#London Whisper – Als Zofe küsst man selten den Traumprinz (oder doch?) - Aniela Ley - E-Book

#London Whisper – Als Zofe küsst man selten den Traumprinz (oder doch?) E-Book

Aniela Ley

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Beschreibung

London, 1816: Zoe, Zeitreisende und Zofe von Miss Lucie, und Hayden, gutaussehender Lord und ebenfalls Zeitreisender, nehmen am legendären Winterball teil. Doch statt eine rauschende Ballnacht zu verbringen, wird Zoe von der Verborgenen Gesellschaft auf ein einsames Landgut entführt. Ausgerechnet dort findet sie heraus, dass der Splitter für Haydens und ihre Rückreise in die Gegenwart Teil der Dekoration bei einer Soiree ist. Auf dem Plan stehen nicht weniger als eine spektakuläre Flucht, Dramen und unerwartete Allianzen, damit Zoe am Ende doch noch das äußerst exklusive Event in Haydens charmanter Begleitung besuchen kann, die Schergen der Verborgenen Gesellschaft immer auf ihren Fersen. Also eigentlich alles kein Problem, oder?

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Seitenzahl: 343

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Aniela Ley

#London Whispers

Als Zofe küsst man selten den Traumprinz (oder doch?)Band 3

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

1Kalt wie Schnee

Der Schnee fiel dicht und gleichmäßig. Wie ein weißes Tuch legte er sich auf die nächtliche Landschaft, durch die die Kutsche fuhr, und dämpfte jeden Laut.

Was hätte ich dafür gegeben, ebenfalls unter einer schützenden Decke zu verschwinden. Wenigstens für einen Moment zu entkommen. Vor dem kaum fühlbaren Puls der bewusstlosen Marquise auf der Kutschbank neben mir. Vor Nechbets kalten Augen, die unentwegt auf mir lagen, als könnten sie mir früher oder später all meine Geheimnisse entreißen. Und vor allem vor der Erinnerung an den Moment, in dem ich in diese Kutsche gestiegen war, die mich von Hayden wegbrachte. Ohne zu wissen, wohin es ging und was mich dort erwartete. Natürlich hatte ich die Marquise unmöglich ihrem Schicksal überlassen können. Aber würde Hayden verstehen, warum ich ihn auf dem Winterball zurückgelassen hatte und freiwillig mit unseren Feinden mitgegangen war?

Zoe!, ermahnte ich mich. Jetzt ist definitiv nicht der richtige Zeitpunkt, um in Kummer und Selbstzweifeln zu versinken. Heb dir das für später auf oder lass es am besten ganz bleiben. Du bist in dieser Situation, weil du einer Freundin helfen wolltest. Damit solltest du jetzt auch dringend mal anfangen, anstatt dich selbst zu bemitleiden.

Mit meinem besten Pokerface erwiderte ich den Blick der Hohepriesterin, die mir im Halbdunkel des Kutschwagens gegenübersaß. »Wenn Sie sich so gut mit Giften auskennen, haben Sie doch sicherlich etwas auf Lager, das der Marquise Linderung verschaffen kann.«

Nechbet schürzte ihre Lippen. »Warum sollte ich meine wertvollen Arzneien an ein Weib verschwenden, das mir nur Ärger gemacht hat und nicht mehr allzu lange unter uns weilen wird? Entweder weil sie stirbt oder weil sie gerade noch rechtzeitig in ihre Zeit zurückreist.«

Diese Frau war wirklich eiskalt. Kein Wunder, dass sie dem Totengott Osiris diente, vermutlich lächelte sie bei Beerdigungen.

»Da habe ich eine ganz tolle Motivation für Sie«, erwiderte ich trocken. »Wenn die Marquise sich in Glas verwandelt, dann betrachte ich unseren Deal für ungültig. In dem Fall haben Sie zwar den imposanten Spiegelsplitter aus dem Haus des Duke of Sandringham, aber ich werde ihn nicht erwecken. Dann können Sie herausfinden, ob Sie den Lauf gegen die Zeit bestehen und das Geheimnis des Mondscheinspiegels ohne meine Hilfe lüften – oder ob Sie vorher ebenfalls zu Glas werden.« Ich verengte meine Augen zu Schlitzen. »Bilde ich mir das ein oder zeigt sich schon ein erster Schimmer Farblosigkeit auf Ihren Wangen?«

Unwillkürlich fasste sich Nechbet in ihr perfektes Gesicht, dann lächelte sie kühl. »Du bist wirklich ein unverschämtes Geschöpf. Einverstanden, ich werde der Marquise ein Elixier verabreichen, das ihre Lebensgeister wenigstens für eine Weile anfachen dürfte. Aber nicht etwa wegen deiner läppischen Drohung, das habe ich nämlich nicht nötig. Ich kann durchaus überzeugend sein, wenn ich will. Nein, ich gebe der Marquise ein Mittel, weil es deutlich interessanter ist, ihren Zeitensprung zu erleben, wenn sie bei Bewusstsein ist. Die Dame ist schließlich unser Versuchskaninchen.«

Mein Pokerface bekam ein paar Risse, als ich mir im Schnelldurchlauf ausmalte, welche fiesen Tricks die Hohepriesterin wohl noch auf Lager hatte, um den Willen einer fünfzehnjährigen Gefangenen zu brechen. Gifte, Hypnose, Psychospielchen waren nur ein paar Beispiele, die mir durch den Kopf schossen. Deshalb war es auch kein Wunder, dass ich zurückwich, als Nechbet sich vorbeuge. Sie schenkte mir ein wissendes Lächeln, während sie an dem großen Ring aus geschwärztem Gold an ihrer Hand herumspielte. Er sah aus wie ein Skorpion, der sich um ihren Finger geschlungen hatte.

Unwillkürlich zog ich eine Grimasse.

Und dann gleich noch einmal, als der goldene Skorpion sich plötzlich bewegte, seinen Stachel anhob und Nechbet ihn so hielt, dass er sich in die gläserne Hand der Marquise bohren konnte. Die winzige Stichwunde leuchtete rot auf, dann zerfiel der Skorpion zu Staub.

»Ich hoffe sehr, dass sich die Opferung eines meiner wertvollsten Kleinode gelohnt hat«, raunte Nechbet.

Danach sah es zumindest schwer aus, denn in die Hand der Marquise kehrte die Farbe zurück und breitete sich von dort schnell weiter aus. Kaum verfärbten sich ihre eben noch gläsernen Lippen rot, öffneten sie sich auch schon und die Marquise sog lautstark Luft in ihre Lungen. Ich wollte gerade einen Jubelschrei ausstoßen, da setzte sie sich ruckartig auf und griff sich an die Brust.

