Leviathan fällt - James Corey - E-Book

Leviathan fällt E-Book

James Corey

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Beschreibung

Wie kämpft man gegen einen scheinbar unbesiegbaren Gegner? Das Sonnensystem wurde von der mit Alien-Technologie aufgerüsteten Raumflotte erobert, und Duarte, der alleinige Herrscher unzähliger Welten, betrachtet sich selbst als neue Stufe der Evolution. Doch noch ist die Menschheit nicht am Ende – Kapitän James Holden und die Crew der Rosinante haben bereits einen Plan …

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Seitenzahl: 826

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Das Buch

Wie kämpft man gegen einen scheinbar unbesiegbaren Gegner? Das Sonnensystem mit seinen über tausend Welten und Ringtoren wurde von der mit Alien-Technologie aufgerüsteten laconischen Raumflotte erobert. Winston Duarte, nicht länger nur Diktator von Laconia, sondern nunmehr Herrscher über unzählige Welten, betrachtet sich selbst als neue Stufe der Evolution. Kurz vor dem entscheidenden Sieg gegen die Rebellenallianz, angeführt von Kapitän James Holden, Naomi Nagata, Alex und Amos, erleidet Duarte jedoch einen Zusammenbruch. Der Herrscher der Galaxis ist nur noch ein sabberndes Wrack, und Admiral Tejo von der laconischen Raummarine hat alle Hände voll zu tun, die Herrschaft aufrechtzuerhalten. Und dann ist da noch Teresa Duarte, die entflohene Tochter des Diktators, die sich gerade auf der Rosinante in Obhut befindet. Und während Duarte sich in etwas verwandelt, das immer weniger mit einem Menschen gemein hat, während Tejo nach Teresa suchen lässt und der Widerstand der Menschheit gegen ihre Unterdrücker wächst, hat das Protomolekül seine eigenen Pläne. Pläne, die den Pfad der Menschheit in die Zukunft für immer verändern werden …

THEEXPANSE

James Coreys internationale Bestsellerserie sprengt alle Maßstäbe der Science-Fiction. Die TV-Verfilmung wird bereits als beste Science-Fiction-Serie aller Zeiten gefeiert.

Erster Roman: Leviathan erwacht

Zweiter Roman: Calibans Krieg

Dritter Roman: Abaddons Tor

Vierter Roman: Cibola brennt

Fünfter Roman: Nemesis-Spiele

Sechster Roman: Babylons Asche

Siebter Roman: Persepolis erhebt sich

Achter Roman: Tiamats Zorn

Neunter Roman: Leviathan fällt

Die Erzählungen: Das Protomolekül

Die Autoren

Hinter dem Pseudonym James Corey verbergen sich die beiden Autoren Daniel James Abraham und Ty Corey Franck. Beide schreiben auch unter ihrem eigenen Namen Romane und leben in New Mexico. Mit ihrer erfolgreichen gemeinsamen Science-Fiction-Serie THEEXPANSE haben sie sich weltweit in die Herzen von Lesern und Kritikern gleichermaßen geschrieben.

Mehr über James Corey und THEEXPANSE auf

diezukunft.de

James Corey

THE EXPANSE

LEVIATHAN FÄLLT

Roman

Deutsche Erstausgabe

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

LEVIATHAN FALLS

Deutsche Übersetzung von Jürgen Langowski

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 05/2022

Redaktion: Ralf Dürr

Copyright © 2021 by Daniel Abraham and Ty Franck

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Dirk Schulz

Coverillustration: Daniel Dociu

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-22490-5V002

diezukunft.de

Neun Bücher später, und du bist immer noch da.

Deshalb ist dieses hier für dich.

PROLOG

Zuerst war da ein Mann namens Winston Duarte. Und dann war er nicht mehr da.

Der letzte Augenblick war banal. Er hatte in seinem privaten Arbeitszimmer im Herzen des Staatshauses auf seinem Diwan gesessen. In den Schreibtisch – laconischer Regenbaum mit einer Maserung wie Sedimentgestein – war ein Bildschirm integriert, auf dem unzählige Berichte um seine Aufmerksamkeit buhlten. Langsam tickte das Uhrwerk des Reichs, und mit jeder Umdrehung des Rades lief der Mechanismus ein wenig glatter und präziser. Er hatte die Sicherheitsmeldungen aus Auberon geprüft, wo der Gouverneur infolge separatistischer Ausschreitungen begonnen hatte, Einheimische für die Sicherheitskräfte zu rekrutieren. Seine Tochter Teresa war schon wieder zu einem ihrer verbotenen Ausflüge außerhalb des Geländes aufgebrochen. Die einsamen Spaziergänge in der Natur, die sie ungestört von den wachsamen Augen der laconischen Personenschützer zu unternehmen glaubte, waren für ihre Persönlichkeitsentwicklung wichtig. Deshalb beobachtete er die Eskapaden nicht nur mit Nachsicht, sondern auch voller Stolz.

Erst vor Kurzem hatte er ihr erklärt, welche Pläne er für sie hatte. Sie sollte nach ihm selbst Paolo Cortázars zweite Patientin werden, damit sich ihr Bewusstsein öffnete und vertiefte, wie es schon bei ihm geschehen war, sodass sie beide vielleicht nicht ewig, aber doch unbegrenzt lange leben konnten. In hundert Jahren würden sie immer noch das Reich der Menschen anführen. In tausend Jahren. In zehntausend Jahren.

Falls.

Das war der schreckliche Druck, der auf allem lastete. Dieses unerträgliche Falls. Könnte er doch nur diese schreckliche menschliche Selbstzufriedenheit überwinden. Könnte er doch nur dieses gewaltige, verstreute Gewimmel, das die Menschheit war, davon überzeugen, dass sie etwas unternehmen mussten, um dem Schicksal ihrer Vorläufer zu entgehen. Entweder taten sie, was nötig war, um die Dunkelheit auf der dritten Seite der Ringtore zu verstehen und zu besiegen, oder sie starben durch diese Kraft.

Die Experimente im Tecoma-System liefen ab wie alle entscheidenden Schritte in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Seit das erste Säugetier beschlossen hatte, sich auf die Hinterbeine zu erheben, um über das Gras hinwegzublicken. Wenn es funktionierte, würde sich abermals alles verändern. Immer veränderte das Neue alles, was vorher war. Das war die am wenigsten überraschende Tatsache des Lebens.

In diesen letzten Augenblicken hatte er nach seiner Teetasse gegriffen, aber mit einem seiner eigenartigen neuen Sinne, die Dr. Cortázar ihm geschenkt hatte, bemerkt, dass das Getränk bereits kalt war. Das Gespür für die Schwingungen der Moleküle entsprach der physischen Wahrnehmung von Wärme – beides maß dieselbe Realität der Materie –, doch der gewöhnliche menschliche Sinn war wie ein Kind, das mit einer Flöte spielte, während Duarte über ein ganzes Sinfonieorchester neuer Wahrnehmungen verfügte.

Dann kam der letzte Augenblick.

In dem kurzen Moment zwischen dem Entschluss, seinen Kammerdiener eine frische Tasse Tee holen zu lassen, und dem Ausstrecken der Hand zur Steuerung des Coms flog Winston Duartes Bewusstsein auseinander wie ein Strohhaufen in einem Wirbelsturm.

Da waren Schmerzen – sehr starke Schmerzen – und Angst. Aber es war niemand mehr da, der etwas fühlen konnte, also klangen sie rasch ab. Es gab kein Bewusstsein, keine Strukturen und keinen Menschen mehr, der die Gedanken festhalten konnte, die aufkamen und wieder verblassten. Etwas Zarteres – etwas Anmutigeres und Komplexeres – wäre gestorben. Die narrative Kette, die sich selbst als Winston Duarte betrachtete, wurde in Stücke gerissen, doch der Körper, der ihn beherbergte, existierte weiter. Die fein abgestimmten Energieströme in seinem Körper gingen in den unsichtbaren Turbulenzen eines inneren Sturmes unter und verloren jeden Zusammenhalt. Und dann, ohne dass es irgendjemand bemerkte, wurden sie langsamer und kamen zum Stillstand.

Seine dreißig Billionen Zellen nahmen weiterhin Sauerstoff aus der komplizierten Flüssigkeit auf, die sein Blut gewesen war. Die Gebilde, die seine Neuronen gewesen waren, verbanden sich miteinander wie Trinkkumpane, die in einer unbewussten Synchronizität gleichzeitig die Ellenbogen beugten. Etwas, das vorher nicht da gewesen war, entstand. Nicht das Alte, sondern eine neue Struktur, die sich in dem zurückbleibenden leeren Raum ansiedelte. Nicht der Tänzer, sondern ein Tanz. Nicht das Wasser, sondern ein Strudel. Keine Person. Kein Bewusstsein. Aber etwas.

Als das Bewusstsein zurückkehrte, erschien es zuerst in Form von Farben. Blau, aber ohne ein Wort für das Blau. Dann kam Rot. Dann ein Weiß, das ebenfalls etwas bedeutete. Ein Bruchstück einer Idee. Schnee.

Freude kam auf und hielt sich länger als die Angst. Ein umfassendes Staunen wallte empor und griff um sich, ohne ein Medium zu besitzen, das es weitertragen konnte. Strukturen entstanden und vergingen, verbanden sich und lösten sich. Die wenigen, die langsamer zerfielen, gingen manchmal Beziehungen mit anderen ein und konnten sich dadurch etwas länger halten.

