Babylons Asche - James Corey - E-Book

Babylons Asche E-Book

James Corey

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Beschreibung

Fluch statt Segen

Die interstellaren Portale, gefeiert als Tore in eine neue Zukunft der Menschheit, erweisen sich als tödliche Falle. Kaum haben die Erde, der Mars und die anderen Planeten den Angriff des Alien-Protomoleküls einigermaßen überwunden, tritt es erneut in Aktion und lässt ein Schiff nach dem anderen im Inneren der Portale verschwinden. James Holden und seine Crew stehen kurz vor der Lösung des Rätsels, doch da zeigt sich die wahre Absicht des Gegners – und die Menschheit findet sich plötzlich als Spielball in einem Krieg zwischen galaktischen Mächten wieder …

  • THE EXPANSE – Die größte Space Opera unserer Zeit
  • Der TV-Streaming-Blockbuster jetzt auf Amazon Prime – Staffel 4 ist bereits in Arbeit
  • »James Coreys Saga ist das »Game of Thrones« der Science-Fiction!« (NPR Books)

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Seitenzahl: 868

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Das Buch

Kriege beginnen mit Wut. Nachdem die Menschheit das Sonnensystem besiedelt und mit der Ausbeutung der Ressourcen seiner Planeten, Monde und Asteroiden begonnen hat, fanden sich die Menschen im äußeren Asteroidengürtel, am falschen Ende der Nahrungskette. Sie, die sich selbst die Gürtler nennen, wurden als billige Arbeiter ausgebeutet und in den Machtspielen zwischen der Erde und dem Mars aufgerieben. Jetzt treibt sie eine unbändige Wut. Seitdem das Protomolekül erschienen ist und die Inneren Planeten in einen Krieg gestürzt hat, haben sie das Chaos ausgenutzt, und einige ihrer Terroranschläge haben die Erde beinahe vernichtet. Tausende Schiffe versuchen panisch, durch ein neu entstandenes Portal aus dem Sonnensystem zu fliehen – und geraten in die Fänge der Terroristen. Doch dieser Krieg muss enden, und wieder einmal ist es an James Holden und der Crew seiner Rosinante, noch größeres Unglück zu verhindern …

THE EXPANSE

James Coreys internationale Bestsellerserie sprengt alle Maßstäbe der Science-Fiction. Die TV-Verfilmung wird bereits als beste Science-Fiction-Serie aller Zeiten gefeiert.

Erster Roman: Leviathan erwacht

Zweiter Roman: Calibans Krieg

Dritter Roman: Abaddons Tor

Vierter Roman:Cibola brennt

Fünfter Roman: Nemesis-Spiele

Sechster Roman: Babylons Asche

Siebter Roman: Persepolis erhebt sich

Achter Roman: Tiamats Zorn

Neunter Roman: Leviathan fällt

Die Erzählungen: Das Protomolekül

Die Autoren

Hinter dem Pseudonym James Corey verbergen sich die beiden Autoren Daniel James Abraham und Ty Corey Franck. Beide schreiben auch unter ihrem eigenen Namen Romane und leben in New Mexico. Mit ihrer erfolgreichen gemeinsamen Science-Fiction-Serie THE EXPANSE haben sie sich weltweit in die Herzen von Lesern und Kritikern gleichermaßen geschrieben.

diezukunft.de

James Corey

THE EXPANSE

BABYLONS ASCHE

Roman

Deutsche Erstausgabe

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

BABYLON’S ASHES

Deutsche Übersetzung von Jürgen Langowski

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 07/2017

Redaktion: Ralf Dürr

Copyright © 2017 by Daniel Abraham and Ty Franck

Das Zitat aus »Krieg und Frieden« von Lew Tolstoi wurde der Übersetzung von Barbara Conrad-Lütt, erschienen im Carl Hanser Verlag, entnommen.

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe byWilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Dirk Schulz

Coverillustration: Daniel Dociu

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-16496-6V006

www.diezukunft.de

Für Matt, Hallie und Kenn,

die alles möglich machen und nie gelobt werden

PROLOG   Namono

Vor drei Monaten waren die Felsen gefallen, und erst jetzt konnte Namono wieder ein paar blaue Stellen am Himmel entdecken. Nach dem Einschlag bei Laghouat – es war der erste von drei Angriffen gewesen, die den Planeten zerstört hatten – war so viel Saharasand in die Luft geflogen, dass man den Mond und die Sterne wochenlang nicht mehr sehen konnte. Selbst die rote Scheibe der Sonne hatte Mühe, die schmutzigen Wolken zu durchdringen. Im Großraum Abuja hatte es Asche und Sand geregnet, und die Verwehungen türmten sich auf, bis die Stadt die gleiche fahlgraue Farbe annahm wie der Himmel. Bei der Arbeit in einem Freiwilligenteam, das den Schutt wegräumte und die Verletzten versorgte, begriff sie, dass der Krampfhusten und der schwarze Schleim, den sie ausspuckte, davon herrührten, dass sie den Tod eingeatmet hatte.

Zwischen dem Krater, wo Laghouat gewesen war, und ihrem Wohnort Abuja lagen dreieinhalbtausend Kilometer. Selbst hier hatte die Druckwelle Fensterscheiben zerstört und Gebäude dem Erdboden gleichgemacht. In den Newsfeeds hieß es, in der Stadt seien zweihundert Menschen gestorben und viertausend verletzt worden. Die Notaufnahmen waren überfüllt. Wer nicht in unmittelbarer Lebensgefahr schwebte, wurde aufgefordert, zu Hause zu bleiben.

Die Stromversorgung fiel sehr schnell aus. Es gab kein Sonnenlicht mehr, das die Kollektoren speisen konnte, und die staubige Luft beschädigte die Windräder schneller, als die Arbeiter sie reinigen konnten. Als endlich ein Fusionsreaktor aus den Fabriken in Kinshasa nach Norden geschleppt wurde, hatte die Stadt schon fünfzehn Tage in Dunkelheit verbracht. Da die Hydrokulturen, die Krankenhäuser und Regierungsgebäude Vorrang hatten, gab es an vielen Tagen immer noch Abschaltungen. Die Handterminals fanden, wenn überhaupt, nur einen unzuverlässigen Zugang ins Netzwerk. Manchmal waren die Einwohner mehrere Tage in Folge von der Welt abgeschnitten. Es war nicht anders zu erwarten gewesen, dachte sie bei sich, als hätte man irgendetwas davon vorhersehen können.

Nach drei Monaten riss endlich der ewig bedeckte Himmel auf. Während die rote Sonne nach Westen zog, traten im Osten die Lichter der Stadt und der Mond hervor wie Edelsteine auf blauem Samt. Gewiss, es war schmutzig, unrein und unvollkommen, aber es war blau. Nono freute sich darüber, während sie umherlief.

Nach historischen Maßstäben war der internationale Bezirk erst in jüngster Zeit entstanden, nur wenige Gebäude waren älter als hundert Jahre. Die Gegend war gekennzeichnet von der Vorliebe des vergangenen Jahrhunderts für breite Durchgangsstraßen und schmale, kurvenreiche Labyrinthe kleiner Gassen, die ein beinahe organisch anmutendes Geflecht bildeten. Über alledem erhob sich der Zuma Rock als ewiger Wegweiser. Dies war Nonos Heimatstadt. Der Ort, in dem sie aufgewachsen war, und die Stadt, in die sie ihre kleine Familie nach ihren Abenteuern gebracht hatte. Das Heim, in dem sie ihren bescheidenen Lebensabend genießen wollte.

Sie hustete und lachte verbittert, dann hustete sie nur noch.

Die Notversorgung bestand aus einem Lieferwagen, der am Rand eines Stadtparks stand. Auf die Seite war ein dreiblättriges Kleeblatt gemalt, das Symbol der hydroponischen Farm. Nicht die Vereinten Nationen, nicht einmal eine örtliche Verwaltung sprang hier ein. Die öffentliche Verwaltung existierte im Grunde nicht mehr. Nono hätte dankbar sein sollen. Zu manchen Orten kamen nicht einmal die Lieferwagen.

Staub und Asche hatten sich über die sanft geneigten Hänge gelegt, wo früher Gras gewachsen war. Hier und dort verrieten gezackte Fährten und Furchen, die wie riesige Schlangenlinien über die Hänge liefen, wo die Kinder trotzdem zu spielen versucht hatten. Jetzt rutschte dort niemand mehr herunter. Nur die Warteschlange war noch da. Nono stellte sich an. Die anderen, die mit ihr warteten, hatten den gleichen leeren Blick wie sie selbst. Schock, Erschöpfung und Hunger. Und Durst. Im internationalen Bezirk gab es große norwegische und vietnamesische Enklaven, aber ganz egal, welche Haut- oder Haarfarbe man hatte, die Asche und das Elend schweißten sie alle zu einem einzigen Stamm zusammen.

Die Seitentür des Lieferwagens ging auf, und die Warteschlange regte sich erwartungsvoll. Rationen für eine Woche, so klein sie auch sein mochten. Nono hatte Gewissensbisse, als sie langsam vorrückte. Sie war ihr ganzes Leben ohne Stütze ausgekommen. Immer war sie diejenige gewesen, die für andere gesorgt hatte, nie hatte sie Almosen benötigt. Jetzt hatte sich das geändert.

Endlich war sie an der Reihe. Den Mann, der die Rationen verteilte, hatte sie schon einmal gesehen. Er hatte ein breites Gesicht, braun und mit schwarzen Sommersprossen gesprenkelt. Er fragte nach ihrer Adresse, die sie ihm nannte. Nach kurzem Hantieren überreichte er ihr mit geübten, fast automatenhaften Bewegungen ein kleines Päckchen, das sie entgegennahm. Es kam ihr schrecklich leicht vor. Erst als sie nicht von der Stelle wich, sah er ihr in die Augen.