»Mein Herz«, keuchte die Marquise. »Es fühlt sich an, als würde es gleich zerspringen.«

Ich verschob den Freudentaumel auf später und tätschelte ihr stattdessen die Schulter. »Das wird schon, einfach schön brav weiteratmen«, wies ich sie professionell an. Dann sah ich zu Nechbet, die es sich wieder in den Sitzpolstern bequem gemacht hatte. »Ist diese krasse Reaktion normal?«, flüsterte ich.

Die Hohepriesterin überschlug betont gelangweilt ihre Beine. »Das möchte ich meinen, wenn man ein Gift verabreicht bekommt, mit dem in Osiris’ Tempel die Toten geweckt werden. Die geliehene Lebenskraft ist allerdings nur von kurzer Dauer, du solltest also besser keine Zeit verschwenden, wenn wir gleich das vorbereitete Mondscheinzimmer betreten. Deine verehrte Marquise hat nämlich nur eine Chance zu überleben, wenn sie sich unverzüglich auf Zeitreise begibt.«

»Was soll denn bitte schön ein Mondscheinzimmer sein?«, fragte ich, um nicht darüber nachdenken zu müssen, womit man Toten wieder Lebenskraft einhauchte. Die Marquise rang immer noch um jeden Atemzug. Ihre Augen waren weit aufgerissen und so grün, dass man es selbst im Dämmerlicht erkennen konnte. Als habe das Skorpiongift das Licht in ihnen angeschaltet.

Meine Frage blieb unbeantwortet, denn in diesem Moment hielt die Kutsche und die Wagentür wurde von außen geöffnet.

Im Schein einer Laterne stand dort niemand Geringeres als Sir Henry Beowulf Satinville alias der Duke of Richmond und führender Kopf der Verborgenen Gesellschaft. Welch Überraschung. Dann stimmten die Gerüchte also, dass er sich auf sein Landgut zurückgezogen hatte.

»Ich habe Sie bereits sehnsüchtig erwartet, meine Teuerste. Willkommen auf Ferngreen Manor«, begrüßte Sir Henry die Hohepriesterin. »Und wie ich zu meiner Verwunderung sehe, sind Sie nicht allein gekommen. Darf ich erfahren, wer diese entzückende junge Dame ist?«

Nechbet stieß ein ungeduldiges Knurren aus. »Das ist Zoe, die Zofe der Arlingtons. Aber vor allem ist sie die Zeitreisende, die mein Untergebener Bauchau während einer Meditation durch den großen Mondscheinsplitter gesehen hat. Dieses Mädchen kommt aus der Zukunft und ist unsere große Hoffnung, den Zauber des Mondgottes Thot endlich zu entfachen.«

Seinem Gesichtsausdruck nach stand Sir Henry auf dem Schlauch. »Sie müssen sich geirrt haben, Miss Lucies Zofe ist mir durchaus bekannt und diese Person sieht völlig anders aus, ganz wie eine echte Lady.«

Womit der Mann durchaus recht hatte. Denn ich trug ja noch meine Verkleidung vom Ball mit den gepuderten Haaren und den blauen Kontaktlinsen. Mal echt, dank Monsieur Houppettes Verwandlungskünsten hätte mich vermutlich nicht mal meine Oma samt Brille auf der Nase wiedererkannt.

»Für Erklärungen haben wir jetzt keine Zeit.« Nechbet war bereits aufgesprungen und bedeutete mir, der Marquise aufzuhelfen. Was alles andere als leicht war, da sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Doch schon trat Honoré Bauchau, der auf dem Kutschbock mitgefahren war, neben Sir Henry. Er nahm die Marquise auf die Arme und trug sie davon, sodass mir nichts anderes übrig blieb, als ihm nachzulaufen.

Der Schnee fiel immer noch so dicht, dass ich beim besten Willen nicht sagen konnte, wo ich mich eigentlich befand. Dann tauchte im Licht einiger Sturmlampen die prunkvolle Fassade eines Landhauses, ach was, eines Schlosses mit Erkern und Türmen auf. Das war also Sir Henrys bescheidener Rückzugsort vor den Mauern Londons, wohin er sich angeblich verdrückt hatte, um der Schmach zu entgehen, vom Duke of Sandringham nicht auf den Winterball eingeladen worden zu sein. In Wirklichkeit hatte er alles für die Ankunft der Hohepriesterin vorbereitet – für den Fall, dass es ihr gelingen sollte, dem Duke den Mondscheinsplitter zu stibitzen. Jetzt hatte sie nicht nur den eingeheimst, sondern auch gleich noch ihre ärgste Widersacherin, die Marquise, und mich, meines Zeichens Spiegel-Erweckerin.

Vor der Eingangstür standen livrierte Diener Spalier und öffneten genau in dem Moment, in dem Honoré Bauchau sie samt der sich windenden Marquise erreichte. Dicht gefolgt von mir, der Hohepriesterin und einem siegessicher wirkenden Sir Henry. Wahrscheinlich sah er sich schon durch die Hängenden Gärten von Babylon lustwandeln, bevor er sich das Gold der Maya unter den Nagel riss. Mir war alles recht, solange wir es nur rechtzeitig schafften, die Marquise in die Gegenwart zurückzuverfrachten. Danach war immer noch genug Zeit, die Nerven zu verlieren.

Während ich mit gerafften Röcken hinter Bauchau und Nechbet herlief, schaute ich mich um. Je mehr ich mir von dem Grundriss dieses Landhauses der Extraklasse einprägte, umso besser. Denn wenn mich nicht alles täuschte, würde mich Nechbet nicht einfach freundlich an der Tür verabschieden, sobald sie das Rätsel des Mondscheinspiegels gelöst hatte. Wenn sie richtiglag, brauchte es für eine bewusst eingeleitete Reise jemanden aus der Vergangenheit und jemand Zweiten aus der Zukunft. Was nichts anderes bedeutete, als dass mir nur die Flucht bleiben würde, wenn ich nicht länger nach ihrer Pfeife tanzen wollte. Leider gab es in diesem Haus nicht nur verwirrend viele Türen, sondern auch ein gutes Dutzend Diener sowie ein paar Gestalten, die ihrer bulligen Statur nach im Sicherheitsgewerbe beschäftigt waren. Zwei von diesen wandelnden Schränken hielten Wache vor einer Tür im Obergeschoss. Sie öffneten erst auf Sir Henrys Geheiß hin. Dahinter befand sich ein Raum, der bis auf eine Chaiselongue und einige brennende Kerzen leer war. Die Fenster waren hinter schimmernden Samtvorhängen verborgen und die Wände mit einer silbrigen Farbe gestrichen, sodass es den Eindruck erweckte, als würde man eine Schmuckschatulle betreten. Irgendwo musste Weihrauch verbrannt werden, denn sein warmer würziger Duft lag in der Luft.