Wie ein Baby, das mit Tastsinn, Augenlicht und Kinästhesie nach und nach eine Vorstellung von etwas entwickelte, das es noch nicht »Fuß« nennen konnte, berührten kleine Bewusstseinsfragmente das Universum, und etwas wie Verstehen bildete sich heraus. Etwas spürte seine schwerfällige, primitive Körperlichkeit, während es in die großen Lücken zwischen den Zellen Chemikalien einschleuste. Es erfasste die groben, ungehemmten Schwingungen jenseits der Ringtore, die die Welten verbanden, und es dachte an wunde Stellen und Geschwüre. Es spürte etwas. Es dachte etwas. Es erinnerte sich, wie man sich erinnerte, und dann vergaß es.

Es hatte einen Grund gegeben, ein Ziel. Etwas hatte Gräueltaten gerechtfertigt, um noch Schlimmeres zu verhindern. Er hatte seine Nation verraten. Er hatte sich gegen Milliarden verschworen. Er hatte Menschen zum Tode verurteilt, die ihm bis in den Tod treu ergeben waren. Es hatte einen Grund gegeben. Daran erinnerte er sich. Und er vergaß. Er entdeckte von Neuem das prachtvolle Strahlen von Gelb und gab sich der Erfahrung ganz und gar hin.

Er hörte Stimmen, die wie Sinfonien klangen, und hörte sie wie ein Quaken. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass ein »Er« existierte und dass er selbst es war. Es gab etwas, das er tun sollte. Die Menschheit retten. Etwas in dieser Art, etwas lächerlich Großartiges.

Er vergaß.

Komm zurück. Daddy, komm zurück zu mir.

Wie damals, als sie, noch ein Kleinkind, an seiner Seite geschlafen hatte, konzentrierte er sich automatisch auf sie. Seine Tochter quengelte, und er stand auf, damit es seine Frau nicht tun musste. Teresa hatte irgendwann seine Hand genommen und etwas gesagt. An die Worte konnte er sich nicht erinnern, deshalb blickte er in der Zeit zu dem Moment zurück, in dem sie es ausgesprochen hatte. Dr. Cortázar? Er wird mich töten.

Das fand er nicht richtig. Den Grund konnte er nicht benennen. Der Sturm an jenem anderen Ort war laut, flaute ab, war wieder laut. Da gab es eine Verbindung. Er sollte die Menschen vor den Wesen in dem Sturm retten. Vor den Wesen, die der Sturm waren. Oder vor ihrer eigenen allzu menschlichen Natur. Doch seine Tochter war da, und sie war interessant. Er sah die Verzweiflung durch ihr Gehirn und durch den ganzen Körper fluten. Der Kummer in ihrem Blut strahlte wie eine Witterung ringsherum in die Luft aus. Er wollte etwas. Er wollte sie trösten und beruhigen. Er wollte alles wiedergutmachen, was ihr zugestoßen war. Noch interessanter aber war, dass er zum ersten Mal etwas wollte.

Der seltsame Eindruck, als er diese Dinge fühlte, zerrte an seiner Aufmerksamkeit, und er irrte ab. Er hielt ihre Hand und wanderte. Als er zurückkehrte, hielt er immer noch ihre Hand, doch sie war jemand anders. Sir, wir müssen Sie jetzt scannen. Es tut nicht weh.

Dr. Cortázar, er erinnerte sich. Er wird mich töten. Er wedelte Cortázar weg, indem er in die leeren Räume zwischen den winzigen Flöckchen stieß, die ihn zu einer physischen Erscheinung machten, bis der Mann davonwehte wie Staub. So. Das war erledigt. Doch die Anstrengung hatte ihn erschöpft, und sein Körper tat weh. Er gestattete sich abzuirren, bemerkte dabei aber, dass er sich nicht mehr so weit entfernte. Sein Nervensystem war zertrümmert, wuchs jedoch wieder zusammen. Sein Körper bestand darauf, dass es weitergehen musste, obwohl es nicht weitergehen konnte. Er bewunderte seine störrische Weigerung zu sterben, als wäre sie etwas, das außerhalb von ihm selbst existierte. Der dumpfe, rein körperliche Drang weiterzuschreiten, die Entschlossenheit jeder Zelle, weiterzuarbeiten, das störrische Bedürfnis, die Existenz fortzusetzen, das alles erforderte nicht einmal einen Willen. Und das alles hatte eine Bedeutung. Es war wichtig. Er musste sich nur erinnern, warum. Es hatte mit seiner Tochter zu tun. Damit, dass sie wohlbehalten und sicher leben sollte.

Er erinnerte sich. Daran, dass er ein Mann war, der sein Kind liebte, und so erinnerte er sich, dass er ein Mann war. Dieses Band war stärker als der Ehrgeiz, der ein Reich aufgebaut hatte. Er erinnerte sich, dass er sich in etwas verwandelt hatte, das anders war als ein Mensch. Mehr als ein Mensch. Und er begriff, wie ihn diese fremdartige Stärke zugleich geschwächt hatte. Und wie ihn der primitive, für Schuldgefühle unempfängliche Lehm seines Körpers vor der Vernichtung bewahrt hatte. Das Schwert, das eine Milliarde Engel getötet hatte, konnte die Primaten in ihren Blasen aus Metall und Luft höchstens ein wenig belästigen. Und ein Mann namens Duarte, auf halbem Wege zwischen Engel und Affen, war zerbrochen, aber nicht gestorben. Die Scherben waren ihren eigenen Weg gegangen.

Da war noch jemand anders. Ein Mann mit ausgetrockneten Flussbetten im Gehirn. Ein anderer Mann, der verändert worden war. James Holden. Der Feind, der einen gemeinsamen Feind bekämpft hatte. Damals, bevor Winston Duarte zerbrochen und im Zerbrechen zu etwas Neuem geworden war.

Mit unendlicher Mühe und Sorgfalt zog er die unerträgliche Weite und Komplexität seines Bewusstseins zusammen, immer weiter zusammen, und verdichtete sich zu dem, was er gewesen war. Das Blau verblasste zu der Farbe, die er als Mensch gekannt hatte. Das Gefühl, dass gleich auf der anderen Seite ein gewaltiger, gefährlicher Sturm tobte, verflog. Er spürte die warme, nach Eisen riechende Muskulatur seiner Hand, die nichts hielt. Dann schlug er die Augen auf, drehte sich zur Com-Anlage um und öffnete eine Verbindung.

»Kelly«, sagte er. »Könnten Sie mir einen frischen Tee bringen?«

Die Pause dauerte länger, als man angesichts der Umstände hätte erwarten können. »Ja, Sir«, antwortete Kelly.

»Danke.« Duarte trennte die Verbindung.

In seinem Arbeitszimmer hatte man ein Krankenbett mit einer Schaumstoffmatratze aufgestellt, die das Wundliegen verhindern sollte, doch er saß am Schreibtisch, als hätte er ihn nie verlassen. Er machte eine Bestandsaufnahme seines Körpers und registrierte dessen Schwächen. Die ausgezehrten Muskeln. Er stand auf, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und ging zum Fenster, weil er wissen wollte, ob er es konnte. Es gelang ihm.

Draußen blitzte es, der Regen trommelte. Auf den Gehwegen standen Pfützen, das Gras war saftig und sauber gewaschen. Er griff nach Teresa hinaus und fand sie. Sie war nicht in der Nähe, aber sie schwebte auch nicht in Gefahr. Es war, als sähe er sie wieder durch die Wildnis trampeln, nur ohne die Hilfe der künstlichen Kameraobjektive. Die Liebe und Nachsicht, die er für sie empfand, waren unerschöpflich. So weit wie das Meer. Aber dies hier war nicht dringend. Der beste Ausdruck seiner Liebe war seine Arbeit. Also wandte er sich ihr zu, als sei es ein ganz normaler Tag.

Wie er es jeden Morgen getan hatte, rief Duarte eine Zusammenfassung der Dossiers auf. Normalerweise war ein solcher Bericht nur eine Seite lang. Dieser war so umfangreich wie ein Buch. Er sortierte die Meldungen nach Themengebieten und holte diejenigen hervor, die sich um den Verkehrsfluss durch den Ringraum drehten.

Die Dinge waren, um es vorsichtig auszudrücken, während seiner Abwesenheit nicht gut gelaufen. Wissenschaftliche Memoranden über den Verlust der Medina-Station und der Typhoon. Militärische Analysen der Belagerung von Laconia und zum Verlust der Konstruktionsplattformen. Geheimdienstberichte über die erstarkende Opposition in den weit verstreuten Systemen der Menschheit. Admiral Trejos Versuche, den Traum vom Reich auch ohne ihn zu hüten.

Nicht lange nach dem Tod ihrer Mutter hatte es eine Phase gegeben, in der Teresa darauf bestanden hatte, ihm das Frühstück zuzubereiten. Sie war so jung gewesen, jung und noch nicht dazu fähig, und sie war gescheitert. Er erinnerte sich an das geröstete Brot, auf dem sich ein Berg Marmelade türmte, oben darauf ein Eckchen nicht geschmolzener Butter. Die Kombination aus Ehrgeiz, Zuneigung und Pathos war auf ihre eigene Weise wunderschön gewesen. Die Art von Erinnerungen, die überlebten, weil Liebe und Peinlichkeit einander so perfekt ergänzten. Dies hier fühlte sich genauso an.

Sein Bewusstsein für den Ringraum war jetzt klar. Er hörte die Echos im Gewebe der Realität, als presste er das Ohr auf ein Schiffsdeck, um den Zustand des Antriebs einzuschätzen. Das Toben des Feindes war für ihn so offenkundig, als hörte er dessen Stimmen. Das Kreischen, das in einem Medium, das keine Luft war, in einer Dimension gellte, die keine Zeit war.

»Admiral Trejo«, sagte er. Anton zuckte zusammen.

