Persepolis erhebt sich - James Corey - E-Book

Persepolis erhebt sich E-Book

James Corey

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Beschreibung

Bis weit in die Tiefen des Alls ist die Menschheit vorgedrungen. Gewaltige Tore haben den Weg in fremde Sternsysteme geöffnet, und nun wird ein Planet nach dem anderen besiedelt. Währenddessen haben sich die Erde, der Mars und der Asteroidengürtel verbündet. Doch der neu gefundene Frieden bröckelt, als auf einer der neuen Koloniewelten ein Despot seine Herrschaft um jeden Preis verlängern will und eine namenlose Macht geweckt wird, der selbst James Holden und seine Crew hilflos gegenüberstehen …

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Das Buch

Bis weit in die Tiefen des Alls ist die Menschheit vorgedrungen. Gewaltige Tore haben den Weg in fremde Sternsysteme geöffnet, und ein Planet nach dem anderen wird besiedelt. Währenddessen haben sich die Erde, der Mars und der Asteroidengürtel verbündet. Doch der neu gefundene Friede bröckelt, als auf einer der neuen Koloniewelten ein Despot seine Herrschaft um jeden Preis verlängern will und eine namenlose Macht geweckt wird, der selbst James Holden und seine Crew machtlos gegenüberstehen. Der Präsident von Laconia, einer Koloniewelt jenseits der Sprungtore, die aus dem Sonnensystem hinaus ins All führen, hat eine Vision. Überzeugt davon, dass seine Pläne für den neuen Planeten nur mit ihm an der Spitze verwirklicht werden können, will er sich nicht von den Begrenzungen des Alters und des menschlichen Körpers behindern lassen. Darüber hinaus umfasst seine Vision etwas, das nun mit der neuen Technologie seiner Geheimlabore in greifbare Nähe gerückt ist und was das Schicksal der gesamten Menschheit für immer verändern könnte – mit furchtbaren Folgen für alle, bei denen das Experiment scheitert. Denn es geht um nichts Geringeres als um die Unsterblichkeit, und wer hier als Erster auf dem Markt ist, bestimmt den Lauf der Geschichte. Doch sein Plan gerät an die Öffentlichkeit, und wieder einmal ist es an James Holden und der furchtlosen Crew der Rosinante, den Wahnsinnigen auf Laconia zu stoppen. Denn vielleicht ist es bereits zu spät …

THE EXPANSE

James Coreys internationale Bestsellerserie sprengt alle Maßstäbe der Science-Fiction. Die TV-Verfilmung wird bereits als beste Science-Fiction-Serie aller Zeiten gefeiert.

Erster Roman: Leviathan erwacht

Zweiter Roman: Calibans Krieg

Dritter Roman: Abaddons Tor

Vierter Roman: Cibola brennt

Fünfter Roman: Nemesis-Spiele

Sechster Roman: Babylons Asche

Siebter Roman: Persepolis erhebt sich

Achter Roman: Tiamats Zorn

Neunter Roman: Leviathan fällt

Erzählungen: Das Protomolekül

Die Autoren

Hinter dem Pseudonym James Corey verbergen sich die beiden Autoren Daniel James Abraham und Ty Corey Franck. Beide schreiben auch unter ihrem eigenen Namen Romane und leben in New Mexico. Mit ihrer erfolgreichen gemeinsamen Science-Fiction-Serie THE EXPANSE haben sie sich weltweit in die Herzen von Lesern und Kritikern gleichermaßen geschrieben.

Mehr über James Corey und THE EXPANSE auf

diezukunft.de

James Corey

THE EXPANSE

PERSEPOLIS ERHEBT SICH

Roman

Deutsche Erstausgabe

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Titel der amerikanischen Originalausgabe: PERSEPOLIS RISING Deutsche Übersetzung von Jürgen Langowski
Redaktion: Ralf Dürr Copyright © 2018 by Daniel Abraham and Ty Franck Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Covergestaltung: Dirk Schulz Coverillustration: Daniel Dociu

Für Dr. Shank

Es ist immer schwerer, als man denkt.

PROLOG   Cortazár

Fast drei Jahrzehnte waren vergangen, seit sich Paolo Cortazár und die abtrünnige Flotte durch das Laconia-Tor abgesetzt hatten. Zeit genug, um eine kleine Zivilisation, eine Stadt und eine Kultur aufzubauen. Zeit genug für ihn, um festzustellen, dass die außerirdischen Ingenieure das Protomolekül als Brückenbauer entworfen hatten. Sie hatten es wie Samenkörner zu den Sternen geschleudert, damit es das organische Leben okkupierte, das es dort vorfand, und die Ringtore erschuf, die als Bindeglieder zwischen den Welten ein eigenes kleines Universum bildeten. Bis zu ihrem Untergang hatten die langsame Zone und die Ringe das Zentrum eines Reichs dargestellt, das dem menschlichen Verständnis trotzte. Jetzt würde es neu entstehen. Ein kleiner, Brücken bauender Mechanismus, der die Beschränkungen des Raums überwand, hatte für die Menschheit alles verändert.

Nicht dass Paolo sich groß um die Menschheit scherte. Für ihn zählten ausschließlich das Protomolekül und die Technologien, die es offenbaren konnte. Es veränderte nicht nur das Wesen des Universums, in dem er sich befand, sondern auch sein privates und berufliches Leben. Jahrzehntelang war dies seine einzige Leidenschaft gewesen. In dem Streit, mit dem seine letzte Beziehung zerbrochen war, hatte er sich von seinem Freund sogar den Vorwurf anhören müssen, er liebte das Protomolekül.

Paolo hatte es nicht einmal abstreiten können. Es war lange her, dass er für einen anderen Menschen etwas empfunden hatte, das man Liebe nennen konnte. Inzwischen hatte er fast vergessen, wie es sich anfühlte. Keine Frage, die Untersuchung des Protomoleküls und die unzähligen wissenschaftlichen Erkenntnisse in so vielen verschiedenen Bereichen, die es mit sich brachte, nahmen den größten Teil seiner Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch. Herauszufinden, auf welche Weise es mit den anderen außerirdischen Artefakten und Technologien zusammenwirkte, war eine Lebensaufgabe für mehr als einen Menschen. Er sah keinen Grund, sich für seine Leidenschaft zu rechtfertigen. Das winzige, wundervolle Körnchen, das so viele Informationen barg, war wie eine Rosenknospe, die nie verwelkte. Es war auf eine Weise schön, wie es niemals etwas anderes sein konnte. Sein Geliebter hatte dies nicht hinnehmen können, und so war im Rückblick das Ende ihrer Beziehung unausweichlich gewesen. Paolo vermisste ihn durchaus, wenngleich auf eine eher abstrakte Art und Weise. So ähnlich, wie er ein Paar besonders bequeme Schuhe vermisst hätte.

Es gab so viele andere wundervolle Dinge, die seine Zeit ausfüllten.

Auf dem Bildschirm wuchs ein Kohlenstoffgitter heran und bildete komplexe, verflochtene Strukturen. Unter den optimalen Umweltbedingungen und im richtigen Nährmedium neigte das Protomolekül dazu, solche Gitter zu bilden. Das dabei entstehende Material war leichter als gewöhnliche Kohlenstofffasern und hatte eine größere Zugfestigkeit als Graphen. Der Technische Direktor des laconischen Militärrates hatte ihn gebeten, seine Verwendungsfähigkeit für Infanterierüstungen zu prüfen. Die Neigung des Gitters, sich dauerhaft mit der menschlichen Haut zu verbinden, machte dies vom Standpunkt des Ingenieurs aus schwierig, doch es war wunderschön.

Paolo stellte die Empfindlichkeit des Elektronenstrahls nach und beugte sich zum Monitor vor, während das Protomolekül die freien Kohlenstoffatome aufnahm und in das Gitter einflocht wie ein Kind, das selbstvergessen spielte.

»Doktor Cortazár«, sagte jemand.

Paolo antwortete mit einem Grunzen und einer universellen, unmissverständlichen Handbewegung: Gehen Sie weg, ich bin beschäftigt.

»Doktor Cortazár«, drängte die Stimme beharrlich.

Paolo riss sich vom Bildschirm los und drehte sich um. Eine hellhäutige Person von undefinierbarem Geschlecht stand im Labormantel da und hielt ein großes Handterminal hoch. Paolo war fast sicher, dass die Person Caton hieß. Oder Canton? Cantor? So ähnlich. Einer der unzähligen Labortechniker. Kompetent, soweit Paolo sich erinnerte. Aber jetzt unterbrach ihn diese Person, also würde es Konsequenzen geben. Catons / Cantors / Cantons Miene verriet, dass er oder sie sich dieser Tatsache durchaus bewusst war.

Ehe Paolo etwas sagen konnte, fuhr die Technikperson fort: »Der Direktor hat mich gebeten, Sie an Ihre Verabredung zu erinnern. Bei …« Jetzt flüsterte die Person beinahe. »Bei ihm.«

Damit war nicht der Direktor gemeint. Es gab nur einen, von dem man so sprach.

Paolo schaltete den Bildschirm ab und vergewisserte sich, dass die Systeme alles aufzeichneten, ehe er aufstand.

»Ja, natürlich«, antwortete er. Und dann, weil er sich Mühe geben wollte: »Vielen Dank. Cantor?«

»Caton«, antwortete die Technikperson sichtlich erleichtert.

»Bitte sagen Sie dem Direktor Bescheid, dass ich unterwegs bin.«

»Doktor, ich soll Sie begleiten.« Caton tippte auf das Handterminal, als wäre der Auftrag auf einer Liste notiert.

»Natürlich.« Paolo nahm die Jacke vom Haken an der Tür und ging hinaus.

