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Zoe ist zurück! Nach ihrer Zeitreise ins London 1816 ist Zoe immer noch die Zofe von Miss Lucie. Gemeinsam mit Hayden, seines Zeichens gutaussehender Lord und ebenfalls Zeitreisender, versucht sie hinter das Geheimnis des Zeitenspiegels zu kommen. Doch das ist leichter gesagt als getan. Immerhin gibt es eine Spur zu einem verborgenen Spiegelkabinett. Doch um in diesen verborgenen Raum zu gelangen, muss Zoe einen rauschenden Ball besuchen. Dumm nur, dass sie als Zofe nicht daran teilnehmen darf. Aber von Anstandsregeln hat Zoe sich ja noch nie aufhalten lassen. Zumal ein Tanz mit Hayden lockt.
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Seitenzahl: 423
Zoe ist zurück!
Nach ihrer Zeitreise ins London des Jahres 1816 ist Zoe immer noch die Zofe von Miss Lucie. Gemeinsam mit Hayden, seines Zeichens gutaussehender Lord und ebenfalls Zeitreisender, versucht sie hinter das Geheimnis des Zeitenspiegels zu kommen. Doch das ist leichter gesagt als getan. Immerhin gibt es eine Spur zu einem verborgenen Spiegelkabinett. Doch um in diesen verborgenen Raum zu gelangen, muss Zoe einen rauschenden Ball besuchen. Dumm nur, dass sie als Zofe nicht daran teilnehmen darf. Aber von Anstandsregeln hat Zoe sich ja noch nie aufhalten lassen. Zumal ein Tanz mit Hayden lockt.
Romantisch, magisch, unwiderstehlich!
Von Aniela Ley sind außerdem bei dtv lieferbar:
Lia Sturmgold – Die Macht der Kristalle (Band 1)
Lia Sturmgold – Das Geheimnis der Meereselfe (Band 2)
Lia Sturmgold – Unsichtbarer Elfenzauber (Band 3)
Lia Sturmgold – Im Reich der Schnee-Elfen
Lia Sturmgold und die Zwillingsinsel
#London Whisper – Als Zofe ist man selten online (Band 1)
Aniela Ley
Als Zofe tanzt man selten (aus der Reihe)
Band 2
Roman
Die Megacity London hat schon lange vergessen, was Dunkelheit bedeutet. Sie braucht weder Mond noch Sterne, um der Nacht ein Schnippchen zu schlagen. Ganz im Gegenteil, die City ist berühmt für ihre immerzu leuchtenden Wahrzeichen wie das London Eye, das sich hoch über die Themse erhebt. Das London, das wir kennen, ist eine Stadt, in der die Nacht so lebendig ist wie der Tag, voller vielversprechender Möglichkeiten, sodass man rund um die Uhr etwas Prickelndes erleben kann.
Jedenfalls sah so das London aus, das ich vor einigen Monaten als Austauschschülerin aus dem schönen Potsdam kennengelernt hatte. Mein Traum war endlich wahr geworden: ein Schuljahr in der hippsten Stadt der Welt! Das war zumindest der Plan gewesen bis zu einer folgenschweren Mitternachtsparty … Seitdem befand ich mich zwar immer noch an Ort und Stelle, aber über zweihundert Jahre früher. Ich kann daher nur raten, auf Partys nicht nur vorsichtig mit den Drinks zu sein, sondern sich auch vor Standspiegeln zu hüten, deren Rahmen mit mythischen Symbolen geschmückt sind. Bevor man sich nämlich versieht, fällt das Mondlicht drauf und anstelle einer Internatsschülerin ist frau plötzlich Zofe in einer der angesehensten Familien des British Empire.
Das London von 1816, in dem ich mich dank des ungeplanten Vorfalls mit einem Mondscheinspiegel befand, bot auch einiges an Abenteuern. Allerdings nicht von der Sorte, mit der man in Werbebroschüren lockt. Es sei denn, irgendwann kommen halsbrecherische Verfolgungsjagden zu Pferd durch viel zu enge Gassen in Mode. Und das in einer finsteren Herbstnacht, in der die Sterne sich hinter den Wolken verstecken.