»Ich habe eine Frau und eine Tochter«, erklärte Namono.

Seine Wangen röteten sich, als hätte sie ihm eine Ohrfeige versetzt. »Wenn die beiden den Hafer schneller wachsen lassen oder Reis herbeizaubern können, dann schicken Sie sie unbedingt zu uns. Wenn nicht, dann halten Sie bitte nicht länger den Verkehr auf.«

Tränen schossen ihr in die Augen. Es brannte.

»Ein Päckchen pro Haushalt«, knurrte der Mann. »Der Nächste.«

»Aber …«

»Gehen Sie!«, rief er und zeigte mit dem Finger auf sie. »Hinter Ihnen warten noch andere Leute.«

Als sie wegging, hörte sie, wie er hinter ihr einen gemeinen Fluch ausstieß. Ihre Tränen waren nicht zähflüssig. Kaum wert, weggewischt zu werden. Nur dass sie so sehr brannten.

Sie klemmte sich das Proviantpäckchen unter den Arm, und sobald sie wieder gut sehen konnte, senkte sie den Kopf und ging nach Hause. Sie durfte nicht trödeln. Andere waren viel schlechter dran oder weniger gesetzestreu als sie selbst. An den Ecken und in Eingängen warteten sie auf eine Gelegenheit, den Unvorsichtigen Wasserfilter oder Essen zu stehlen. Wenn sie nicht zielstrebig weiterlief, konnte man sie für ein leichtes Opfer halten. Ein paar Blocks weit vergnügte sich ihr ausgehungerter und erschöpfter Geist mit Fantasien, wie sie gegen Diebe kämpfte. Als ob die Katharsis der Gewalt ihr irgendwie den Frieden bringen konnte.

Bevor sie gegangen war, hatte sie Anna versprochen, auf dem Rückweg beim alten Gino vorbeizuschauen und dafür zu sorgen, dass der Greis ebenfalls zum Lieferwagen ging. An der Abzweigung war sie jedoch geradeaus weitergelaufen. Sie fühlte sich unendlich erschöpft, und die Aussicht, den alten Mann in Bewegung zu versetzen und sich mit ihm zusammen noch einmal anzustellen, war zu viel. Sie würde sagen, dass sie es vergessen hatte, was beinahe der Wahrheit entsprach.

An der Ecke, wo die Sackgasse, in der sie wohnte, von der breiten Straße abzweigte, veränderten sich die Gewaltfantasien. Die Männer, die sie im Geiste zusammenschlug, bis sie sich entschuldigten und um Verzeihung baten, waren keine Diebe mehr, sondern es war der sommersprossige Mann aus dem Hilfswagen. Wenn die beiden den Hafer schneller wachsen lassen können. Was sollte das denn heißen? Hatte er im Scherz gemeint, er könnte ihre Körper als Dünger benutzen? Wie konnte er es wagen, ihre Familie zu bedrohen? Was glaubte er eigentlich, wer er war?

Nein, sagte eine Stimme in ihrem Kopf. Es war so laut, als hätte Anna die Worte direkt vor ihr ausgesprochen. Nein, er war wütend, weil er noch viel mehr Menschen helfen wollte und es nicht konnte. Es ist schlimm, wenn man weiß, dass man nicht genug geben kann. Mehr war es nicht. Verzeih ihm.

Namono wusste, dass sie den Rat beherzigen sollte, konnte sich aber nicht überwinden.

Ihr Haus war klein und schief, in den sechs Räumen gab es keine rechten Winkel. Man fühlte sich dort wie in einer natürlichen Umgebung, wie in einer Höhle oder Grotte, und nicht wie in einer von Menschen erbauten Behausung. Sie hielt inne, ehe sie die Tür öffnete, und ordnete ihre Gedanken. Die untergehende Sonne war hinter dem Zuma Rock verschwunden, in Dunst und Rauch zeichneten sich die letzten breiten Strahlen ab. Es sah aus, als hätte der Felsen einen Heiligenschein bekommen. Am dunkelnden Himmel stand ein heller Punkt. Venus. Vielleicht konnte man später am Abend sogar die Sterne sehen. Sie klammerte sich an den Gedanken wie an ein Rettungsboot auf dem Meer. Vielleicht konnte sie später die Sterne sehen.

Das Haus war sauber. Die Teppiche waren ausgeklopft, der Steinboden gewischt. Dank der kleinen Duftkerzen, die ihnen ein Gemeindemitglied geschenkt hatte, roch es nach Lilien. Namono wischte die letzten Tränen weg. Sie konnte so tun, als seien die Augen von der schlechten Luft draußen gerötet. Auch wenn es ihr niemand glauben würde. Sie konnte wenigstens so tun.

»Hallo?«, rief sie. »Ist jemand zu Hause?«

Im hinteren Schlafzimmer quietschte Nami und rannte mit patschenden Füßen über die Fliesen zur Tür. Das kleine Mädchen war gar nicht mehr so klein, inzwischen reichte es Nono fast bis zur Schulter, bei Anna sogar noch höher. Der nur noch ansatzweise erkennbare Babyspeck wich allmählich der ungelenken Schönheit der Jugend. Die Haut war etwas heller als Nonos Haut, die Haare waren voll und widerspenstig, aber das Mädchen hatte ein strahlendes russisches Lächeln.

»Du bist wieder da!«

»Aber sicher bin ich wieder da«, antwortete Nono.

»Was haben wir bekommen?«

Namono zückte das weiße Hilfspaket und drückte es ihrer Tochter in die Hand. Mit einem verschwörerischen Lächeln beugte sie sich vor. »Sieh doch nach, und dann sagst du es mir.«

Nami grinste zurück und hüpfte in die Küche, als wären die Wasseraufbereiter und der schnell wachsende Hafer ein kostbares Geschenk. Die Begeisterung des Mädchens war unermesslich und zum Teil aufrichtig. Der andere Teil beruhte darauf, dass sie ihren Müttern unbedingt zeigen wollte, wie gut es ihr ging und dass es keinen Anlass zur Sorge gab. Ihre Kraft – und das galt für sie alle – bezogen sie weitgehend daraus, dass sie einander zu beschützen versuchten. Nami wusste nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war.

Anna hatte es sich im Schlafzimmer bequem gemacht, neben ihr lag ein dickes Buch von Tolstoi. Der Rücken war vom vielen Lesen durchgebogen. Krieg und Frieden. Ihre Haut wirkte blass und krank. Nono setzte sich vorsichtig neben sie und legte die Hand kurz über dem zerschmetterten Knie auf den Oberschenkel ihrer Frau. Die Haut war nicht mehr heiß und zum Zerreißen gespannt. Das mussten doch gute Zeichen sein.

»Der Himmel war blau«, berichtete Nono. »Vielleicht sieht man heute Abend sogar die Sterne.«

Anna schenkte ihr das russische Lächeln, das sie über ihre Gene an Nami weitergegeben hatte. »Das ist gut. Eine Verbesserung.«

»Gott weiß, dass es auch Zeit wurde.« Es gefiel ihr nicht, dass ihre Antwort so entmutigt klang. Sie versuchte, der Bemerkung die Schwere zu nehmen, indem sie Anna an der Hand fasste. »Du siehst auch besser aus.«

»Ich hatte heute kein Fieber«, erklärte Anna.

»Überhaupt nicht?«

»Nur ein kleines bisschen.«

»Waren viele Gäste da?« Sie bemühte sich, möglichst unbefangen zu sprechen. Nach Annas Verletzung hatten ihre Gemeindemitglieder viel Aufhebens gemacht, sie hatten Geschenke gebracht und Hilfe angeboten, sodass Anna kaum noch zur Ruhe kam. Schließlich hatte Namono eingegriffen und die Leute weggeschickt. Anna hatte kaum Einwände erhoben, zumal dies ihre Schäflein auch daran hinderte, Proviant wegzugeben, ohne den sie nicht überleben konnten.

»Amiri ist vorbeigekommen«, berichtete Anna.

»Oh, tatsächlich? Was wollte mein Cousin?«

»Morgen veranstalten wir einen Gebetskreis. Es sind nur ein Dutzend Leute. Nami hat geholfen, das vordere Zimmer zu putzen. Ich hätte dich vorher fragen müssen, aber …«

Anna nickte in die Richtung ihres verformten, geschwollenen Beins, als wäre die Unfähigkeit, auf der Kanzel zu stehen, das Schlimmste, was ihr überhaupt zugestoßen war. Vielleicht traf das sogar zu.

»Wenn du dich stark genug fühlst«, antwortete Namono.

»Es tut mir leid.«

»Ich verzeihe dir. Wie immer.«

»Du bist so gut zu mir, Nono.« Leise, damit Nami es nicht hören konnte, fügte sie hinzu: »Während du unterwegs warst, gab es schon wieder einen Alarm.«

Namonos Herz wurde eiskalt. »Wo wird der Einschlag erwartet?«

»Es gibt keinen, sie haben den Brocken abgefangen, aber …«

Das Schweigen sagte alles. Schon wieder ein Angriff. Noch ein Felsbrocken, der in die Schwerkraftsenke auf die zerbrechlichen Überreste der Erde geschleudert worden war.

»Ich habe es Nami nicht gesagt«, fuhr Anna fort, als wäre auch dies eine Sünde, für die sie um Vergebung bitten musste.

»Schon gut«, antwortete Namono. »Ich werde das tun, wenn es nötig ist.«

»Wie geht es Gino?«

Das habe ich vergessen, wollte Namono behaupten, doch sie brachte es nicht über sich, die Lüge auszusprechen. Vor sich selbst konnte sie es vielleicht tun, aber Annas klarer Blick verbot es ihr. »Ich gehe gleich hin.«

»Es ist wichtig«, sagte Anna.

