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Für Lia gibt es keine bessere Schule als das Elfeninternat Springwasser - doch es wird Zeit, den Körpertausch rückgängig zu machen. Mit ihrem Elfenbruder Dorient wagt sie heimlich einen ersten Besuch in die Menschenwelt, wo die echte Luftprinzessin Asalia Lias Platz eingenommen hat. Doch damit handelt sich Lia nicht nur jede Menge persönlichen Ärger ein – bei ihrer Rückkehr scheint auch in ganz Springwasser plötzlich alles aus dem Ruder zu laufen. Ein unerklärlicher Pflanzenwuchs befällt die ganze Schule und wann immer Lia ihre Blitzkunst einsetzt, verselbstständigt sich die und richtet großen Schaden an. Um hinter das Geheimnis dieser unsichtbaren magischen Kräfte zu kommen, setzen Lia und ihre Freundinnen schließlich alles auf eine Karte …
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Seitenzahl: 295
Aniela Ley
Unsichtbarer Elfenzauber
Roman
»Wir sind da, Prinzessin. Wenn du dann die Freundlichkeit hättest und endlich von meinen Füßen runtersteigen würdest?«
»Sobald du mich nicht länger umklammert hältst und dabei Ludmillas Ranken platt drückst. Nur so nebenbei, mein lieber Dorient: Ich kann sehr gut allein aufrecht stehen.«
»Ja, auf meinen Füßen.«
»Haha«, machte Lia. »Ich lach mich schlapp.«
»Meinetwegen, aber zuerst packst du deinen spitzen Ellbogen woandershin, der pikst mich nämlich.« Dorient stutzte. »Sag mal, hältst du dir eigentlich den Kopf fest, weil du Angst hast, dass er wegfliegen könnte?«
Lia seufzte. »Ich halte bloß die Tiara fest. Dieser neue Weltenswitchkanal, den du in deinen Reisekristall eingebaut hast, ist ganz schön heftig. Wenn man von Andersreich in die Menschenwelt wechselt, wird man ordentlich durchgeschüttelt. Und mir reicht es ehrlich gesagt, wenn ich regelmäßig Albträume davon habe, wie ich mit einer schief sitzenden Tiara auf dem Kopf vor deinen königlichen Eltern stehe. Da will ich ganz bestimmt erst recht nicht erklären müssen, warum sie mir bei einer verbotenen Reise in die Menschenwelt verloren gegangen ist.«
»Voll gruselig, das will ich mir nicht mal vorstellen.« Ein Schauder durchzuckte Dorient. Als ausgemachter Blödsinnmacher hatte der Prinz der Himmelsreiche sein halbes Leben damit verbracht, sich Standpauken von Königin Fetania Salira Nox und ihrem Gatten Tetastis Rufur von Silberhaar anzuhören. Bestimmt wurde Dorient gerade ganz bleich um die Nase, was Lia wegen der herrschenden Dunkelheit jedoch nicht sehen konnte.
Apropos Dunkelheit, überlegte Lia. »Warum ist es eigentlich so finster? Wir wollten Asalia doch zur Mittagszeit einen Besuch abstatten.«
»Stimmt, es ist echt zappenduster. Ich hatte bis eben meine Augen zu, weil …« Dorient schluckte. »Jetzt nicht lachen: weil mir schummerig ist – trotz des Weltenswitchkanals, den mir die Zwergenwerkstatt in den höchsten Tönen angepriesen hat. ›Jetzt wird das Reisen mit Kristallen zu einem Spaziergang.‹ Diese kleinen Gauner, denen werde ich was husten nach unserer Rückkehr.«
Lia versuchte, ihren Arm runterzunehmen – was nicht leicht war, denn um sie herum gab es nicht gerade viel Platz. »Verschieb das Schmieden von Racheplänen auf später, jetzt müssen wir erst mal herausfinden, wo wir überhaupt gelandet sind und warum es so dunkel ist.«
»Ich hab den Kurs auf Asalia eingestellt«, sagte Dorient. Dann ließ er Lia, die er eben erst im Elfeninternat Springwasser mit den Worten »Damit du im Weltenswitchkanal nicht falsch abbiegst und auf der verkehrten Seite eines Troll-Plumpsklos rauskommst« in die Arme geschlossen hatte, wieder los.
Lia spürte, wie Dorient suchend eine Hand ausstreckte, um ihre Umgebung zu erkunden.
Es rumpelte, dann fiel etwas scheppernd zu Boden.
»Das ist jetzt peinlich, aber allem Anschein nach sind wir in eurer Besenkammer gelandet. Es hat wohl mit der Zieleinstellung nicht so ganz hingehauen«, sagte Dorient. »So ein Wurmlochhaufen, ich hätte den Reisekristall nicht an Lofi verleihen sollen, bloß weil er unbedingt bei der Feuertaufe seiner jüngsten Schwester in Magma City dabei sein wollte. Dabei hat er, wie es aussieht, die Navigationsringe für Zeit- und Ortsangabe mit seiner Hitze verbogen. Typisch Feuerelf! Wenn die aufgeregt sind, bringen sie alles zum Schmelzen.«
Okay, das klang nicht gut, zumal bei Lia noch etwas anderes für ein flaues Gefühl sorgte: »In unserer Wohnung gibt es keinen Besenschrank. Und es riecht auch gar nicht wie bei mir zu Hause. Um genau zu sein, stinkt es hier ganz scheußlich.«
Dorient atmete hörbar erleichtert aus. »Dann hast du den ekligen Gestank also auch bemerkt. Ich wollte nix sagen, es hätte ja sein können, dass Menschen den Geruch von faulen Eiern mögen.«
»Würg, kein Stück«, regte Lia sich auf. »Wir sind Menschen und keine Verkehrtelfen, die in Stinkfrüchten hausen, weil sie auf den Geruch abfahren.«
»Hey«, murrte Dorient. »Stampf gefälligst nicht mit dem Fuß auf, solange du auf meinem stehst. Für eine Luftelfe bist du nämlich ganz schön …« Weiter kam er nicht, weil in diesem Moment ein Lichtstrahl in das Dunkel fiel.