Es war die fünfte Woche der kombinierten Presse- und Eroberungskampagne im Solsystem. Erschöpft, nachdem er den ganzen Tag lang lokalen Anführern und Beamten die Hände geschüttelt und Reden gehalten hatte, saß er in seiner Kabine. Er war das Gesicht des beinahe getaumelten Reichs und achtete darauf, dass niemand erfuhr, wie nahe sie dem Untergang gewesen waren. Nach den langen Wochen unter hohem Schub, nachdem sie Laconia verlassen hatten, war er müde. Er wollte nichts lieber als einen steifen Drink und acht Stunden Schlaf im Bett. Oder gleich zwanzig. Stattdessen musste er an einer Videokonferenz mit Generalsekretär Duchet und seinem marsianischen Pendant teilnehmen. Beide waren auf Luna und damit so nahe, dass es keine Zeitverzögerung gab. Die Politiker logen ihn lächelnd an. Trejos Lächeln war drohend.

»Natürlich verstehen wir, wie wichtig es ist, die orbitalen Schiffswerften so schnell wie möglich wieder in Gang zu bringen. Wir müssen unbedingt unsere gemeinsame Verteidigung wiederaufbauen«, erklärte Duchet. »Aber angesichts der gesetzlosen Zustände nach dem kürzlichen Angriff auf Laconia gilt unsere größte Sorge der Sicherheit der Einrichtungen. Wir brauchen eine Art Garantie, dass Ihre Schiffe fähig sind, diese wertvollen Anlagen zu beschützen. Wir wollen uns nicht selbst als Ziel anbieten, das der Untergrund jederzeit ins Visier nehmen kann.«

Sie haben dich gerade eben in den Arsch getreten, sie haben deine Fabriken in die Luft gejagt, du hast zwei deiner mächtigsten Schlachtschiffe verloren und hast Mühe, das Reich beisammenzuhalten. Hast du überhaupt genug Schiffe, um uns zu zwingen, für dich zu arbeiten?

»Es ist wahr, wir haben Rückschläge erlitten.« Wie meistens, wenn er wütend war, sprach Trejo mit einem leiernden Akzent. »Aber es besteht kein Anlass zur Sorge. Wir haben mehr als genug Zerstörer der Pulsar-Klasse, um im gesamten Solsystem die Sicherheit zu gewährleisten.«

Ich habe euch gerade mit zwei Dutzend dieser Schiffe erobert, und ich habe noch erheblich mehr davon, die ich herbeirufen kann, falls es nötig wird, also tut ihr jetzt gefälligst, was ich verlange.

»Das ist wirklich gut zu hören«, warf der marsianische Premierminister ein. »Bitte teilen Sie dem Hochkonsul mit, dass wir keine Mühen scheuen werden, um seine Produktionsvorgaben zu erfüllen.«

Bitte befehlen Sie keine Flächenbombardements auf unsere Städte.

»Ich werde es ihm sagen«, antwortete Trejo. »Der Hochkonsul weiß Ihre Unterstützung und Loyalität zu schätzen.«

Duarte ist ein sabbernder Idiot, aber wenn ihr mir die Schiffe gebt, damit ich das Reich zusammenhalten kann, muss ich eure verdammten Planeten nicht in Schlacke verwandeln, und vielleicht siegen wir dann doch noch.

Trejo trennte die Verbindung und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Leise rief ihn die Flasche Whisky in seinem Schrank. Das frisch gemachte Bett war lauter. Er hatte für beides keine Zeit. Der Untergrund zettelte in mehr als tausenddreihundert Systemen Aufstände an. Und das war nur das Problem, das er mit den Menschen hatte. Danach musste er sich um die Tore kümmern und um das in ihnen, was in ganzen Systemen das Bewusstsein ausknipste, während es nach Wegen suchte, die gesamte Menschheit zu vernichten.

Das Böse ruhte nicht, das Gute fand keinen Schlaf.

»Verbinde mich mit der Vertreterin der Weltenvereinigung im Solsystem. An den Namen erinnere ich mich nicht«, sagte er. Niemand außer dem Schiff hörte ihn.

VERBINDE, stand auf dem Bildschirm. Zeit für die nächsten lächelnden Lügen. Noch mehr versteckte Drohungen. Noch mehr – er benutzte das Wort fast wie ein Synonym – Diplomatie.

»Admiral Trejo«, sagte jemand hinter ihm. Er kannte die Stimme, aber es kam so unerwartet, dass er Mühe hatte, sie richtig einzuordnen. Einen Moment lang gab er sich der völlig abwegigen Vorstellung hin, sein Attaché habe sich die ganze Zeit in seiner Kabine versteckt und diesen Augenblick gewählt, um zum Vorschein zu kommen.

»Anton«, sagte die Stimme so leise und vertraulich, als spräche ein Freund. Trejo drehte sich auf dem Stuhl um. Am Fußende seines Betts stand Winston Duarte, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Er trug ein locker sitzendes Freizeithemd, schwarze Hosen und keine Schuhe an den Füßen. Seine Haare waren zerzaust, als wäre er gerade erst aufgewacht. Er sah aus, als sei er tatsächlich da.

»Sicherheitsalarm«, sagte Trejo. »Dieser Raum, volle Überprüfung.«

Duarte verzog schmerzlich das Gesicht. »Anton«, sagte er noch einmal.

Einige Millisekunden später hatte das Schiff jeden Zentimeter seiner Kabine daraufhin untersucht, ob sich dort irgendetwas befand, das nicht dort sein sollte. Der Bildschirm meldete, dass der Raum frei sei von Abhörgeräten, gefährlichen Chemikalien und nicht autorisierter Technologie. Außerdem war er der einzige Mensch, der sich in dem Raum befand. Das Schiff fragte, ob er bewaffnete Sicherheitskräfte anfordern wollte.

»Habe ich einen Schlaganfall?«, fragte er die Erscheinung.

»Nein«, antwortete Duarte. »Aber Sie sollten sich mehr Schlaf gönnen.« Der Geist in seiner Kabine zuckte fast verlegen mit den Achseln. »Anton, hören Sie, Sie haben alles getan, was man nur von Ihnen verlangen konnte, um das Reich beisammenzuhalten. Ich habe die Berichte gesehen und weiß, wie schwierig diese Aufgabe war.«

»Sie sind gar nicht hier.« Trejo versteifte sich auf die einzige denkbare Realität und verwarf die Lügen, die seine Sinne ihm eingaben.

»Das Wort hier ist für mich inzwischen ein dehnbarer Begriff«, stimmte Duarte zu. »So sehr ich Ihre Arbeit auch schätze, Sie können sich jetzt zurückziehen.«

»Nein, es ist noch nicht vorbei. Ich kämpfe immer noch dafür, das Reich zu bewahren.«

»Das weiß ich wirklich zu schätzen. Ehrlich. Aber wir haben einen falschen Weg eingeschlagen. Ich brauche ein wenig Ruhe, um das alles zu durchdenken, aber ich sehe es jetzt viel klarer. Alles wird gut.«

Die Erleichterung, endlich diese Worte zu hören – und sie zu glauben –, durchflutete Trejo. Nicht einmal der erste Kuss einer Geliebten war so überwältigend gewesen wie dieses Gefühl.

Duarte schüttelte belustigt und wehmütig den Kopf. »Sie und ich, wir haben ein Reich aufgebaut, das die Galaxis umfasst. Wer hätte ahnen können, dass wir zu klein gedacht haben?«

Das Bild, die Illusion, die Projektion, was es auch war, verschwand so abrupt wie beim Szenenwechsel im Film.

»Leck mich doch«, sagte Trejo zu niemand im Besonderen. Auf dem Display über dem Schreibtisch blinkte immer noch der Sicherheitsalarm. Mit einer Hand aktivierte er den Com.

»Sir«, antwortete der Wachhabende. »Wir haben eine aktive Warnmeldung in Ihrem Quartier. Sollen wir …«

»Sie haben fünf Minuten für die Vorbereitungen, ehe wir mit maximalem Schub zum Ring fliegen.«

»Sir?«

»Geben Sie Alarm«, befahl Trejo. »Alle sollen sich auf die Druckliegen begeben. Wir müssen zurück nach Laconia. Unverzüglich.«

1    Jim

»Sie pingen uns an«, sagte Alex. Seine Stimme klang gelassen, es war fast ein Singsang, was bedeutete, dass sie im Eimer waren.

Jim saß auf dem Operationsdeck und hatte eine taktische Karte des Kronos-Systems vor sich auf dem Display. Sein Herzschlag beschleunigte sich, und er wollte widersprechen. »Nur weil er anklopft, weiß er doch noch lange nicht, wer zu Hause ist. Wir machen weiter wie gehabt.«

Die Rosinante verhielt sich wie ein Kurzstreckenfrachter und ahmte einen Schiffstyp nach, der im Kronos-System häufig vorkam. Naomi hatte den Epstein-Antrieb manipuliert, um die Antriebssignatur zu verändern, ohne allzu viel unnütze Abwärme zu erzeugen. In einer Untergrundwerft im Harris-System hatten sie zusätzliche Platten an die Hülle schweißen lassen, um die Silhouette zu verändern. Oben auf dem Schiff tröpfelte langsam flüssiger Wasserstoff heraus und veränderte auch das Wärmeprofil. Als Naomi den Plan, mit dem sie sich tarnen wollten, durchgegangen war, hatte alles sehr einleuchtend geklungen. Angesichts der drohenden Gewalt fühlte Jim sich allerdings schutzlos.