»Setz die Marquise auf der Chaiselongue ab«, wies Nechbet ihren Untergebenen Bauchau an.

Als der einen Schritt zurücktrat, traute ich meinen Augen nicht. Vor mir saß nämlich eine blond gelockte Frau mit vor Aufregung roten Wangen anstelle eines fast komplett gläsernen Geschöpfs. So hatte die Marquise also ursprünglich ausgesehen. Noch immer presste sie die Hand auf ihre Brust, als befürchte sie, ihr Herz würde sich sonst mit einem Hopser verselbstständigen. Aber Herzschmerz hin oder her, es war eine solche Erleichterung, sie völlig lebendig zu sehen.

Ich tat etwas, das ich vorher nie gewagt hätte: Ich schloss die Marquise in die Arme. Weil ich so froh war, dass sie lebte, dass es sie auch in Farbe gab und dass sie plötzlich wie ein echter Mensch aus Fleisch und Blut aussah. Was hätte ich in diesem Moment für Konfetti und Luftschlangen gegeben!

»Zoe, wie hast du dich nur in solch eine gefährliche Lage bringen können?«, wisperte die Marquise. Dabei war ihr anzuhören, dass sie kaum ausreichend Luft für ihre Worte bekam. Zumindest erwiderte sie meine Umarmung, indem sie mir eine Hand auf die Schulter legte.

»Das war es wert. Sie sind wieder aufgewacht, nachdem ich schon befürchtet hatte, dass wir Sie verloren haben.«

»Was auch immer mir diese Priesterin des Todes verabreicht hat, es fühlt sich kein bisschen nach einer Heilung an. Ganz im Gegenteil, ich brenne innerlich und mein Herz schlägt viel zu schnell.« Plötzlich kniff die Marquise die Augen zusammen und ich spürte, wie ihre Anspannung nachließ.

»Wird es besser?«, fragte ich hoffnungsvoll.

»Es scheint so, aber das ist jetzt unwichtig. Du darfst der Hohepriesterin nicht zu Diensten sein, damit würdest du einen Verrat an der Mondscheinmagie begehen.« Sogar im Angesicht einer üblen Sackgasse ging bei der Marquise das Rätsel des Zeitenspiegels vor.

Dann wollte ich sie mal aufmuntern. »Machen Sie sich bitte keine Sorgen, Nechbet hat mir versprochen, dass wir Sie zuallererst in Ihre Zeit zurückschicken. Danach sehen wir weiter.«

Statt eines Dankeschöns bohrten sich die Finger der Marquise unterwartet fest in meine Schulter. »Nein, Zoe. Du darfst dieser Frau nicht vertrauen. Die Hohepriesterin kennt nur ihr Ziel, alles andere ist ihr gleichgültig. Sie wird dich betrügen, wo sie nur kann.«

Ich erwiderte fest den Blick der Marquise und kam nicht umhin festzustellen, dass sich zwar ihre Atmung beruhigt hatte, dafür jedoch ihre Wangen wieder an Farbe verloren. Die Wirkung des Skorpiongifts verflüchtigte sich bereits und es war klar, dass damit auch die geliehene Zeit der Marquise ablief. Wenn diese grünen Augen weiterhin leuchten sollten, dann musste ich jetzt handeln, egal was die Marquise von meinem Deal mit Nechbet hielt.

»Auch ich kenne heute Nacht nur ein Ziel«, sagte ich in bester Hollywood-Manier. »Und das besteht darin, Sie nicht sterben zu lassen.« Bevor die Marquise etwas erwidern konnte, stand ich auf. Wie vermutet, war sie zu schwach, um mich zurückzuhalten.

Nechbet stand mit Sir Henry abseits und zeigte ihm den Spiegelsplitter aus dem Kabinett des Dukes. Offenbar weihte sie ihn flüsternd ein, was es mit meinem Besuch auf sich hatte. Als ich auf die beiden zutrat, verschwand der Hausbesitzer mit den Worten, etwas veranlassen zu wollen. Das sollte mir nur recht sein, auf Sir Henrys Gegenwart legte ich nun wirklich keinen Wert.

»Bereit, den Spiegel zum Leben zu erwecken?«, fragte mich Nechbet.

Entschlossen reckte ich das Kinn. »Je schneller, desto besser. Allerdings gibt es ein kleines Problem: Wir brauchen das Licht des Vollmonds, um die Mondscheinmagie beschwören zu können. Daran haben Sie schlaues Köpfchen wohl nicht gedacht.«

Nechbets Lächeln war genauso kalt wie ihre grauen Augen. »Offenbar hast du mein kleines Schmuckstück vergessen, eine Leihgabe aus dem Tempel des Thot.« Sie holte den perlenförmigen Anhänger, der wie ein Mini-Vollmond aussah, aus ihrem Ausschnitt hervor. Mit seiner Hilfe hatte sie das Kabinett in Mondlicht getaucht und dadurch den Splitter aus dem Spiegelglas gelöst, in das er eingearbeitet gewesen war. Dann wies sie Bauchau an, einen in der Wand eingelassenen Hebel zu betätigen, woraufhin sich von der Decke ein Kristallleuchter absenkte. Doch das war noch nicht alles. Durch einen versteckten Mechanismus drehte der pompöse Leuchter sich um die eigene Achse und auch seine ausladenden Arme bewegten sich sanft, als würde sie ein unsichtbarer Wind streifen.

»Wow, die erste Discokugel der Geschichte. Ich bin beeindruckt«, sagte ich, ohne eine Miene zu verziehen.

Die Hohepriesterin ignorierte mich und öffnete stattdessen ihren Mondanhänger. Kühles Licht brach sich seine Bahn, wurde von den silbrigen Wänden zurückgeworfen und verfing sich in dem Kronleuchter, dessen unzählige Kristalle funkelnd zum Leben erwachten.

Innerhalb eines Wimpernschlags war das Mondscheinzimmer in Gefunkel getaucht, Lichtblitze zuckten umher und ließen es immer heller werden.

Völlig von der Rolle starrte ich in das Feuerwerk über meinem Kopf, das sich immer mehr verstärkte, bis der Raum zur Gänze in ein silbriges Licht getaucht war.

»Dieser Kronleuchter ist mit lauter winzigen Mondscheinsplittern behangen«, stellte ich durchaus beeindruckt fest.

Nechbet hatte sich ihren eigenen großen Splitter gebastelt. Echt clever, die Frau. Und – es funktionierte. Ich konnte spüren, wie sich die Spiegelmagie aufbaute. Ein verräterisches Gefühl breitete sich in meiner Bauchgegend aus, wie immer, wenn sich die Zeitmagie ankündigte. Die Welt schien plötzlich nicht mehr ganz so fest, alles verlor seine Konturen, wurde weicher, geradezu so, als könne sich die ganze Umgebung von einem Moment zum nächsten auflösen und dann neu zusammensetzen – natürlich in einer anderen Zeit. Und das allein durch das reflektierte Mondlicht. Ich musste mich zusammenreißen, damit der Sog mich nicht davontrug.