Lia blinzelte.
Dann erkannte sie in dem größer werdenden Spalt, durch den das Licht drang, Asalias Gesicht. Also eigentlich ihr eigenes Gesicht mit den Sommersprossen und der Brille auf der Nase, das zu ihrem Körper gehörte, in dem nach einem missglückten Zauber nun allerdings die Prinzessin Asalia Laliala Pergusta steckte. Eine laaaaange Geschichte, die ihren Anfang damit nahm, dass Eure Hoheit Asalia unbedingt Menschenmädchen spielen wollte, während Lia notgedrungen an ihrer Stelle das Elfeninternat Springwasser besuchen durfte. Allmählich war es allerdings an der Zeit, den Zauber rückgängig zu machen – und genau deshalb waren Lia und Dorient heute in die Menschenwelt gereist, um mit Asalia zu reden. Wohin genau ihre Reise sie geführt hatte, würden sie jetzt wohl endlich herausfinden.
»Hallöchen, Asalia, da sind wir, frisch aus Andersreich eingetroffen«, zwitscherte Lia und setzte ein freundliches Lächeln auf.
Anstatt zurückzugrinsen, zog Asalia die Nase kraus. Vermutlich wegen des Gestanks – und nicht etwa, weil ihre beiden Lieblingselfen vor ihr standen. Dabei rutschte ihr die Brille gefährlich tief auf die Nasenspitze. Während Lia mit der ständig schräg sitzenden Tiara kämpfte, mühte sich Asalia mit ihrer Brille ab, was, so gesehen, nur fair war.
»Spar dir dein Hallöchen«, zischte Asalia. »Ich bin supersäuerlich, ihr Dummelfen quatscht nämlich so laut, dass euer Geplapper echt nicht zu überhören ist. Was, im Namen der großen Sturmmächte, macht ihr hier überhaupt?«
»Wo genau ist denn hier?«, erkundigte sich Lia.
»Egal«, sagte Dorient. »Hauptsache, wir kommen endlich von diesem Gestank weg. Lass mich mal vorbei, Schwesterherz.«
»Auf keinen Fall!«, rief Asalia und versuchte, die Tür, die sie eben erst geöffnet hatte, wieder zuzudrücken. Aber Dorient war stärker und schob sie auf.
Jetzt erkannte Lia, in welcher Besenkammer sie gelandet waren. Aus dem flauen Gefühl in ihrem Bauch wurde ein dicker Knoten. »Dorient, nicht!«, versuchte sie, den Elfenjungen zurückzuhalten.
Doch es war zu spät, die Schranktür flog auf … und vor ihnen saß Lias Klasse von der Otfried-Preußler-Gesamtschule und machte große Augen.
»Ups«, sagte Lia.
Das war einer jener seltenen Momente, in denen in der 6b totale Stille herrschte. Alle starrten zum Schrank, in dem Lia und Dorient standen. Gut, abgesehen von Silla Bogner, die mal wieder nichts mitbekam, weil sie wie üblich geistesabwesend vor sich hin träumte. Aber alle anderen hatten nur Augen für den Schrank im Naturkunderaum, der neben Unterrichtsutensilien seit heute auch zwei Elfenkinder im Angebot hatte.
Ging es noch schlimmer? Dieser blöde Reisekristall hatte sie mitten im Schulunterricht ausgespuckt!
Eine Sekunde lang spielte Lia mit dem Gedanken, die Schranktür einfach zuzuziehen und so zu tun, als sei nichts geschehen. Bestimmt glaubte ihre Schulklasse, sie habe zu viel chemische Dämpfe eingeatmet und sich das mit den Elfenkindern bloß eingebildet. Aber dann bemerkte Lia, dass sich die Augen der 27 Schülerinnen und Schüler nicht auf sie und Dorient richteten, auch wenn sie mit ihren spitzen Ohren und den abgefahrenen Klamotten bestimmt der Hingucker schlechthin waren. Stattdessen stierten alle Asalia an – nicht, weil sie Lias altes Balletttutu über der Jeans trug. Sondern weil die meisten Menschen Elfen nicht sehen konnten. Deshalb waren Lia und Dorient für sie schlicht unsichtbar und Asalias Aktion echt schräg.
Lia fiel ein Stein vom Herzen – bis sie plötzlich ihren Namen hörte.
»Larissa Dornmeier«, erklang die Stimme der Chemielehrerin Frau Pjietro. »Was führst du denn für ein Theater auf? Setz dich gefälligst auf deinen Platz und gib Ruhe, es sei denn, du hast etwas Erhellendes zu unserem Versuchsaufbau beizutragen. Und damit meine ich keinen deiner üblichen Kommentare wie, dass es langweilig ist und hübscher aussehen würde, wenn der Schwefel lila statt gelb wäre.«
Glücklicherweise war damit nicht die echte Lia gemeint, sondern Asalia, die in ihrem Körper steckte, inklusive des breiten Munds, den sie jetzt verkniffen zusammenpresste.
»Schon gut, schon gut«, nölte Asalia. »Ich habe ja geschnallt, dass meine Expertise nicht gefragt ist, obwohl einem dieses Ekelgelb die ganze Freude an Ihrem Hoskuspokus-Unterricht verleidet. Hier hat allem Anschein nach noch nie jemand einen Farben-sind-Freunde-Kurs besucht, sonst wüssten Sie das, Frau Petrol. Und ich setze mich hin, sobald der Schrank zu ist.«
»Dann mach ihn endlich zu, es riecht auch so schon unangenehm genug«, sagte Frau Pjietro, die glücklicherweise für ihre guten Nerven bekannt war. »Ganz nebenbei, ich heiße weder Frau Petrol noch Frau Pistol, und es wäre schön, wenn du dir das endlich mal merken könntest. Ich spreche dich schließlich auch mit deinem richtigen Namen an«, fügte die Lehrerin amüsiert an. Offenbar hielt sie Asalia für eine kleine Komikerin.