Die feindliche Fregatte war die Black Kite. Kleiner als die Zerstörer der Storm-Klasse, aber immer noch gut bewaffnet und mit der selbstheilenden Außenhülle versehen, die es so schwer machte, laconische Schiffe zu vernichten. Sie gehörte zu einem Suchtrupp, der in allen bewohnten Systemen nach Teresa Duarte fahndete – nach der entlaufenen Tochter des Hochkonsuls Winston Duarte und der Erbin des Reichs, die im Augenblick als auszubildende Mechanikerin auf der Rosinante beschäftigt war.

Es war nicht das erste Mal, dass sie so etwas erlebten.

»Kommt da noch mehr?«, fragte Jim.

»Nur der Lidar-Ping«, antwortete Alex. »Soll ich für alle Fälle die Erbsenpistole hochfahren?«

Ja, unbedingt, wollte Jim antworten, doch nun schaltete sich Naomi ein. »Nein. Es spricht einiges dafür, dass ihre neuartigen Sensoren die Kondensatoren einer Railgun erkennen können.«

»Das ist doch unfair«, schimpfte Jim. »Was eine Crew in der Privatsphäre ihres Schiffs mit einem Railgun-Kondensator tut, sollte niemanden etwas angehen.«

Er hörte, dass Naomi lächelte, während sie ihm antwortete. »Im Prinzip bin ich ganz deiner Meinung, aber wir sollten die Waffen offline lassen, solange wir sie nicht unbedingt brauchen.«

»Verstanden«, bestätigte Alex.

»Immer noch nichts weiter?«, fragte Jim, obwohl er Zugriff auf die gleichen Daten wie Alex hatte. Alex sah trotzdem nach.

»Keine Nachricht über den Com.«

Kronos war kein wirklich totes System, aber es stand dicht davor. Der Stern war groß und verbrannte seine restliche Energie sehr schnell. Irgendwann hatte es einen bewohnbaren Planeten in der Lebenszone gegeben – oder jedenfalls so bewohnbar, dass das Protomolekül die nötige Biomasse kapern konnte, um ein Ringtor zu bauen. Doch in den seltsamen Äonen seit der Entstehung des Tores, bis die Menschheit über die Alien-Ruinen gestolpert war, hatte sich die Biosphäre verschoben. Der ursprünglich für Leben geeignete Planet war noch nicht ganz in der Sonne aufgegangen, doch die Ozeane waren verdampft, und die Atmosphäre war weggeweht. Das einzige einheimische Leben in diesem System existierte jetzt auf dem feuchten Mond eines äußeren Gasriesen, bestand aber lediglich aus heftig miteinander konkurrierenden kontinentgroßen Schichten von schleimigem Schimmel.

Die menschlichen Bewohner des Kronos-Systems waren etwa zehntausend Bergleute auf siebenhundertzweiunddreißig aktiven Abbaustellen. Firmen, von Regierungen geförderte Interessengruppen, unabhängige Felsenhüpfer und unangenehme Mischformen aus allen dreien gewannen im reich gesegneten Asteroidengürtel Palladium und schickten es an jeden, der Luftrecycler baute oder Terraforming betrieb.

Also praktisch an jeden.

Früher hatte sich Kronos am Rand des Einflussbereichs der Transportgewerkschaft befunden, dann hatte das System zum Hinterland des Laconischen Reichs gehört, und jetzt wusste niemand genau, was es eigentlich war. Im Tornetzwerk gab es Hunderte Systeme wie dieses. Orte, die sich noch nicht selbst versorgen konnten oder es gar nicht wollten, weil sie vor allem darauf aus waren, ihre ökonomische Nische zu finden, ohne an umfassenden Koalitionen interessiert zu sein. An Orten wie diesen konnte sich der Untergrund leicht verbergen, Schiffe reparieren und die nächsten Schritte planen. Auf der taktischen Karte trieben die mit Umlaufbahn, Erkundungsstatus, Zusammensetzung und Besitzverhältnissen markierten Asteroiden um den zornigen Stern wie Pollen im Frühling. Die Schiffe drängten sich dutzendfach um die Abbaustellen und Erkundungsstützpunkte, und mindestens genauso viele weitere waren draußen in der Einsamkeit mit irgendwelchen Aufträgen zwischen kleinen Vorposten unterwegs oder um Strahlenschutzplatten und Wasser als Reaktionsmasse zu beschaffen.

Vor drei Tagen war die Black Kite durch das Ringtor gekommen, hatte den Funkrepeater des Untergrunds auf der Oberfläche des Tors mit einem Torpedo zerstört und war mit leichtem Schub an Ort und Stelle verharrt wie ein Türsteher vor einem noblen Nachtclub. Die Ringtore kreisten nicht um die Sterne, sondern blieben an fixen Positionen, als hätte man sie im Vakuum an einem Haken befestigt. Das war nicht einmal das Seltsamste an ihnen. Jim hatte sich der Hoffnung hingegeben, dass sich die Kite damit zufriedengeben würde, den Sender des Untergrunds zu zerstören. Vielleicht wäre der kleine Akt des Vandalismus genug, und sie würden sich wieder verziehen, um in einem anderen System die metaphorischen Telefonleitungen zu kappen.

Doch das Schiff war geblieben und hatte das System gescannt. Es suchte sie. Es suchte Teresa. Und Naomi, dem Namen nach die Anführerin des Untergrunds. Und ihn selbst.

Das Com-Display zeigte in Grün eine eingehende Nachricht an. Jims Magen verkrampfte sich. Angesichts der Entfernung würde eine etwaige Schlacht erst in Stunden beginnen, doch der Adrenalinstoß war so heftig, als hätte jemand eine Pistole abgefeuert. Die Furcht war so akut und überwältigend, dass ihm zunächst nichts Ungewöhnliches auffiel.

»Rundruf«, sagte Alex über den Schiffscom. »Merkwürdig, das ist kein Richtstrahl. Ich glaube nicht, dass wir gemeint sind.«

Jim öffnete den Kanal.

Die Frau sprach knapp, emotionslos und förmlich mit dem Akzent des laconischen Militärs. »… als feindselige Aktion betrachtet und entsprechend beantwortet. Ich wiederhole. Hier ist die Black Kite mit einer Nachricht für den Frachter Perishable Harvest. Auf Befehl der laconischen Sicherheitskräfte werden Sie den Antrieb abschalten und sich für unsere Kräfte bereithalten, die zu einer Inspektion an Bord kommen werden. Eine Weigerung wird als feindselige Aktion betrachtet und entsprechend beantwortet. Ich wiederhole …«

Jim legte einen Filter über die taktische Karte. Die Perishable Harvest war in Umlaufrichtung etwa dreißig Grad von der Rosinante entfernt und hielt auf die riesige zornige Sonne zu. Falls sie die Nachricht bekommen hatten, so hatten sie bisher nicht reagiert.

»Ist das eines von unseren?«, fragte Jim.

»Nein«, antwortete Naomi. »Es ist aufgeführt als Eigentum eines gewissen David Calrassi aus Bara Gaon. Mehr weiß ich nicht darüber.«

Angesichts der Zeitverzögerung hätte der Frachter den Befehl der Black Kite zehn Minuten vor der Rosinante empfangen können. Jim stellte sich vor, wie die Crew da drüben in Panik geriet, weil sie genau die Nachricht erhalten hatte, die sie am meisten fürchtete. Was jetzt auch geschehen würde, die Rosinante war im Augenblick nicht im Fadenkreuz. Er wünschte, er könnte die Erleichterung wirklich tief empfinden.

Jim schnallte sich von der Druckliege ab und schwenkte die Beine auf den Boden. Die Lager zischten unter seinem Gewicht.

»Ich gehe mal eben runter in die Kombüse«, erklärte er.

»Bring mir einen Kaffee mit«, bat Alex ihn.

»O nein, ich hole mir keinen Kaffee. Mir ist eher nach Kamille oder warmer Milch. Irgendetwas, das beruhigt und nicht aggressiv ist.«

»Klingt gut«, meinte Alex. »Aber wenn du es dir anders überlegst und dir einen Kaffee machst, nehme ich auch einen.«

Im Aufzug lehnte Jim sich an die Wand und wartete, bis sich sein Herzschlag wieder beruhigte. So begann doch ein Herzinfarkt, oder? Ein erhöhter Puls, der sich nicht mehr beruhigen wollte, bis irgendwo ein Gefäß platzte. Wahrscheinlich stimmte das gar nicht, aber so fühlte es sich an. So fühlte er sich die ganze Zeit.

Es wurde besser. Einfacher. Der Autodoc hatte das Neuwachstum seiner fehlenden Zähne überwacht. Abgesehen von der würdelosen Notwendigkeit, sich das Zahnfleisch betäuben zu lassen wie ein Kleinkind, war es gut verlaufen. Die Albträume waren inzwischen alte Bekannte. Sie hatten auf Laconia begonnen, als er noch ein Gefangener des Hochkonsuls Duarte gewesen war. Er hatte damit gerechnet, dass sie sich legten, sobald er wieder frei wäre, doch sie waren schlimmer geworden. Die neueste Version drehte sich darum, lebendig begraben zu werden. Besonders häufig kam es vor, dass jemand, den er liebte, nebenan ermordet wurde, und er konnte das Codeschloss nicht schnell genug knacken, um denjenigen zu retten. Oder er hatte einen Parasiten unter der Haut und suchte eine Möglichkeit, ihn herauszuschneiden. Oder die Wächter auf Laconia kamen und verprügelten ihn, bis der Zahn wieder abbrach. Wie sie es ja schon getan hatten.

Das Positive war, dass die alten Albträume darüber, in denen er vergessen hatte, sich anzuziehen, oder dass er für eine Prüfung nicht genug gelernt hatte, aus der Rotation genommen wurden. Sein eigenartig rachsüchtiges Traumleben war im Grunde gar nicht so schlimm.