Das Labor für Biotechnologie und Nanoinformatik der Universität von Laconia war das größte Forschungslabor auf dem ganzen Planeten. Möglicherweise sogar das größte im ganzen von Menschen besiedelten Raum. Die Universität beanspruchte am Rand der laconischen Hauptstadt beinahe vierzig Hektar Land. Wie alles auf Laconia war sie um ein Vielfaches größer, als es die momentane Zahl von Benutzern erfordert hätte. Sie war für die Zukunft gebaut. Für alle, die noch kommen würden.

Paolo marschierte rasch über den Kiesweg und überprüfte im Gehen den Monitor am Ärmel. Caton trabte hinterdrein.

»Doktor.« Der Labortechniker deutete in die andere Richtung. »Ich habe einen Wagen mitgebracht. Er steht auf Parkplatz C.«

»Fahren Sie zum Pferch. Ich habe dort noch etwas zu erledigen.«

Caton war unschlüssig, weil er einen direkten Befehl erhalten hatte, der seiner Rolle als Aufpasser widersprach.

»Ja, Doktor.« Caton entfernte sich eilig in die andere Richtung.

Unterwegs sah Paolo seine Aufgabenliste für den Tag durch, um sich zu vergewissern, dass er nicht noch mehr vergessen hatte, zupfte den Ärmel über den Monitor und blickte zum Himmel hinauf. Es war ein schöner Tag. Laconia hatte einen wundervollen blauen Himmel, auf dem ein paar Wolken wie Baumwollflocken trieben. Die riesige Konstruktionsplattform, die den Planeten auf einer Umlaufbahn umkreiste, war schwach zu erkennen. Lange Ausleger und dazwischen leerer Raum wie ein gewaltiges, im Weltraum schwebendes Oligonukleotid.

Der sanfte Wind trug den leichten Geruch von verbranntem Plastik herbei. Die Schwaden stammten von einem einheimischen Pseudopilz, der gerade das freisetzte, was hier als Sporen galt. Die Brise ließ die langen Wedel der Hundepfeifen über dem Weg nicken. Die Knarzen – sie besetzten in etwa die gleiche ökologische Nische wie die Grillen und besaßen sogar einige morphologische Ähnlichkeiten –, die an den Pflanzen hingen, fauchten ihn an, sobald er ihnen zu nahe kam. Er hatte keine Ahnung, warum man die Pflanzen Hundepfeifen genannt hatte. Ihn erinnerten sie eher an Weidenkätzchen. Warum man ein Pseudoinsekt, das einer Grille mit vier Gliedmaßen ähnelte, als Knarze bezeichnet hatte, begriff er erst recht nicht. Anscheinend gab es keine wissenschaftliche Systematik für die Benennung der einheimischen Flora und Fauna. Die Menschen benutzten einfach irgendwelche Namen, bis ein Konsens entstand. Das ging ihm gegen den Strich.

Der Pferch unterschied sich von den anderen Laborgebäuden. Die Wände bestanden aus durchgehenden, verstärkten Platten, die jeweils rechtwinklig luftdicht zusammengeschweißt waren, sodass ein dunkler Metallkasten von fünfundzwanzig Metern Seitenlänge entstanden war. Vor dem einzigen Eingang des Gebäudes hielten vier Soldaten mit leichten Rüstungen und Sturmgewehren Wache.

»Doktor Cortazár«, sagte einer der vier und hob die Hand. Es war eine universelle Geste: Durchgang verboten.

Paolo zog das Band mit dem Ausweis unter dem Hemd hervor und zeigte ihn dem Wächter, der ihn in ein Lesegerät schob. Dann hielt er das Lesegerät auf Paolos Handgelenk.

»Ein schöner Tag«, sagte der Wächter freundlich lächelnd, als die Maschine Paolos Ausweis mit den physikalischen Messungen verglich und seine Proteine identifizierte.

»Wirklich schön«, stimmte Paolo zu.

Die Maschine bestätigte mit einem »Ping«, dass er tatsächlich Paolo Cortazár war, der Präsident der Universität von Laconia und Leiter des exobiologischen Forschungslabors. Natürlich kannten die Wächter ihn vom Sehen, aber das Ritual war aus mehr als einem Grund wichtig. Die Tür glitt auf, und die vier Wächter machten ihm Platz.

»Einen schönen Tag noch, Doktor.«

»Ebenso.« Paolo betrat die gesicherte Luftschleuse. Eine Wand zischte, als versteckte Düsen ihn anbliesen. In der gegenüberliegenden Wand befanden sich Sensoren, die nach Sprengstoff und infektiösem Material suchten. Möglicherweise sogar nach üblen Absichten.

Nach einem Moment hörte das Zischen auf, und die innere Schleusentür ging auf. Erst da hörte Paolo das Stöhnen.

Der Pferch, wie ihn alle nannten, obwohl das Gebäude in keiner offiziellen Dokumentation namentlich erwähnt wurde, war aus gutem Grund in ganz Laconia das Gebäude mit der zweithöchsten Sicherheitsstufe. Dort hielt Paolo seine Milchkühe.

Der Name war schon früh bei einem Streit mit seinem Exfreund entstanden. Es sollte eine Beleidigung sein, war aber eine treffende Analogie. Im Pferch verbrachten Menschen und Tiere, die man absichtlich mit dem Protomolekül infiziert hatte, ihre restlichen Lebenstage. Sobald die außerirdische Nanotechnologie die Steuerung der Zellen übernommen hatte und sich selbst reproduzierte, konnten Paolos Mitarbeiter die Körperflüssigkeiten abzapfen und aus dem Gewebe die entscheidenden Partikel herausfiltern. Wenn die Körper erschöpft waren, konnte man die verbliebenen Flüssigkeiten einäschern, ohne Gefahr zu laufen, irgendetwas Wertvolles zu verlieren. Es gab vierundzwanzig Boxen, von denen im Augenblick nur siebzehn belegt waren. Irgendwann, wenn die Bevölkerung gewachsen war, würden ihm reichlich Versuchspersonen zur Verfügung stehen.

Die großen Werke auf Laconia hingen von der Kommunikationstechnologie ab, die nach dem Untergang der außerirdischen Zivilisation zurückgeblieben war. Das Protomolekül war nicht als universelle Steuerschnittstelle entworfen worden, doch da die außerirdische Technologie modular aufgebaut war, konnte man es häufig auf diese Weise einsetzen und die Arbeit voranbringen. Das war eine seiner Aufgaben.

Auf dem Weg zu seinem Büro im hinteren Teil des Gebäudes blieb er auf einem Laufsteg über einer Box stehen. In dem engen, von Metallwänden begrenzten Raum liefen ein halbes Dutzend Menschen im Frühstadium der Infektion umher. Sie befanden sich noch in der pseudo-hämorrhagischen Phase, in der die Techniker sie als »Kotzer« bezeichneten. Sie konnten nur noch schlurfen und mussten sich immer wieder heftig übergeben. Auf diese Weise sorgte das Protomolekül dafür, dass sich die Infektion rasch ausbreitete. Sobald die Körper entnommen waren, wurde jeder Zentimeter der Metallwände und des Bodens mit Flammenwerfern behandelt, bis keinerlei biologische Rückstände mehr existierten.

In der Geschichte des Labors hatte es bisher nur eine einzige versehentliche Infektion gegeben, und Paolo war fest entschlossen, es dabei zu belassen.

Dr. Ochida, der Leiter des Pferchs und sein Stellvertreter, stand auf der anderen Seite der Boxen. Als er den Vorgesetzten bemerkte, eilte er sofort herbei.

»Paolo.« Ochida klopfte ihm freundlich auf die Schulter. »Sie kommen gerade rechtzeitig. Vor einer Stunde haben wir die Stammzellenkulturen gezogen, und jetzt sind die Injektionen bereit.«

»Den da kenne ich.« Paolo deutete auf einen behaarten muskulösen Mann im Pferch.

»Hm? Oh, ja, ich glaube, er war einer unserer Wachleute. In seinem Aufnahmeformular stand ›Pflichtvergessenheit‹. Vielleicht hat man ihn während der Wache beim Schlafen erwischt.«

»Haben Sie die Tests durchgeführt?« Der behaarte Mann im Pferch war Paolo ziemlich egal, und Ochidas Antwort hatte seine Neugierde befriedigt.

Ochida brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass sie zum ursprünglichen Thema zurückgekehrt waren. »Oh, gewiss. Ich habe die Reinheit der Proben persönlich dreimal überprüft.«

»Ich fahre jetzt gleich weiter zum Staatshaus«, erklärte Paolo, drehte sich um und suchte Ochidas Blick.

Der Assistent wusste, was der Vorgesetzte wollte. »Verstehe. Die Injektionen entsprechen exakt Ihren Vorgaben.«

Wenn etwas schiefging, wären sie die Nächsten, die im Pferch landeten. Sie waren wertvoll, aber nicht unersetzlich. Das war niemand. So lief es eben auf Laconia.

»Ausgezeichnet.« Paolo schenkte Ochida ein freundliches Lächeln, das nicht von Herzen kam. »Ich nehme sie gleich mit.«

Ochida winkte jemandem in einer Ecke des Raumes, worauf eine Technikerin herbeitrabte. Sie brachte eine silbrig schimmernde Aktentasche mit, übergab sie Paolo und zog sich zurück.

»Gibt es sonst noch etwas?«, fragte Ochida.

»Ich sehe da bereits etwas Wachstum.« Paolo deutete auf einen Knochen, der aus dem Rückgrat des behaarten Mannes spross.

»Ja«, stimmte Ochida zu. »Sie sind fast so weit.«

Seit er mit Winston Duarte zusammenarbeitete, hatte Paolo vieles entdeckt, was er an dem Mann bewunderte. Der Hochkonsul war intelligent, legte bei komplizierten Sachverhalten erstaunliche Verständnissprünge an den Tag und war bei seinen Entscheidungen dennoch maßvoll und bedachtsam. Duarte schätzte den Rat anderer Menschen, zeigte sich aber entschlossen und standhaft, sobald genügend Informationen vorlagen. Er konnte charismatisch und warm sein, ohne jemals falsch und unaufrichtig zu wirken.