»Versprochen. Ich gebe mir wirklich unfassbar viel Mühe, mir all diese vielen Lehrernamen zu merken, wobei Ihrer mit Abstand am wenigsten in meinem Kopf bleiben will. Aber jetzt ist erst mal die Schranktür dran, die wird jetzt zugemacht«, erwiderte Asalia, um dann ganz leise und nur für Elfenohren hörbar zu sagen: »Sobald mein dusseliger Bruder nicht länger im Weg steht.« Giftig musterte sie die beiden Überraschungsbesucher aus Andersreich. »Keine Ahnung, was der Auftritt soll, aber ihr Pappelfen verschwindet jetzt. Ich habe Menschendinge zu erledigen, bei denen ihr nur stört. Kommt mittags vorbei, so wie wir es verabredet haben.«
Dorient dachte überhaupt nicht daran, den Rückzug anzutreten. »Das ist also eine Menschenschule, die wollte ich mir schon lange mal ansehen. Überall diese Technikdinge, von denen immer in Märchen die Rede ist … Sturmscharf.« Voller Neugierde schob er seine Schwester beiseite und schaute sich um – was ein paar Kinder kichern ließ, aber nur, weil Asalia sich aus ihrer Sicht selbst wegzuschieben schien, um dann ein wütendes Selbstgespräch zu führen und dabei mit ihren Händen herumzuwedeln. Bestimmt dachten die meisten, dass es ein Scherz sei oder Asalia eine Wette verloren habe und sich so aufführen müsse, als habe sie einen Sockenschuss.
»Dorient, ab mit dir in den Schrank oder du kannst was erleben«, schimpfte Asalia. »Das ist keine leere Drohung, ich habe meinen Hockeyschläger unterm Tisch und zögere nicht, ihn einzusetzen. Vermutlich würde ein Schlag auf deinen Sturkopf Wunder bewirken.«
Frau Pjietro kam hinter dem Versuchstisch hervor, auf dem ein Experiment mit Kolben und Flüssigkeiten aufgebaut war.
»Larissa, hör gefälligst auf, so zu tun, als ob du dich mit einem Unsichtbaren unterhalten würdest. Ein bisschen Schabernack ist ja in Ordnung, aber jetzt reicht es mit deinem Alleinunterhalter-Programm. Setz dich gefälligst hin, unser Experiment kann nicht länger warten.«
»Wenn Sie darauf bestehen. Ich bin ja nur eine normale Schülerin, auf mich muss ja niemand hören, nicht mal sturköpfige Unsichtbare.« Asalia stampfte an ihren Platz zurück, vorbei an feixenden Kids, die ihre Daumen hochreckten und voller Anerkennung »Lia, du bist der Knaller!« und »Respekt!« johlten.
Das träume ich doch wohl, dachte Lia. Offenbar hatte Asalia sich mit ihrer schrägen Art innerhalb kürzester Zeit vom zurückhaltenden Neuzugang, der Lia gewesen war, zum Klassenliebling gemausert.
Normalerweise war Asalia mit ihrer Überzeugung, die Welt drehe sich allein um sie, anstrengend hoch zehn, aber in der Menschenwelt hielten alle ihr Prinzessinnengehabe für lustig, gerade so, als sei die verwöhnte Prinzessin der Lüfte ein Scherzkeks der Superlative. Wenn Lia in einigen Wochen wieder Larissa Dornmeier sein würde, dann würde sie sich was einfallen lassen müssen, um nicht plötzlich als die große Enttäuschung dazustehen. Außerdem würde sie scheinbar eine neue Schulfreundin haben: Antonia Boltenstein. Das dunkelhaarige Mädchen beugte sich nämlich gerade auf eine so vertraute Weise zu Asalia rüber, wie es nur gute Freundinnen machen.
»Du bist so cool gaga, total sweet«, säuselte Antonia. Eigentlich war Antonia das beliebteste Mädchen in der 6b, aber Asalia hielt es trotz des Kompliments nicht mal für nötig zu grinsen, sondern gab nur einen missgelaunten Grunzlaut von sich. Dann murmelte sie etwas Unverständliches, bei dem es gewiss um doofe Brüder und unerwünschten Elfenbesuch ging.
»Gar nicht gut«, wisperte Lia. »Wir brauchen dringend eine glückliche Asalia, wenn unser Besuch was bringen soll.« Doch Dorient hörte sie nicht, er war bereits auf Forschungsreise im Unterrichtsraum unterwegs.
Mit pochendem Herzen stieg Lia aus dem Schrank und widerstand gerade noch rechtzeitig dem Reflex, die Schranktür hinter sich zu schließen. Eine von allein zugehende Tür würde dann doch Fragen aufwerfen. Auf Zehenspitzen schlich sie zu Asalia, die sie jedoch nicht beachtete.
Durch die Brille, die Asalia schon wieder auf die Nasenspitze rutschte, verfolgte sie, wie ihr Bruder Dorient zwischen den Tischreihen herumwuselte und die Gadgets der Kinder in Augenschein nahm. Gerade inspizierte der Elfenjunge die Armbanduhr von Ole Ploog, der voll auf Judo stand und auf dem Pausenhof jedem zeigen wollte, wie er ihn über die Schulter werfen konnte – die meisten verzichteten verständlicherweise lieber auf diese Erfahrung. Dorient murmelte etwas über ein metallisches Fendrill zum Umbinden und was für verrückte Sachen die Menschen sich so einfallen ließen, um ohne Magie auszukommen. Als er das Display von Oles Uhr berührte und es die digitale Uhrzeit anzeigte, machte der Elfenjunge einen Sprung zurück und stieß dabei gegen den Rucksack von Johanna (ihren Nachnamen hatte Lia vergessen, irgendwas, das wie ein Gemüse klang. Gurklinger möglicherweise). Das gute Stück kippte prompt um und Johannas Taschenrechner rutschte heraus, was Dorient mit einem »Was haben wir denn da? Ein mechanisches Pergament, sehr interessant« kommentierte.