Konzentration – und zwar von der diamantenklaren Sorte, wies ich mich an. Sonst verwandelt sich die Marquise noch in eine Glasfigur, während du dich wegen des bisschen Glitzerkrams hier wegträumst. Wenn man nüchtern bleiben wollte, war das beste Mittel ein Fachgespräch mit Nechbet alias Fluch des Pharao.

»Ich habe mich schon gefragt, wie Sie Ihre Idee, mit zwei großen Splittern zu arbeiten, umsetzen wollen«, sagte ich. »Die Verborgene Gesellschaft hat den Splitter der Arlingtons schließlich nicht in ihren Besitz gebracht.«

»Not macht erfinderisch. Und ob unser Flickwerk tatsächlich funktioniert, werden wir erst feststellen, wenn du den Splitter des Dukes erwachen lässt. Was langsam mal passieren sollte.« Nechbet gab sich keine Mühe, ihre Ungeduld zu verbergen. Als ich jedoch nach dem Splitter griff, zog sie ihn zurück. »Wir werden folgendermaßen vorgehen: Wir nehmen die Marquise in unsere Mitte. Die Wirkung des Giftes lässt bereits nach, sie wird es kaum auf die Füße schaffen.«

Tatsächlich sah es so aus, als müsse die Marquise sich schon ordentlich anstrengen, um überhaupt aufrecht zu sitzen. Was für eine so stolze Frau sicherlich kein Spaziergang war.

Ich wollte gerade zu ihr rüberlaufen, als Nechbet mit ihren Fingern schnipste, damit ich ihr wieder meine Aufmerksamkeit schenkte. Falls es mit der Rückkehr in den Tempel des Osiris nichts werden sollte, konnte sie es immer noch als Hundetrainerin zu etwas bringen.

Drohend funkelte mich die Hohepriesterin an. »Solltest du einen Ausbruch planen, während der Mondscheinzauber sich entfaltet, schmink dir das gleich ab. Ich werde dir die ganze Zeit gegenüberstehen und jede deiner Bewegungen genauestens beobachten. Außerdem wird sich mein Diener direkt hinter dir postieren. Falls du also auf die Idee kommst, mit deiner Freundin zusammen in die Zukunft zu verschwinden, kämst du dort als Leiche an. Das Gleiche gilt, wenn du dich allein in die Vergangenheit aufmachen willst.«

Bauchau zeigte mir völlig ausdruckslos eine spitz zulaufende Klinge. Mehr musste er gar nicht tun, ich verstand auch so, dass die Waffe tödlich war. Und dieser Mann würde keine Sekunde zögern, sie mir in den Rücken zu stechen. Nur, weil seine Herrin es so wollte.

»Sie können wirklich stolz auf Ihren Untergebenen sein, er ist ein echtes Herzchen«, murrte ich.

Leider war Nechbet resistent gegen Ironie. »Ich stamme aus einer Epoche, in der man nicht nur wusste, wie man die Toten zum Leben erweckt, sondern auch, wie man Diener zu bedingungslosem Gehorsam verpflichtet.«

Sir Henry, der gerade zurückgekehrt war, nickte sichtlich angetan. »Dabei handelt es sich um ein sehr altes und ausgesprochen gefährliches Ritual, bei dem ich die Ehre hatte, zugegen sein zu dürfen. Das Innere des künftigen Dieners wird aufgebrochen wie ein Gefäß, die darin eingeschlossene Essenz mit schwarzer Magie herausgeholt und in ein neues Gefäß überführt. Bauchaus Seelenlicht gehört jetzt seiner Herrin, das verraten seine farblosen grauen Augen.«

All das erzählte Sir Henry mit der absoluten Begeisterung eines Mannes, der nicht gezögert hatte, den Bruder seines besten Freundes ans Messer zu liefern, nur weil er seinen Willen durchsetzen wollte. Von diesem Mann würde ich keine Unterstützung erwarten dürfen, ganz gleich, was Nechbet mit mir anstellte. Dafür hatte sie Sir Henry nicht einmal seines Seelenlichts berauben müssen, was ich so richtig gruselig fand.

Mir wurde jedoch noch etwas viel Wichtigeres klar. »Das erklärt dann auch, warum Sie selbst sich wie ein eiskalter Terminator auf Mission benehmen«, sagte ich zu Nechbet. »Sie sind nicht aus freien Stücken oder gar aus Überzeugung auf Zeitreise gegangen, sondern weil es Ihnen jemand befohlen hat. Ihre Augen sind nämlich ebenfalls grau – wenn Sie sie nicht hinter farbigen Kontaktlinsen verstecken.«

»Es ist eine Ehre, dem Tempel des Osiris zu Diensten zu sein. Mein Seelenlicht wird gut verwahrt zu Füßen seiner Statue, denn ich bin seine wahre Untergebene. Durch die Zeitreise scheine ich allerdings in einen Ausnahmezustand versetzt worden zu sein, sodass ich auch ohne die Nähe meines Seelenlichts bestehen kann«, erklärte die Hohepriesterin, der ein Image als willenlose Marionette offenbar nicht gefiel. Zumindest starrte sie mich an, als habe ich ihr eine Ladung Salz in ihre Karamell-Latte gekippt, oder was sonst der In-Drink im alten Ägypten war. »Da dir allerdings ganz offensichtlich niemand beigebracht hat, wie man sich angesichts einer höheren Macht benimmt, erleichtere ich dir das Gehorchen. Entweder spielst du nach meinen Regeln oder du verabschiedest dich weit vor deiner Zeit.«

Wortlos trat Bauchau hinter mich. Ich brauchte keinen Blick über die Schulter zu riskieren, es war auch so klar, dass er die Klinge in Position gebracht hatte.

Von der Chaiselongue erklang ein sehr undamenhafter Fluch, doch die Stimme der Marquise war verräterisch heiser. Die Kraft, die ihr das Skorpiongift verlieh, begann zu schwinden. »Wie können Sie schamlose Person es wagen, Zoe zu bedrohen? Sie ist nicht Ihr Spielzeug, mit dem Sie nach Belieben verfahren können.«

»Bitte regen Sie sich nicht auf«, unterbrach ich die Marquise. »Die Klinge in meinem Rücken ist mir völlig egal, ich habe nämlich keineswegs vor, das Jahr 1816 jetzt schon zu verlassen. Würde ich mich mit dem Splitter in die Vergangenheit absetzen, hätte ich nichts gewonnen, weil Sie nämlich immer noch zu Glas erstarren würden. Nur die Hohepriesterin weiß, wie man es anstellen muss, dass man auf der Zeitleiste nach vorne springt. Sie kehren jetzt zurück in Ihre Zeit, für mich ist die Zukunft gerade kein Thema, schließlich habe ich hier noch so meine Verpflichtungen.« Zum Beispiel gegenüber einem gewissen Lord Falcon-Smith, der nur meinetwegen allein auf dem Winterball weilte, anstatt in der Gegenwart als Student für die nächste Juraklausur zu büffeln. Nein, wenn ich in meine Zeit zurückkehrte, dann nur in Haydens Begleitung. Schließlich war ich dafür verantwortlich, dass er überhaupt in den Genuss gekommen war, das gute alte London im diesigen Schein der Gaslaternen kennenzulernen.