Mehr als alles andere schätzte Paolo jedoch den völligen Mangel an Selbstherrlichkeit. Viele schwächere Menschen hätten sich in der Position des absolutistischen Militärdiktators eines ganzen Planeten mit Pomp umgeben und einen glitzernden Palast gebaut. Duarte hatte das Staatshaus von Laconia errichtet. Ein massiver Steinbau, der den Rest der Hauptstadt überragte und dennoch eher beruhigend als einschüchternd wirkte. Als sollte er mit seinen massiven Wänden und seiner Größe einfach nur einen Platz bieten, wo wichtige Arbeiten verrichtet und schwierige Probleme gelöst wurden. Diejenigen, die sich darin aufhielten, sollten nicht erhöht werden.

Caton lenkte Paolos kleinen Wagen die breite Straße zum Haupteingang des Gebäudes hinauf. Weit und breit waren keine anderen Fahrzeuge zu sehen. Die Straße endete vor einer hohen Steinwand mit einem kleinen Tor, das mit einem Kontrollposten gesichert war. Paolo stieg aus und nahm die Aktentasche mit.

»Sie brauchen nicht auf mich zu warten«, sagte Paolo zu Caton.

Der Techniker hatte kein Wort gesagt, nachdem er ihn vor dem Pferch abgeholt hatte, und schien sogar erleichtert, dass er jetzt entlassen wurde. »Ja, Doktor. Rufen Sie mich, wenn Sie …« Paolo entfernte sich bereits. Hinter sich hörte er das Summen des Elektromotors, als der Wagen wegfuhr.

Das schmale Tor ging auf, als er sich näherte, und zwei Soldaten verließen den Posten und begleiteten ihn wortlos. Diese hier waren nicht mit den leicht gerüsteten Wächtern der Universität vergleichbar. Sie trugen motorverstärkte Anzüge aus vorgeformten Verbundstoffplatten, in denen verschiedene Waffen fest montiert waren. Die Anzüge waren dunkelblau wie die laconische Flagge und mit zwei stilisierten Flügeln verziert. Ein Phönix, dachte er. Vielleicht aber auch irgendein Raubvogel. Die angenehme Farbe ließ fast vergessen, dass es sich um tödliche Kriegsmaschinen handelte. Die Schritte der Soldaten auf dem Stein im Hof und das leise Summen der Anzugmotoren waren die einzigen Geräusche, die ihn auf dem Weg zum Eingang des Staatshauses begleiteten.

An der Tür hielten ihn die Wächter auf und stellten sich links und rechts neben ihn. Paolo glaubte, das Kribbeln der Röntgenstrahlen und Millimeterwellen zu spüren, die ihn von Kopf bis Fuß abtasteten. Nach einer Weile sagte einer der beiden: »Der Hochkonsul erwartet Sie im medizinischen Flügel.« Die beiden machten kehrt und entfernten sich.

»Ja, im Grunde könnte man sagen, dass die Träume aufgehört haben«, erklärte Duarte, als Paolo die Kanüle in die Vene stach und mit Klebeband sicherte. Aus Erfahrung wusste er, dass Duarte sich selbst ablenkte und es vermied, den Blick zu senken und zu sehen, wie die Nadel in die Haut eindrang. Es war verblüffend, dass der mächtigste Mann des Universums ein wenig zimperlich wurde, wenn er eine Nadel sah.

»Wirklich?«, antwortete Paolo. Es war keine beiläufige Frage. Die Nebenwirkungen der höchst experimentellen Behandlung, die Duarte bekam, mussten genauestens überwacht werden. »Seit wann genau?«

Duarte seufzte und schloss die Augen. Entweder er entspannte sich, weil das zuvor verabreichte Beruhigungsmittel bereits wirkte, oder er versuchte, sich an das genaue Datum zu erinnern. Vielleicht traf auch beides zu. »Den letzten hatte ich vor elf Tagen.«

»Sind Sie sicher?«

»Ja«, erwiderte Duarte lächelnd und ohne die Augen zu öffnen. »Ich bin sicher. Vor elf Tagen habe ich das letzte Mal geschlafen.«

Paolo hätte beinahe den Infusionsschlauch fallen gelassen, den er mit der Nadel verbunden hatte. »Sie haben elf Tage nicht mehr geschlafen?«

Endlich schlug Duarte die Augen wieder auf. »Ich bin überhaupt nicht müde. Ganz im Gegenteil. Ich fühle mich mit jedem Tag kräftiger und gesünder. Ich bin sicher, es handelt sich um eine Nebenwirkung der Behandlung.«

Paolo nickte nur, auch wenn er keineswegs mit dieser Entwicklung gerechnet hatte. Sein Magen verkrampfte sich ein wenig vor Sorge. Worauf mussten sie sich noch gefasst machen, falls es eine so extreme Nebenwirkung gab? Er hatte Duarte gebeten zu warten, bis sie noch mehr Daten hatten, aber der Mann hatte verlangt, dass sie weitermachten, und wie hätte er da widersprechen können?

»Ich kenne diesen Gesichtsausdruck, alter Freund.« Duartes Lächeln wurde sogar noch breiter. »Sie können ganz unbesorgt sein. Ich habe mich selbst überwacht. Wenn irgendetwas aus dem Gleichgewicht geraten wäre, hätte ich Sie schon vor einer Woche gerufen. Aber ich fühle mich fantastisch, ich baue keine Ermüdungsgifte auf, und das Blutbild sagt mir, dass ich nicht psychotisch werde. Jetzt habe ich jeden Tag acht zusätzliche Stunden, die ich arbeiten kann. Ich könnte nicht glücklicher sein.«

»Selbstverständlich«, antwortete Paolo. Er betrachtete den Infusionsbeutel, aus dem die vom Protomolekül veränderten menschlichen Stammzellen durch den Schlauch strömten. Duarte keuchte leicht, als die kühle Flüssigkeit in die Vene eindrang. »Aber bitte vergessen Sie nicht, mir alle Details mitzuteilen, auch wenn sie unproblematisch erscheinen. Tierversuche sind nie perfekt, und Sie sind der erste Mensch, der diese Behandlung bekommt. Es ist äußerst wichtig, alle Wirkungen und Nebenwirkungen genau zu …«

»Das werde ich tun«, fiel Duarte ihm ins Wort. »Ich habe das größte Vertrauen, dass Ihr Labor alles so einrichtet, wie es sein soll. Aber ich werde dafür sorgen, dass mein Leibarzt Ihnen seine täglichen Notizen schickt.«

»Danke, Hochkonsul«, sagte Paolo. »Ich nehme lieber noch eine Blutprobe und lasse sie von meinen Leuten untersuchen. Einfach nur, um ganz sicherzugehen.«

»Wie Sie wollen«, entgegnete Duarte. »Aber solange wir unter uns sind, nennen Sie mich bitte nicht ›Hochkonsul‹. ›Winston‹ reicht völlig aus.« Duarte nuschelte ein wenig, weil das Beruhigungsmittel wirkte. »Ich möchte, dass wir alle gut zusammenarbeiten.«

»Wir arbeiten ja zusammen, aber ein Körper braucht ein Gehirn. Einen Anführer, ja?«, gab Paolo zurück. Er wartete, bis der Infusionsbeutel leer war, benutzte die Kanüle, um eine kleine Blutprobe zu entnehmen, und verstaute die Probe in der metallenen Aktentasche. Dann führte er leise einen kompletten Körperscan durch. Die Behandlung hatte das Wachstum einer kleinen Zahl neuer Organe in Duartes Körper ausgelöst. Die besten experimentellen Physiologen des Planeten hatten sie entworfen und dabei die Lektionen angewendet, die sie dank der ewigen Blüte des Protomoleküls gelernt hatten. Bedauerlicherweise gab es immer noch so viele Dinge, die schiefgehen konnten, und es war Paolos wichtigste Aufgabe, die Veränderungen in Duartes Körper genau zu verfolgen. Trotz seiner Wärme und der echten Freundschaft, die er zeigte, würde man Paolo, wenn dem laconischen Herrscher irgendetwas zustieß, im Handumdrehen hinrichten. Indem er Paolos Sicherheit mit der eigenen verknüpfte, stellte Duarte sicher, dass sich der Wissenschaftler jede nur erdenkliche Mühe gab. Das wussten sie beide, und es war keineswegs böser Wille im Spiel. Paolos Tod wäre genau genommen nicht einmal eine Strafe. Die unausgesprochene Drohung war einfach nur eine Ermahnung, den Patienten keinesfalls sterben zu lassen.

Vermutlich war dies die aufrichtigste Beziehung, die Paolo je gehabt hatte.

»Wissen Sie, Winston, es wird ein sehr langwieriger Prozess. Es könnte ein kleines Ungleichgewicht geben, das über Jahre oder gar Jahrzehnte hinweg gar nicht auffällt.«

»Jahrhunderte«, entgegnete der Mann nickend. »Ich weiß, es ist unvollkommen. Aber wir tun, was wir tun müssen. Und nein, alter Freund, ich habe es mir nicht anders überlegt.«

Paolo fragte sich, ob auch die Fähigkeit, Gedanken zu lesen, eine unerwartete Nebenwirkung der Behandlung darstellte. Wenn dem so war … dann wurde es interessant. »Ich wollte keineswegs andeuten, dass …«

»… Sie sich ebenfalls der Behandlung unterziehen möchten?«, fragte Duarte. »Aber natürlich wollen Sie das. Und Sie sollten es auch vorschlagen. Tragen Sie die besten Argumente vor, die Ihnen einfallen. Ich glaube nicht, dass Sie mich umstimmen können, aber es würde mir sehr gefallen, wenn es Ihnen gelänge.«

Paolo starrte seine Hände an und wich Duartes Blick aus. Massiver Widerstand wäre einfacher gewesen. Die Melancholie in der Stimme des Mannes war beunruhigend und schwer zu verstehen.