Dass Dorient sich so gut amüsierte, während Asalia rumsitzen und still sein musste, verbesserte ihre Laune nicht unbedingt. »Brüder … Wofür sind die eigentlich gut? Wenn ich mal wieder im Glaspalast bin, setze ich in Prinz Nervensäges Zimmer ein Nest mit Glasspinnen aus. Die kleinen Biester krabbeln dann überall rum und kitzeln ihn, ohne dass er die Quälgeister sehen kann. Ha! Und wenn mein Herr Bruder dann ausflippt, sage ich: Jetzt weißt du, wie das so ist mit unsichtbaren Gästen, die man nicht loswird«, schimpfte sie kaum hörbar.
»Du hast ja recht, es ist wirklich ganz blöd gelaufen mit unserem Besuch.« Lia flüsterte ebenfalls, obwohl ihre Elfenstimme niemand außer Asalia hören konnte. »Bevor du für mich auch noch eine Ladung Glasspinnen einplanst, möchte ich dich darauf hinweisen, dass wir uns schon viel früher hätten treffen können. Aber ich musste dich ja erst erpressen, damit du unserem Besuch zustimmst.«
Asalia blinzelte schuldbewusst hinter ihren Brillengläsern, gab jedoch ein trotziges »Pah« von sich, was wohl so viel bedeutete wie »Mir doch egal«.
»Du kannst die Sache nicht aussitzen«, sagte Lia. »Es ist wichtig, dass du Ludmilla kennenlernst, bevor wir den Körpertausch rückgängig machen. Außerdem muss ich wissen, was du in meiner Abwesenheit zu Hause und in der Schule so anstellst, damit ich mich darauf einstellen kann. Sonst finde ich mich später in meinem eigenen Leben nicht mehr zurecht. Und du brauchst wenigstens Grundkenntnisse in Plantlingspflege, damit du mit Ludmilla klarkommst. Es wäre auch nicht verkehrt, wenn du über Springwasser Bescheid weißt, sonst krachst du nicht nur durch die Frühjahrs-Prüfungen, sondern wirst dich noch verraten, weil du keine Ahnung hast, wie deine Freundinnen heißen.«
Mit einer kaum leserlichen Schnörkelschrift schrieb Asalia auf ihren Block:
Ich weiß, wie meine Freundin heißt: Antonia. Die Namen der anderen Mädchen, die immer um uns rumschwirren, merke ich mir nicht – ist voll überflüssig. Hauptsache, sie lachen immer, wenn ich etwas Interessantes von mir gebe. Was ich ständig tue – und endlich weiß es jemand zu schätzen. Solange sich die Elfen in Springwasser einer Prinzessin gegenüber zu benehmen wissen, wird es für mich schon laufen.
Für einen Moment war Lia sprachlos.
Diese Luftprinzessin war so was von … divenhaft!
Lia musste Asalia schleunigst auf die richtige Spur bringen. »Mag ja sein, dass du bei den Mädchen in meiner Klasse mit deinem Gehabe punktest. Was übrigens nur läuft, weil sie denken, dass du bloß Spaß machst. Aber in Springwasser zieht diese Nummer nicht. Wenn du Serafina großtuerisch kommst, wäscht sie dir den Kopf. Wortwörtlich. Mit unserer Undine ist bei akuter Hochnäsigkeit nicht zu spaßen. Und Blo lässt dich ihren in Mückenstich getränkten Dolch spüren, wann du sie mit ›He, du lästiges Rumflatterding‹ ansprichst.« Merla ließ Lia erst einmal außen vor, zum einen weil die Erdelfe vermutlich sogar zu einer eingebildeten Asalia nett wäre, zum anderen weil Merla als Einzige Bescheid wusste, dass Lia in Wahrheit ein Mensch war. Die Erdelfe würde sich also nicht wundern, wenn aus ihrer Freundin Lia plötzlich eine Überprinzessin mit dummem Benehmen werden würde.
Sofort zückte Asalia wieder ihren Stift:
Was kann ich dafür, dass du mir so dusselige Freundinnen ausgesucht hast?
»Du bist dusselig, wenn du so über die Mädchen aus der Nachtflugwabe denkst«, hielt Lia dagegen. »Das Gleiche gilt übrigens für Ludmilla, die vielleicht zur Familie des Gemeinen Efeus gehört, aber alles andere als gewöhnlich ist. Du musst mir versprechen, dass du dich liebevoll um deinen künftigen Plantling kümmern wirst.«
Lia deutete auf die Efeuranke, die sich wie eine Kette um ihren Hals geschmiegt hatte. Als Asalia die dunkelgrünen Ranken ungläubig anstarrte, sträubte Ludmilla sämtliche Blätter gleichzeitig.
»Das Ludmillchen ist bloß ein wenig schüchtern«, versuchte Lia das Benehmen ihres Plantlings schönzureden. »Ihr müsst euch halt erst mal kennenlernen. Ein Tipp für den Anfang: Unser Efeu wird voll gern an den Blättern getätschelt.«
Asalia zog die Mundwinkel weit nach unten. Plantlinge waren eindeutig nicht ihr Thema. »Ich mach’s – aber nur, wenn du dann Ruhe gibst mit dieser botanischen Plage. Und überhaupt. Musstest du unbedingt ein Efeu aussuchen, die langweiligste Pflanze schlechthin? Dieses Grünzeug wächst sogar in der Menschenwelt aus jeder Ritze«, nörgelte Asalia in Flüsterlautstärke. Widerwillig streckte sie die Hand aus, um Ludmilla zu kraulen. Doch dazu kam es nicht, der Plantling wich nämlich aus und flüchtete auf Lias Kopf, wo er sich zu einem engen Kranz zusammenrollte.