Trotzdem gab es Tage, an denen er das Gefühl einer Bedrohung nicht abschütteln konnte. Manchmal verlegte sich ein Winkel seines Geistes auf die unbegründete und absurde Gewissheit, sein altes laconisches Folterteam werde ihn jeden Moment entdecken. Oder es war die weniger irrationale Furcht vor den Dingen hinter den Toren. Die Apokalypse, die die Schöpfer des Protomoleküls zerstört hatte und drauf und dran war, auch die Menschheit zu vernichten.

Vor diesem Hintergrund war er vielleicht doch nicht der kaputte Teil in der Gleichung. Vielleicht war die Gesamtsituation so übel, dass es ein Anzeichen des Wahnsinns gewesen wäre, sich selbst so heil und gesund zu sehen wie der Mann, der er vor der laconischen Gefangenschaft gewesen war. Trotzdem wünschte er sich, er könne erkennen, ob dieses Schaudern, das in Wellen kam, eine Resonanz des nicht sauber eingestellten Antriebs war, oder ob es doch nur an ihm selbst lag.

Der Aufzug hielt an, und er trat hinaus und wandte sich zur Kombüse. Das leise, rhythmische Pochen einer Hunderute verriet ihm, dass Teresa und Bisam schon dort waren. Amos – schwarzäugig, mit grauer Haut und zurückgekehrt von den Toten – war ebenfalls anwesend. Er saß mit seinem üblichen neutralen Lächeln auf den Lippen am Tisch. Jim hatte nicht gesehen, wie er in Laconia einen Schuss in den Kopf bekommen hatte, aber er wusste von den Drohnen, die die Stücke seines Körpers aufgehoben und repariert hatten. Naomi rang noch mit sich, ob dieses Wesen, das sich Amos nannte, wirklich der Mechaniker war, mit dem sie so viele Jahre geflogen war, oder ob er jetzt ein Alien-Mechanismus war, der sich für Amos hielt, weil er aus dessen Körperteilen und Gehirnzellen konstruiert worden war. Jim hatte beschlossen, dass Amos immer noch Amos war, auch wenn er manchmal Dinge wusste, die sich als Informationsbröckchen aus der uralten Alienwelt entpuppten. Er hatte sowieso nicht die Kraft, eingehender über Amos nachzudenken.

Außerdem mochte ihn der Hund. Das Tier war nicht unbedingt der perfekte Kritiker, aber wahrscheinlich der am wenigsten unvollkommene.

Bisam saß vor Teresas Füßen, blickte hoffnungsvoll zu Jim empor und pochte wieder mit der Rute auf das Deck.

»Ich habe kein Würstchen«, sagte Jim zu den ausdrucksvollen braunen Augen. »Du musst dich wie wir alle mit Grütze begnügen.«

»Du hast sie verzogen«, sagte Teresa. »Daran wird sie dich immer erinnern.«

»Wenn ich in den Himmel komme, dann bitte deshalb, weil ich Hunde und Kinder verwöhnt habe«, erklärte Jim und ging zum Spender. Automatisch wählte er einen Beutel Kaffee. Dann wurde ihm bewusst, was er getan hatte, und er zapfte einen weiteren für Alex.

Teresa Duarte zuckte mit den Achseln und richtete die Aufmerksamkeit wieder auf den Schlauch mit Pilzen, Gewürzen und Ballastfasern, die ihr Frühstück darstellten. Sie hatte sich die Haare zu einem dunklen Pferdeschwanz zurückgebunden, und ihre Mundwinkel zeigten die ewige leichte Missbilligung, die entweder eine Eigentümlichkeit ihrer Physiologie oder ein Charakterzug war. Jim hatte gesehen, wie sie im Staatshaus von einem frühreifen Kind zu einer rebellischen Jugendlichen herangewachsen war. Sie war jetzt fünfzehn, und es war ernüchternd, wenn er daran dachte, was er in ihrem Alter gewesen war: ein schmächtiger dunkelhaariger Junge in Montana ohne großen Ehrgeiz, abgesehen von der Gewissheit, dass er immer noch zur Navy gehen konnte, wenn sich nichts anderes ergab. Teresa schien älter zu sein als der jugendliche Jim damals, sie wusste viel mehr über das Universum und war erheblich wütender darauf. Vielleicht ging beides sogar Hand in Hand.

Als er in die Gefangenschaft ihres Vaters geraten war, hatte sie sich anfangs vor ihm gefürchtet. Jetzt, auf Jims Schiff, war die Angst völlig verflogen. Damals war er ihr Feind gewesen, und er war immer noch nicht sicher, ob sie ihn inzwischen als Freund betrachtete. Die emotionalen Umbrüche einer Jugendlichen, die einsam aufwuchs, waren vermutlich komplizierter, als er es je verstehen konnte.

Der Spender hatte seinen und Alex’ Beutel abgefüllt. Jim nahm beide an sich und freute sich über die Wärme in den Händen. Das Schaudern war fast verflogen, und der bittere Kaffee war beruhigender als Tee.

»Wir müssen bald Nachschub aufnehmen«, erklärte Amos.

»Wirklich?«

»Wasser ist kein Problem, aber wir könnten Treibstoffpellets gebrauchen. Und die Recycler sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.«

»Wie schlimm ist es?«

»Ein paar Wochen geht es noch«, meinte Amos.

Jim nickte. Sein erster Impuls war es, dies als Problem abzutun, um das er sich an einem anderen Tag kümmern konnte. Das war jedoch falsch. Leck mich, wenn es nicht in diesem Moment passiert − das war die Art und Weise, wie man in Krisen dachte. Wenn er diese Einstellung nicht überwand, mussten sie später mit umso größeren Krisen rechnen.

»Ich rede mit Naomi«, versprach er. »Wir überlegen uns etwas.« Vorausgesetzt, die Laconier finden uns nicht. Vorausgesetzt, die Wesen in den Toren töten uns nicht. Vorausgesetzt, irgendeine der anderen tausend Katastrophen, die ich mir nicht einmal vorstellen kann, bringt uns nicht um, ehe das wichtig wird. Er trank noch einen Schluck Kaffee.

»Wie geht es denn so, Käpt’n?«, fragte Amos. »Du wirkst ein bisschen nervös.«

»Gut«, antwortete Jim. »Ich überspiele die ständig unter der Oberfläche lauernde Panik mit ein wenig Humor, genau wie alle anderen.«

Amos saß einen Augenblick völlig still da – eine Eigenart seiner neuen Persönlichkeit –, dann wurde sein Lächeln ein wenig breiter. »Alles klar.«

Alex unterbrach über den Schiffscom. »Wir haben da was.«

»Etwas Gutes?«

»Kann sein«, berichtete Alex. »Die Perishable Harvest hat gerade eine Art Flüssigkeit abgelassen und gibt wie von Furien gehetzt Schub in Richtung der großen Handelsstation im äußeren Gürtel.«

»Verstanden«, sagte Naomi ebenfalls über den Com mit der neuen Stakkato-Ruhe, die Jim bei sich als »Kommandantin-Nagata-Stimme« bezeichnete. »Bestätigt.«

»Und die Black Kite?«, fragte Jim die Wand.

Alex und Naomi schwiegen einen Augenblick, dann sagte Alex: »Sieht aus, als nähmen sie die Verfolgung auf.«

»Also entfernen sie sich vom Ringtor?«

»Ja, genau«, bestätigte Alex. Die Freude in seiner Stimme war unverkennbar.

Jim war erleichtert, doch es dauerte nur einen Moment. Er dachte bereits darüber nach, ob es sich um eine Falle handelte. Wenn die Rosinante den Ring zu früh ansteuerte, erregte sie Aufmerksamkeit. Selbst wenn sein Schiff der Black Kite entkam, lauerte vielleicht eine weitere laconische Einheit im Ringraum, um fliehende Transporter abzufangen.

»Warum hauen die ab?«, überlegte Teresa. »Die glauben doch nicht, dass sie entkommen können, oder? Das wäre dumm.«

»Sie versuchen nicht, das Schiff zu retten«, warf Amos ein. Er sprach mit einem geduldigen, beinahe philosophischen Tonfall, als erklärte er ihr, wie man unter Mikroschwerkraft eine gute Schweißnaht hinbekam, oder wie man die Dichtung eines Rohrs überprüfte. Es war die Stimme eines Lehrers, der seiner Schülerin geduldig erklärte, wie die Welt funktioniert. »Wenn sie etwas an Bord hatten, das Laconia wütend machen würde, können sie es nicht verbergen. Nicht in einem so dünn besiedelten System. Und es gibt keine Möglichkeit, unterzutauchen und den Transponder zu wechseln, also ist das Schiff im Arsch. Die Handelsstation ist groß genug, sodass sie vielleicht die Crew von Bord bekommen und auf andere Schiffe schleichen oder so tun können, als wären sie die ganze Zeit schon dort gewesen.«

»Sie laufen dorthin, wo sie ein Versteck finden«, antwortete Teresa.

»Und je mehr Vorsprung sie haben, desto besser sind ihre Aussichten, einen guten Unterschlupf zu finden«, bekräftigte Amos.

Das könnten auch wir sein, überlegte Jim. Hätte die Black Kite entschieden, dass wir zwielichtiger aussehen als die Perishable Harvest, dann würden jetzt wir unser Schiff opfern und hoffen, dass wir uns klein machen können und übersehen werden. Allerdings traf das nicht zu. In Kronos oder sonst irgendwo gab es kein Versteck, das unscheinbar genug war, um unterzutauchen und sicher zu sein, dass Laconia dort nicht nachschaute. Der beste Plan war, offen zu fliegen und unerkannt zu bleiben, denn Plan B bedeutete Gewalt.