»Ich weiß. Ich bin nur so müde …«

»Gerade deshalb ist es so wichtig«, beharrte Anna. »Wenn die Krise kommt, halten wir instinktiv zusammen. Im ersten Augenblick ist das leicht. Aber wenn es sich zu lange hinzieht, müssen wir uns anstrengen und jedem deutlich zeigen, dass wir alle an demselben Strang ziehen sollten.«

Es sei denn, noch ein Felsbrocken kam geflogen, und die Raummarine fing ihn nicht rechtzeitig ab. Es sei denn, die Hydroponik brach unter der Belastung zusammen, und sie mussten alle hungern. Es sei denn, die Wasseraufbereiter versagten. Es sei denn, tausend andere Dinge geschahen, die ihnen, jedes für sich, den Tod bringen konnten.

Aber selbst das wäre für Anna nicht der endgültige Untergang. Nicht, solange sie gut waren und freundlich miteinander umgingen. Wenn sie sich sanft ins Grab geleiteten, hätte Anna immer noch den Eindruck, sie würde ihrer Berufung gerecht. Vielleicht stimmte das sogar.

»Natürlich«, antwortete Namono. »Ich wollte nur erst die Vorräte nach Hause bringen.«

Gleich darauf stürmte Nami herein, in jeder Hand hatte sie einen Wasseraufbereiter. »Seht her! Wieder eine wundervolle Woche, in der wir gereinigte Pisse und dreckiges Regenwasser trinken dürfen!«, erklärte sie grinsend. Nicht zum ersten Mal fiel Namono auf, dass ihre Tochter die perfekte Quintessenz der beiden Mütter war.

Außerdem enthielt das Päckchen Brocken aus gepresstem Hafermehl, die zubereitet werden konnten, wie sie waren, und etwas, das auf Chinesisch und Hindi behauptete, es handele sich um Hähnchen à la Stroganoff. Dazu gab es eine Handvoll Pillen – Vitamine für sie alle. Schmerzmittel für Anna. Das war immerhin etwas.

Namono setzte sich zu ihrer Frau und hielt ihre Hand, bis Anna die Augen zufielen und die Miene weicher wurde, je tiefer sie einschlief. Durch das Fenster fiel das letzte rot glühende Zwielicht herein und verblasste allmählich zu Grau. Anna entspannte sich ein wenig, die Schultern wurden etwas lockerer, und die tiefen Falten auf der Stirn glätteten sich. Anna beklagte sich nicht, doch die schmerzhafte Verletzung und die Belastung, weil sie auf einmal verkrüppelt war, verstärkten die Angst, die jeder ohnehin schon empfand. Es war schön zu sehen, dass alles von ihr abfiel, und sei es nur für einen Augenblick. Anna war eine gut aussehende Frau, doch wenn sie schlief, war sie schön.

Nono wartete, bis ihre Frau tief und gleichmäßig atmete, ehe sie aufstand. Sie war fast schon an der Tür, als Anna mit schlaftrunkener Stimme noch etwas sagte.

»Vergiss Gino nicht.«

»Ich gehe jetzt hin«, versprach Nono leise. Gleich darauf war Annas Atem schon wieder tief und ruhig.

»Darf ich mitkommen?«, fragte Nami, als Nono hinausgehen wollte. »Die Terminals sind schon wieder tot, und hier habe ich Langeweile.«

Nono dachte: Draußen ist es zu gefährlich, oder Deine Mutter braucht dich vielleicht. Doch die Augen ihrer Tochter strahlten viel zu hoffnungsvoll. »Ja, aber zieh die Schuhe an.«

Der Weg zu Gino war wie ein Tanz im Schatten. Genug Sonnenlicht hatte die Solarzellen der Notbeleuchtung getroffen, sodass in der Hälfte der Häuser, an denen sie vorbeikamen, ein wenig Licht brannte. Kaum heller als Kerzen, aber immer noch mehr als in der ganzen letzten Zeit. Die Stadt lag überwiegend im Dunklen. Keine Straßenlaternen, keine strahlenden Wolkenkratzer, nur ein paar helle Punkte auf der gekrümmten Arkologie im Süden.

Auf einmal erinnerte Namono sich, dass sie auf dem ersten Flug nach Luna jünger gewesen war als ihre Tochter heute. Diese unzähligen strahlenden Sterne und die leuchtende, wundervolle Milchstraße. Obwohl immer noch Staubwolken über ihnen hingen, waren mehr Sterne zu sehen als früher, weil damals der Lichtsmog der Städte alles überdeckt hatte. Der Mond stand als silberne Sichel am Himmel. Sie fasste ihre Tochter bei der Hand.

Die Finger des Mädchens kamen ihr kräftig vor, viel stärker als früher. Das Mädchen wuchs heran, es war kein kleines Baby mehr. Sie hatten so viele Pläne geschmiedet und sich vorgestellt, wie die Kleine auf die Universität ging und sie auf Reisen begleitete. All das war jetzt verloren. Die Welt, in der sie ihr Kind hatten großziehen wollen, war untergegangen. Sie empfand Schuldgefühle, wenn sie daran dachte, als hätte sie irgendetwas tun können, um all dies zu verhindern. Als sei es irgendwie ihre eigene Schuld.

In der zunehmenden Dunkelheit waren Stimmen zu hören, aber es waren nicht so viele wie früher. Da hatte es in diesem Viertel ein reges Nachtleben gegeben. Straßenkünstler und Pubs, aus denen die harte, knatternde Musik, die gerade in Mode war, auf die Straße zu fliegen schien, als hätte jemand mit Ziegelsteinen geworfen. Jetzt schliefen die Leute, sobald es dunkel wurde, und standen im ersten Morgengrauen auf. Nono roch das Essen, das jemand kochte. Seltsam, dass etwas so Einfaches wie gekochter Hafer ein Gefühl von Behaglichkeit vermitteln konnte. Hoffentlich war der alte Gino zum Wagen gegangen. Vielleicht hatte sich auch jemand aus Annas Gemeinde darum gekümmert. Sonst würde Anna darauf bestehen, ihm einen Teil ihrer Vorräte zu geben, und Namono würde es zulassen.

So weit war es noch nicht. Es war sinnlos, sich schon vorher über mögliche Schwierigkeiten Gedanken zu machen. Es gab auch so schon Probleme genug. Als sie die Ecke erreichten, wo sie zum alten Gino abbiegen mussten, war das Sonnenlicht völlig verschwunden. Ein noch dunklerer Fleck am Horizont, der sich jenseits der Stadt erhob, war der einzige Hinweis darauf, dass der Zuma Rock noch existierte. Es war, als reckte das Land eine trotzige Faust gen Himmel.

»Oh«, sagte Nami. Es war mehr ein erstauntes Schnaufen als ein Ruf. »Hast du das gesehen?«

»Was denn?«, fragte Namono.

»Die Sternschnuppe. Schau nur, da ist noch eine!«

Ja, im Feld der flimmernden Sterne war einen Moment lang ein Lichtstreifen zu erkennen. Gleich darauf noch einer. Als sie Hand in Hand stehen blieben, folgten noch ein halbes Dutzend weitere. Sie musste sich beherrschen, um nicht umzukehren und ihre Tochter in einen schützenden Eingang zu ziehen. Es hatte einen Alarm gegeben, aber die Überreste der UN-Raummarine hatten den Angriff abgefangen. Diese feurigen Streifen in den oberen Atmosphäreschichten stammten vielleicht nicht einmal von den Trümmern. Oder vielleicht auch doch.

Wie auch immer, früher waren Sternschnuppen etwas Schönes gewesen. Etwas Unschuldiges. So würde es nie wieder werden. Jedenfalls nicht für sie oder irgendeinen anderen Menschen auf der Erde. Jeder helle Streifen war das Flüstern des Todes, das Zischen eines Geschosses. Eine unmissverständliche Erinnerung: Das alles kann jederzeit enden, und du kannst es nicht verhindern.

Wieder ein Streifen, hell wie eine Fackel, der lautlos zu einer Feuerkugel aufblühte, die so groß war wie ihr Daumennagel.

»Das war aber eine große Sternschnuppe«, sagte Nami.

Nein, dachte Namono. Nein, das war es nicht.

1   Pa

»Sie haben nicht das Recht, so etwas zu tun«, rief der Besitzer der Hornblower nicht zum ersten Mal. »Wir haben uns alles, was wir besitzen, erarbeitet. Es gehört uns.«

»Das haben wir doch schon geklärt, Sir«, erwiderte Michio Pa, die Kommandantin der Connaught. »Ihr Schiff und seine Fracht werden von der Freien Raummarine beschlagnahmt.«

»Wegen dieser idiotischen Hilfslieferungen? Wenn die Gürtler Nachschub brauchen, dann sollen sie ihn sich kaufen. Was mir gehört, gehört mir, und fertig.«

»Es wird gebraucht. Hätten Sie sich dem Befehl nicht widersetzt …«

»Sie haben auf uns geschossen! Sie haben unsere Antriebsdüse beschädigt!«

»Sie haben versucht, uns auszuweichen. Ihre Passagiere und die Besatzung …«

»Freie Raummarine, ihr könnt mich mal! Ihr seid Diebe! Ihr seid Piraten!«

Links neben ihr grunzte Evans – ihr XO und der neueste Zuwachs ihrer Familie –, als hätte ihn jemand geschlagen. Michio sah ihn an, seine blauen Augen erwiderten ihren Blick. Dann grinste er: weiße Zähne und ein viel zu hübsches Gesicht. Er sah gut aus, und er wusste es. Michio stellte das Mikrofon stumm, um den Strom von Beschimpfungen von der Hornblower vorerst unkommentiert zu lassen, und nickte ihm zu. Was ist los?