»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, ich pflege meine Versprechen zu halten«, erklärte ich Nechbet.

Die Hohepriesterin zuckte mit der Schulter. »Das will ich dir auch geraten haben. Ich würde nämlich nur sehr ungern auf dich als zweiten Anker im endlos wogenden Meer der Zeit verzichten. Wer kann schon sagen, wann die Mondscheinmagie mal wieder jemanden aus der Zukunft in diese schrecklich langweilige Zeit verfrachtet?«

Von Sir Henry kam ein empörtes Schnaufen, ansonsten hielt er sich vorbildlich zurück. Wenn ich mich nicht täuschte, fürchtete er Nechbet fast noch mehr, als er sie verehrte.

»Lassen Sie uns herausfinden, ob Ihre Idee mit den zwei Ankern funktioniert, solange wir noch jemanden haben, den wir durch die Zeit reisen lassen können. Die Marquise verblasst von Sekunde zu Sekunde mehr.« Fordernd streckte ich die Hand aus.

Die Hohepriesterin gab mir den Splitter des Dukes, dieses fest gewordene Stück Mondlicht, das silbrig auf seiner glatten Oberfläche schimmerte.

Kaum schlossen sich meine Finger um das Artefakt, durchfuhr es eine feine Bewegung, als erwache es tatsächlich zum Leben. Okay, das Spiegelstück reagierte nach wie vor auf meine Berührung. So weit, so gut. Zwar bewahrte es seine Form, doch als ich den Splitter ins umhertanzende Licht des Kronleuchters hielt, reflektierte er den Mondschein mit voller Kraft. Sein inneres Licht antwortete auf das seiner vielen kleinen Geschwister.

Achtsam trat ich vor die Chaiselongue. Nicht, dass mich die Magie plötzlich durch ein Zeitentor warf wie in der Krypta.

Die Marquise versuchte, sich aufrecht hinzusetzen, was sie vor eine ernsthafte Herausforderung stellte. Man konnte regelrecht zusehen, wie die Lebenskraft aus ihr herausfloss. Ihre Gesichtsfarbe verflüchtigte sich mit jedem Atemzug mehr und die Hand, die auf ihrer Brust lag, begann bereits durchsichtig zu werden. Im blassen Mondlicht sah sie wie ein Geist aus.

»Sie müssen den Splitter berühren, damit seine Magie Sie mit auf Reisen schickt«, wies ich die Marquise an. Meine Stimme klang wie von fern, als befänden sich meine Worte bereits auf der Reise durch Zeit und Raum. Die Magie begann ihren Zauber zu spinnen, so viel stand fest.

Irgendwo im Raum hörte ich Sir Henry einem Bediensteten etwas zuflüstern, während Bauchaus Klinge hinter mir aufragte wie ein böser Schatten. Aber das ließ mich kalt.

Das Einzige, was zählte, war das Überleben der Marquise.

Doch die saß zu meinem Entsetzen nur reglos da. War sie etwa schon zu schwach, um auch nur den Arm zu heben?

Zumindest erwiderte sie aber meinen fragenden Blick. »Zoe, ich werde nur tun, worum du mich gebeten hast, wenn du mitkommst«, flüsterte sie kaum hörbar.

»Das werde ich auf keinen Fall.« Ich wagte es nicht, auch nur den Kopf zu schütteln. Am Ende verstand Bauchau meine Regung noch falsch.

Ohnehin wurde die Situation langsam brenzlig. Aus der Tiefe des Splitters stieg ein Leuchten auf, das immer stärker pulsierte. Und mit ihm nahm der Eindruck zu, als drifte die Welt in winzigen Bruchstücken auseinander. Als würden die Atome, aus denen alles bestand, ihren Zusammenhalt verlieren. Es war genau wie in der Krypta, als ich Sir Henry den Splitter der Arlingtons abgenommen hatte. Nicht mehr lange und der Zeitzauber würde sich entfalten.

Das entging auch Nechbet nicht, die sich hinter der Chaiselongue in Stellung gebracht hatte. »Der Mondscheinspiegel ist erwacht, ich kann die Macht des Thot spüren. Als würde sie einen wie eine Strömung umfließen, eine Strömung, die einen in die Vergangenheit ziehen will. Doch wir wollen in die entgegengesetzte Richtung. Ich beginne nun mit der Beschwörung, damit wir die Magie steuern können und deine Freundin nicht im Strudel der Zeit verloren geht.« Sie holte aus ihrem Gewand ein Band hervor, an dem eine kleine silberne Phiole baumelte.

Ein Pendel, begriff ich, als sie den Anhänger in eine gleichmäßige Schwingung versetzte.

Das Ausschlagen des Pendels begleitete Nechbet mit einem Singsang in einer fremd klingenden Sprache, von der ich nur vermuten konnte, dass es sich dabei um Altägyptisch handelte. Doch egal ob sie nun den Mondgott Thot anbetete oder Backrezepte ihrer Oma zitierte, etwas an dem Mondscheinzauber um uns herum begann sich zu verändern. Als würde plötzlich der Wind drehen und in die entgegengesetzte Richtung wehen. Ich spürte es mehr, als dass ich es sehen konnte. Aber das reichte mir, um darauf zu vertrauen, dass die Hohepriesterin offensichtlich wusste, was sie tat.

Dummerweise weigerte sich die Marquise weiterhin, den Splitter anzufassen. Und das, obwohl sie im immer gleißender werdenden Licht kaum noch zu erkennen war. Sie ähnelte bereits wieder stark einer Glasfigurine. Bestimmt hatte sie es überhaupt nur so weit gebracht wegen ihres enormen Dickkopfs, aber das war jetzt echt kontraproduktiv.

»O bitte!«, flehte ich. »Das Licht des Splitters wird immer stärker, nicht mehr lange und es wird die Zeit in Bewegung versetzen. Und wie auch immer sie es anstellt, die Hohepriesterin kann mit ihrer Beschwörung die Richtung der Zeitreise steuern. Nutzen Sie Ihre Chance!«

Davon ließ sich die Marquise nicht beeindrucken. »Ich werde dich nicht in den Fängen dieser ruchlosen Dienerin des Todes zurücklassen«, hauchte sie.