Asalia erstarrte mit ausgestrecktem Arm. »Das war eindeutig eine Abfuhr! Das Unkraut hat mich abblitzen lassen. Was bildet sich dieser versnobte Plantling eigentlich ein, mich, die künftige Herrscherin der Himmelsschichten, so unverschämt zurückzuweisen?«
»Wie schön, Larissa«, rief Frau Pjietro. »Du meldest dich freiwillig, um den Versuch vor der Klasse durchzuführen. Sehr löblich, besonders weil deine Mitschülerinnen und Mitschüler den Kontakt zu Schwefel wegen des unangenehmen Geruchs zu scheuen scheinen. Komm bitte nach vorn.«
Mit funkelndem Blick nahm Asalia ihren ausgestreckten Arm runter und stand auf. »Das mache ich doch gern, schließlich kann ich mir nichts Schöneres vorstellen, als wie ein faules Ei zu stinken. Das ist gewiss eine edle Aufgabe, die Sie mir da anvertrauen wollen, Frau Piffig. Aber leider, leider muss das jemand anderes übernehmen, denn meine Wenigkeit muss jetzt umgehend auf die Toi. Wenn ich gestresst bin, muss ich immer superdringend auf die Toi. Und vertrauen Sie mir: Ich bin gestresst.« Damit sauste sie am Versuchstisch vorbei und raus aus dem Klassenraum, während Frau Pjietro und die 6b – mit Ausnahme der tagträumenden Silla – ihr staunend nachblickten.
Lia hatte Mühe, rechtzeitig mit der davonstürmenden Asalia aus dem Unterrichtsraum zu schlüpfen.
Kaum fiel hinter ihnen die Tür ins Schloss, blieb Asalia stehen und zeigte mit dem Zeigefinger anklagend auf Ludmilla. »Mich zu verschmähen … das ist mir ja noch nie passiert. Das Grünzeug landet für seine Frechheit im Mixer!«
Lia drückte die Efeuranke schützend an ihre Brust. »Die Drohung nimmst du sofort zurück! Schau dir das an, Ludmilla zittert schon vor Angst.« Tatsächlich hatte Lia ihre liebe Mühe, die sich windende Ranke festzuhalten.
»Das freche Efeu hat kein bisschen Angst vor mir, sondern ist bloß aufsässig«, winkte Asalia ab – und tatsächlich sträubte der Plantling angriffslustig seinen Stängel. »Wenn du Ludmilla loslässt, wirft sie sich wie ein Lasso um meine Fußknöchel und zieht mir die Beine weg. Den Plan sehe ich ihr doch an den Blätterspitzen an. Ich weiß auch wirklich nicht, warum du mir deinen Plantling aufzwingen willst. Nimm Ludmilla nach deiner Rückkehr einfach mit in die Menschenwelt und steck sie in einen Blumentopf, dann fällt sie zwischen Mama Dornmeiers Topfpflanzen gar nicht weiter auf.«
»Das wäre Freiheitsberaubung«, entfuhr es Lia. »Andererseits würde es Ludmilla selbst in einem Blumentopf besser ergehen als bei dir, du Pflanzen-Haterin.«
»Und schon wieder einen Punkt auf deiner lästigen Liste geklärt: Ich überlasse das Efeu dir und du musst mir nicht lauter langweiliges Zeug über Plantlingspflege erzählen«, lobte sich Asalia. »Du kannst mir später für mein Engagement danken, nun kommen wir erst mal zu meiner Liste: Ich will im Gegenzug, wenn ich nach Springwasser muss, deine Hockey-Ausrüstung behalten. Damit gründe ich an der Elfenschule meine eigene Mannschaft, in der ich dann endlich die Kapitänin bin und außerdem die Regeln festlege. Und natürlich nehme ich die Schminkutensilien mit, die ich vor Mama Dornmeier unterm Bett verstecke. Seit der Sache mit den lila Augenbrauen darf ich nicht mehr ohne sie in die Drogerie. Vermutlich hat sie irgendwie von meinem Plan Wind bekommen, Glitzernagellack als Lippenstift zu verwenden. Dabei ist die Idee total genial, schließlich hält Lack viel länger als Lippenstift.«
»Du hast ernsthaft vor, dir Lack auf den Mund zu schmieren … Was geht dir bloß so durch den Kopf?«, fragte Lia ratlos.
Asalia strahlte. »Genau das hat mich Mama Dornmeier auch gefragt – und ich hab gesagt: superduperviel. Und das, meine Süße, ist noch untertrieben!«
Während Lia leise in sich reinstöhnte, zählte Asalia fröhlich weiter auf, was nach dem Körpertausch in ihrem Besitz bleiben sollte: »Ich bestehe auf meiner Rezeptsammlung, auch wenn nix schmeckt von dem Zeug, das ich mir ausgedacht habe. Und das neue Handy behalte ich auch, das ist so gesehen ja eh meins. Ohne meine Wenigkeit müsstest du dich weiterhin mit diesem Uraltmodel rumplagen.«
Lia hob fragend die Augenbraue. »Wieso hast du ein neues Handy? Ich hatte meins doch erst vor ein paar Monaten bekommen.«
»Weil das Ding bei einer Fotosession vom Schrank gefallen ist. Es sollte Antonia, Leon und mich bei der Kissenschlacht per Timer aufnehmen. So schade. Das Foto, wie ich ein Kissen nach dem Handy werfe, hätte bestimmt übergut ausgesehen. Blöderweise habe ich das Handy mit dem Kissen getroffen und ein Klirr später … Na ja, jetzt habe ich jedenfalls ein neues Handy, nachdem ich Mama Dornmeier hoch und heilig versprochen habe, nicht mehr mit Wohngegenständen herumzuschmeißen. Und ich muss künftig darauf verzichten, unsere Nachbarin Frau Birnbach darüber zu informieren, dass ihre Balkonblumen hinter ihrem Rücken über sie tratschen. Was diese Blumen ständig machen, das sind richtig üble Lästermäuler.« Sie warf einen abschätzigen Blick auf Ludmilla, die sich gerade in eine Halskette für Lia verwandelte und sie dabei im Nacken kitzelte. »Das Grünzeug verursacht nur Ärger.«
»Du kannst doch nicht alle Pflanzen in einen Topf werfen«, sagte Lia, der gerade Wichtigeres durch den Kopf ging. In der letzten Zeit hatte sie öfter mal darüber nachgedacht, noch eine Weile in Springwasser zu bleiben, wo sie sich so gut eingelebt hatte. Was sprach schon dagegen, noch etwas die Elfenschulbank zu drücken? Asalia stand total auf ihr geborgtes Leben und Mama Dornmeier dachte, dass ihre Tochter bloß eine verrückte Phase habe. Kein Grund zur Eile, konnte man meinen. Aber nach dem, was Asalia soeben von sich gegeben hatte, stand fest, dass Lia schleunigst zurück in ihr altes Leben musste. Mit jedem Tag, den Asalia länger die Menschenwelt als Larissa Dornmeier unsicher machte, würde es schwieriger werden für Lia, ihren Platz wieder einzunehmen. Nicht nur, weil ihre Nachbarin Frau Birnbach nach der Pflanzengeschichte bestimmt befürchtete, dass das sonst so nette Mädchen von nebenan nicht alle Tassen im Schrank habe. Sondern auch, weil der Name Leon SCHONWIEDER!!! gefallen war.