Evans deutete mit dem Daumen zur Konsole. »Er ist so wütend«, sagte er. »Er wird noch die Gefühle eines armen Coyos verletzen, wenn er so weitermacht.«

»Bleib ernst«, ermahnte Michio ihn lächelnd.

»Bin ich doch. Muy sensible, yo.«

»Sensibel? Du?«

»Tief in meinem Herzen.« Er legte die Hand auf den wohlgeformten Oberkörper. »Da drin bin ich ein kleiner Junge.«

Der Besitzer der Hornblower hatte sich in Rage geredet. Pa sei eine Diebin und eine Hure, sie kümmerte sich nicht um Kinder, die starben, weil sie alles an sich raffte. Wäre er ihr Vater, dann würde er sie töten, statt der Familie so eine Schande anzutun. Evans kicherte.

Wider Willen musste auch Michio lachen. »Weißt du, dass dein Akzent stärker wird, wenn du flirtest?«

»Ja«, bestätigte Evans. »Ich bin nichts weiter als ein komplexes Gewirr von Zuneigung und Lasterhaftigkeit. Aber immerhin habe ich dich von ihm abgelenkt. Du standest kurz davor, die Geduld zu verlieren.«

»Das kann immer noch passieren.« Sie schaltete das Mikrofon wieder ein. »Sir. Sir! Können wir uns wenigstens darauf einigen, dass ich eine Piratin bin, die Ihnen anbietet, Sie auf dem Flug nach Callisto in die Kabine zu sperren, statt Sie gleich hier in den Weltraum zu werfen? Ginge das in Ordnung?«

Im Funkkanal herrschte betroffenes Schweigen, dann folgte ein fast unverständlicher Wutausbruch, in dem Satzfetzen wie dein verdammtes Gürtlerblut trinken und dich töten, wenn du es versuchst vorkamen. Michio hob drei Finger. Auf der anderen Seite der Brücke winkte Oksana Busch, die den Befehl verstanden hatte, und aktivierte das Waffenpult.

Die Connaught war kein Gürtlerschiff, jedenfalls nicht ursprünglich. Die Raummarine der Marsrepublik hatte sie gebaut, und sie besaß ein weites Spektrum an militärischen und technischen Expertensystemen. Die Crew flog seit fast einem Jahr mit dem Schiff, nachdem sie zuerst insgeheim geübt hatte. Als der Tag gekommen war, hatte Michio Pa die Einheit in den Einsatz geführt. Jetzt sah sie auf ihrem Monitor zu, wie die Connaught in dem treibenden Frachtschiff sechs Stellen identifizierte, wo ein Beschuss mit Nahkampfkanonen die Hülle aufreißen würde. Die Ziellaser erwachten und erfassten die Hornblower. Michio wartete. Evans’ Lächeln war nicht mehr ganz so selbstsicher wie gerade. Es gefiel ihm nicht, Zivilisten abzuschlachten. Um ehrlich zu sein, gefiel es auch Michio nicht, aber die Hornblower durfte die Reise durch die Tore zu dem fremden Planeten, den sie besiedeln wollte, nicht fortsetzen. Die Verhandlungen drehten sich nur noch darum, unter welchen Bedingungen die Kapitulation stattfinden würde.

»Willst du schießen, Boss?«, fragte Oksana.

»Noch nicht«, antwortete Michio. »Achte auf den Antrieb. Wenn sie mit hohem Schub fliehen wollen, kannst du feuern.«

»Wenn sie mit diesem kaputten Antrieb beschleunigen wollen, können wir uns die Munition sparen«, meinte Oksana verächtlich.

»Es gibt Menschen, die auf diese Lieferung zählen.«

»Soll mir recht sein«, erwiderte Oksana. Ein paar Sekunden später fügte sie hinzu: »Sie sind immer noch kalt.«

Es knackte und knisterte im Funk. Auf dem anderen Schiff schrie jemand, meinte aber nicht sie. Dann war eine andere Stimme zu hören, dann mehrere weitere, die sich gegenseitig zu überbrüllen versuchten. Schüsse fielen, blechern und ungefährlich drang der Lärm aus dem Funkgerät.

Dann meldete sich eine neue Stimme.

»Connaught? Sind Sie da?«

»Ich bin da«, antwortete Michio. »Mit wem spreche ich?«

»Hier ist Sergio Plant«, sagte der Mann. »Amtierender Kapitän der Hornblower. Ich biete unsere Kapitulation an, aber es darf niemand verletzt werden, ja?«

Evans grinste triumphierend und erleichtert.

»Freut mich zu hören, Kapitän Plant«, funkte Michio zurück. »Ich akzeptiere Ihre Bedingungen. Bereiten Sie sich auf das Entermanöver vor.«

Damit trennte sie die Verbindung.

Nach Michios Ansicht war die Geschichte eine lange Reihe von Überraschungen, die im Rückblick unvermeidlich erschienen. Was für Nationen, Planeten und riesige Konzerne galt, konnte man in kleinerem Maßstab auch auf das Schicksal einzelner Männer und Frauen übertragen. Wie oben, so unten. Was auf AAP, Erde und Marsrepublik zutraf, konnte man auch auf Oksana Busch, Evans Garner-Choi und Michio Pa anwenden. Und natürlich auch auf alle anderen Seelen, die auf der Connaught und den Schwesterschiffen lebten und arbeiteten. Nur weil sie an ihrem Platz saß und Befehle erteilte, weil sie die Bürde trug und die Männer und Frauen ihrer Besatzung sicher und wohlbehalten auf der richtigen Seite der Geschichte anleitete, konnten die kleinen persönlichen Geschichten der Besatzungsmitglieder ein wenig mehr Bedeutung gewinnen.

Die erste der vielen Überraschungen, die sie letzten Endes hierher geführt hatten, war die Tatsache gewesen, dass sie überhaupt dem Militär des Gürtels beigetreten war. Als junge Frau hätte sie eher damit gerechnet, als Ingenieurin oder in der Verwaltung einer großen Station zu arbeiten. Hätte sie sich mehr für Mathematik interessiert, dann wäre es vielleicht sogar dazu gekommen. Irgendwie hätte sie die Universität überstanden, weil es eben nötig gewesen wäre, aber sie war gescheitert, denn es hatte einfach nicht gepasst. Die Nachricht der Berater, dass sie exmatrikuliert wurde, war zuerst ein Schock gewesen. Im Rückblick war es offensichtlich. Der klare Blick auf die Vergangenheit.

Bei der AAP, oder vielmehr bei dem Zweig, dem sie jetzt angehörte, fühlte sie sich erheblich besser aufgehoben. Schon im ersten Monat hatte sie begriffen, dass die Allianz der Äußeren Planeten nicht so sehr die Verwaltungsstruktur einer revolutionären Bewegung war, sondern viel eher eine Art Etikett, das sich im Gürtel jeder aufklebte, der die Ansicht vertrat, irgendetwas in dieser Art sollte existieren. Das Voltairekollektiv zählte sich zur AAP, aber das tat auch Fred Johnsons Gruppe auf der Tycho-Station. Anderson Dawes fungierte unter dem geteilten Kreis als Gouverneur von Ceres, während Zig Ochoa ihn unter dem gleichen Symbol bekämpfte.

Jahrelang hatte Michio sich auf die militärische Laufbahn vorbereitet, doch ihr war immer bewusst gewesen, dass ihre Befehlsgewalt eine sehr fragile Sache war. Zeitweise hatte sie fast instinktiv den allergrößten Wert auf Autorität gelegt – auf die eigene Autorität gegenüber den Untergebenen und diejenige der Vorgesetzten ihr selbst gegenüber. So war sie schließlich als XO auf die Behemoth gekommen. Dies wiederum hatte sie in die langsame Zone geführt, als die Menschheit erstmals durch das Tor zur Schnittstelle des dreizehnhundert Welten zählenden Alien-Imperiums vorgestoßen war und ihr Erbe angetreten hatte. Dort war ihr Geliebter Sam Rosenberg gestorben. Danach war ihr Glaube an Befehlsketten nicht mehr ganz so unerschütterlich gewesen.

Auch das war im Rückblick völlig offensichtlich.

Die zweite Überraschung konnte sie nicht einmal richtig benennen – war es die Entscheidung für eine Kollektivehe gewesen, oder vielleicht doch die Anwerbung durch Marco Inaros? Oder die Tatsache, dass sie ein neues Schiff übernommen hatte und in revolutionärer Mission für die Freie Raummarine unterwegs war? Das Leben wies mehr Krümmungen auf als eine Erzader, und nicht alle Veränderungen waren offensichtlich. Nicht einmal im Rückblick.

»Das Enterkommando ist bereit«, meldete Carmondy. Durch das Anzugmikrofon klang seine Stimme blechern. »Sollen wir die Hülle knacken?«

Als Leiter des Enterkommandos gehörte Carmondy genau genommen einer anderen Befehlshierarchie an als Michio, doch er hatte sich ihr unterstellt, sobald er mit seinen Soldaten an Bord gekommen war. Er hatte mehrere Jahre auf dem Mars gelebt und gehörte nicht der Kollektivehe an, die auf der Connaught den größten Teil der Besatzung stellte. Außerdem war er Profi genug, um zu akzeptieren, dass er hier ein Außenseiter war. Sie mochte ihn dafür, auch wenn sie sonst nicht viel von ihm hielt.

»Wir wollen ihnen zuerst die Gelegenheit bieten, entgegenkommend zu sein«, entschied Michio. »Falls sie auf uns schießen, tun Sie, was Sie tun müssen.«

»Alles klar«, antwortete Carmondy und wechselte den Kanal.