In einem Anflug von Verzweiflung packte ich die Marquise an ihrem Handgelenk, doch sie entwand sich meinem Griff. Dann erhob sie sich mit letzter Kraft und stürzte sich an mir vorbei auf Bauchau.

Ich wirbelte um die eigene Achse und sah das Aufblitzen der Klinge, in die die Marquise unweigerlich hineinlaufen würde. Bauchau würde das Messer nicht mehr rechtzeitig zurückziehen können.

Instinktiv hielt ich den Splitter wie einen Schild vor die Marquise, um die Waffe abzuwehren. Ihre Spitze traf auf seine silbrige Oberfläche.

Klirrend zerbarst der Spiegelsplitter in einem blendend hellen Licht.

Und mit ihm veränderte sich der Zeitenfluss.

War eben noch alles in einem rasanten Tempo abgelaufen, so breiteten sich die Bruchstücke des Splitters nun wie in Zeitlupe aus. Es schien, als würden sie von einer unsichtbaren Hand zu einem komplizierten Muster zusammengefügt werden … gleich einer Beschwörungsformel. Geometrische Formen tanzten durch die Luft, die plötzlich aus unzähligen Schichten und Bildern zu bestehen schien. Als wäre jeder Augenblick ein eingefrorenes Bild – und die Magie kurz davor, die Abfolge dieser Bilder zu verändern. Unwillkürlich musste ich an den alten Dia-Apparat meines Opas denken, der klackernd Familienurlaube gezeigt hatte – manchmal auch rückwärtslaufend oder völlig durcheinander, wenn die Katze vorher die Dia-Kiste umgekippt hatte.

Während der Singsang der Hohepriesterin ruhig und melodisch erklang, verband sich das Licht zwischen den einzelnen Bruchstücken, sodass es zu einem fein gewebten Netz aus Silber wurde – in das die Marquise direkt hineinlief. Als sie auf das Netz aus Mondscheinmagie traf, flackerte es so hell auf, dass ich nur noch strahlendes Weiß sah. Das Letzte, was ich noch hatte wahrnehmen können, war der verblüffte Gesichtsausdruck der Marquise, kurz bevor sie wie auf ein Fingerschnipsen hin verschwand. Als habe man ihr Dia aus der Abfolge herausgenommen.

 

 

Wenn man direkt in ein Blitzlicht sieht, ist das nicht besonders angenehm und endet meist mit Tränen und zerlaufener Mascara.

Wenn man in gefühlt tausend Blitzlichter auf einmal mit weit aufgerissenen Augen starrt, kommt es einer Explosion gleich. Man ist nicht nur geblendet, sondern auch plötzlich unsicher, ob die Welt überhaupt noch existiert. Vielleicht schwebt man ja auch durch einen leeren Raum, in dem es keine Dunkelheit mehr gibt … Nachdem der Zeitzauber sich in seiner vollen Pracht entfaltet hatte, kannte ich diese Reaktion auf ein derart krasses Blitzlicht jetzt aus eigener Erfahrung – vielen Dank auch. Ich rieb mir jammernd die Augen, während um mich herum Menschen grunzten, in einer unverständlichen Sprache schimpften und der Geräuschkulisse nach blind herumstolpernd gegen die Chaiselongue knallten.

Als sich mein Blick hinter dem Tränenschleier endlich wieder scharf stellte, bestätigte er mir, was ich ohnehin schon geahnt hatte: Die Marquise war fort. Und auch wenn es dafür keinen Beweis gab, so war ich mir sicher, dass sie in ihre Zeit zurückgekehrt war. Damit war sie dem Schicksal so vieler Zeitreisender entkommen, das spürte ich ganz tief in mir. Auch wenn ich der Hohepriesterin am liebsten die Pest an den Hals gewünscht hätte, hatten wir dieses Wunderwerk dank unseres Zusammenspiels hinbekommen: mit mir als Vertreterin der Zukunft, die den Spiegel erweckt hatte, und Nechbet aus der Vergangenheit. Einverstanden, außerdem hatte sie mit ihrem Pendeltrick auch den Fluss der Mondscheinmagie gelenkt. Was auch immer man von der Hohepriesterin halten mochte, sie hatte die entscheidende Zutat für eine gelungene Reise mit dem Mondscheinzauber hinzugefügt.

Jetzt hatten wir allerdings ein neues Problem. Zwar stand nun fest, dass Nechbets Idee der zwei Anker im Zeitenstrom funktionierte. Aber leider war der Splitter des Dukes dank Bauchaus Klinge pulverisiert. Und ohne ihn brachte das Splittermobile am Kronleuchter nur ein maues Funkeln zustande.

Allem Anschein nach würde es vorerst bei einer Zeitreise bleiben.

Darüber machte sich auch Nechbet Gedanken, wenn ich ihr vor unterdrücktem Zorn schneeweißes Gesicht richtig interpretierte.

»Ich verstehe es nur zu gut, falls Sie jetzt ein ernsthaf- tes Wörtchen mit Ihrem obereifrigen Meuchelmörder Bauchau wechseln wollen«, sagte ich, wobei ich mir demonstrativ silbrigen Staub von meiner Ballrobe strich. »Wenn Sie zuvor so liebenswürdig wären und die Kutsche rufen ließen? Vielleicht schaffe ich es dann noch zurück auf den Winterball, bevor die Mitternachtstorte angeschnitten wird. Die soll jedes Mal eine Bombensensation sein, und da das Motto des heutigen Balls »Weiß wie Schnee« ist, hoffe ich auf eine Eistorte. Dafür habe ich nämlich eine Schwäche. Sie können sich dann ja gern bei mir melden, wenn Sie einen neuen großen Splitter gefunden haben. Ich stehe dann selbstverständlich zur Verfügung, genauso, wie ich es versprochen habe. Aber bis dahin würde ich mich gern empfehlen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, raffte ich meine Röcke und lief zur Tür.

Doch bevor ich mich absetzen konnte, ertönte ein scharfes Zischen.

Ich legte eine Vollbremsung hin. Nach fliegenden Käfern und stechfreudigen Skorpionen waren nun offensichtlich Schlangen dran. Und bei Schlangen hörte es bei mir auf.

Es war jedoch nur Nechbet gewesen, deren Geduldsfaden gerissen war. Da brauchte es keine Peitschen aus lebendigen Reptilien oder schwarzmagische Rituale, die einen in einen grauäugigen Zombie verwandeln, ich fand die fauchende Frau mit einem vor Wut verzerrten Gesicht schon unheimlich genug. Besonders als sie mit ausgefahrenen Krallen auf mich zupreschte.

