen, um eine Kleinstadt oder eine mittelgroße Bergbaustation zu versorgen. Da der Container jetzt leer war, blieb genug Platz für eine kardanisch aufgehängte Druckliege, einen Recycler für Notfälle, einen Wasservorrat und ein halbes Dutzend umgebaute Torpedos mit geringer Reichweite. Die Liege diente ihr als Bett und Arbeitsplatte zugleich. Der Recycler lieferte Energie und Nahrung und erledigte die Abfallentsorgung. Mit so einem Ding konnte eine gestrandete Crew wochenlang überleben, wenngleich nicht sehr komfortabel. Der Wasservorrat war zum Trinken gedacht, diente aber zugleich auch der Tarnung, denn er war mit kleinen Verdunstern verbunden, die außen am Container die überschüssige Wärme abstrahlten.

Die Torpedos waren das Mittel, das sie nutzte, um mit der Außenwelt zu sprechen.

Nur heute nicht. Heute würde sie tatsächlich Menschen begegnen. Die gleiche Luft atmen wie sie, ihre Haut berühren. Lebendige Stimmen hören. Sie war nicht sicher, ob sie sich darauf freute, oder ob die Energie, die sie im Bauch spürte, eine ungute Vorahnung war. Das eine konnte dem anderen manchmal sehr ähnlich sein.

»Darf ich öffnen?«, fragte sie, worauf der Monitor der Druckliege zögerte, die Nachricht abschickte und ein paar Atemzüge später die Antwort einspielte: BESTÄTIGT. ABFLUG 18:45 UHR STANDARDZEIT. KOMM NICHT ZU SPÄT.

Naomi löste die Gurte der Druckliege und stieß sich zur Innentür des Containers ab. Unterwegs setzte sie den Helm auf den Anzug. Sobald alle Anzugdichtungen grünes Licht zeigten, überprüfte sie sie trotzdem noch einmal und saugte die Luft des Containers in den Notrecycler, bis beinahe ein Vakuum herrschte. Als der Druck nicht mehr weiter sank, öffnete sie die Tür des Containers und zog sich in den riesigen Frachtraum hinaus.

Die Verity Close war ein ehemaliger Eisfrachter, der den Kolonien mittlerweile als Ferntransporter diente. Der Laderaum war so groß wie der Himmel von Freehold. So fühlte es sich jedenfalls an. Die Rosinante und elf weitere Schiffe ihrer Klasse hätten mühelos hineingepasst, ohne sich auch nur zu berühren. Jetzt waren hier Tausende Container wie der, in dem Naomi gekommen war, an ihren Plätzen verankert und reisten von Sol zu den neuen Städten und Stationen, wo sich die Menschen eine neue Existenz aufbauten. Sie zähmten die Wildnis von Planeten, die nichts über den menschlichen Gencode oder den irdischen Baum des Lebens wussten. Die meisten Container waren genau das, was sie zu sein behaupteten – Behälter für Ackerboden, industrielle Hefeinkubatoren, Bakterienbibliotheken.

Einige, wie ihrer, waren anders.

Dies war das Hütchenspiel.

Sie wusste nicht, ob Saba auf die Idee gekommen war, oder ob seine Frau, die Präsidentin der Transportgewerkschaft, einen geheimen Kanal gefunden hatte, um es ihm vorzuschlagen. Da die Medina-Station und die langsame Zone vollständig von Laconia kontrolliert wurden, bestand das größte Problem für den Untergrund darin, Schiffe und Personal von einem System zum anderen zu transportieren. Selbst eine Einheit, die so klein war wie die Rosinante, konnte nicht hoffen, unbemerkt an den Sensoren Medinas vorbeizukommen. Die Kontrolle des Verkehrs durch das Ringtornetzwerk war zu wichtig, um unangemeldete Flüge kommentarlos hinzunehmen.

Doch solange die Transportgewerkschaft ihre Schiffe noch selbst einsetzen durfte, ließen sich Frachtlisten fälschen. Container wie ihrer konnten mehrmals von Schiff zu Schiff umgeladen werden, sodass es schwierig, wenn nicht gar unmöglich war, mit einem bestimmten Frachter in Verbindung zu bringen, was sie, Saba, Wilhelm Walker oder irgendein anderer Anführer des Untergrunds zu verschicken hatte.

Wenn die Belohnung das enorme Risiko aufwog, konnte man sogar größere Dinge schmuggeln. Gefährliche Dinge. Beispielsweise konnte sich das gekaperte Kriegsschiff Gathering Storm ins Solsystem schleichen, und mit ihm Bobbie Draper und Alex Kamal, die sie seit mehr als einem Jahr nicht mehr gesehen hatte. Vielleicht erwarteten die beiden sie jetzt gerade zu einem geheimen Rendezvous.