Die beiden Schiffe schwebten schwerelos nebeneinander, sodass Michio sich nicht auf der Druckliege anlehnen konnte. Wäre es möglich gewesen, dann hätte sie es getan.

Als sich die Nachricht verbreitet hatte, dass die Freie Raummarine die Kontrolle über das System übernahm und die Ringtore für den Durchgangsverkehr sperrte, hatten die vielen Kolonieschiffe, die zu den neuen Welten unterwegs waren, vor einer schwierigen Entscheidung gestanden. Sie konnten nachgeben und ihre Vorräte ausliefern, damit sie an die Stationen und Schiffe verteilt wurden, die am dringendsten Nachschub benötigten. Dann konnten sie wenigstens die Schiffe behalten. Wenn sie dagegen weiter beschleunigten, verloren sie alles.

Wie so viele andere hatte die Hornblower die Möglichkeiten abgewogen und beschlossen, die erhoffte Belohnung sei es wert, das Risiko einzugehen. Sie hatten die Transponder zerstört, das Schiff neu ausgerichtet und kurze Zeit mit aller Kraft beschleunigt. Dann hatten sie es wieder gedreht, noch einmal beschleunigt und den Vorgang ein weiteres Mal wiederholt. Sie nannten das Manöver »Hotaru«. Man konnte sie immer nur für kurze Zeit anpeilen, und dann flogen sie wieder ohne Schub und hofften, in der Weite des Weltraums verborgen zu bleiben, bis sich die politische Situation veränderte. Die Schiffe hatten genügend Vorräte an Bord, um die angehenden Kolonisten mehrere Jahre durchzubringen. Das System war so riesig, dass es so gut wie unmöglich war, sie später ausfindig zu machen, wenn man sie nicht gleich am Anfang abfing.

Auf Ganymed und Titan hatten Einheiten der Freien Raummarine allerdings den Rückstoßschweif der Hornblower entdeckt. Am meisten ärgerte sich Michio über die Tatsache, dass die Kolonisten die Ebene der Ekliptik verlassen hatten. Der übergroße Anteil der Heliosphäre erstreckte sich über und unter der dünnen Scheibe, auf der die Planeten und der Asteroidengürtel das Zentralgestirn umkreisten. Michio empfand eine fast abergläubische Abscheu vor den anderen Regionen, vor dieser gewaltigen Leere, die über und unter der menschlichen Zivilisation gähnte.

Das Ringtor und der irreale Raum dahinter mochten sogar noch seltsamer sein – nein, sie waren es tatsächlich –, doch ihr Unbehagen, wenn sie sich außerhalb der Ekliptik bewegte, hatte sie seit der Kindheit nicht abschütteln können. Das war ein Teil ihrer persönlichen Mythologie. So etwas verhieß Unglück.

Sie schaltete den Monitor auf die Helmkameras des Enterkommandos um und spielte leise Musik dazu ab. Die Hornblower wurde aus zwanzig verschiedenen Perspektiven abgebildet, während Harfen und ein Fingerschlagzeug Mühe hatten, Michios Puls zu beruhigen. In der Luftschleuse stand ein dunkelhäutiger Erder mit ausgebreiteten Armen. Ein halbes Dutzend Kameras fixierten ihn, die Läufe einiger Waffen waren auf ihn gerichtet. Die anderen wanderten hin und her und achteten auf Bewegungen an der Peripherie oder auf Gegner, die das Schiff verlassen wollten. Der Mann griff nach oben, packte einen Griff und drehte sich. Er legte die Arme hinter den Rücken und war bereit für die Handfesseln. Die Bewegung sah so geübt aus, dass Michio glaubte, Kapitän Plant – falls er es war – sei schon öfter festgenommen worden.

Das Enterkommando drang in das Schiff ein, die Teams überprüften die Gänge. Eine Bewegung auf einem Bildschirm zeigte sich auf einem anderen als Gestalt. Als sie die Kombüse erreichten, schwebten die Besatzungsmitglieder der Hornblower den Rängen entsprechend heraus, streckten die Arme aus und waren bereit, das Schicksal anzunehmen, das die Connaught ihnen zugedacht hatte. Selbst auf den winzigen Fenstern, die sich den Monitor teilten, konnte sie die schimmernden Tränen auf den Gesichtern vieler Gefangener erkennen.

»Ihnen wird nichts passieren«, sagte Evans. »Esà? Es ist unser Job, nicht wahr?«

»Ich weiß.« Michio ließ den Bildschirm nicht aus den Augen.

Das Enterkommando zog durch die Decks und übernahm die Kontrolle über das Schiff. Die Koordination war so gut, dass man den Eindruck gewinnen konnte, es handelte sich um einen einzigen Organismus mit zwanzig Augen. Ein Gruppenbewusstsein, das dank ihrer Professionalität und vieler Übungen entstanden war. Die Brücke des Kolonistenschiffs war nicht gut in Schuss. Ein Leck hatte ein Handterminal und einen Trinkbeutel angesaugt. Ohne Schubschwerkraft hatten die Druckliegen willkürliche Positionen eingenommen. Sie dachte an alte Videos von Schiffswracks auf der Erde. Dieses Kolonistenschiff ertrank im unendlichen Vakuum.

Carmondy würde sich gleich melden, deshalb drehte sie die Musik leiser. Mit einem höflichen Klingeln ging die Anfrage ein.

»Kapitän, wir haben die Kontrolle über das Schiff übernommen«, berichtete er. Zwei seiner Männer sahen ihm dabei zu, deshalb konnte sie aus zwei Winkeln beobachten, wie sich seine Lippen und das Kinn bewegten, während sie die Meldung hörte. »Kein Widerstand, keine Schwierigkeiten.«

»Oksana?«, fragte Michio.

»Die Firewalls sind schon heruntergefahren«, antwortete Oksana. »Toda y alles.«

Michio nickte mehr zu sich selbst als zu Carmondy. »Die Connaught hat die Kontrolle über die Schiffssysteme.«

»Wir richten eine Sicherheitszone ein und setzen die Gefangenen fest. Die Registrierung läuft bereits.«

»Verstanden«, antwortete Michio. »Evans, wir ziehen uns ein Stück zurück, um außerhalb der Gefahrenzone zu bleiben, falls die Siedler eine Atombombe im Getreidespeicher versteckt haben.«

»Verstanden«, bestätigte Evans.

Der Schub der Steuerdüsen drückte sie gegen die Gurte. Es war nicht einmal ein Zehntel G, und der Schub hielt nur einige Sekunden an. Es war gefährlich, anderen Menschen etwas wegzunehmen, das sie als ihren Besitz betrachteten. Natürlich würde die Connaught das Enterkommando überwachen und mit sanften Fingern den Puls des Kolonistenschiffs fühlen. Außerdem würde Carmondy halbstündlich kurze Meldungen abgeben und dabei ein Einmalprotokoll zur Verschlüsselung benutzen. Falls er sich nicht meldete, würde Michio die Hornblower als Warnung für die nächsten Schiffe in eine heiße Gaswolke verwandeln. Ein paar Tausend Menschen auf Callisto, Io und Europa mussten dann hoffen, dass die nächsten Lieferungen, die die Freie Raummarine beschlagnahmte, zu ihnen durchkommen würden.

Endlich hatte der Gürtel das Joch der inneren Planeten abgeschüttelt. Sie hatten die Medina-Station im Herzen des Ringsystems erobert, und sie besaßen die einzige funktionierende Raummarine im ganzen Sonnensystem. Außerdem wussten sie Millionen dankbarer Gürtler hinter sich. Langfristig gesehen, war dies die umfassendste und nachdrücklichste Unabhängigkeitserklärung, die es je in der Menschheitsgeschichte gegeben hatte. Kurzfristig bestand ihre Aufgabe darin, dafür zu sorgen, dass sie nach dem Sieg nicht einfach verhungerten.

Während der nächsten beiden Tage würden Carmondy und seine Männer die verhinderten Kolonisten auf abgesicherten Decks einsperren, wo sie bis zur Ankunft in einem stabilen Orbit um Jupiter bleiben sollten. Anschließend würde er eine vollständige Bestandsaufnahme aller Güter machen, die dank der Kaperung der Hornblower erbeutet worden waren. Danach würde noch mindestens eine Woche vergehen, bis die Bergungsantriebe eingebaut waren. In der Zwischenzeit sollte die Connaught als Wächter dienen, und Michio hatte nicht viel anderes zu tun, als in der Dunkelheit nach weiteren Flüchtlingen zu suchen.

Sie freute sich nicht darauf, und sie war sicher, dass es den anderen Mitgliedern ihrer Kollektivehe ähnlich ging. In Oksanas Stimme lag ein eigenartiger Unterton, als sie sich meldete.

»Boss, wir haben die Bestätigung von Ceres.«

»Gut«, antwortete Michio, hob dabei aber leicht die Stimme, um Oksana zu verstehen zu geben, dass sie die unausgesprochene Nebenbedeutung mit erfasst hatte. Oksana Busch war schon fast so lange ihre Frau, wie die Gruppe überhaupt existierte. Sie kannten einander und ihre jeweiligen Stimmungen sehr gut.

»Ich habe noch was anderes. Eine Botschaft von ihm selbst.«

»Was will Dawes von uns?«, wunderte sich Michio.