Nechbet stoppte direkt vor meiner Nase, sodass ich das Kajal um ihre Augen aus nächster Nähe bewundern konnte. »Der einzige Weg, den du beschreiten wirst«, zischte sie mich an, »ist der an meiner Seite.«

»Was für ein charmantes Angebot, aber ich bin leider schon vergeben.«

Das war reines Bluffen, denn in Wirklichkeit hatte ich eine Heidenangst vor der Hohepriesterin. Diese Frau hatte keine Hemmungen gehabt, den Duke auf seinem eigenen Ball auszuknocken, und sie war eiskalt das Risiko eingegangen, dass die Marquise an den Folgen ihrer vergifteten Nadel hätte sterben können. Allerdings schien meine Zunge das nicht zu wissen, sie legte nämlich noch eins drauf.

»Wie lange sind Sie eigentlich schon auf Zeitreise?«, fragte ich scheinheilig. »Ich erst seit ein paar Wochen, deshalb mache ich mich auch nicht verrückt, ob meine Fingerspitzen möglicherweise schon das erste verräterische Weiß zeigen. Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, aber für mein Empfinden sehen Ihre Hände schon etwas blass aus, oder?«

»Es wäre mir ein solches Vergnügen, deinen Willen zu brechen, nur damit du endlich den Mund hältst«, zischte Nechbet. »Wenn das Risiko nicht so hoch wäre, dass du nach dem Ritual den Mondscheinspiegel nicht länger erwecken könntest, würde ich dich jetzt sofort aufbrechen wie eine Samenschote und dir dein Seelenlicht nehmen. Die Zukunft scheint nur lauter unverschämte Frauenzimmer hervorzubringen, die keinerlei Ahnung haben, wo ihr Platz ist. Deshalb verstehen du und die Marquise auch nicht, warum die Mondscheinmagie ausschließlich in verantwortungsvolle, mächtige Hände gehört. Nur wer Erfahrung im Herrschen hat, ist imstande, die Zeit nach seinen Regeln zu lenken. Der Mondschein wusste schon, warum er dich als Zofe hierhergeschickt hat: Du taugst bloß zum Dienen. So gesehen solltest du mir dankbar sein, dass ich dich unter meine Fittiche nehme. Ohne mein Wissen und meine Verbindungen wärst du nämlich nichts weiter als ein Blatt im Wind der Zeit. Es ist meine Kunst, die dem Zeitenstrom seine Richtung weist. Vergiss das besser nicht.«

Was sollte ich dazu sagen? Nicht nur Erpresserin, sondern auch noch Angeberin.

»Sie sind wirklich eine Zierde Ihrer Epoche. Jemand, der zu so Großem erschaffen wurde, dem gelingt es doch bestimmt auch, einen Splitter zu erwecken. Wirklich, Nechbet, Sie brauchen mich überflüssiges, anstrengendes Ding doch überhaupt nicht. Sie machen das alles im Alleingang, das lese ich Ihnen von der Nasenspitze ab. Wobei ich übrigens nichts dagegen hätte, wenn sie sich nicht länger so dicht vor meiner eigenen Nase befinden würde. In der Zukunft nennt man das Überschreiten der persönlichen Komfortzone. Wenn Sie also ein paar Schritte zurücktreten würden?«

Mit einem verblüfften Gesichtsausdruck wich Nechbet zurück, mit einer solchen Ansage hatte sie scheinbar nicht gerechnet. Doch fing sie sich enttäuschend schnell wieder und lachte auf. »Es war ein aufregender Abend für uns alle. Ich vermute, unser Gastgeber verfügt in seinem großen Heim über einen passenden Rückzugsort, an dem du zur Ruhe kommen und deine Gedanken sammeln kannst. Du solltest dir deiner Lage nämlich langsam einmal bewusst werden, Zoe. Du gehörst jetzt mir. Und bald wird mir auch der Spiegelsplitter der Arlingtons gehören. Dann wirst du dein Versprechen einlösen, ob nun aus freien Stücken oder nicht.«

2Die Rapunzel-Experience

Das Landhaus von Sir Henry war ein prachtvolles Gebäude mit Hallen, Galerien und Erkern. Bestimmt verfügte es über einen ganzen Trakt voller annehmlich hergerichteter Gästezimmer, die nur darauf warteten, eine Jagdgesellschaft zu beherbergen. Ich musste mich jedoch mit einer Turmkammer zufriedengeben, in der es so sehr zog, dass das Kerzenlicht jeden Moment auszugehen drohte. Hinter den Fenstern, deren kreuzförmige Sprossen irgendwie nach Knast aussahen, fiel unaufhörlich der Schnee.

»Fast so hübsch wie meine Zofenkammer, nur die Aussicht ist besser«, murrte ich, als Bauchau mich durch die Tür schob.

»Dann wünsche ich viel Vergnügen.« Sagte es – und verschwand.

Ich hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte, und dann stand ich mutterseelenallein in meinem Turmverlies.

Unter anderen Umständen hätte ich das bestimmt begrüßt. Endlich mal eine Gelegenheit, die Ereignisse des Abends Revue passieren zu lassen und einen Plan zu schmieden, wie ich aus dieser Lage schnellstmöglich rauskam. Aber nach allem, was ich erlebt hatte, hatte sich mein Kampfgeist sang- und klanglos verabschiedet.

Der verflixte Winterball hätte mit dem zweiten großen Splitter in meiner einen Hand und mit der anderen um Haydens Taille enden sollen, während wir verliebt davonschlenderten, versunken in eine Diskussion, wann uns eine Rückreise denn genehm wäre. »Ach, Schatz, würde dir vorher nicht noch ein Abstecher nach Paris gefallen, wo wir meiner Mutter, der Comtesse la Rochefoucauld, einen Besuch abstatten könnten?« Und ich so: »Nur zu gern, mein Hase. Vielleicht wäre ja auch ein Trip nach Venedig drin, bevor es von den Touristen überrannt wird. Was meinst du?«

So viel zu meiner Tagträumerei. Stattdessen war die Marquise fort, der Splitter des Dukes Geschichte und Hayden war so weit entfernt von mir wie nie zuvor. Als hätte es eine böse Fee auf mich abgesehen, war ich jetzt Zwangsmitglied der Verborgenen Gesellschaft und Nechbets beste Freundin, während Miss Lucie und ihrer Familie schon bald wieder ein Einbruch in ihr Zuhause bevorstand.

Gegen die Tränen ankämpfend ließ ich mich auf die Pritsche sinken, die man in die Kammer gestellt hatte. Um mich herum nichts als Dunkelheit. Bevor ich mich versah, hatte ich mein Gesicht ins Kissen gepresst und schluchzte. Ungelogen, ich heulte die ganze Anspannung, den Frust und auch die Verzweiflung aus mir raus. Aber halt alles schön ins Kissen, so bekam wenigstens niemand mit, dass ich am Ende meiner Kräfte war.