Mit lebenslang trainierter Präzision schwebte sie an der Reihe der Container vorbei. An den Kanten blinkten die Positionslichter, sorgten in dem ewig sich verändernden Gewirr für Ordnung und wiesen ihr den Weg zur Luftschleuse der Crew. Wahrscheinlich schlief die Besatzung in Kabinen, die kleiner waren als ihre eigene auf der Rosinante. Ihr Frachtcontainer war mindestens genauso geräumig.

Die Crew des Schiffs, das sie in den letzten Monaten befördert hatte, kannte sie nicht. Die meisten wussten nicht einmal, dass sie an Bord war. So hielt Saba es. Je weniger Leute Bescheid wussten, desto weniger konnten irgendetwas verraten. Der alte Gürtlerbegriff lautete guerraregle. Kriegsregeln. So hatte sie früher als kleines Mädchen gelebt. So lebte sie jetzt wieder.

Sie erreichte die Luftschleuse, die ins Schiff führte, und stellte den Druckausgleich her. Die Kontaktperson erwartete sie bereits. Es war eine junge Frau von höchstens zwanzig Jahren mit heller Haut und weit auseinanderliegenden Augen. Den Kopf hatte sie sich wahrscheinlich kahl rasiert, um hart auszusehen. Spontan dachte Naomi an Babyflaum. Vielleicht hieß sie gar nicht Blanca, aber unter diesem Namen kannte Naomi sie.

»Madam, Sie haben zwanzig Minuten«, sagte Blanca. Sie hatte eine schöne Stimme, musikalisch und rein. Ein marsianischer Akzent, der Naomi an Alex erinnerte. »Danach habe ich frei. Ich kann in der Nähe bleiben, aber nicht verhindern, dass Ihnen die Ablösung begegnet.«

»Das ist mehr als genug. Ich muss nur bis zum Quartierring.«

»Kein Problem. Wir verlegen Ihren Container auf die Mosley am Liegeplatz Sechzehn-Zehn. Es wird ein paar Stunden dauern, aber die Verladung wurde bereits genehmigt.«

Die Erbse rutschte unter ein anderes Hütchen. Wenn Naomi die nächsten Befehle und Analysen weiterleitete, wäre die Verity Close schon durch Sol-Tor geflogen und steuerte ein anderes System an. Naomi würde dann wieder in ihrem kleinen Loch sitzen, auf der schmalen Liege schlafen und mit einem ganz anderen Schiff weiterfliegen. Blanca würde durch eine neue Kontaktperson ersetzt, die Naomi am nächsten Dock erwartete. Sie wusste längst nicht mehr, wie oft sie es schon getan hatte. Es war inzwischen fast Routine.

»Danke.« Sie zog sich aus der Luftschleuse hinaus.

»Es ist mir eine Ehre, Madam.« Die Worte sprudelten fast aus Blanca heraus. »Sie zu treffen, meine ich. Naomi Nagata zu treffen.«

»Danke für alles, was Sie für mich getan haben. Ich weiß das mehr zu schätzen, als ich mit Worten sagen kann.«

Blanca nahm Haltung an. Naomi hielt das für überflüssiges Theater, salutierte aber trotzdem höflich. Es schien der jungen Frau viel zu bedeuten, und es wäre taktlos gewesen, sie nicht ernst zu nehmen. Noch schlimmer, es wäre grausam gewesen.

Schon schwebte sie in den engen grünen Korridor der Verity Close und ließ Blanca zurück. Sie rechnete nicht damit, das Mädchen noch einmal zu sehen.

Die Tiefraumtransferstation Drei war zwischen den Umlaufbahnen von Saturn und Uranus positioniert und blieb immer in derselben Entfernung zum Sol-Tor. Die Bauweise kam Naomi bekannt vor – ein großes kugelförmiges Dock, das mehrere Dutzend Schiffe gleichzeitig aufnehmen konnte, dazu ein Wohnring, der durch seine Rotation eine Schwerkraft von einem Drittel G erzeugte. Einerseits war die Station ein wichtiger Umschlagpunkt für den Verkehr in das Solsystem und wieder hinaus, andererseits war sie ein riesiges Vorratslager. Aus dem ganzen System brachten die Schiffe ihre Fracht hierher, damit sie zu den Koloniewelten geschickt werden konnte, oder sie holten eingehende Lieferungen ab. Zu jeder beliebigen Zeit befanden sich auf der Transferstation mehr Alienartefakte als an jedem anderen Ort im System.