»Es ist doch wirklich ironisch«, fuhr Duarte fort. »Ich habe mich immer gegen die Idee gesträubt, es müsse absolutistische Herrscher geben. Gegen den Glauben, die Geschichte der Menschheit sei von einzelnen Individuen statt von breiten sozialen Kräften geformt worden. Romantisch mag es sein, aber …« Er wedelte unbestimmt mit einer Hand, als wollte er Nebelschwaden vertreiben. »Demografische Trends, wirtschaftliche Zyklen, technologischer Fortschritt. All das sind doch viel wichtigere Faktoren als ein einzelner Mensch. Und hier sitze ich nun. Ich würde Sie mitnehmen, wenn ich könnte. Das wissen Sie. Aber die Entscheidung liegt nicht bei mir, sondern die Geschichte gibt sie mir vor.«

»Die Geschichte sollte es sich noch einmal anders überlegen«, meinte Paolo.

Duarte kicherte. »Der Unterschied zwischen null und eins ist ein Wunder. Aber noch wundervoller kann er nicht werden. Nehmen Sie zwei oder drei oder einhundert. Dann wird es einfach nur eine Oligarchie. Eine dauerhafte Maschine der Ungleichheit, die die Kriege produziert, denen wir ein Ende setzen wollen.«

Paolo gab einen kleinen Laut von sich, den man beinahe mit Zustimmung verwechseln konnte.

»Die besten Regierungen in der Geschichte waren die von Königen und Kaisern«, fuhr Duarte fort. »Auch die schlimmsten. Ein Philosophenkönig kann zu Lebzeiten große Dinge schaffen, und seine Enkelkinder können alles zerstören.«

Duarte grunzte, als Paolo die Infusionsnadel aus dem Arm zog. Er brauchte keinen Verband, das Loch schloss sich, bevor auch nur ein Tropfen Blut hervorgequollen war. Es gab nicht einmal einen Schorf.

»Wenn Sie eine dauerhafte und stabile Gesellschaftsordnung einrichten wollen«, erklärte Duarte, »dann darf es nur eine Person geben, die unsterblich ist.«

1   Drummer

Der Wohnring in der Transferstation auf Lagrange-5 hatte einen dreimal so großen Durchmesser wie derjenige in Tycho, wo Drummer vor einer halben Ewigkeit gelebt hatte. In TSL-5 gab es eine ganze Stadt voller Büros mit Wänden aus künstlichem Marmor und weichem Vollspektrumlicht. So ein Büro, komplett mit einer Druckliege als Bett und einer Dusche, hatten sie auch ihr als Quartier zugewiesen. Die Luft roch nach Terpenen, als sei die Station die größte Chrysantheme im Universum. Die Kuppel im Zentrum hatte Liegeplätze für Hunderte Schiffe und derart viele riesige Lagerhäuser, dass man meinen konnte, die Erde bliebe wie eine leere Quetschflasche zurück, wenn man sie füllte. All die Andockbuchten und Lagerhäuser legten heute noch eine Pause ein, aber das würde sich morgen ändern. Dann sollte TSL-5 den Betrieb aufnehmen. So müde Drummer auch war und so gereizt darüber, dass sie durch das halbe System reisten musste, um im Grunde doch nur feierlich ein Band zu zerschneiden − sie war auch ein wenig aufgeregt. Nach drei Jahrzehnten des Ringens war Mutter Erde wieder im Geschäft.

Auf dem Wandbildschirm strahlte der Planet, durch die hohen weißen Wolkenwirbel konnte man hier und dort das immer noch grünliche Meer erkennen. Der Terminator kroch über die Erdkugel und zog eine dunkle, mit städtischen Lichtern besetzte Decke hinter sich her. Die Schiffe der Erde-Mars-Koalition schwebten vor dem Planeten. Kleine dunkle Punkte, die im Meer der Lufthülle schwammen. Dort unten war Drummer nie gewesen, und nach den Bedingungen des Vertrags, den sie im Auftrag der Gewerkschaft unterzeichnet hatte, würde sie auch nie dorthin kommen. Das war ihr recht. Auch so schon hatte sie manchmal Ärger mit den Kniegelenken. Aber als Kunstobjekt war Terra kaum zu überbieten. Die Menschheit hatte sich große Mühe gegeben, dieses langsam rotierende Ei zu verschandeln. Überbevölkerung, Ausbeutung, Ungleichgewicht in der Atmosphäre und in den Ozeanen, drei militärisch berechnete Meteoreinschläge, von denen jeder für sich allein bereits die Dinosaurier hätte ausrotten können. Aber sie war immer noch da, tapfer wie ein Soldat. Vernarbt, gebrochen, neu erfunden, wiederaufgebaut und neu erschaffen.

Angeblich heilte die Zeit alle Wunden. Für Drummer war das nur eine nette Art zu sagen, dass irgendwann alles, was ihr jetzt wichtig war, keine Rolle mehr spielen würde. Oder wenigstens nicht auf die Art und Weise, die sie sich vorgestellt hatte.

Die Zeit und die geballte Fachkenntnis des marsianischen Terraformingprojekts, das sein Ziel verloren hatte, die rücksichtslose Politik der irdischen Regierung und der gewaltige Markt von mehr als tausenddreihundert Welten, die allesamt biologisches Substrat brauchten, um etwas anzubauen, das die Siedler essen konnten, all das hatte die Erde langsam und torkelnd wieder in die Gänge gebracht.

Ihr System meldete sich – ein höfliches kleines Knacken, als hätte jemand ein Bambusstäbchen zerbrochen. Dann war die Stimme ihres Privatsekretärs zu hören, samtig wie ein Schluck guter Whisky.

»Madam?«

»Eine Minute, Vaughn«, antwortete sie.

»Ja, Madam. Aber Generalsekretär Li möchte vor der Zeremonie mit Ihnen sprechen.«

»Die Erde-Mars-Koalition kann bis nach den Cocktails warten. Ich eröffne diese Station nicht, indem ich jedes Mal springe, sobald sich die EMK räuspert. Das setzt ein schlechtes Vorzeichen.«

»Verstanden. Ich regle das.«

Mit einem leisen hölzernen Pochen verriet ihr das System, dass ihre Privatsphäre wiederhergestellt war. Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück und betrachtete die Bilder, die hinter dem Schreibtisch in die Wand eingelassen waren: Michio Pa, Tjon, Walker, Sanjrani und ihr eigenes schmales, strenges Gesicht am Ende. Sie hasste das Bild, weil sie darauf aussah, als hätte sie gerade in etwas Saures gebissen. Die erste Version hatte gewirkt wie ein Profilbild aus einer Singlebörse. Dieses hier war wenigstens würdevoll.

Die meisten Mitglieder der Transportgewerkschaft bekamen von ihr nicht mehr als dieses Antlitz zu sehen. Tausenddreihundert Welten, und binnen einer Dekade würden die meisten oder gar alle eigene Versionen von TSL-5 besitzen. Vorgelagerte Stationen als Markierungen in der Leere, wo die Kontrollsphäre des Planeten endete und die der Gewerkschaft begann. Alles, was die Kolonien vom alten Heim der Menschheit oder voneinander benötigten, musste erst einmal aus der Schwerkraftsenke aufsteigen. Das war das Problem der Inneren. Der Transport von einem System zum nächsten war die Sache des Gürtels. Alte Begriffe waren das – die Inneren, die Gürtler. Sie hatten Bestand, weil die Sprache an alten Begriffen festhielt, auch wenn sich die Realität längst verändert hatte.

Früher war die Erde-Mars-Koalition das Zentrum der Menschheit gewesen – das Innerste im Inneren. Jetzt war sie eine wichtige Speiche in dem Rad, dessen Nabe die Medina-Station darstellte. Dort, wo die seltsame außerirdische Kugel mitten in dem Nicht-Raum saß, der alle Ringtore miteinander verband. Wo sich ihr ziviles Quartier befand, wenn sie nicht in den Weltraumstädten war. Wo Saba war, wenn er nicht auf seinem Schiff flog oder sie begleitete. Die Medina-Station war die Heimat.

Nur dass sogar für sie auch die blau-schwarze Scheibe der Erde die Heimat war. Vielleicht würde das nicht für alle Ewigkeit wahr bleiben. Es gab jetzt Kinder, die das Wahlalter erreicht hatten und nicht wussten, wie es war, wenn man nur eine einzige Sonne kannte. Sie konnte sich nicht vorstellen, was Erde, Mars oder Sol für diese Menschen bedeuteten. Vielleicht würde die atavistische Melancholie, die sie hinter dem Brustbein spürte, mit ihrer Generation aussterben.

Vielleicht war sie auch launisch und brauchte ein Nickerchen.

Wieder knackte der Bambus. »Madam?«

»Ich bin unterwegs.«

»Ja, Madam. Wir haben eine dringende Nachricht von der Verkehrskontrolle Medina erhalten.«

Drummer beugte sich vor und legte die Handflächen auf den kühlen Schreibtisch. Verdammt. Verdammt, verdammt, verdammt. »Haben wir schon wieder eins verloren?«

»Nein, Madam. Es ging kein Schiff verloren.«

Die Furcht entließ sie ein wenig aus ihrem Griff. Aber nicht völlig. »Was ist passiert?«

»Sie melden einen unangekündigten Durchflug. Ein Frachter, der keinen Transponder hat.«

»Tatsächlich?«, antwortete sie. »Dachten sie wirklich, wir bemerken es nicht?«

»Dazu kann ich nichts sagen«, antwortete Vaughn.