Was sollte Lia denn mit Leon anfangen? Allein bei der Vorstellung hätte sie sich am liebsten zu einer Kugel zusammengerollt, so wie es Merla immer tat, wenn sie auf einen Jungen traf.
»Das mit Leon … also, freunde dich besser nicht allzu gut mit ihm an«, bat Lia. »Ich kann mir nämlich überhaupt nicht vorstellen, mit einem Achtklässler abzuhängen. Ich habe keine Ahnung, wie die so drauf sind und worüber man mit denen spricht.«
Asalia winkte ab. »Wegen Leon musst du dir keine Sorgen machen, der lacht über alles, was ich sage. Und er macht alles mit, solange es Spaß macht. Einfacher als mit Leon geht’s nicht.« Als Lia immer blasser wurde, kratzte Asalia sich nachdenklich am Kopf. »Wozu die Aufregung? Schließlich kommst du gut mit Dorient aus, während ich mich mit meinem Bruder ständig in den Haaren habe. Moment mal! Was hältst du davon, wenn wir den beiden Jungen Taukristalle unterjubeln und heimlich den Körpertausch bei ihnen durchführen? Dann könnten Leon und ich Springwasser rocken, und mein sterbenslangweiliger Bruder könnte an deiner Seite jeden elektronischen Firlefanz bestaunen und befummeln, mit dem ihr Menschen euren allgegenwärtigen Mangel an Magie ausgleicht. Was übrigens zu schlimmen Ergebnissen führt, wie etwa elektrische Zahnbürsten beweisen. Meine hat schon vor Tagen schlappgemacht, nachdem ich sie auseinandergenommen habe, um sicherzustellen, dass kein eingeschlossener Miniwirbelwind drinsteckt, sondern wirklich nur Technikkrams. Blöderweise ließ sich das Teil nicht wieder zusammenstecken, aber das behalte ich nach dem kaputten Handy lieber für mich, sonst schlägt Mama Dornmeier nur wieder die Hände über dem Kopf zusammen. Ich kaue einfach Zimtkaugummi, ist doch dasselbe wie Putzen, nur ohne Elektrizität und eklige Zahnpasta.«
Lia massierte sich die Schläfen. »Erinnere mich daran, dass ich einen Zahnarzttermin brauche, sobald ich zurück bin. Und was die Sache mit dem heimlichen Körpertausch für die Jungen anbelangt … Die Idee ist völlig daneben, bei so etwas würde ich nie mitmachen.« Allerdings sagte sie das nicht mit dem nötigen Nachdruck, mit dem man auf eine solch hirnrissige Idee eigentlich reagieren sollte. Die Vorstellung, Dorient weiterhin an ihrer Seite zu haben, war zu verführerisch. Mit dem älteren Elfenjungen war es wie mit dem Salz in der Suppe: Mit Dorient war es einfach besser.
Auch Asalia entging Lias Zögern nicht. »Wir nehmen den Jungentausch sicherheitshalber mal mit auf unsere Jodel-Liste.«
»Du meinst wohl To-do-Liste.«
»Doodle-Liste?« Asalia verdrehte die Augen. »Doodle sind bekanntermaßen kleine Kerle, die in Kieselsteinen hausen. Und wer einen Kieselstein für ein hübsches Zuhause hält, der ahnt nicht mal, was Jodel-Listen überhaupt sind. Also echt, Lia. Du musst dringend an deinem Wortschatz arbeiten, bei dem Unsinn, den du von dir gibst, blamierst du dich doch nur – und mich damit ebenfalls.«
Das war so typisch Luftelfe, dass Lia sich ein Grinsen verkneifen musste.