Alles in allem konnte die Station zwanzigtausend Menschen beherbergen, auch wenn der Verkehr sie selten oder nie gänzlich in Anspruch nahm. Es gab hier eine feste Besatzung, dazu die Helfer und Crews der Schiffe, die anlegten und abflogen, und schließlich noch die Mitarbeiter der Vertragspartner wie Krankenhäuser, Bars, Bordelle, Kirchen, Geschäfte und Restaurants, die der Menschheit überallhin zu folgen schienen, wo sie sich ausbreitete. Auf diesem Stützpunkt konnten die Crews aus dem ganzen System und von den anderen Systemen jenseits der Tore einige Tage ausspannen, neue Gesichter sehen, Stimmen hören, die sie nicht seit Monaten ständig hörten, und mit jemandem ins Bett gehen, der sich nicht wie ein Familienmitglied anfühlte. Dank dieser ständig neuen Verbrüderungen hieß der Wohnring der Station inoffiziell »Kontakthof«.

Naomi mochte die Station. Das immer gleiche Verhalten der Menschen hatte etwas Beruhigendes. Alienzivilisationen und galaktisches Reich, Krieg und Widerstand – alles war da. Aber außerdem das Trinken, Karaoke, Sex und Babys.

Mit gesenktem Kopf wanderte sie durch den öffentlichen Korridor des Wohnrings. Der Untergrund hatte für sie auf den Stationen falsche Identitäten hinterlegt, damit sie nirgends auffiel. Trotzdem galt es, sich bedeckt zu halten, weil es immer jemanden gab, der sie erkennen konnte.

Der Treffpunkt war ein Restaurant auf der untersten, äußersten Ebene des Rings. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, gleich wieder in einen Lager- oder Kühlraum bugsiert zu werden, doch der Mann an der Tür führte sie in ein privates Speisezimmer. Noch ehe sie durch die Tür trat, spürte sie, dass sie da waren.

Bobbie bemerkte sie zuerst und stand grinsend auf. Sie trug einen unauffälligen Bordanzug ohne Abzeichen oder Markierungen, der bei ihr jedoch wirkte, als sei es eine Uniform. Alex stand gleichzeitig mit ihr auf. Seine Kluft war älter, er hatte abgenommen und sich die verbliebenen Haare kurz schneiden lassen. Er hätte ein Buchhalter oder ein General sein können. Wortlos gingen sie mit erhobenen Armen aufeinander zu. Als sie sich zu dritt umarmten, legte Naomi den Kopf auf Alex’ Schulter, und Bobbie schmiegte die Wange an ihr Gesicht. Die Wärme der Körper war so tröstlich, dass es fast wehtat.

»Oh, verdammt«, sagte Bobbie. »Es ist so schön, dich zu sehen.«

Sie lösten sich aus der Umarmung und setzten sich an den Tisch. Dort standen eine Flasche Whisky und drei Gläser bereit. Ein deutliches, unverkennbares Zeichen, dass sie mit schlechten Neuigkeiten rechnen musste. Vielleicht ein Trinkspruch im Gedenken an einen Verstorbenen, ein neuer Verlust, mit dem sie leben musste. Naomi betrachtete den Tisch und fragte nach.

»Von Avasarala hast du sicher schon gehört«, sagte Alex.

Die Erleichterung kam wie eine kleine Woge, darauf folgte Kummer, weil sie erleichtert war. Es ging nur um Avasaralas Tod. »Ja, das habe ich.«

Bobbie schenkte ihnen ein und hob ihr Glas. »Sie war eine Wahnsinnsfrau. Eine wie sie sehen wir so bald nicht wieder.«

Sie stießen an, Naomi trank. Es war schlimm, dass sie die alte Frau verloren hatten – wahrscheinlich am schlimmsten für Bobbie. Aber sie trauerten noch nicht um Amos. Oder um Jim.

»Also«, sagte Bobbie und stellte das Glas weg. »Wie ist denn das Leben als geheimer General des Widerstands?«

»Ich würde mich lieber ›Geheimdiplomatin‹ nennen«, entgegnete Naomi. »Es ist nicht gerade berauschend.«

»Wartet, wartet«, schaltete sich Alex ein. »Wir können doch nicht reden, ohne etwas zu essen. Es ist erst ein Familientreffen, wenn das Essen auf dem Tisch steht.«

Das Restaurant servierte eine gute Mischung aus der Küche der Gürtler und des Mars. Etwas, das »weiße Grütze« hieß und auf irgendein Originalrezept mit frischem Gemüse und Bohnenkeimen zurückging. Dazu gab es in der Retorte gezüchtetes Hybridfleisch von Schwein und Rind, das wie eine Petrischale geformt und mit einer süßen scharfen Soße gewürzt war. Sie stützten die Ellbogen auf den Tisch, wie sie es in ihrem früheren Leben auf der Rosinante getan hatten.

Naomi hatte gar nicht bemerkt, wie sehr sie Bobbies Lachen und Alex’ Art und Weise vermisst hatte, wie er ihr heimlich noch eine kleine Portion auf den Teller schob, den sie fast leer gegessen hatte. Die kleinen Intimitäten eines Menschen, mit dem man Jahrzehnte auf engem Raum gelebt hatte. Und auf einmal lebten sie nicht mehr zusammen. Sie wäre wehmütig geworden, hätte sie sich nicht so sehr darüber gefreut, in diesem Augenblick mit den beiden zusammenzusitzen.