Sie öffnete den Regierungskanal nach Medina. Theoretisch konnte sie hier alles beobachten, was in ihrem Reich vor sich ging – Verkehrskontrolle, Lebenserhaltung, Energieverbrauch, Sensoren für jedes Segment des elektromagnetischen Spektrums. Aber die Verzögerung durch die Lichtgeschwindigkeit führte dazu, dass alles mehr als vier Stunden veraltet war. Ein Befehl, den sie erteilte, konnte frühestens acht bis achteinhalb Stunden ausgeführt werden, nachdem jemand um Anweisungen ersucht hatte. Die gewaltige außerirdische Intelligenz, die die Ringtore und die mächtigen Ruinen in den Systemen erschaffen hatte, konnte zwar Entfernungen manipulieren, aber die Begrenzung durch die Lichtgeschwindigkeit war unüberwindlich und würde es wohl immer bleiben.

Sie sah die Logs durch, fand die richtige Stelle und spielte sie ab.

Medina hier. Conferme. Die übliche ruhige Anfrage der Verkehrskontrolle.

Die antwortende Stimme war von kleinen Interferenzen gestört. Akustische Artefakte von den Toren. Medina, hier ist der Frachter Savage Landing aus Castila im Anflug. Wir übermitteln jetzt unseren Status.

Ein neues Fenster klappte auf. Der Schiffsstatus eines leichten Frachters marsianischer Bauart. Alt, aber noch nicht antiquiert. Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Antwort kam.

Visé bien, Savage Landing. Sie dürfen passieren. Der Kontrollcode lautet … verdammt! Abbrechen, Savage Landing! Sie dürfen nicht durchfliegen!

Die Gefahrenkurve stieg steil an, ein Alarm wurde ausgelöst, und es blinkte rot. Auf dem Kontrollpult in Medina erschien eine neue Antriebssignatur, die Antriebsfackel glühte in der sternenlosen Finsternis der langsamen Zone.

Es war längst geschehen. All das hatte sich schon vor Stunden ereignet, und trotzdem schlug Drummers Herz schneller. Die Verkehrskontrolle forderte das neue Schiff auf, sich zu identifizieren, die Railguns wurden aktiviert. Hätten sie geschossen, dann wäre jeder auf dem unautorisierten Schiff längst tot.

Die Gefahrenkurve flachte ab, und die Störung, die das Schiff mit seiner Masse und Energie während des Fluges durch den Ring verursacht hatte, löste sich auf, bis alles wieder unter dem Schwellenwert lag. Das eingedrungene Schiff drehte sich, flog mit hohem Schub weiter und sauste durch ein anderes Tor. Beim Durchgang stieg die Kurve abermals an.

Die Verkehrskontrolle fluchte in mehreren Sprachen und schickte vorgefertigte Nachrichten an die anderen drei einlaufenden Schiffe. Die Savage Landing war still, aber der Feed ihrer Systeme zeigte, dass sie mit hohem Gegenschub bremste und den Anflug auf das Castila-Tor abbrach.

Sie spulte zurück, und die beinahe verhängnisvolle Situation lief rückwärts ab. Das rücksichtslose Arschloch war aus Freehold gekommen und nach Auberon weitergeflogen. Aber natürlich. Die Reststrahlung aus dem Auberon-Tor verriet, dass das Schiff durchgekommen war. Es war knapp am Gefahrenpunkt geschehen, aber das Schiff war nicht verschwunden. Wäre die Savage Landing wie geplant durchgeflogen, dann wären womöglich beide Schiffe, mindestens aber eines, dorthin verschwunden, wohin die Schiffe eben verschwanden, wenn ein Durchflug scheiterte.

Kurzfristig bedeutete dies, dass die Savage Landing sich später einreihen musste. Infolgedessen würden sich auch einige weitere Durchflüge verzögern. Möglicherweise mussten Dutzende Schiffe die Beschleunigung verändern und sich auf die neuen Transitdaten einstellen. Das war keine Gefahr, aber recht lästig.

Und kein gutes Vorzeichen.

»Soll ich antworten, oder möchten Sie sich lieber selbst darum kümmern, Madam?«, fragte Vaughn.

Das war eine sehr gute Frage. Die Politik war wie eine Sperrklinke. Wenn sie jetzt den Abzug durchdrückte und den Befehl erteilte, das nächste unautorisierte Schiff in Schrott zu verwandeln, konnte sie später nicht mehr von dieser Linie abweichen. Jemand, der in solchen Dingen viel besser war als sie, hatte sie gelehrt, sehr sorgfältig zu überlegen, ob sie das, was sie im Moment tun wollte, in Zukunft immer wieder tun wollte.

Bei Gott, es war verlockend.

»Medina soll die Flugdaten archivieren und Freehold und Auberon die vollen Kosten und alle Strafen für die dadurch verursachten Verzögerungen in Rechnung stellen«, sagte sie.

»Ja, Madam«, antwortete Vaughn. »Gibt es sonst noch etwas?«

Ja, dachte sie. Ich weiß bloß nicht, was es ist.

Der Konferenzraum war für den Anlass wie geschaffen. Die gewölbte Decke wirkte großartig wie eine Kathedrale. Generalsekretär Li von der Erde stand auf dem Podium und hielt das ernste, aber zufriedene Gesicht in die Kameras Dutzender verschiedener, sorgfältig ausgewählter Newsfeeds. Drummer versuchte, das Gleiche zu tun.

»Präsidentin Drummer«, rief ein Reporter und bat mit erhobener Hand um Gehör, wie es vermutlich früher die Menschen im Forum Romanum getan hatten. Ihr Rednerpult verriet ihr, dass der Mann Carlisle Hayyam hieß und für das Büro von Munhwa Ilbo auf Ceres arbeitete. Ein Dutzend weitere Hände buhlten um ihre Aufmerksamkeit.

»Hayyam?«, sagte sie lächelnd. Die anderen wurden still. Um ehrlich zu sein, sie mochte diese Veranstaltung. Es befriedigte ein lange vernachlässigtes Bedürfnis, auf einer Bühne zu stehen, und dies war eine der wenigen Situationen, wo sie wirklich das Gefühl hatte, die Kontrolle zu besitzen. Sonst fühlte sich der größte Teil ihrer Arbeit an, als versuchte sie, die Luft in einen löchrigen Ballon zurückzustopfen.

»Was können Sie auf Martin Karczeks Befürchtungen hinsichtlich der Transferstation erwidern?«

»Dazu müsste ich sie mir erst einmal anhören«, erwiderte sie. »Meine Zeit ist leider begrenzt.«

Die Reporter kicherten, und sie hörte Schadenfreude heraus. Ja, sie eröffneten die erste Übergabestation. Ja, die Erde befreite sich taumelnd aus einer jahrelang währenden Umweltkrise und verstärkte den Handel mit den Kolonien. Jetzt fehlten nur noch ein paar Politiker, die einander mit schnippischen Bemerkungen traktierten.

Das war völlig in Ordnung. Solange die Leute den Kleinkram betrachteten, konnte sie sich um die wichtigen Dinge kümmern.

Generalsekretär Li, ein Mann mit breitem Gesicht, üppigem Schnurrbart und den schwieligen Händen eines Arbeiters, räusperte sich. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, begann er. »Es gibt immer Menschen, die Angst vor Veränderungen haben. Das ist auch gut so. Man sollte jede Veränderung genau beobachten, steuern und hinterfragen. Aber diese konservative Sichtweise darf andererseits nicht den Fortschritt behindern oder die Hoffnung dämpfen. Die Erde ist das erste und wahre Heim der Menschheit. Die Krume, aus der wir alle, ganz egal welches System wir jetzt bevölkern, ursprünglich entstanden sind. Die Erde wird immer, immer der zentrale Punkt für den Vorstoß der Menschheit ins Universum bleiben.«

Es war wie das Pfeifen im dunklen Wald. Die Erde feierte einen Meilenstein in ihrer Geschichte, und dies war möglicherweise der drittwichtigste Punkt auf ihrer Tagesordnung. Aber wie erklärte man einem Planeten, dass der Zug der Zeit dabei war, ihn abzuhängen? Es war besser, zu nicken und zu lächeln, den Augenblick und den Champagner zu genießen. Sobald es vorbei war, konnte sie sich wieder an die Arbeit machen.

Dann kamen die üblichen Fragen: Würde Drummer selbst oder der ehemalige Präsident Sanjrani die Neuverhandlung der Zölle leiten, würde die Transportgewerkschaft in den heiß umkämpften Wahlen auf Nova Catalunya neutral bleiben, würden die Gespräche über den Status von Ganymed auf Luna oder Medina stattfinden? Eine Frage bezog sich sogar auf die toten Systeme – Charon, Adro und Naraka. Dort hatten die Ringtore die Besucher nicht in ein Märchenland geführt, sondern zu viel seltsameren Dingen. Generalsekretär Li wehrte die Frage ab, was ihr recht war. Wenn Drummer an tote Systeme dachte, lief es ihr immer kalt den Rücken hinunter.

Nach den Fragen und Antworten standen Drummer und der Generalsekretär in einem Dutzend verschiedenen Posen für die Fotos zur Verfügung, garniert von hochrangigen Administratoren der EMK und berühmten Menschen von den Planeten – eine dunkelhäutige Frau in hellblauem Sari, ein bleicher Mann in förmlichem Anzug, zwei verblüffend ähnliche Männer, die auch noch passende goldene Dinnerjackets trugen.

Irgendwie genoss sie es sogar. Vermutlich sprach es auf einer nicht näher bestimmbaren spirituellen Ebene aber doch gegen sie, dass sie so große Freude an den Erdern fand, die sich darum rissen, auf Erinnerungsfotos mit der Anführerin des Gürtels zu erscheinen. Sie war in einem Universum aufgewachsen, wo Menschen wie sie leicht zu ersetzen waren, hatte jedoch lange genug gelebt, um dem Schicksalsrad Zeit zu geben und sie himmelhoch über die Erde zu erheben. Heute wollte jeder ein Freund des Gürtels sein, denn dieser Begriff bedeutete jetzt mehr als eine Wolke halb ausgebeuteter Felsbrocken, die zwischen Mars und Jupiter auf ihrer Umlaufbahn gefangen waren. Für die heute geborenen Kinder war der Gürtel das Element, das die ganze Menschheit verband. Semantische Verschiebungen, politische Veränderungen. Wenn das Schlimmste, was dabei herauskam, ein wenig Schadenfreude auf ihrer Seite war, dann konnte sie gut damit leben.