Er war nicht der Ansicht, dass er laut gesprochen oder ein Geräusch von sich gegeben hatte, das seine Sorgen verriet, aber vielleicht hatte er es doch getan, denn Teresa sah ihn mit einem Ausdruck an, der zwischen Gereiztheit und Mitgefühl schwankte. »Vergiss nicht, ich werde nicht zulassen, dass sie euch etwas tun.«

»Ich weiß, dass du es versuchen wirst«, antwortete Jim.

»Ich bin immer noch die Tochter des Hochkonsuls«, erwiderte sie. »Ich habe euch schon einmal herausgepaukt.«

»Ich würde mich nicht darauf verlassen, dass dieser Trick noch öfter funktioniert«, wandte Jim etwas schärfer ein, als es seine Absicht gewesen war. Bisam regte sich, stand auf und sah unsicher zwischen Jim und Teresa hin und her. Teresas Blick wurde hart.

»Ich glaube, der Kapitän will damit sagen, dass er sich nicht wohl damit fühlt, dich als lebenden Schutzschild einzusetzen«, warf Amos ein. »Es ist ja nicht so, dass du es nicht tun würdest, denn du hast es schon getan. Aber die Leute, die uns im Visier haben – wir kennen sie nicht, und sie sind möglicherweise unberechenbar. Je weniger wir uns auf sie verlassen müssen, desto besser ist es.«

Teresa machte eine finstere Miene, entspannte sich aber ein wenig.

»Ja«, bestätigte Jim. »Das war gut ausgedrückt.«

»Manchmal kann ich das ganz gut.« Man wusste nie, wann Amos scherzte und wann nicht. »Willst du das Schiff bereit machen, damit wir schnell abhauen können? Wir haben noch genug Reaktionsmasse, um starken Schub zu geben.«

»Ich dachte, wir brauchen Pellets.«

»Das ist richtig, aber wir können den restlichen Vorrat verbrauchen, während wir Kronos verlassen. Wir setzen das Wasser auf die Einkaufsliste und verschwinden. Was uns wirklich Sorgen machen sollte, sind die Recycler.«

Der Gedanke entwickelte einen stärkeren Zug als die Schwerkraft. Den Antrieb zünden, den Bug auf das Ringtor richten und mit Höchstgeschwindigkeit verschwinden, ehe der Feind sie schnappen konnte. Unwillkürlich hätte Jim beinahe die Beutel losgelassen. »Naomi, was denkst du?«

Nach einem kurzen Schweigen antwortete sie: »Entschuldige, ich habe nicht zugehört. Wie war die Frage?«

»Sollen wir die Rosinante vorbereiten, um blitzschnell zu verschwinden? Sobald die Black Kite eine Weile Schub gegeben hat, könnten wir es schaffen.«

»Nein«, antwortete sie, wie er es vorhergesehen hatte. »Sie haben uns nicht identifiziert. Wenn wir zu schnell abhauen, erregen wir nur ihr Misstrauen. Es ist besser, wenn wir wie Zaungäste wirken. Alex? Berechne einen Rendezvouskurs für die Black Oak. Das ist der größte Eistransporter am zweiten Gasriesen.«

»Hab sie«, meldete Alex.

Amos drehte sich auf der Sitzbank herum. »Kapitän?«

»Mir geht es gut.«

»Wenn wir abhauen müssen, dann tun wir es eben«, ergänzte Naomi.

Wir müssen immer wieder fliehen. Wir kommen nie zur Ruhe, dachte Jim. Es schien aber sinnlos, es auszusprechen.

2    Tanaka

Aliana drückte auf den Knopf ihres Verdampfers und inhalierte tief. Der Dampf schmeckte nach Vanille und drang wie eine weiche warme Wolke in die Lunge ein. Nikotin und Tetrahydrocannabinol, gemischt mit geringfügigen exotischen Beigaben. Etwas, das der Schläfrigkeit des THC entgegenwirkte und eine lebhafte Hyperwachheit erzeugte. Die Jalousien waren vorgezogen, das schwache Licht an den Rändern verwandelte die Staubkörnchen in einen Regenbogen aus Funken. Sie bewegte ein Bein. Die Seidendecke streichelte die Haut wie tausend winzige Liebhaber.

Tristan schlief neben ihr. Sein kleiner muskulöser Hintern drückte gegen ihren Schenkel. Er schnarchte leise, ab und zu zuckte oder seufzte er. Aliana wusste, dass sie das nur high und im postkoitalen Zustand reizend und liebenswert fand. Sobald sein Schnarchen nervig wurde, war Tristan nicht mehr willkommen.

Ihrer Ansicht nach gab es zwei Wege, in einem autoritär-rigiden System zu überleben. Der erste – für den sich die meisten Menschen entschieden – lief darauf hinaus, das zu sein, was die Machthaber erwarteten. Der Mars verlangte loyale Soldaten und hatte sie produziert, als hätte man Maschinenteile gestanzt. Sie wusste es, weil sie alt genug war, um eines davon zu sein. Sie hatte gesehen, wie ihr Jahrgang darin gewetteifert hatte, alles auszutreiben oder zu ersticken, was in der eigenen Seele nicht hinreichend marsianisch war, und manchmal war es sogar gelungen.

Die andere Überlebensstrategie bestand darin, sich an Geheimnissen zu erfreuen. Man genoss die heimliche Macht, wenn man wie etwas erschien, das man innerlich nicht war. Und wenn man darin sehr gut war. Auch wenn es nicht darauf hinauslief, untergebene Offiziere zu vögeln, es war eine Art sexueller Perversion. Der Kitzel, genau zu wissen, dass ihr ein falsches Wort oder eine unerwartete Blöße eine Kugel in den Hinterkopf einbrocken würde, war wichtiger, als tatsächlich Sex zu haben.

In einer toleranten, offenen Gesellschaft, in der sie all das ohne Angst vor Konsequenzen hätte tun können, wäre sie verrückt geworden. Sie war von Anfang an eine begeisterte Teilnehmerin des laconischen Experiments gewesen, weil Duartes Vision – zuerst als Kapitalverbrechen gegen den Mars und dann als dauerhafter Quell der Gefahr – ihre Spleens nährte. Dafür schämte sie sich nicht. Sie wusste, was sie war.

»Wach auf.« Sie stieß dem jungen Mann die Finger in den Rücken.

»Ich schlafe noch«, murmelte Tristan.

»Ich weiß. Und jetzt wach auf.« Wieder stupste sie ihn. Sie verbrachte zehn Stunden in der Woche mit Boxen und Ringen. Wenn sie die Finger steif machte, waren sie wie Eisenstangen.

»Verdammt noch mal.« Tristan drehte sich und grinste sie verschlafen an. Sein wirres, blondes Haar und das glatt rasierte Gesicht mit den tiefen Grübchen gaben ihm das Aussehen eines Engelchens auf einem klassischen Gemälde. Einer von Raphaels Putti.

Aliana nahm noch einen Zug aus dem Verdampfer und bot ihm das Gerät an. Er schüttelte den Kopf. »Warum hast du mich geweckt?«

Aliana streckte sich behaglich unter der weichen Decke aus. Mit ihren langen Gliedmaßen passte sie kaum in das übergroße Bett. »Ich bin high. Ich will vögeln.«

Tristan warf sich mit übertriebenem Seufzen auf den Rücken. »Allie, in mir ist kaum noch Körperflüssigkeit.«

»Dann hol dir ein Glas Wasser, nimm eine Salztablette und schwing deinen Arsch wieder in mein Bett.«

»Zu Befehl, Colonel«, antwortete Tristan lachend.

Das Lachen brach mit einem abrupften uff ab, als sie sich auf ihn legte, sich auf seinen Bauch fallen ließ und seine Oberschenkel mit den Füßen blockierte. Gleichzeitig packte sie seine Handgelenke. Überrascht sah er zu ihr hoch, hielt es für ein Sexspiel und begann, sich zu wehren. Seine Arme und der Oberkörper waren wohlgeformt, aber weich, eher wie bei einem gesunden Jugendlichen als bei einem Mann von Mitte zwanzig. Seine Arme waren dünn, er hatte die drahtige Muskulatur eines Langstreckenläufers, durch ständige starke Beanspruchung auf das Wesentliche geschrumpft und so hart wie Stahlfedern. Als er sich bewegen wollte, stieß sie ihn mühelos wieder hinunter und drückte mit den Händen zu, bis seine Gelenke knackten.

»Allie, du …«, setzte er an. Sie drückte wieder, und er hielt den Mund. Er sah jetzt, dass sie wütend war. Er mochte es, wenn sie wütend war. Sie mochte es, wenn er es sah.

»In diesem Raum bin ich Aliana. Du bist Tristan.« Sie sprach langsam und achtete darauf, dass die Drogen nicht ihre Worte verschliffen. »Draußen vor der Tür bist du Gefreiter Reeves, und ich bin Colonel Tanaka. Diese beiden Dinge dürfen wir nie verwechseln.«

»Ich weiß«, antwortete Tristan. »Ich habe doch nur einen Scherz gemacht.«

»Keine Scherze, keine Witze. Keine Ausrutscher. Wenn du einen Fehler machst, wenn du jemals die strenge Disziplin vergisst, die dies hier ermöglicht, werde ich mindestens unehrenhaft entlassen.«

»Ich wollte doch nicht …«

»Und«, fuhr Aliana fort, als hätte er gar nichts gesagt, »du wirst die Version von mir, die dann bei dir vorbeischaut, nicht mögen.«

Sie starrte ihn noch einen Augenblick böse an und wartete, bis seine Furcht dem Verstehen wich. Dann ließ sie seine Handgelenke los, kletterte von ihm herunter und legte sich auf ihre Bettseite.