»Die Storm hat inzwischen eine recht gute Crew«, berichtete Bobbie. »Zuerst war ich in Sorge, es könnten ausschließlich Gürtler sein. Dort genießt Saba ja den größten Einfluss. Zwei alte Marsianer als Kommandanten einer Crew von Leuten, die uns immer noch ›die Inneren‹ nennen?«

»Das hätte ein Problem werden können«, stimmte Naomi zu.

»Saba hat eine ganze Menge Veteranen der UN-Raummarine und der marsianischen Marine angeworben«, fuhr Alex fort. »Dazu noch einige junge Leute. Es ist seltsam, mit einer Crew zu fliegen, die in dem Alter ist, in dem ich abgemustert habe. Manche kommen mir vor wie Babys. So junge Gesichter und trotzdem so ernst.«

Naomi lachte. »Ich weiß. Mir kommt jetzt auch jeder unter vierzig wie ein Kind vor.«

»Sie sind gut«, fügte Bobbie hinzu. »Ich habe mit ihnen die ganze Zeit geübt und Simulationen durchgeführt, seit wir das Schiff geparkt haben.«

»Es gab ein paar Prügeleien«, ergänzte Alex.

»Das sind nur die Nerven«, wiegelte Bobbie ab. »Sobald die Mission abgeschlossen ist, löst sich alles in Wohlgefallen auf.«

Naomi nahm noch einen Bissen von der weißen Grütze und versuchte, das Stirnrunzeln zu überspielen. Es gelang ihr nicht. Alex räusperte sich und wechselte das Thema. »Ich nehme an, wir haben noch nichts vom großen Mann gehört?«

Zwei Jahre vorher hatte Saba eine Möglichkeit entdeckt, einen Agenten auf Laconia einzuschleusen, der eine kleine Atombombe und ein Funkgerät dabeihatte, mit dem er verschlüsselte Nachrichten senden und empfangen konnte. Es war eine langfristig angelegte Mission, um Jim zurückzuholen oder Laconias Herrschaft zu zerstören, indem man dem Reich das Haupt abschlug. Saba hatte Naomi gefragt, wem sie etwas so Wichtiges anvertrauen würde. Etwas so Gefährliches. Als Amos davon hörte, hatte er eine Stunde später seine Koffer gepackt. Seitdem hatte Laconia neue Verteidigungsanlagen gebaut. Der Untergrund hatte im Laconia-System an Boden verloren, und Amos hatte sich nicht gerührt.

Naomi schüttelte den Kopf. »Noch nicht.«

»Ja, also«, meinte Alex. »Hoffentlich bald.«

»Ganz bestimmt«, antwortete Naomi, wie sie es jedes Mal tat, wenn sie sich über dieses Thema unterhielten.

»Möchtet ihr Kaffee?«, fragte Alex. Bobbie schüttelte den Kopf, Naomi sagte im gleichen Moment: Nicht für mich. Alex stand auf. »Dann hole ich nur einen für mich selbst.«

Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, beugte Naomi sich vor. Sie wollte den Moment so lassen, wie er war – ein Wiedersehen mit der Familie. Ein heller Tupfer in der Dunkelheit. So wollte sie es haben, doch sie konnte nicht.

»Eine Mission mit der Storm im Solsystem ist sehr riskant«, begann sie.

»Das wird viel Aufsehen erregen«, bestätigte Bobbie, ohne ihren Blick zu suchen. Es klang unbeschwert, aber auch warnend. »Du musst wissen, dass es nicht allein von mir ausgeht.«

»Saba.«

»Und einige andere.«

»Ich muss immer an Avasarala denken«, fuhr Naomi fort. In der Flasche war noch etwas Whisky. Sie schenkte sich nach. »Sie war eine echte Kämpferin, ist nie vor irgendetwas zurückgeschreckt. Selbst wenn sie verloren hat.«

»Sie war außergewöhnlich«, pflichtete Bobbie ihr bei.

»Sie war eine Kämpferin, aber keine Kriegerin. Sie hat den Kampf angeführt, aber immer, indem sie andere Wege fand, die Probleme zu lösen. Allianzen, politischer Druck, Handel, Logistik. Ihre Strategie war immer die, dass Gewalt das letzte Mittel sei.«

»Sie hatte Einfluss, sie hatte einen ganzen Planeten hinter sich. Wir sind nur ein paar Ratten, die Löcher im Beton suchen. Wir müssen die Dinge anders angehen.«

»Wir haben durchaus Einfluss«, widersprach Naomi. »Was noch wichtiger ist, wir können weiter Druck aufbauen.«