Vaughn wartete in einem kleinen Vorraum. Sein Gesicht war eine zerklüftete Landschaft, die jedem Gebirgszug zur Ehre gereicht hätte, doch er wusste sein Aussehen zu seinem Vorteil zu nutzen. Der Schnitt des seriösen Sakkos war altmodischen Raumanzügen nachempfunden. Das Kennzeichen ihrer Unterdrückung, modisch neu aufgearbeitet. Die Zeit heilte alle Wunden, aber sie löschte nicht die Narben aus, sondern konnte sie nur dekorieren.

»Nur noch eine Stunde bis zum Empfang, Madam«, sagte er, als Drummer sich auf die Couch setzte und sich die Füße massierte.

»Ja, gut.«

»Kann ich etwas für Sie tun?«

»Ich brauche einen verschlüsselten Richtstrahl und Ruhe.«

»Ja, Madam«, antwortete er sofort.

Als hinter ihm die Tür zuglitt, drehte sie sich zur Systemkamera herum und sammelte sich. Der Plan, der sich während der Zeremonien allmählich herausgeschält hatte, war vollendet. Alle Einzelheiten und Teile, die sie brauchte, damit es funktionierte, waren vorhanden. Und je eher sie ihn umsetzte, desto besser. Strafen wirkten am besten, wenn zwischen dem Fehlverhalten und den Konsequenzen keine zu lange Pause eintrat. So hatte sie es jedenfalls gelernt. Andererseits sprach einiges dafür, dem Täter etwas Zeit zu geben, damit er die Tat bereute.

Am besten war es, wenn man beides gleichzeitig tun konnte.

Sie drückte auf »Aufnahme«.

»Kapitän Holden«, begann sie. »Ich übermittle Ihnen die Daten zu dem unautorisierten Transit von Freehold nach Auberon, der sich heute ereignet hat. Außerdem gebe ich Ihnen Zugang zu den Sicherheitsinformationen über das Freehold-System. Viel haben wir leider nicht. Ein bewohnbarer Planet, der etwas kleiner ist als der Mars, und ein zweiter, den man ausbeuten kann, solange man keine Einwände gegen zu viel Stickstoff und Zyanid in der Luft hat. Der Gouverneur von Freehold ist …«

Sie überprüfte die Akten und hustete verächtlich. Dann lachte sie.

»Payne Houston. Ich nehme an, den Namen hat er sich selbst ausgesucht, und seine Mami hat ihn ganz anders genannt. Wie auch immer, ich sende Sie mit einem Polizeimandat los, sodass Sie sofort beginnen können. Bis Sie da sind, sorge ich dafür, dass Emily Santos-Baca und der Sicherheitsausschuss Kratzfüße üben und Ihnen keine Steine in den Weg legen.

Offiziell haben Sie den Auftrag, die Botschaft zu überbringen, dass Freehold mehrfach die Richtlinien der Transportgewerkschaft verletzt hat, sodass wir jetzt Strafmaßnahmen ergreifen. Der gesamte Verkehr nach und von Freehold wird für drei Jahre gesperrt. Wenn er fragt, ob damit Erdenjahre gemeint sind, dann lautet die Antwort ›ja‹. Er wird darauf herumreiten, weil er ein Idiot ist.

Inoffiziell haben Sie den Auftrag, sich nicht zu beeilen. Freehold und alle anderen Systeme sollen wochenlang beobachten, dass ein Kampfschiff im Anflug ist, ohne zu wissen, wohin genau es überhaupt fliegt. Meine Mitarbeiter setzen den üblichen Werkvertrag auf. Geben Sie mir bitte so bald wie möglich Bescheid, wenn Sie den Auftrag nicht übernehmen können. Ansonsten sollten Sie auftanken und in den nächsten fünfzehn Stunden losfliegen.«

Sie sah die Nachricht noch einmal an, schickte sie los und sendete eine Kopie an Ahmed McCahill, den Leiter des Sicherheitsausschusses. Als Nächstes noch eine Anweisung, die Rosinante in der Warteschlange für das Auftanken und die Durchflugkorridore an die Spitze zu setzen.

Vaughn klopfte diskret an. Richtigerweise fasste er ihr Grunzen als Erlaubnis zum Eintreten auf.

»Madam, Generalsekretär Li fragt, ob Sie indisponiert sind«, berichtete er. »Er macht sich Sorgen.«

Sie sah auf die Uhr. Ihre einstündige Ruhepause war schon seit zwanzig Minuten vorbei.

»Sagen Sie ihm, ich bin unterwegs«, antwortete sie. »Liegen Sachen zum Wechseln bereit?«

»Im begehbaren Schrank, Madam«, antwortete Vaughn, während er lautlos wie ein Phantom wieder nach draußen ging. Drummer zog sich rasch um, streifte das formelle Jackett und die Hosen ab und zog eine Bluse aus Bambusseide und einen selbstregelnden Rock an, dessen neuronales Netz in etwa so intelligent wie ein Insekt war und dazu diente, das Kleidungsstück exakt an die Körperform anzupassen. Anschließend betrachtete sie sich mit einer gewissen Befriedigung im Spiegel. Sie wünschte nur, Saba wäre dabei und könnte sie begleiten. Aber wahrscheinlich würde er wieder zu viele Scherze zum Thema »Königingemahl« von sich geben. Sie schaltete den Spiegel ab, der im Ruhezustand das Bild der Erdkugel zeigte.

Der Planet war zu mehr als der Hälfte dunkel, nur noch eine weiße und blaue Sichel. Die Gürtler hatten versucht, die Erde umzubringen, aber sie drehte sich immer noch. Sie hatten versucht, die Schiffe der inneren Planeten zu verbrennen, aber die EMK-Marine war zur Stelle, hatte sich aufgerafft und flog wieder.

Andererseits hatte die Erde die Gürtler mehrere Generationen lang unter der eisernen Knute gehalten, und nun war Drummer da. Die Zeit hatte sie zu Verbündeten gemacht, weil die Menschheit nun zu den Sternen strebte.

Zumindest, bis irgendetwas dazwischenkam.

2   Bobbie

Der Flug durch die langsame Zone lag hinter ihnen, bis zur Ankunft auf Freehold würden allerdings noch einige Wochen vergehen. Die Landung in einer Atmosphäre mit einem Schiff, das so alt war wie die Rosinante, war lange nicht mehr so trivial wie früher. Das Alter zeigte sich auf unerwartete Weise. Dinge, die bisher immer funktioniert hatten, fielen auf einmal aus. Darauf musste man sich vorbereiten, so gut es ging.

Blinzelnd betrachtete Bobbie einen Wandmonitor auf dem Maschinendeck und sah zu, wie eine lange Liste von Daten vorbeizog. Am Ende folgte die Zusicherung des Schiffs, dass es mindestens noch eine Landung schaffen konnte, ohne zu verbrennen.

»Alles grün bei den atmosphärischen Bremsdüsen«, meldete Bobbie.

»Hm?«, antwortete Alex hörbar verschlafen.

»Bist du da oben wach? Das ist die Checkliste für deine verdammten Landevorbereitungen. Ich mache hier unten die ganze Arbeit. Du könntest wenigstens so tun, als würde es dich interessieren.«

»Ja, aber ich schlafe gar nicht«, antwortete der Pilot. »Ich habe nur eine eigene Liste abzuarbeiten.« Sie hörte, dass er dabei lächelte.

Bobbie schaltete den Diagnosebildschirm ab. Die Überprüfung der Bremsdüsen war der letzte Punkt ihres Arbeitspensums gewesen. Abgesehen davon, sich einen Anzug anzuziehen und nach draußen zu klettern, um die Düsen direkt zu inspizieren, konnte sie nicht mehr viel tun.

»Ich räume noch etwas auf, dann komme ich rauf«, sagte sie.

»Hm, ja.«

Bobbie verstaute das Werkzeug und wischte mit einem milden Lösungsmittel die Schmiere weg, die sie versehentlich verteilt hatte. Es roch süß und stechend wie etwas, das sie sich vielleicht damals gekocht hätte, als sie noch allein auf dem Mars gelebt hatte. Die Furcht trieb sie an, sich unentwegt für die Mission zu wappnen, obwohl die Vorbereitungen längst abgeschlossen waren. Früher hatte sie ihre Motorrüstung immer und immer wieder gewartet und gesäubert, bis sich die Tätigkeit in eine Art Meditation verwandelte. Jetzt hielt sie es genauso mit dem Schiff.

Sie war jetzt länger auf der Rosinante, als sie jemals woanders gelebt hatte. Länger als im Heim ihrer Kindheit. Länger als im Dienst der Raummarine.

Das Maschinendeck war Amos’ Reich, und der Mechaniker hielt alles penibel in Ordnung. Jedes Werkzeug war an seinem Platz, alle Flächen makellos sauber. Abgesehen vom Öl und dem Lösungsmittel konnte man hier nur noch den Ozongeruch wahrnehmen, der verriet, dass in der Nähe starke elektrische Ströme flossen. Der Fusionsreaktor, der ein Deck tiefer lief, ließ den Boden leicht vibrieren. Er war das schlagende Herz des Schiffs.

Auf einem Schott hatte Amos ein handgemaltes Schild angebracht:

SIE KÜMMERT SICH UM DICH.

KÜMMERE DU DICH UM SIE.

Bobbie klopfte auf das Schild, als sie vorbeiging und zum Leiteraufzug ging, der mitten durch das Schiff verlief. Im Augenblick flog die Rosinante mit einem sehr sanften Bremsschub von 0,2 G. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte es sich wie eine Niederlage angefühlt, wenn sie mit dem Aufzug gefahren war, statt die Leiter aus eigener Kraft hinaufzuklettern, während das Schiff zehnmal so stark beschleunigte. Seit zwei Jahren hatte Bobbie allerdings Ärger mit den Gelenken, und es war ihr nicht mehr so wichtig, sich selbst zu beweisen, dass sie die Kletterpartie bewältigen konnte.