 

 

Als ich am nächsten Morgen erwachte, war es eiskalt in meiner Gefängniszelle. Ein verräterischer Glanz lag über dem rohen Mauerwerk und das Fensterglas war mit Eiskristallen überzogen. Der gusseiserne Ofen in der Ecke sah aus, als wäre er schon seit Jahren nicht mehr in Betrieb gewesen. Dafür war die Decke, unter die ich im Schlaf gekrochen war, warm und mollig. Was jetzt anstand, war ein Lagecheck. Also wickelte ich mich bis unters Kinn in die Decke ein, dann trat ich an eins der Sprossenfenster. Bei Tageslicht war die Aussicht sensationell, aber sie machte mir auch klar, warum man sich für diese Kammer entschieden hatte. Sie lag nicht nur abseits des Haupthauses und ließ sich gut kontrollieren, weil es nur einen Ausgang über eine schmale Treppe gab. Sie führte mir auch meine Situation überdeutlich vor Augen: So weit mein Blick reichte, sah ich nur schneebedeckte Felder und Wald.

Sir Henrys Landgut Ferngreen Manor lag mitten im Nirgendwo.

Selbst wenn ich eins der kleinen Fenster aufbekam, konnte ich mir die Lunge aus dem Leib schreien und niemand würde meine Hilferufe hören. Ich war hier im Reich des Dukes of Richmond und seinem Willen hilflos ausgeliefert.

Nein, beschloss ich. Ich bin nicht hilflos. Niemals. Wenn wir eins aus der Geschichte gelernt haben, dann, dass Prinzessinnen besser nicht auf einen Ritter warten, der sie rettet, sondern die Sache selbst in die Hand nehmen.

Nun war ich nicht gerade eine Ausbruchsspezialistin, aber zu irgendwas mussten die vielen gelesenen Romane doch gut sein. Entschlossen durchkämmte ich meine Erinnerung nach umsetzbaren Ideen. Da wäre zum Beispiel der Klassiker, nach dem ich das Pritschengestell auseinandernehmen und eins seiner Beine als Keule verwenden konnte, wenn mir jemand das Frühstück brachte. Allerdings hatte ich echt Hunger und hätte meine Seele hergegeben für einen Schluck heißen Tee.

Ich schaute mich nach anderen Möglichkeiten um.

In meiner Kammer gab es einen Tisch, eigentlich eher eine schmale Konsole. Jedenfalls lagen in der Schublade ein paar Bogen Papier und ein Bleigriffel. Ich bezweifelte jedoch, dass ich einen Papierflieger mit einem Hilferuf hinbekam, der bis London flog. Und eine Brieftaube hatte ich dummerweise auch nicht zur Hand.

Okay, nächste Idee … Ich könnte meine Bettdecke so formen, dass sie aussah, als würde ich unter ihr schlummern. Und wenn dann jemand eintrat, schlüpfte ich heimlich zur Tür hinaus. Dafür müsste ich allerdings die Decke ablegen, was ich mir gerade überhaupt nicht vorstellen konnte. Wenn ich mich nicht irrte, saßen ein paar Frostkristalle in meinen Augenbrauen.

Ich nahm das Türschloss genauer unter die Lupe. Leider brachen meine Haarnadeln ab, bevor sie etwas ausrichten konnten. Das Teil mochte uralt und angerostet sein, aber das änderte nichts daran, dass es sicher wie ein Schweizer Banksafe schloss.

Gerade als ich einen erneuten Versuch als Türknackerin unternehmen wollte, erklangen Schritte im Treppenhaus. Hastig zog ich mich samt dem unhandlichen Daunenumhang zurück, als auch schon das Schloss klackte und die Tür geöffnet wurde.

Zu meiner grenzenlosen Enttäuschung trat nicht etwa ein Dienstmädchen ein, das ich mit meinem Charme davon hätte überzeugen können, mir zur Flucht zu verhelfen. Und auch kein klappriger Diener, an dem man sich entschlossen vorbeidrängeln konnte. Stattdessen stand dort ein unüberwindbares Hindernis mit einem Frühstückstablett in der Hand.

»Sie schon wieder«, knurrte ich Bauchau an.

Nechbets Diener verzog wie üblich keine Miene. »Gewöhn dich lieber daran, außer mir wirst du hier oben niemanden zu sehen bekommen. Ich bin extra damit beauftragt worden, mich um dich zu kümmern. Dabei gäbe es so viel wichtigere Dinge, die ich für meine Herrin erledigen könnte.«

»Etwa ein weiteres Einbruchsteam zusammenstellen, damit das Haus der Arlingtons erneut durchstöbert werden kann? Die Mühe können Sie sich sparen, der Splitter befindet sich bestimmt nicht länger im Herrenhaus, dafür wird die Marquise schon gesorgt haben. Nach Ihrem letzten tölpelhaften Versuch, ihn sich bei einer Nacht-und-Nebel-Aktion unter den Nagel zu reißen, wäre sie ja schön blöd gewesen, wenn sie ihn nicht in Sicherheit gebracht hätte. Und wo auch immer die Marquise das wertvolle Stück hingebracht hat, dieses Wissen ist mit ihr in die Zukunft verschwunden.« Unter anderen Umständen hätte ich mir zu dieser perfekten Fährte ins Nichts gratuliert. Allerdings war Bauchau ein nicht zu unterschätzender Gegner, wie er mich auch gleich spüren ließ.

»Falls der Splitter der Arlingtons tatsächlich in ein neues Versteck gebracht worden ist, wüsstest du als Vertraute der Marquise dann nicht darüber Bescheid?« Bauchau sah mich prüfend durch seine blauen Brillengläser an.

Das war ja mal ein klassisches Eigentor: Bei dem Versuch, Miss Lucie in Sicherheit zu bringen, brachte ich mich in den Verdacht, ein Geheimnis zu hüten, für das die Hohepriesterin vor nichts zurückschrecken würde. Etwa wenn es darum ging, kleine Zofen nach allen Regeln der Kunst auszuhorchen.

Bauchau ging Nechbet in Verhörlaune scheinbar ebenfalls durch den Kopf. »Wenn du etwas über den Verbleib des Splitters wissen solltest, pack besser gleich aus. Damit würdest du dir jede Menge Unannehmlichkeiten ersparen. Meine Herrin verfügt über sehr raffinierte Techniken, mit denen sie die Wahrheit aus jeder noch so verstockten Person rausbringt. Allerdings sind die Nebenwirkungen erheblich, die meisten überleben es nur gerade so. Daher sieht sie aus Mitleid eigentlich lieber davon ab. Außer sie hat keine andere Wahl. Etwa, wenn eine gewisse junge Dame glaubt, mit allen Frechheiten durchzukommen.«