»Nicht Dawes. Der große Mann persönlich.«

»Inaros?«, fragte Michio. »Spiel es ab.«

»Für den Kapitän persönlich verschlüsselt«, erwiderte Oksana. »Ich kann es in deine Kabine oder auf dein Terminal weiterleiten, wenn du …«

»Spiel es ab, Oksana.«

Marco Inaros erschien auf dem Monitor. Aus dem Fall seiner Haare konnte man schließen, dass er sich entweder auf Ceres befand oder mit starkem Schub flog. Es war nicht genug Hintergrund zu erkennen, um zu bestimmen, ob er auf einem Schiff oder in einem Büro war. Sein Lächeln war charmant und erreichte sogar die warmen, dunklen Augen. Michios Herz schlug ein wenig schneller. Sie sagte sich selbst, es sei Furcht und nicht etwa Anziehungskraft. Überwiegend entsprach das sogar der Wahrheit. Auf jeden Fall war er ein äußerst charismatischer Dreckskerl.

»Kapitän Pa«, begann Marco. »Es freut mich zu hören, dass Sie die Hornblower ohne Zwischenfälle übernommen haben. Das ist ein weiterer Beweis für Ihre Fähigkeiten. Es war richtig, Ihnen das Kommando über die Beschlagnahmeaktion zu übergeben. Bisher ist es gut gelaufen, und jetzt sind wir bereit, den nächsten Abschnitt unseres Plans in Angriff zu nehmen.«

Michio blickte zu Evans und Oksana. Er zupfte sich am Bart, sie wich Michios Blick aus.

»Wir wollen die Hornblower direkt nach Ceres geleiten«, fuhr Marco fort. »Vorher berufe ich noch eine Sitzung ein, an der nur der engste Kreis teilnimmt. Sie und ich, Dawes, Rosenfeld, Sanjrani. Auf der Ceres-Station.« Sein Grinsen wurde breiter. »Da wir jetzt das System kontrollieren, können wir auch einiges verändern, was? Die Pella sagt, Sie können in zwei Wochen hier sein. Ich freue mich schon darauf, Sie persönlich zu begrüßen.«

Abrupt salutierte er wie ein Soldat der Freien Raummarine. Er hatte den Gruß selbst erfunden. Dann wurde der Bildschirm dunkel. Die Mischung aus Verwirrung, Verlegenheit und Erleichterung, die durch Michios Bauch rumpelte, war schwer zu verstehen. Es hatte sie auf dem falschen Fuß erwischt, dass sich ihre Mission so schnell und ohne erschöpfende Erklärungen verändert hatte. Eine Sitzung des innersten Zirkels empfand sie auch jetzt noch als fast so gefährlich wie vor der Bildung der Freien Raummarine. Nachdem sie jahrelang im Schatten gearbeitet hatte, fiel es ihr schwer, auf einmal ins Rampenlicht zu treten, auch wenn sie gesiegt hatten. Aber wenigstens wäre sie dann wieder in der Ebene der Ekliptik statt weit draußen in der Schwärze, wo schreckliche Dinge geschehen konnten. Wirklich üble Dinge.

Gefährliche Dinge, sagte ein Stimmchen in ihrem Hinterkopf. Dinge wie der unerwartete Ruf zu einer Sitzung.

»Zwei Wochen …?«, fragte Michio.

»Das ist möglich«, antwortete Oksana fast schon, bevor sie die Frage ganz ausgesprochen hatte. Sie hatte bereits einen Flugplan entworfen. »Aber es setzt voraus, dass wir mit hohem Schub fliegen und nicht auf die Hornblower warten.«

»Das wird Carmondy nicht gefallen«, überlegte Pa.

»Was soll er schon sagen?«, meinte Oksana. »Die Anweisung kommt ja von ganz oben.«

»Das stimmt«, räumte Michio ein.

Evans räusperte sich. »Also fliegen wir?«

Michio hob eine Faust. Ja. »Inaros ruft uns«, sagte sie und unterband damit jede weitere Diskussion.

»Tja, bien«, antwortete Evans. Sein Tonfall sprach freilich eine ganz andere Sprache.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Pa.

»Es ist nicht das erste Mal, dass sich die Pläne ändern.« Sorgenfalten zerfurchten Evans’ Gesicht. Jetzt war er nicht mehr ganz so hübsch, aber er war ihr neuester Gatte, also behielt sie den Gedanken für sich. Schöne Männer konnten sehr empfindlich sein.

»Fahre fort«, sagte sie stattdessen.

»Nun ja, da war diese Geldsache mit Sanjrani. Und der marsianische Premierminister ist wohlbehalten nach Luna gelangt, obwohl die halbe Freie Raummarine ihn ausschalten wollte. Wie ich hörte, haben wir auch versucht, Fred Johnson und James Holden zu töten, und beide atmen noch und laufen frei herum. Ich mache mir eben so meine Gedanken.«

»Meinst du damit, dass Marco nicht so unfehlbar ist, wie er sich gibt?«, fragte Michio.

Evans antwortete nicht gleich. Sie dachte schon, er behielte seine Gedanken lieber für sich, doch dann sagte er: »Etwas in dieser Art. Aber wenn man so was auch nur denkt, bekommt man das Gefühl, es könnte gefährlich werden.«

»Etwas in dieser Art«, stimmte Michio zu.

2   Filip

Es gab niemanden, den er mehr hasste als James Holden. Holden, den Friedensstifter, der niemals für Frieden sorgte. Holden, den Vorreiter der Gerechtigkeit, der nie etwas für die Gerechtigkeit geopfert hatte. James Holden, der sich mit Marsianern und Gürtlern eingelassen hatte – nein, mit einer Gürtlerin – und durch das System zog, als wäre er besser als alle anderen. Über den Konflikten stehend, während die inneren Planeten die Ressourcen der Menschheit an die mehr als dreizehnhundert neuen Planeten verschleuderten und die Gürtler sterben ließen. Der wider alle Wahrscheinlichkeit nicht zusammen mit der Chetzemoka untergegangen war.

Fred Johnson, der Erder, der sich dem Gürtel angeschlossen und für diesen gesprochen hatte, belegte dicht hinter Holden den zweiten Platz. Der Schlächter der Anderson-Station, der mit dem Massenmord an unschuldigen Gürtlern Karriere gemacht hatte und sie jetzt bevormundete und auf einen Irrweg führte, der mit dem kulturellen und individuellen Untergang enden musste. Schon dafür verdiente er allen Hass und alle Abscheu. Doch Filips Mutter war nicht direkt wegen Johnson gestorben, und deshalb gebührte Holden – James pinche Holden – der erste Platz.

Vor zwei Monaten hatte Filip gegen die innere Schleusentür getrommelt, während seine Mutter, die nach zu viel Zeit in Holdens verhexender Gegenwart nicht mehr zurechnungsfähig war, sich selbst und Cyn in den Weltraum katapultiert hatte. Dumme, sinnlose Tode waren das gewesen. Deshalb, so sagte er sich selbst, tat es auch so weh. Sie hätte nicht sterben müssen und hatte sich trotzdem dafür entschieden. Er hatte sich die Hand gebrochen, als er sie aufhalten wollte, aber das hatte nichts genützt. Naomi Nagata hatte dem schlimmen Tod in der Leere gegenüber dem Leben mit ihrem eigenen Volk den Vorzug gegeben. Das war der Beweis dafür, wie viel Macht Holden über sie hatte. Wie tief die Gehirnwäsche reichte und wie schwach ihr Geist von Anfang an gewesen war.

Er verriet niemandem auf der Pella, dass er immer noch jede Nacht von ihr träumte: die geschlossene Schleusentür und die Gewissheit, dass sich auf der anderen Seite etwas Kostbares und Wichtiges befand. Das schreckliche Verlustgefühl, als er die Tür nicht öffnen konnte. Wenn sie erfuhren, wie sehr es ihn belastete, stünde er wie ein Schwächling da. Sein Vater hatte keinen Platz für Leute, die nicht ihren Mann stehen konnten. Nicht einmal, wenn es der eigene Sohn war. Filip bekleidete seinen Posten als Gürtler und Soldat der Freien Raummarine, oder er suchte sich eine Unterkunft auf einer Station und lebte dort als kleiner Junge. Er war jetzt fast siebzehn. Er hatte geholfen, die Unterdrücker auf der Erde zu vernichten. Seine Kindheit war Vergangenheit.

Die Pallas-Station war eine der ältesten im Gürtel. Hier waren die ersten Bergwerke und nach ihnen die ersten Raffinerien entstanden. Daraufhin hatte man weitere Einrichtungen geschaffen, weil sich hier das industrielle Zentrum befand. Und weil man hier im Bedarfsfall jederzeit die alten, noch funktionsfähigen Brechwerke und Zentrifugen als Reserve einsetzen konnte. Und aus reiner Gewohnheit. Pallas war nie in Drehung versetzt worden. Die Schwerkraft, die es hier gab, entsprach der natürlichen Mikrogravitation seiner Masse – zwei Prozent der vollen Erdschwerkraft. Man spürte kaum mehr als einen sehr leichten Zug. Die Station pendelte über und unter die Ekliptik, als nähme sie Anlauf, um das Sonnensystem zu verlassen. Ceres und Vesta waren größer und stärker bevölkert, doch das Metall für die Schiffsrümpfe und Reaktoren, für die Decks und Frachtbehälter, für die Waffen, mit denen die Kriegsschiffe der Freien Raummarine bestückt waren, und für die Geschosse, die sie benutzten, stammten von hier. Ganymed war die Kornkammer des Gürtels, Pallas die Schmiede.

Kein Wunder, dass die Freie Raummarine auf der unablässigen Reise durch das befreite System hier vorbeikam und keine Ressourcen zurückließ.