Es schien ihr so, als sei das wahre Anzeichen des Alterns die Tatsache, dass man irgendwann damit aufhörte, sich selbst das Gegenteil beweisen zu wollen.

Die Luken, die jedes Deck sicherten, glitten auf, sobald sich der Aufzug näherte, und schlossen sich dahinter leise wieder. Die Rosinante mochte ein oder zwei Jahrzehnte veraltet sein, aber Clarissa duldete auf ihrem Schiff keine Mechanismen, die klemmten oder quietschten. Mindestens einmal in der Woche untersuchte Claire sämtliche Lebenserhaltungssysteme und Druckluken. Holden hatte es ihr erklärt, als Bobbie es ihm gegenüber einmal erwähnt hatte: Sie hat das Schiff einmal kaputt gemacht und versucht immer noch, es in Ordnung zu bringen.

Summend hielt der Aufzug auf dem Operationsdeck, und Bobbie trat hinaus. Die Luke zum Cockpit war offen. Über die Lehne der Druckliege ragte Alex’ brauner, fast kahler Kopf heraus. Die Crew verbrachte den größten Teil der Arbeitszeit auf dem Operationsdeck, und hier fühlte sich die Luft etwas anders an. Da sie so lange auf den Druckliegen ausharrten, verflog der Schweißgeruch niemals völlig, ganz egal wie angestrengt die Luftaufbereitung arbeitete. Und wie in jedem Raum, in dem James Holden viel Zeit verbrachte, hielt sich auch hier der gemütliche Geruch von abgestandenem Kaffee.

Bobbie fuhr mit dem Finger an dem Schott entlang. Unter dem Druck knisterte der Antisplitterbelag. Die einst dunkelgraue Farbe war ausgebleicht, und man konnte kaum noch erkennen, wo das Material nach einem Schaden geflickt worden war oder wo es einfach nur ungleichmäßig alterte. Es musste bald ersetzt werden. Sie konnte mit der Farbe leben, aber das Knistern bedeutete, dass der Belag seine Elastizität verlor. Er war zu spröde, um seine Aufgabe zu erfüllen.

Bobbie taten beide Schultern weh. Es wurde schwieriger, zwischen derjenigen zu unterscheiden, die vor Jahren während des Nahkampftrainings brutal ausgerenkt worden war, und der anderen, die einfach nur wehtat, weil Bobbie jahrzehntelang nicht sehr sanft mit ihrem Körper umgegangen war. Im Laufe ihres Lebens hatte sie sich in vielen Kämpfen Blessuren zugezogen, die sie kaum noch von den normalen Verschleißerscheinungen unterscheiden konnte. Wie die verfärbten Stellen auf den Schotten der Rosinante verwitterte alles, bis es zusammenpasste.

Sie stieg die kurze Leiter zum Cockpit hinauf und versuchte, die Schmerzen in den Schultern zu genießen, wie sie früher nach einem intensiven Training das Brennen in den Muskeln genossen hatte. Wie ihr einmal ein erfahrener Ausbilder anvertraut hatte, war der Schmerz der beste Freund des Kriegers. Die Schmerzen erinnerten einen daran, dass man noch nicht tot war.

»He«, sagte Alex, als sie sich hinter ihm auf dem Platz des Richtschützen niederließ. »Wie sieht unser Mädchen aus?«

»Alt, aber sie kommt klar.«

»Ich meinte das Schiff.«

Bobbie lachte und rief das taktische Display auf. In der Ferne war der Planet Freehold dargestellt. Die Mission. »Mein Bruder hat sich immer darüber beschwert, dass ich zu viel Zeit damit verbringe, nach Metaphern zu suchen.«

»Eine alternde marsianische Kriegerin, die auf einem alternden marsianischen Kriegsschiff lebt«, sagte Alex. Seiner Stimme war anzuhören, dass er lächelte. »Da muss man nicht lange nachdenken.«

»Aber nicht zu alt, um dir in den Arsch zu treten.« Bobbie zoomte auf dem taktischen Bildschirm Freehold heran. Eine gesprenkelte Murmel mit braunen Kontinenten und grünen Meeren, hier und dort ein weißer Wolkenwirbel.

»Wie lange noch?«

»In einer Woche müssten wir da sein.«

»Hast du in der letzten Zeit mal mit Jizz gesprochen? Wie geht es meinem Baby?«

»Giselle geht es gut, und sie sagt, Kit entwickelt sich prima. Er hat sich auf der Mariner Tech für planetarisches Engineering entschieden.«

»Das ist eine Wachstumsbranche«, stimmte Bobbie zu.

Sie hatte Alex als Trauzeugin gedient, als er Giselle geheiratet hatte, und sie hatte im Krankenhaus auf Ceres gewartet, als Kit dreizehn Monate später auf die Welt gekommen war. Jetzt ging Kit zur Universität, und Alex war seit mehr als einem Jahrzehnt geschieden. Er war ihr bester Freund, aber ein schrecklicher Ehemann. Nach seinem zweiten Fehlversuch hatte Bobbie ihm angeboten, sie könnte ihm auch den Arm brechen, falls er einfach nur wollte, dass ihm etwas wehtat. Das würde ihm und allen anderen viel Zeit ersparen.

Abgesehen von dem überflüssigen Drama war aus Alex’ und Giselles kurzlebiger Katastrophe Kit hervorgegangen, und das war durchaus eine Bereicherung des Universums. Der Junge hatte Alex’ lakonischen Charme und das hoheitsvolle gute Aussehen der Mutter geerbt. Jedes Mal, wenn er sie »Tante Bobbie« nannte, wollte sie ihn umarmen, bis seine Rippen knackten.

»Vergiss nicht, Jizz ›leck mich‹ zu sagen, wenn du sie anrufst.« Das Scheitern der Ehe hatte nicht ausschließlich an Giselle gelegen, aber Bobbie hatte sich während der Scheidung für Alex entschieden, und der Pakt und ihre Rolle als beste Freundin geboten es, der Exfrau die ganze Schuld in die Schuhe zu schieben. Alex sträubte sich, doch sie wusste, dass er es schätzte, wenn sie all das aussprach, was er nicht zu sagen wagte.

»Ich habe Giselle einen schönen Gruß von dir bestellt«, entgegnete Alex.

»Grüße auch Kit von Tante Bobbie, und ich will neue Fotos von ihm haben. Alles, was ich habe, ist ein Jahr alt. Ich will sehen, wie mein kleiner Mann heranwächst.«

»Du weißt aber schon, dass es daneben ist, mit einem Jungen zu flirten, den du schon seit seiner Geburt kennst?«

»Meine Liebe ist rein«, erwiderte Bobbie. Sie rief die Missionsparameter auf. Freehold zählte nur knapp dreihundert Einwohner, die alle auf der Erde geboren waren. Sie nannten sich »Versammlung souveräner Bürger«, was auch immer das bedeuten sollte. Die Ladeliste ihres Schiffs hatte allerdings jede Menge Feuerwaffen und Munition umfasst. Und während die Rosinante wochenlang Freeholds Sonne entgegenstürzte, hatten die Einheimischen reichlich Zeit, sich zu bewaffnen.

Alex begriff, worüber sie nachdachte, und sagte: »Der Kapitän wird da unten etwas Unterstützung brauchen.«

»Ja. Ich werde bald mit Amos darüber reden.«

»Nimmst du Betsy mit?«

»Wahrscheinlich ist das keine Betsy-Situation, Matrose«, antwortete Bobbie. »Betsy« war Alex’ Spitzname für die marsianische Kampfrüstung, die Bobbie im Frachtraum des Schiffs aufbewahrte. Sie hatte das Ding seit Jahren nicht mehr angezogen, sorgte aber dafür, dass es jederzeit einsatzbereit und aufgeladen war. Die Gewissheit, dass die Rüstung da war, schenkte ihr ein warmes, behagliches Gefühl. Für alle Fälle.

»Verstanden«, antwortete Alex.

»Wo steckt Amos überhaupt?«

Zwischen Alex, der locker war, und Alex, der locker tat, gab es einen subtilen Unterschied. »Das Schiff glaubt, er ist in der Krankenstation«, erklärte Alex.

Clarissa, dachte Bobbie. Verdammt auch.

Die Krankenstation der Rosinante roch nach Desinfektionsmittel und Erbrochenem.

Das Desinfektionsmittel stammte von dem kleinen Putzgerät, das in dem Raum umhersummte und eine feucht glänzende Schicht hinterließ. Der beißende Geruch von Erbrochenem kam von Clarissa Mao.

»Bobbie«, sagte sie lächelnd. Sie lag auf einer Behandlungsliege, ein Autodoc hatte sich um den Oberarm gewickelt und verrichtete surrend, summend und klickend seine Arbeit. Bei jedem Klicken schnitt Claire eine Grimasse. Vielleicht Injektionen oder sogar Schlimmeres.

»Hallo, Babs«, sagte Amos. Der breitschultrige Mechaniker saß an Claires Bett und las etwas auf dem Handterminal. Er schaute nicht auf, als Bobbie eintrat, hob aber die Hand zum Gruß.

»Wie geht es dir heute?« Bobbie verdrehte innerlich die Augen, als sie es aussprach.

»Ich kann in ein paar Minuten wieder aufstehen«, berichtete Claire. »Habe ich beim Check für die Landung etwas versäumt?«

»Nein, nein.« Bobbie schüttelte den Kopf. Sie fürchtete, Claire würde sich die Schläuche aus dem Arm reißen und sofort aufspringen, wenn sie »Ja« sagte. »Nichts dergleichen. Ich muss mir nur mal einen Augenblick den Grobian ausborgen.«

»Ach?« Erst jetzt sah Amos sie an. »Geht das klar, Peaches?«

»Was immer du brauchst.« Sie machte eine Geste, die die ganze Krankenstation einschloss. »Du weißt ja, wo du mich findest.«

»Alles klar.« Amos stand auf, und Bobbie führte ihn hinaus auf den Flur.