»Könntest du mir auch etwas Wasser holen?«, sagte sie.

Tristan stand wortlos auf. Als er ging, sah Aliana ihm nach und erfreute sich an seinen strammen Oberschenkeln, an dem Arsch und an dem geschmeidigen V, das seine Schultern und der Rücken bildeten. Er war sehr, sehr hübsch. Wenn das, was sie hatten, eines Tages unweigerlich zu Ende ging, würde sie ihn vermissen. Aber das änderte nichts an der Tatsache, dass es enden würde. So war es schon immer gewesen. Das war ein Teil des Vergnügens.

Kurz danach kehrte Tristan mit zwei Gläsern Wasser zurück. Unschlüssig blieb er am Fußende des Betts stehen. Aliana klopfte neben sich auf das Bettlaken.

»Tut mir leid, wenn ich dich verletzt habe«, sagte sie.

»Schon gut.« Er reichte ihr ein Glas und setzte sich neben sie. »Es tut mir leid, dass mir das herausgerutscht ist. Willst du immer noch vögeln?«

»Gleich«, antwortete sie. Sie tranken etwas Wasser.

»Sehen wir uns wieder?«, fragte er schließlich. Aliana freute sich über die Hoffnung, die aus seinen Worten sprach.

»Dieses Mal werde ich eine Weile auf Laconia bleiben«, antwortete sie. »Und ich will dich wiedersehen. Wir müssen nur vorsichtig sein.«

»Das verstehe ich.« Sie wusste, dass er es begriffen hatte. Sie mochte es, wenn ihre Spielgefährten viel jünger waren und einen viel niedrigeren Rang bekleideten. Das machte die Dinge viel einfacher. Aber sie verschwendete ihre Zeit nicht mit dummen Männern.

Als ihr Durst gestillt war, strahlte die Wärme in der Lunge auf eine sehr angenehme Weise hinunter in den Bauch aus. Sie streckte sich und legte Tristan eine Hand auf den Oberschenkel. »Ich glaube, wir sollten …«

Das Handy auf ihrem Nachttisch zirpte. Sie hatte es auf »Nicht stören« gestellt, was bedeutete, dass das Gerät den eingehenden Anruf für wichtig genug hielt, um ihre Anweisung zu übergehen. Sie hatte das Gerät schon lange, und es war gut eingestellt, daher hatte es vermutlich recht. Sie nahm es und sah nach, wer eine Verbindung herstellen wollte. Der Anruf kam aus dem Staatshaus. Sie akzeptierte die Anfrage, ließ aber die Bildübertragung ausgeschaltet. »Colonel Tanaka.« Tristan glitt aus dem Bett und griff nach seinen Hosen.

»Guten Tag, Colonel. Hier ist Leutnant Sanchez von der Planungs- und Logistikabteilung. Sie haben in zwei Stunden ein Debriefing im Staatshaus.«

»Davon weiß ich ja noch gar nichts.« Sie tastete schon auf dem Beistelltisch nach den Ausnüchterungspillen. »Können Sie mir sagen, worum es geht?«

»Es tut mir leid, Colonel, auf diese Informationen habe ich keinen Zugriff. Admiral Milan hat Sie auf die Teilnehmerliste gesetzt.«

Damit war die Party vorbei.

Als sie im Staatshaus eintraf, fiel leichter Regen. Winzige Tröpfchen färbten das Pflaster dunkel und ließen es zugleich glänzen. Der Hügel am Rand des Geländes wirkte wie ein Detail aus einem alten Ukiyo-e-Druck. Yoshitoshi oder Hiroshige. Ein Attaché vom Wissenschaftsdirektorat erwartete sie mit einer Tasse Kaffee und einem Regenschirm. Mit einer unwirschen Geste lehnte sie beides ab.

Tanaka kannte sich im Staatshaus gut aus. Meist wurde sie mit Kampfeinsätzen betraut, doch sie hatte unter den höchsten Inhabern der Macht viele Freunde gefunden und Kontakte geknüpft, sodass sie hier ein und aus ging, wann immer sie in Laconia war. Seit der Belagerung von Laconia, der Zerstörung der Konstruktionsplattformen und der möglichen Entführung − oder der Selbstemanzipation − von Teresa Duarte war sie nicht mehr hier gewesen. Äußerlich hatte sich das Gebäude nicht verändert. Der gegossene Beton war stabil wie eh und je, die Schnittblumen in den Vasen waren frisch. Die Wächter mit den rasiermesserscharf gebügelten Uniformen waren stoisch und ruhig. Trotzdem fühlte sich alles sehr zerbrechlich an.

Der Attaché führte sie zu einem Büro, in dem sie schon einmal gewesen war. Zwei schlichte Sofas, die Wände mit einheimischem gelben Holz vertäfelt, in das man das blaue Wappen von Laconia eingearbeitet hatte. Admiral Milan, der befehlshabende Kommandant, während der Hochkonsul abwesend war und Admiral Trejo sich im Solsystem aufhielt, saß an einem breiten Schreibtisch. Er war ein vierschrötiger Mann mit breitem Gesicht und kurz geschnittenem graubraunem Haar. Ein mürrischer alter Raumfahrer aus der guten alten Zeit auf dem Mars, der für Unfug keinerlei Nachsicht zeigte und übellaunig war wie ein alter Dachs. Tanaka mochte ihn sehr.

Vor einem Sofa stand ein Leutnant mit den Wappen der Aufklärungseinheit auf der üblichen blauen Marineuniform der Laconier. Neben ihm saß Dr. Ochida vom Wissenschaftsdirektorat. Er hatte die gefalteten Hände auf die Knie gelegt. Das Schweigen war drückend, als wären sie bei etwas Wichtigem gestört worden.

Admiral Milan ergriff als Erster das Wort. »Colonel, wir haben hier etwas überzogen. Bitte setzen Sie sich doch. Wir kommen gleich zu Ihnen.«

»Ja, Sir.« Tanaka ließ sich auf dem anderen Sofa nieder. Admiral Milan wandte sich an den stehenden Leutnant, der laut Namensschild Rossif hieß, und malte mit den Fingern einen Kreis in die Luft. Bitte fortfahren.

»Das Gedara-System. Bevölkerung etwas weniger als zweihunderttausend. Hohe Konzentration von spaltbarem Material in der oberen Kruste. Seit mehreren Jahren versuchen sie, mit Tiefenbohrungen zu den Lagerstätten vorzustoßen. Landwirtschaft existiert, ist aber noch ein Jahrzehnt davon entfernt, die Einwohner ernähren zu können.«

»Und die Inkursion?«, fragte Admiral Milan.

»Dreiundzwanzig Minuten, elf Sekunden«, berichtete Rossif. »Völliger Ausfall des Bewusstseins. Einige Tote durch Unfälle, einige Schäden an der Infrastruktur. Überwiegend Personen, die mit Fahrzeugen gegen Objekte geprallt oder von erhöhten Positionen heruntergefallen sind. Die Logdateien zeigen, dass nur wenige Sekunden zuvor zwei ungeplante schwere Frachter durch den Ring geflogen und verschwunden sind.«

Dr. Ochida räusperte sich. »Dieses Mal ist etwas Eigenartiges geschehen.«

»Eigenartiger, als dass die Menschen mehr als zwanzig Minuten lang ohnmächtig werden?«, fragte Milan.

»Ja, Admiral«, bestätigte Ochida. »Eine Überprüfung der Instrumentendaten für die Zeitdauer des Ereignisses belegt noch eine andere Art von Zeitverlust.«

»Erklären Sie das.«

»Die kurze Version: Das Licht wurde schneller«, antwortete Ochida.

Milan kratzte sich im Nacken. »Hat das Wort erklären seine Bedeutung verändert, ohne dass man mir Bescheid gesagt hat?« Tanaka verkniff sich ein Lächeln.

»Einfach ausgedrückt, ist die Lichtgeschwindigkeit eine Funktion grundlegender Eigenschaften des Universums. Sagen wir, es ist … die schnellstmögliche Kausalität, die sich im Vakuum fortpflanzen kann«, sagte Ochida. »Für etwas mehr als vierundzwanzig Minuten hat sich im Gedara-System die Natur des Raum-Zeit-Kontinuums dergestalt verändert, dass auch die Lichtgeschwindigkeit verändert wurde. Das Licht bewegte sich schneller. Die Zeitverzögerung zwischen den Schiffen am Gedara-Ring und dem Planeten betrug zur fraglichen Zeit etwas weniger als vierzig Minuten. Die Logdateien des Ereignisses zeigen, dass sich diese Zeitspanne während der Inkursion um fast viertausend Nanosekunden verkürzt hat.«

»Viertausend Nanosekunden«, sagte Milan.

»Das Wesen des Raum-Zeit-Kontinuums hat sich in diesem System zwanzig Minuten lang verändert«, betonte Ochida. Dann wartete er auf die Reaktion, die nicht kam. Er schien sehr enttäuscht.

»Also«, sagte Milan. »Darüber muss ich auf jeden Fall nachdenken. Danke für das Briefing, Leutnant, Doktor. Sie können wegtreten. Colonel, Sie bleiben.«

»Ja, Sir«, antwortete Tanaka.