»S’yahaminda, que?«, sagte der Hafenmeister, der am breiteren Ende des Konferenzraums schwebte. Es war ein Raum für Gürtler. Keine Tische, keine Stühle. Hier gab es kaum Hinweise, wo oben und unten waren. Nach dem langen Aufenthalt auf einem Schiff, das man mit Blick auf die Schubschwerkraft konstruiert hatte, fühlte Filip sich hier wieder wie zu Hause. Es passte auf eine Art und Weise, wie es bei anderen, von Marsianern entworfenen Räumen nie möglich war.

Das galt auch für den Hafenmeister. Selbst für jemanden, der die Kindheit unter niedriger, nur zeitweise wirksamer Schwerkraft verbracht hatte, war sein Körper zu lang. Im Vergleich zum Rumpf war der Kopf größer, als es bei Filip, Marco oder Karal der Fall war. Das linke Auge war getrübt und blind, weil nicht einmal der Medikamentencocktail, der es den Menschen erlaubte, ständig im freien Fall zu leben, den Verfall der Kapillaren hatte verhindern können. Auf einem Planeten hätte er nicht überlebt, nicht einmal für kurze Zeit. Dieser Mann stellte in der körperlichen Bandbreite der Gürtler das Extrem dar. Er gehörte zu den Menschen, für die sich die Freie Raummarine gebildet hatte und die sie schützen und repräsentieren wollte.

Wahrscheinlich war er deshalb so verwirrt und fühlte sich überrumpelt.

»Gibt es ein Problem?« Marco deutete mit den Händen ein Achselzucken an. Wenn es nach ihm ging, war es eine ganz alltägliche Sache, den Inhalt des Lagerhauses ins Vakuum zu entlassen. Filip zog die Augenbrauen hoch und ahmte den Unglauben seines Vaters nach. Karal stierte düster und legte eine Hand auf den Pistolengriff.

»Per es esá mindan hoy«, sagte er.

»Ich weiß, dass es alles ist«, antwortete Marco. »Darum geht es ja gerade. Solange alles hier ist, bleibt Pallas ein Ziel für die Inneren. Wenn ihr alles, was ihr habt, in Container steckt und sie abfeuert, kennen nur wir die Flugbahnen. Wir verfolgen sie und bergen, was wir jeweils gerade brauchen. So kann es ihnen nicht in die Hände fallen, und wir zeigen ihnen, dass die Lagerhäuser leer sind, ehe sie auch nur daran denken, sie zu erobern, ja?«

»Per mindan …« Der Hafenmeister blinzelte unsicher.

»Man wird dich für das alles bezahlen«, versprach Filip ihm. »Das gute Geld der Freien Raummarine.«

»Gutes Geld, ja«, erwiderte der Hafenmeister. »Pero …«

Er blinzelte noch schneller als zuvor und wandte den Blick ab, als schwebte der Admiral der ersten bewaffneten Gürtlerstreitmacht einen halben Meter weiter links. Schließlich leckte er sich die Lippen.

»Aber?«, drängte Marco ihn fortzufahren.

»Spinmomentwandler rendidos, tengo que Ersatzteile, ja?«

»Wenn du neue Teile brauchst, dann kauf die neuen Teile.« Marcos Stimme bekam einen gefährlichen Unterton.

»Pero …« Der Hafenmeister schluckte schwer.

»Aber du hast sie früher von der Erde gekauft«, ergänzte Marco. »Und unser Geld ist dort nichts wert.«

Der Hafenmeister hob zustimmend eine Faust.

Marco lächelte sanft und freundlich. Mitfühlend sogar. »Dort kauft sowieso niemand ein. Jetzt nicht mehr. Du kaufst jetzt im Gürtel. Nur noch im Gürtel.«

»Der Gürtel macht keine guten Teile«, klagte der Hafenmeister.

»Wir machen die besten Teile, die es gibt«, behauptete Marco. »Das Rad der Geschichte dreht sich weiter, mein Freund. Versuche, mit ihm Schritt zu halten. Und packe alles zusammen, damit du es abstoßen kannst, sa sa?«

Der Hafenmeister suchte Marcos Blick und hob noch einmal zustimmend die Faust. Nicht, dass ihm etwas anderes übrig geblieben wäre. Wenn man im Besitz sämtlicher Kanonen war, dann war es egal, wie freundlich man um etwas bat. Es war so oder so ein Befehl. Marco stieß sich ab, die geringe Schwerkraft von Pallas beugte seine Flugbahn ein wenig. Neben dem Hafenmeister bremste er sich an einigen Handgriffen ab und umarmte den Mann. Der Hafenmeister erwiderte die Geste nicht. Er wirkte eher wie jemand, der den Atem anhielt und hoffte, etwas Gefährliches ginge an ihm vorüber, ohne ihn zu bemerken.

Die Flure und Passagen, die vom Büro des Hafenmeisters zu den Docks führten, waren ein Flickenteppich aus alter Keramikbeschichtung und neuer Karbonsilikatverkleidung. Das Gewebe – einer der ersten in großer Menge produzierten neuen Baustoffe, nachdem das Erscheinen des Protomoleküls die Materialwissenschaft um mehrere Jahrzehnte in die Zukunft katapultiert hatte – schimmerte in allen Regenbogenfarben, als sie vorbeischwebten. Wie eine Öllache auf einer Wasserfläche. Das Material war angeblich widerstandsfähiger als Keramik und Titan, härter und zugleich flexibler. Niemand wusste, wie und wann es alterte, aber wenn man den Berichten von anderen Welten trauen konnte, sollte es die Lebenserwartung der Menschen, die es produziert hatten, um mehrere Größenordnungen überschreiten. Vorausgesetzt, sie machten ihre Sache richtig. Es war schwer zu sagen.

Das Shuttle wartete schon auf sie, Bastien saß angeschnallt auf dem Pilotensitz.

»Alles bien?«, fragte er, als Marco die Luftschleuse zufahren ließ.

»Es ging so gut, wie wir es nur hoffen konnten«, erklärte Marco. Er sah sich in dem kleinen Schiff um. Sechs Druckliegen, Bastiens Pilotensitz nicht mitgerechnet. Karal hatte sich auf einer, Filip auf einer anderen Liege angegurtet. Marco schwebte langsam zum Boden des Shuttles. Die Haare ließen sich sachte auf den Schultern nieder. Fragend reckte er das Kinn.

»Rosenfeld ist schon da«, erklärte Bastien. »Er ist seit drei Stunden auf der Pella.«

»Er ist angekommen.« Marcos Stimme hatte einen harten Unterton, den womöglich nur Filip heraushören konnte. Endlich ließ er sich auf seiner Liege nieder und hakte die Gurte ein. »Gut. Lasst uns starten.«

Eher aus Gewohnheit denn aus Notwendigkeit stimmte Bastien sich mit der Flugleitung des Docks ab. Marco war der Kapitän der Pella und der Admiral der Freien Raummarine. Sein Shuttle hatte Vorrang vor allem anderen Verkehr. Bastien sicherte sich trotzdem ab und überprüfte mindestens zum zehnten Mal alle Dichtungen und die Umweltkontrolle. Für jemanden, der im Gürtel aufgewachsen war, waren die Überprüfungen von Luft, Wasser, Dichtungen und Raumanzügen so selbstverständlich wie das Atmen. Man dachte kaum darüber nach, man tat es einfach. Wer es nicht tat, lebte nicht lange und meldete sich frühzeitig aus dem Genpool ab.

Als das Shuttle startete, wurden sie ein wenig schwerer, dann zischten die kardanischen Aufhängungen der Liegen, während Bastien die Steuerdüsen aktivierte. Obwohl der Schub nicht einmal ein Viertel G betrug, erreichten sie die Pella nach wenigen Minuten. Sie öffneten die Luftschleuse – es war diejenige, die Naomi sich ausgesucht hatte, um zu sterben – und schwebten in die vertraute Luft der Pella hinein.

Rosenfeld Guoliang erwartete sie schon.

So weit, wie Filip sich zurückerinnern konnte, war der Gürtel identisch mit der Allianz der Äußeren Planeten gewesen, und zur AAP gehörten die Menschen, die ihm die wichtigsten waren. Sein Volk. Erst als er größer war und hören durfte, was sein Vater mit den anderen Erwachsenen besprach, vertiefte sich sein Verständnis und wurde um neue Facetten bereichert. Das Wort, das sein Volk wirklich definierte, lautete Allianz. Es war keine Republik, keine Zentralregierung und keine Nation. Eine Allianz. Die AAP war ein Zusammenschluss unzähliger Gruppen, die zusammenfanden, sich voneinander trennten und neue Bündnisse bildeten. Alle stimmten insgeheim darin überein, dass sie sich gemeinsam gegen die Unterdrückung der inneren Planeten wehren mussten, so schwerwiegend die internen Misshelligkeiten auch waren. Unter der Flagge der AAP hatten sich einige große Standartenträger versammelt – etwa die Tycho-Station unter Fred Johnson oder die Ceres-Station unter Anderson Dawes, die jeweils über eigene Milizen verfügten. Die dogmatischen Provokateure des Voltairekollektivs, der offen kriminelle Golden Bough, die pazifistische und beinahe verräterische Maruttuva Kulu. Neben diesen gab es Dutzende, wenn nicht Hunderte kleinere Organisationen und Verbände, Verschwörercliquen und Interessengruppen. Geeint wurden sie durch die ewige wirtschaftliche und militärische Unterdrückung durch Erde und Mars.

Die Freie Raummarine war nicht die AAP, aber das wollte sie auch nicht sein. Die Freie Raummarine war die stärkste Kraft der alten Ordnung, zusammengeschweißt zu einer Streitmacht, die keinen Feind brauchte, um sich selbst zu definieren. Sie war die Verheißung einer Zukunft, in der das Joch der Vergangenheit nicht bloß abgeschüttelt, sondern zerbrochen war.

Das bedeutete aber nicht, dass sie völlig losgelöst von der Vergangenheit existierte.