Zwischen den grauen Wänden und nachdem sich die Tür der Krankenstation hinter ihnen geschlossen hatte, schien Amos ein wenig kleiner zu werden. Er lehnte sich an die Wand und seufzte. »Weißt du, das ist schwer anzusehen.«

»Wie geht es ihr?«

»Sie hat gute und schlechte Tage, mehr oder weniger wie jeder andere«, erklärte Amos. »Die Schwarzmarktdrüsen, die sie sich hat einbauen lassen, speisen immer noch diesen Dreck in ihren Kreislauf ein, und wir filtern ihn wieder heraus. Aber sie zu entfernen würde ihr noch mehr schaden, also …«

Wieder zuckte Amos mit den Achseln. Er wirkte müde. Bobbie hatte nie wirklich durchschaut, wie die Beziehung zwischen dem Mechaniker der Rosinante und seiner winzigen Gefährtin aussah. Sie schliefen nicht miteinander und hatten es anscheinend auch noch nie getan. Meist redeten sie nicht einmal miteinander. Aber wenn Claire gesundheitliche Probleme bekam, wachte Amos gewöhnlich an ihrer Seite in der Krankenstation. Bobbie fragte sich, ob er das auch für sie tun würde, wenn sie erkrankte. Ob es überhaupt irgendjemand tun würde.

Der große Mechaniker wirkte in der letzten Zeit etwas schmaler. Die meisten kräftigen Männer setzten irgendwann einen Bauch an. Bei Amos entwickelte es sich in die andere Richtung. Das Körperfett, das er besessen hatte, war verschwunden, jetzt wirkten seine Arme und der Hals drahtig, und direkt unter der Haut zeichneten sich die alten Muskeln ab. Zäher als Schuhleder.

»Also«, sagte er, »was liegt an?«

»Hast du mein Briefing über Freehold gelesen?«

»Ich hab’s überflogen.«

»Dreihundert Leute, die zentrale Behörden hassen und Waffen lieben. Holden wird darauf bestehen, sie auf ihrem eigenen Boden zu treffen, weil das eben der Mist ist, den er so macht. Er braucht Unterstützung.«

»Ja«, stimmte Amos zu. »Ich behalte ihn im Auge.«

»Ich dachte, vielleicht sollte ich das übernehmen.« Bobbie nickte in die Richtung der Krankenstation. Was sie nicht sagte: Sie sieht nicht gut aus. Amos schürzte die Lippen und dachte nach.

»Ja, gut«, willigte er ein. »Die Atmosphärenlandung wird das Schiff vermutlich ordentlich durchschütteln. Danach habe ich sicher eine Menge zu tun.«

Bobbie wollte schon gehen, da fiel ihr noch etwas ein. Ohne richtig darüber nachzudenken, sagte sie: »Wie lange noch?«

»Für den Rest ihres Lebens.« Damit kehrte Amos in die Krankenstation zurück und schloss hinter sich die Luke.

Holden und Naomi frühstückten in der Messe. Der Geruch von Rührei mit Zwiebelpulver und dem, was hier als Paprika galt, wetteiferte mit dem frisch gebrühten Kaffee. Bobbie knurrte der Magen, kaum dass sie den Raum betreten hatte. Wortlos schob Holden ihr einen Teller hinüber und häufte Rührei darauf.

»Genieße es. Das waren die letzten richtigen Eier, bis wir nach Medina zurückkehren«, ermahnte Holden sie, während er sie bediente.

Naomi schluckte einen Bissen hinunter. »Was gibt es?«

»Habt ihr meine Gefahrenanalyse zu Freehold gelesen?«

»Ich hab’s überflogen«, antwortete Holden.

»Eine Kolonie der ersten Generation«, erläuterte Naomi. »Vor acht Jahren gegründet, es gibt nach wie vor lediglich eine einzige Siedlung in einer semiariden Klimazone. Landwirtschaft auf niedrigem Niveau, der größte Teil der Lebensmittel stammt aus hydroponischen Anlagen. Ein paar Ziegen und Hühner, aber auch das Vieh überlebt nur dank der Hydroponik, also ist das kein sehr effizientes Modell. In der Planetenkruste gibt es Lithium, in den Gletschern der Pole gibt es eine geradezu verrückte Menge an Uran, was hoffentlich bedeutet, dass man dort leicht Helium gewinnen kann, sofern sie jemals die Infrastruktur aufbauen, um Bergbau zu betreiben. Die Charta spricht sich für radikale persönliche Autonomie aus, was von einer Bürgermiliz durchgesetzt wird, die aus der gesamten Einwohnerschaft des Planeten besteht.«

»Wirklich?«, fragte Holden. »Der ganze Planet?«

»Also dreihundert Leute, die Waffen mögen«, bekräftigte Naomi. Sie zeigte auf Holden. »Der da wird darauf bestehen, das Schiff zu verlassen und persönlich mit ihnen zu reden.«

»Tatsächlich?«, entgegnete Bobbie. Sie schaufelte sich eine Portion Rührei in den Mund. Es war so gut, wie es ihr die Nase versprochen hatte.

»Das muss man von Angesicht zu Angesicht regeln«, erklärte Holden. »Sonst hätten wir ihnen die Nachricht auch von Medina aus schicken und uns die Reise sparen können.«

»Von Diplomatie verstehst du etwas«, räumte Bobbie ein. »Ich beschäftige mich ausschließlich mit taktischen Fragen. Und wenn wir auf Freehold mit den dort herrschenden Kräften sprechen, müssen wir ihnen verdeutlichen, dass es keinen Grund gibt, einfach loszuballern, und das Beste hoffen.«

Holden schob den halb geleerten Teller weg und lehnte sich mit gerunzelter Stirn zurück. »Das musst du mir erklären.«

»Du solltest wirklich meine Lageeinschätzung lesen.«

Naomi schnappte sich Holdens Pott und ging zur Kaffeemaschine. »Ich glaube, ich weiß, worauf sie hinauswill. Bobbie, möchtest du Kaffee?«

»Ja, gerne«, antwortete Bobbie und rief die taktische Einschätzung auf dem Handterminal auf. »Diese Leute haben die Erde verlassen, um eine Kolonie zu gründen, die auf individueller Souveränität beruht. Sie glauben an das unveräußerliche Recht jedes Bürgers, sich und sein Eigentum wenn nötig mit tödlicher Gewalt zu beschützen. Und sie haben sich zu diesem Zweck gut bewaffnet.«

»So weit habe ich das begriffen«, sagte Holden.

»Außerdem sind sie noch Jahre davon entfernt, sich selbst versorgen zu können. Sie verlassen sich auf die Hydroponik, weil sie Schwierigkeiten haben, genügend Mutterboden für die Gewächshäuser bereitzustellen. Es hat mit dem Mineralgehalt zu tun. Das Geld, das sie dank der ersten Bergbauversuche eingenommen haben, fließt nach Auberon, wo sie landwirtschaftliche Waren einkaufen, um den Mangel auszugleichen. Sie sind nicht damit einverstanden, dass die Transportgewerkschaft Zölle auf lebensnotwendige Güter erhebt. Deshalb fliegen wir hin.«

Naomi gab ihr einen dampfenden Pott Kaffee mit viel Sahne, wie Bobbie es mochte. Holden nickte auf eine Weise, die Ungemach verhieß. Er hatte begriffen, was sie sagen wollte.

»Wie lange dauert es noch, bis sie dort etwas anbauen können?« Naomi beugte sich vor, um den Bericht zu lesen.

»Das weiß ich nicht, aber das ist hier nicht das Thema …«

»Das Thema ist«, unterbrach Holden, »dass wir ein Todesurteil überbringen. Trifft das nicht zu? Wir werden landen und ihnen sagen, dass sie vom Handel mit anderen Kolonien abgeschnitten sind. Und sie wissen, dass ihnen in ein paar Monaten die Nahrungsmittel ausgehen werden, weil sie sich in den nächsten Jahren nicht selbst versorgen können. Die Gewerkschaft bringt sie in eine ausweglose Situation. Und mit der Gewerkschaft meine ich uns. Wir tun das.«

»Ja«, stimmte Bobbie zu. Sie war froh, dass er es verstanden hatte. »Diese Leute glauben an das unveräußerliche Recht, tödliche Gewalt anzuwenden, um das eigene Leben zu schützen. Wenn wir landen und ihnen sagen, dass sie abgeschnitten sind, gibt es keinen Grund, warum sie nicht versuchen sollten, das Schiff zu übernehmen.«

»Ich verstehe die Strafe nicht«, meinte Naomi. »Sie kommt mir zu hart vor.«

»Vermutlich hat Drummer nur auf so eine Gelegenheit gewartet«, erklärte Holden. Besonders glücklich schien er nicht. »Die erste Kolonie, die wirklich testet, wie weit die Gewerkschaft geht, um das Monopol auf die Benutzung der Tore durchzusetzen. Und sie will dieses erste Aufbegehren so hart bestrafen, dass es nie wieder jemand versucht. Sie bringt jetzt eine Kolonie um, damit sie später nicht tausenddreihundert umbringen muss.«

Der Gedanke hing in der Luft wie der Qualm über einem Pokertisch. Naomis Miene spiegelte Bobbies Sorgen. Holden blickte in die Ferne wie immer, wenn er angestrengt über etwas nachdachte, das sie in Gefahr bringen konnte. Eine dreijährige Sperre war hart. Eine dreijährige Sperre, wenn man nach einem Jahr zu verhungern begann, war noch schlimmer. Zumindest ein gutes Motiv, um gewalttätig zu werden. Vielleicht noch mehr.