»Eins ist doch klar«, sagte Lia. »Wenn wir beide zusammenhalten, dann klappt es auch mit dem Rückzauber. Und wenn wir das geregelt kriegen, dann können wir ja überlegen, ob wir nicht ab und zu mal unsere Leben tauschen wollen. Ich finde es nämlich ganz gut in Springwasser.«
Eine Sekunde später bereute Lia diesen Vorschlag bereits, denn Asalia kreischte vor Begeisterung so laut, dass Frau Pjietro im Naturkunderaum es unmöglich hatte überhören können. »Ich kann Mensch bleiben! Andersreich, langweil dich ohne mich!«
Hastig versuchte Lia, der überdrehten Prinzessin den Mund zuzuhalten, aber die war schwieriger einzufangen als ein rumhüpfender Flummi. »Du musst sofort in den Unterricht zurück, sonst verliert Frau Pjietro noch die Geduld mit dir«, sagte Lia. »In Chemie bin ich ohnehin bestenfalls so lala, da kann ich es nicht gebrauchen, dass mich die Lehrerin auf dem Kieker hat.«
Asalia vollführte vor Glückseligkeit ein paar Tanzmoves in ihrem Tutu, die bewiesen, dass Lias Menschenkörper vom Tanzen keine Ahnung hatte. »Wenn das mit der Chemienote später für dich nicht läuft, dann kannst du mich für ein paar Unterrichtsstunden in deine Haut schlüpfen lassen«, flötete Asalia gut gelaunt. »Deine Lehrerinnen und Lehrer lieben mich, sie sagen alle, ich sei eine echte Nummer. Damit meinen sie zweifelsohne, dass ich die Nummer eins bin.«
Seufzend schob Lia die von ihrer Großartigkeit ganz berauschte Asalia zur Tür, bevor Frau Pjietro nach dem Rechten schauen würde. »Dann beweis jetzt mal, wie einsermäßig du bist, und zieh den Versuch mit dem Stinkeschwefel durch. Ich sammle währenddessen Dorient ein und sehe zu, dass wir nach Andersreich zurückkehren, bevor er noch irgendeinen Elfenschabernack anstellt. Im Chemieraum gibt es eindeutig zu viele Dinge, die seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen könnten. Ich mag Dorients Sturmhaare, ich möchte nicht, dass er sie sich mit dem Bunsenbrenner abfackelt. Oder den Inhalt irgendwelcher Reagenzgläser kostet und die nächsten Mondumdrehungen auf der Krankenstation von Springwasser verbringt.«
»Der Inhalt von Reagenzgläsern ist tatsächlich nicht empfehlenswert«, verkündete Asalia, schon den Türgriff in der Hand. »So ein gletscherblaues Gelee, das wir in der letzten Chemiestunde angerührt haben, hat sich als völlig ungenießbar herausgestellt, obwohl es wie Wolkenpudding aussah. Frau Pjietro hat darauf bestanden, dass die Schulschwester meinen Mund untersucht, obwohl ich das Ekelzeugs sofort freiwillig ausgespuckt habe. Dorient hingegen wäre garantiert so dumm, es zu schlucken, nur weil es blau ist. Jungs eben, nur Nebelsuppe hinter der Stirn.«
Während Asalia gut gelaunt in den Chemieunterricht zurückkehrte, überlegte Lia, was diese Elfe während ihres Gastspiels als Menschenmädchen wohl noch so alles Ungenießbares in ihren Mund gesteckt hatte. Was hatte ihr armer Körper in der letzten Zeit ertragen müssen, von Unmengen an Zimtkaugummi mal abgesehen?
Lia vergaß ihre Grübeleien, als einen Moment später ein spitzer Schrei aus dem Unterrichtsraum drang.
»Elfen! In unserem Klassenzimmer sind Elfen!«
Lia schob die verdatterte Asalia beiseite und stürmte in den Unterrichtsraum. Nun war passiert, was sie schon die ganze Zeit über befürchtet hatte: die absolute Katastrophe!
Ein Blick genügte, um festzustellen, wie sehr sie damit richtiglag.
Dorients Sturmhaare standen vor Schreck zu Berge, während er stocksteif dastand, die Augen weit aufgerissen wegen eines Mädchens, das auf ihren Tisch geklettert war und mit dem Finger auf ihn zeigte.
»Seht doch, ein Elf, ein richtiger Elf!«
Es war die Tagträumerin Silla Bogner, die da gerade vor Begeisterung ausflippte.
Der Rest der Klasse starrte das Mädchen mit offenem Mund an, genau wie Frau Pjietro, die scheinbar noch zu verblüfft war, um in den Lehrerin-mit-Überblick-Modus zu schalten und irgendwas wie »Silla, lass den Unsinn« zu sagen.
»Ups«, murmelte Asalia. »In unserer Klasse gibt es eine Hellsichtige, damit war voll nicht zu rechnen.«
Lia stöhnte innerlich, als ihr klar wurde, was passiert war: Silla Bogner hatte es aufgegeben, selbstversunken aus dem Fenster zu schauen. Trotzdem war ihr Tagtraum damit nicht vorbei gewesen, ganz im Gegenteil. Als sie aufblickte, stöberte direkt vor ihr ein waschechter Elfenjunge mit spitzen Ohren und Kristallaugen in ihrer Federmappe herum, auf der Suche nach spannenden Gadgets. Jeder andere hätte nichts von Dorient mitbekommen, nur gehörte die Meisterträumerin Silla offenbar zu der raren Sorte Mensch, die hellsichtig war und wegen ihrer Gabe von ihren Mitmenschen oft als seltsam bis komplett balla-balla eingeschätzt wurde. Eben weil sie behauptete, Dinge zu sehen, die sonst niemand sah.
In diesem Moment war es Silla völlig schnuppe, was ihre Klasse von ihr hielt. Da war dieser fantastisch aussehende Junge, scheinbar direkt einem ihrer Lieblingsbücher entsprungen. Dass er sie bestürzt anblinzelte, hielt sie nicht davon ab, sich vorzulehnen und sein Gesicht anzufassen.
»Du bist wahrhaftig echt«, hauchte Silla.
»Und du bist voll aufdringlich, man greift doch niemandem ins Gesicht«, beschwerte sich Dorient.
Sillas Lächeln nahm einen verzauberten Touch an. »Und deine Stimme klingt wie Engelsgesang, auch wenn ich keins deiner Worte verstehe. Was willst du mir mitteilen, Fremder? Bist du gekommen, um mich in dein magisches Reich zu entführen? Darauf warte ich schon so lange …«
Dorient stolperte zurück, als Silla ihre Arme um seinen Hals schlang, offenbar, damit er sie forttragen konnte. Dieses Mädchen hatte eine ausgesprochen theatralische Ader.
»Hilfe! Lia!«, rief Dorient.
Kurz musste Lia grinsen. Sie hatte schon erlebt, wie Dorient sich einer Übermacht aus gefährlichen Dunkelbolden entgegenstellte, sich unbekümmert in Kloppereien stürzte oder sich furchtlos am Zeremonienmeister vorbeischlich, die Taschen vollgestopft mit gemopsten Leckereien. Der Prinz der Himmelsreiche nahm jede Herausforderung an – mit einer Ausnahme. Wenn es um Romantik pur ging, war er heillos überfordert. Das würde Lia ihm das nächste Mal unter die Nase reiben, wenn er sich darüber lustig machte, dass sie noch keinen einzigen Verweis wegen groben Unfugs in Springwasser eingefahren hatte, was in seinen Augen bedeutete, dass sie brav statt scharf war. Jetzt flitzte Lia zu ihm und der um seinen Hals hängenden Silla.