Rosenfeld war ein dünner Mann, dem es gelang, sogar im freien Fall geduckt zu wirken. Die dunkle Gesichtshaut war von seltsamen Knötchen überzogen, die Augen lagen tief in den Höhlen. Seine Tätowierungen zeigten den geteilten Kreis der AAP und das an ein Messer erinnernde V des Voltairekollektivs. Er lächelte breit und freundlich, doch dahinter lauerte eine nur mühsam gebändigte Gewaltbereitschaft. Er war der Grund dafür, dass Filips Vater nach Pallas gekommen war.

»Marco Inaros.« Rosenfeld breitete die Arme aus. »Was Sie alles erreicht haben, Coyo mis!«

Marco warf sich in die Umarmung des Mannes und drehte sich mit ihm, während sie einander festhielten. Sie wurden erst langsamer, als sie sich voneinander lösten. Jedes Misstrauen, das Marco gegenüber Rosenfeld gehegt hatte, schien auf der Stelle verflogen. Nein, es war nicht verflogen, sondern verlagerte sich stellvertretend auf Filip und Karal, sodass Marco selbst das Wiedersehen ungetrübt genießen konnte.

»Sie sehen gut aus, alter Freund«, sagte Marco.

»Das stimmt zwar nicht, aber danke für die Lüge«, entgegnete Rosenfeld.

»Sollen wir Ihre Männer herüberholen?«

»Das ist schon geschehen«, antwortete Rosenfeld. Filip blickte rasch zu Karal und bemerkte das leichte Zucken um die Mundwinkel des älteren Mannes. Rosenfeld war ein Freund, ein Verbündeter, ein Angehöriger des inneren Zirkels der Freien Raummarine, doch er hätte nicht imstande sein dürfen, seine Leibwache mit an Bord zu bringen, während Marco abwesend war. Die Pella war das Flaggschiff der Freien Raummarine und stellte eine große Versuchung dar. Marco und Rosenfeld streckten sich gleichzeitig und verlangsamten die gemeinsame Rotation, indem sie sich an den Handgriffen neben den Spinden festhielten. Immer noch Arm in Arm segelten sie in den Gang, der tiefer ins Schiff führte. Filip und Karal folgten ihnen.

»Wir müssen stark beschleunigen, wenn wir rechtzeitig zum Treffen in Ceres eintreffen wollen«, bemerkte Marco.

»Das ist Ihre Schuld. Ich hätte mit meinem eigenen Schiff kommen können.«

»Sie haben keine schweren Kampfschiffe.«

»Mein ganzes Leben habe ich in Felsenhüpfern verbracht …«

Obwohl er nur den Hinterkopf sehen konnte, wusste Filip, das sein Vater lächelte. »Das war Ihr Leben. Jetzt hat sich das Spiel verändert. Das Oberkommando darf sich nicht ohne Schutz bewegen. Nicht einmal hier draußen stehen alle auf unserer Seite. Noch nicht.«

Sie erreichten den Aufzug, der durch die Längsachse des Schiffs verlief, drehten sich und flogen mit den Köpfen voran zu den Mannschaftsdecks. Karal wandte sich zur Brücke und zum Pilotendeck um, als wollte er sich vergewissern, dass er Rosenfelds Wächter nicht im Rücken hatte.

»Deshalb habe ich gewartet«, sagte Rosenfeld. »Ein braver kleiner Soldat, mé. Schade, dass Johnson und Smith wohlbehalten nach Luna gelangt sind. Haben wir also nur einen von dreien erwischt?«

»Es kam vor allem auf die Erde an«, erklärte Marco. Vor ihnen tauchte Sárta auf und schwebte an ihnen vorbei zur Brücke. Sie nickte, als sie sich begegneten. »Die Erde war immer das wichtigste Ziel.«

»Nun ja, Generalsekretärin Gao ist jetzt bei ihren Göttern, und ich hoffe, sie ist kreischend gestorben.« Rosenfeld tat so, als spuckte er zur Seite aus. »Aber diese Avasarala, die ihren Platz eingenommen hat …«

»Eine Bürokratin«, entgegnete Marco, als sie um die Ecke bogen und die Messe ansteuerten. Die im Boden verschraubten Tische und Bänke, der Geruch des marsianischen Militärproviants, die Farben, all das hatte vor Kurzem noch dem Feind gehört. Die Umgebung bildete einen starken Kontrast zu den Männern und Frauen in diesem Raum. Alle Anwesenden waren Gürtler, trotzdem konnte Filip die Angehörigen der Freien Raummarine, bei der er selbst diente, mühelos von Rosenfelds Leibwache unterscheiden. Die eigenen Leute von den anderen. Man konnte so tun, als gäbe es die Differenzen nicht, doch alle wussten es besser. Insgesamt waren ein Dutzend Gäste in der Messe, als wäre gerade Schichtwechsel. Auf jeden aus Rosenfelds Truppe kam einer aus der Crew der Pella. Karal war offenbar nicht der Einzige, der dachte, auch unter Freunden könne ein wenig Wachsamkeit nicht schaden.

Einer der Wächter warf Rosenfeld einen Trinkbeutel zu. Kaffee, Tee, Whisky oder Wasser, von außen konnte man es nicht erkennen. Rosenfeld fing ihn auf, ohne die Unterhaltung auch nur eine Sekunde zu unterbrechen. »Anscheinend eine Bürokratin mit einem ausgeprägten Hass auf uns. Werden Sie mit ihr fertig? Nehmen Sie es nicht persönlich, Coyo, aber Sie haben da einen blinden Fleck. Sie neigen dazu, Frauen zu unterschätzen.«

Marco verstummte. Als Filip ihn beobachtete, hatte er auf einmal einen Kupfergeschmack im Mund. Karal grunzte leise, reckte das Kinn und ballte die Hände zu Fäusten.

Rosenfeld baute sich an der Wand auf und tat mitfühlend und schuldbewusst. »Vielleicht ist dies nicht der richtige Augenblick, es auszusprechen. Tut mir leid, wenn ich einen wunden Punkt berührt habe.«

»Macht nichts«, entgegnete Marco. »Wir können das auf Ceres erörtern.«

»Die Stämme versammeln sich«, fuhr Rosenfeld fort. »Ich freue mich darauf. Die nächste Phase dürfte interessant werden.«

»Wir werden sehen«, erklärte Marco. »Karal kann Ihnen und Ihren Leuten die Kabinen zuweisen. Ich würde mich darauf einstellen, dort zu bleiben. Es wird eine anstrengende Beschleunigungsphase.«

»Aber gewiss doch, Admiral.«

Marco zog sich aus dem Raum heraus und schwebte zur Werkstatt und zum Maschinenraum, ohne Filips Blick zu erwidern.

Filip wartete einen Augenblick, weil er unsicher war, ob er seinem Vater folgen oder ausharren sollte, ob er von seiner Aufgabe entbunden war oder auf dem Posten bleiben musste. Rosenfeld lächelte, zwinkerte mit einem höckerigen Augenlid und wandte sich an seine Männer. Hier war etwas geschehen, etwas lag in der Luft, und Karals Haltung hatte sich verändert. Etwas Wichtiges. Marcos Benehmen schien ihm zu sagen, dass es mit ihm selbst zu tun hatte.

Er legte Karal die Hand auf das Handgelenk. »Was ist los?«

»Nichts.« Karal war ein schlechter Lügner. »Kein Grund zur Sorge.«

»Karal?«

Der ältere Mann presste die Lippen zusammen und reckte den Hals. Er wich Filips Blick aus.

»Karal, soll ich lieber die anderen danach fragen?«

Langsam schüttelte er den Kopf. Nein, Filip sollte nicht fragen. Karal leckte sich nervös über die Lippen, schüttelte abermals den Kopf, seufzte und antwortete schließlich leise und ruhig. »Vor einer Weile gab es einen Bericht. Beobachtungsdaten von … äh … von der Chetzemoka. Es ging darum, dass Johnson und Smith nicht umgekommen sind.«

»Und?«

»Und …« Karal hielt inne, bleischwer hing das Wort in der Luft.

Dann fuhr er fort, und so erfuhr Filip Inaros vor Rosenfeld und einem halben Dutzend grinsender Leibwächter, dass seine Mutter noch lebte. Und dass es auf der Pella jeder außer ihm längst wusste.

Als der Schub einsetzte, träumte er.

Er stand an derselben Tür wie immer. Das Aussehen mochte sich verändern, aber es war immer dieselbe Tür. Er kreischte und trommelte mit den Fäusten dagegen, um hineinzukommen. Vorher hatte er Angst gehabt, ein überwältigendes Gefühl von Kummer und Furcht angesichts des drohenden Verlusts. Jetzt fühlte er sich nur noch gedemütigt. Die Wut flackerte in ihm wie ein Feuer, und er rannte gegen die Tür an, um den Raum zu erreichen, der hinter ihr lag – nicht um etwas Wertvolles zu retten, sondern um die Qualen aufzulösen.

Er erwachte von seinen eigenen Schreien. Ein volles G presste ihn ins Gel. Rings um ihn murmelte die Pella, die Vibrationen des Antriebs und das Säuseln der Luftrecycler klangen wie flüsternde Stimmen, die ein wenig zu leise waren, um sie zu verstehen. Es war anstrengend, die Tränen abzuwischen. Es war kein Kummer. Dazu hätte er traurig sein müssen. Was er empfand, war Gewissheit.

Es gab jemanden, den er noch mehr hasste als James Holden.

3   Holden

Es gab viel, was für ein Leben ohne langwierige Vernehmungen sprach. Daran gemessen, führte Holden kein gutes Leben. Als er und die übrige Besatzung der Rosinante