Sobald die anderen gegangen waren, lehnte Milan sich zurück. »Etwas zu trinken? Ich habe Wasser, Kaffee, Bourbon und einen Kräutertee-Dreck, den meine beiden Männer mögen. Er schmeckt wie frisch gemähtes Gras.«

»Bin ich im aktiven Dienst?«

»Sie sollen sich jetzt keine Sorgen darüber machen, Sie könnten irgendwelche Vorschriften verletzen, falls Sie das meinen.«

»Dann nehme ich gern einen Bourbon, Sir«, antwortete Tanaka. Der Admiral fummelte einen Augenblick an seinem Schreibtisch herum und füllte ein Glas, in dem zwei Fingerbreit hoch eine rauchige braune Flüssigkeit schwappte.

»Auf Ihre Gesundheit.« Tanaka trank einen Schluck.

»So.« Milan ruckelte mit dem unbewussten Grunzen eines alten Mannes mit vielen verschlissenen Gelenken auf dem Schreibtischstuhl hin und her. »Was halten Sie von diesem Mist mit der Lichtgeschwindigkeit?«

»Da habe ich keine Ahnung, Sir. Ich kann schießen, aber ich bin kein Eierkopf.«

»Deshalb konnte ich Sie schon immer gut leiden.« Er lehnte sich bequem an und legte die Fingerspitzen beider Hände zusammen. Dieses Schweigen war anders, auch wenn sie nicht genau wusste, was es zu bedeuten hatte. »Also, nur zwischen uns beiden, von einem alten Matrosen zum anderen – gibt es etwas, das Sie mir sagen wollen?«

Sie spürte förmlich, wie das Adrenalin in ihren Kreislauf schoss, ließ sich aber nichts anmerken. Dazu war sie, was Täuschung anging, viel zu geübt. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

Er legte den Kopf schief und seufzte. »Ich auch nicht. Ich finde diese ganze Sache verdammt mysteriös. Und ich bin nicht mehr so gut darin, meine Neugierde herunterzuschlucken wie in unserer Jugend.«

»Mir ist immer noch nicht klar, worüber wir reden. Hätte mir jemand mitteilen sollen, warum Sie mich sprechen wollen?«

»Das ging nicht von mir aus. Trejo hat Sie angefordert und wies mich an, ein paar Dokumente vorzubereiten.« Er zog eine physische Mappe aus rotem Papier hervor, die mit einer silbernen Schnur verschlossen werden konnte, und reichte sie Tanaka. Das Ding schien so fehl am Platze, als hätte man ihr eine Steintafel zu lesen gegeben. Sie kippte den Rest Bourbon hinunter, ehe sie die Papiere annahm. Der Ordner war leichter als erwartet, und die Schnur ließ sich mühelos lösen. Darin lag ein einziges, mit drei Schichten gesichertes Blatt. Die schützenden Schaltungen traten wie ein Spitzenmuster hervor. Das Dokument enthielt ein Bild von ihr, dazu ihr biometrisches Profil, ihren Namen und den Rang und einige Ziffern zur Identifizierung. Ein kurzer Textabsatz gewährte ihr auf spezielle Anordnung aus dem Büro des Hochkonsuls den Omega-Status des laconischen Aufklärungsdirektorats.

Hätte sie einen abgetrennten Kopf gesehen, sie hätte kaum stärker überrascht sein können.

»Ist das …«, setzte sie an.

»Das ist kein Witz. Admiral Trejo hat die Anweisung erteilt, dass Sie die Schlüssel zum Königreich erhalten. Sie können bei jeder Mission die Befehlsgewalt übernehmen. Sie haben Zugang zu allen Informationen, unabhängig von der Geheimhaltungsstufe. Für die Dauer Ihrer Abordnung genießen Sie Immunität gegenüber Zensur und Strafverfolgung. Das ist wirklich reizend. Und Sie wollen mir jetzt sagen, Sie wüssten nicht, worum es geht?«

»Also nehme ich an, es gibt eine Mission?«

»Vermutlich. Aber ich habe nicht die nötige Freigabe, um die Einzelheiten zu erfahren. Bleiben Sie einfach sitzen, ich finde schon selbst hinaus.«

Sobald Admiral Milan hinter sich die Tür geschlossen hatte, projizierte das Bürosystem eine Nachricht auf den Wandbildschirm. Admiral Trejo erschien. Sie kannte ihn so lange, wie sie überhaupt ein lebendes Wesen kannte. Seine Augen hatten noch die gleiche lebhafte grüne Farbe wie früher, doch jetzt lagen dunkle Ringe darunter. Sein Haar wurden schütter, und seine Haut wirkte ungesund und wächsern. Er sah aus, als suchten ihn Gespenster heim.

»Colonel Tanaka«, begann er. »Ich beauftrage Sie mit einer Mission, die für das Reich von entscheidender Bedeutung ist. Im Augenblick unterbreche ich kurz den starken Schub, mit dem wir das Solsystem verlassen. Hätte dies warten können, bis ich in Laconia eintreffe, dann hätte ich Sie persönlich instruiert, aber es kann nicht warten. Deshalb musste ich diesen Weg wählen.«

Sie starrte in ihr Bourbonglas. Es war leer, und die Flasche war nur einen Meter entfernt, aber auf einmal mochte sie nicht mehr. Sie hörte genau zu.

»Ich bin sicher, dass Sie sich, genau wie jeder andere im Reich, fragen, was der Hochkonsul während seines Rückzugs tut. Wie er den Kampf gegen die Kräfte angeführt hat, die uns innerhalb der Tore bedrohen. Ich weiß, dass es Spekulationen gibt, er sei kampfunfähig oder irgendwie verletzt worden. Um ehrlich zu sein, muss ich Ihnen mitteilen, dass der Hochkonsul, als ich zum Solsystem aufbrach, ein sabbernder Idiot mit einem Gehirnschaden war, der nicht mehr selbst essen und sich nicht den Arsch abwischen konnte. So war es seit dem Angriff, der die Typhoon und die Medina-Station zerstörte.«

Tanaka holte tief Luft und atmete scharf durch die Zähne aus.

»Dr. Cortázar hatte die Biologie des Hochkonsuls mithilfe modifizierter Protomolekül-Technologien nachhaltig verändert. Dadurch gewann der Hochkonsul gewisse … Fähigkeiten, die vor Dr. Cortázars Tod nicht vollständig dokumentiert und erforscht wurden. Übrigens hat Duarte ihn getötet. Er hat mit einer Hand gewinkt und dieses verrückte Arschloch quer durch den halben Raum verspritzt. So etwas habe ich noch nie gesehen. Im Augenblick sind Sie, ich, Dr. Okoye vom Wissenschaftsdirektorat und Teresa Duarte die Einzigen, die es wissen. Teresa ist mit den Kräften des Untergrunds auf und davon, nachdem die uns den Arsch versohlt haben. Also wissen es wohl auch alle unsere verdammten Feinde.

Vor diesem Hintergrund werden Sie verstehen, wie verwirrt ich war, als der Hochkonsul mir vor achtzig … vor fünfundachtzig Stunden im Solsystem in meinem Büro erschien. Die Sensoren haben ihn nicht registriert. Er hat nicht mit physischen Objekten interagiert und keinerlei Spuren seiner Gegenwart hinterlassen, die ein außenstehender Beobachter verifizieren könnte. Doch er war da. Und ehe Sie jetzt vorschnell die Theorie entwickeln, Anton Trejo hätte einen psychotischen Zusammenbruch, es gibt äußere Beweise. Nur nicht hier in Sol.

Kurz nachdem ich das erlebt hatte, was ich gerade beschrieben habe, verschwand Duarte aus dem Staatshaus. Er ist nicht aus der Realität verschwunden. Vielmehr hat er sich die Hosen und ein sauberes Hemd angezogen, ließ sich eine Tasse Tee bringen, führte eine höfliche Unterhaltung mit seinem Kammerdiener und verließ das Gelände. Alle Sensoren, die wir auf den Planeten richten können, scannen seitdem die ganze Umgebung. Niemand hat ihn gesehen.

Mehr als tausend Koloniesysteme fragen sich, ob von der Regierung noch etwas übrig ist. Und wir haben extradimensionale Feinde, die mit Experimenten herausfinden wollen, wie sie uns auf einen Schlag auslöschen können. Und ich bin überzeugt, dass die Lösung beider Probleme Winston Duarte ist, oder was auch immer er jetzt sein mag. Ich kenne Sie schon lange, und ich vertraue Ihnen. Ihre Aufgabe ist es, ihn zu finden und zurückzuholen. Sie haben sicher schon einmal von einer Carte blanche gehört, aber ich möchte wetten, dass Sie noch nie eine so leere Blankovollmacht gesehen haben. Es ist mir egal, was Sie aufwenden müssen – ob Geld, Ausrüstung oder Leben –, solange Sie Winston Duarte von dem Ort zurückholen, an den er gegangen ist. Wenn er nicht mitkommen will, dann überzeugen Sie ihn freundlich, sofern Sie das können. Aber am Ende muss er sich in unserer Obhut befinden.

Colonel, ich wünsche Ihnen eine gute Jagd.«

Damit endete die Nachricht. Tanaka lehnte sich auf dem Sofa zurück und streckte die Arme seitlich aus wie ein Vogel, der die Flügel entfaltete. Ihre Gedanken kreisten hektisch. Dieser eigenartige Auftrag, die schockierenden Enthüllungen, die Bedrohung dahinter. All das tobte in ihr, und sie fühlte es. Aber da war auch die Ruhe eines Jobs, der erledigt werden musste, und die Freude – tiefer, als sie es für möglich gehalten hätte – über die Macht, die man ihr gerade verliehen hatte.

Die Tür ging leise auf, Admiral Milan kam wieder herein.

»Alles klar?«, fragte er.

Tanaka lachte. »Ganz und gar nicht.«

3    Naomi

Sie warteten, bis sich die Black Kite