»Mach, dass sie mich loslässt«, raunte Dorient.
»Bist du dir sicher?«, fragte Lia. »So ein Menschenmädchen steht dir als Halsschmuck nämlich ausgesprochen gut.«
»Lia!«
»Schon gut.« Lia zupfte an Sillas Pulli, erst vorsichtig, dann deutlich fester, um das betörte Mädchen letztendlich in die Seite zu zwicken.
»Autsch. Wer stört unsere schicksalhafte Begegnung?« Als Silla aufblickte, winkte Lia ihr zu.
»Hallo, Silla. Hättest du was dagegen, den Hals des Jungen loszulassen, bevor er noch blau anläuft?«
»Huch, das wollte ich nicht.« Silla gab die Umklammerung auf, fasste allerdings schnell nach Dorients Hand, als habe sie Angst, dass er ihr sonst weglief. Was er zweifelsohne auch getan hätte. »Du sprichst meine Sprache, Elfenschönheit«, sagte sie zu Lia.
»Na klar tue ich das«, rief Asalia, die noch bei der Tür stand, im sicheren Abstand, und sich bei dem Wort Elfenschönheit angesprochen fühlte. »Mein Elfenkörper sieht richtig bombastisch aus, da kommt so schnell keiner mit in Andersreich.«
Nun kam Frau Pjietro, die einen vergessenen Messbecher in der Hand hielt, wieder zu sich. »Ich bin ja für jeden Scherz zu haben, aber jetzt reicht es langsam. Silla und Larissa, ihr bringt den ganzen Unterricht durcheinander. Ich erwarte, dass ihr jetzt augenblicklich mit dem Theater aufhört. Nach der Stunde werde ich ein Hühnchen mit euch rupfen.«
»Auf keinen Fall werde ich bei so etwas mitmachen«, warf sich Asalia in die Brust. »Meinetwegen führe ich dieses Stinke-Experiment durch. Aber wenn es um Federvieh geht, dann ist Schluss mit lustig. Die Federn bleiben am Huhn! Was soll die Rupferei denn mit Chemie zu tun haben, Frau P.?«
»Mein Name lautet Pjietro – immer noch und auch in Zukunft.« Frau Pjietro seufzte. »Mit dem Hühnchen meine ich, dass wir nach der Stunde darüber sprechen werden, warum Silla und du so tut, als würden sich hier im Unterrichtsraum unsichtbare Fantasiegeschöpfe tummeln.«
Silla schüttelte den Kopf. »Elfen sind überhaupt nicht unsichtbar! Auch wenn sie so wunderschön sind, dass man kaum seinen Augen traut.«
Für ihren empörten Widerspruch erntete Silla jede Menge Gekichere von der Klasse, was sie jedoch null interessierte. Verknallt blinzelte sie Dorient an, der ein Gesicht machte, als habe er eine Kröte verschluckt.
»Augen sind das Stichwort«, raunte er Lia zu. »In meinem Rucksack ist ein Döschen Glanzstaub, das die Hellsichtigkeit von Menschen benebelt. Würdest du meine Verehrerin damit einpudern? Und zwar hurtig, wenn ich bitten darf, sonst bin ich gleich verlobt.«
Während Silla sich an Dorients Seite schmiegte und Asalia mit Frau Pjietro über die Bedeutung gerupfter Hühner diskutierte, wühlte Lia in Dorients Rucksack. Neben typischem Krimskrams wie Schnodderball-Zwillen und Megafonstimme-Pastillen gab es auch ein gläsernes Döschen mit einem schillernden Pulver. Das musste es sein!
»Silla, tust du mir bitte einen Gefallen?«, fragte Lia.
»Was immer Ihr wünscht, edle Dame aus dem Feenreich. Euer Wille ist mir Befehl.« Ergeben löste Silla ihren Kopf von Dorients Schulter.
Mehr brauchte es nicht – Lia pustete in das Döschen und eine Wolke Glanzstaub trieb Silla ins Gesicht.
Silla schaute überrascht drein, ihre Nase zuckte und dann begann sie auch schon zu niesen. So heftig, dass sie Dorient loslassen musste. Sofort nutzte Dorient die Chance und flüchtete hinter Lia, während Silla weiternieste, als habe sie eine Extradosis Pfeffer eingeatmet. Schließlich stand sie mit triefender Nase da und rieb sich die tränenden Augen.
»Was ist denn mit meinen Augen los? Auf einmal sieht alles so langweilig aus. Und wo sind mein zauberhafter Elfenheld und seine entzückende Begleitung hin?« Suchend blickte sie sich um, aber wegen des Glanzstaubs sah sie durch Lia und den sich hinter ihr duckenden Dorient hindurch.
»Bei den Sternen«, atmete Dorient erleichtert aus. »Dank der Prise Glanzstaub sollte ihre Hellsichtigkeit die nächsten Stunden abgeschaltet sein. Lass uns aber lieber kein Risiko eingehen und sofort abzwitschern. Ich hab erst mal genug von der Menschenwelt.«
»Mal im Ernst, Silla hat noch verhältnismäßig locker reagiert. Was meinst du, was hier los gewesen wäre, wenn die ganze Klasse dich in deiner elfenhaften Herrlichkeit gesehen hätte, o du Prinz des fabelhaften Feenreichs?«, feixte Lia. Das pure Entsetzen auf Dorients Gesicht ließ sie schmunzelnd abwinken. »Das war nur ein Scherz, bestimmt hätte sich sofort jemand über deine Spitzohren lustig gemacht und die Fashion-Polizei hätte dich aufgeklärt, dass die Wolkenstickereien auf deinem Hemd nach Opas Kleiderkiste aussehen.«
»Wenn ich mir ein Cap aufsetze und mir ein paar Menschenklamotten besorge, würde ich dann als normaler Junge durchgehen?« In Dorients Augen funkelte es verdächtig. Offenbar war er auf den Geschmack gekommen und plante trotz Sillas Überschwänglichkeit schon seinen nächsten Besuch in der Menschenwelt.