In der Gegend, durch die Hayden und ich gerade preschten, gab niemand Geld für Kerzen aus. In keinem Fenster brannte Licht, weshalb wir auf den diesigen Schein der Gaslaternen angewiesen waren, der nicht mal zum Schuhebinden reichte. Dass unser Pferd bei der bescheidenen Sicht noch nicht gegen einen Karren gelaufen war, war reiner Zufall.
Darauf hatte ich Hayden, der vor mir auf Eclipse saß und seinen Hengst zu diesem wilden Ritt anspornte, auch hingewiesen. Nur leider gingen meine Bedenken unter in dem Echo des Hufgeklappers, das von den Hauswänden zurückgeworfen wurde. Okay, es ist auch möglich, dass ich nuschelte. Oder bestenfalls krächzte. Es ist nur so, dass mich die Stunden, die ich in Reithallen verbracht hatte, kein Stück auf einen Ritt über regennasses Kopfsteinpflaster vorbereitet hatten. Eclipse war ein temperamentvolles Reitpferd, dessen Ehrgeiz bei diesem halsbrecherischen Galopp noch mehr herausgefordert wurde als der seines Herrn. Und im Gegensatz zu mir schien Hayden jede Sekunde zu genießen.
»Dort vorn auf dem Dach hat etwas gefunkelt, das muss der gestohlene Spiegel sein«, rief er mir über seine Schulter zu. »Wir sind auf der richtigen Spur. Nicht mehr lang, dann stellen wir die verdammten Diebe!«
Statt begeistert zu johlen, weil es uns gelungen war, die Fährte der Langfinger aufzunehmen, die in das Herrenhaus der Arlingtons eingebrochen waren, krallte ich mich an Hayden fest.
»Schau nicht nach oben, sondern nach vorn. Das ist eine Sackgasse!«, schrie ich.
Das »Merde«, das Hayden angesichts des Hindernisses rausrutschte, traf es ganz genau.
Während sich die Räuber über die Dächer absetzten, hieß es für uns Vollbremsung. Denn das Tor, an dem unsere Straße endete, war verschlossen. Gleich würden wir herausfinden, wer aus einem Zusammenstoß als Gewinner hervorgehen würde. Sogar als chronische Optimistin tippte ich auf das Tor aus Holzbohlen. Stöhnend presste ich mein Gesicht in Haydens Rücken. Ich würde ihn hemmungslos als Airbag benutzen.
So weit kam es jedoch nicht. Im letzten Moment riss Hayden an den Zügeln und Eclipse warf sich wiehernd herum.
Die Hufe des Pferdes schlitterten über das nasse Pflaster, was nicht unbedingt besser war, als gegen das Tor zu donnern. Wenn Eclipse fiel, würde er uns unter seinem schweren Leib begraben. Oder ich würde von seinem Rücken purzeln und mir den Hals brechen.
Verzweifelt klammerte ich mich noch mehr an Hayden fest. Ich spürte, wie er jeden Muskel in seinem Körper anspannte, um nicht aus dem Sattel zu fliegen. Meine Finger brannten und das Adrenalin jagte durch meinen ganzen Körper. Und doch wusste ich, dass ich genau da war, wo ich hingehörte: auf der Spur des rätselhaften Mondscheinspiegels, der die Gesetze der Zeit aufhob und mein Rückreiseticket in die Gegenwart bedeutete. Und ich war bei Hayden, mit dem ich nicht nur das Schicksal eines Zeitreisenden teilte, sondern der meinetwegen das England der Regency-Ära kennenlernen durfte. Weil ich ihn – völlig ungeplant und mir immer noch ein Rätsel – mit einem Splitter des Mondscheinspiegels ins 19. Jahrhundert geholt hatte.
Eben mit genau dem Splitter, der in einen Spiegel eingelassen war, mit dem die Diebe gerade flohen.
Während ich der festen Überzeugung war, gleich Bekanntschaft mit dem Londoner Pflaster zu machen, fand Eclipse wie durch ein Wunder Halt und vollendete das Ausweichmanöver haarscharf vor dem Tor. Tänzelnd wich er vor dem Hindernis zurück, das hoch vor uns aufragte. Unser Schutzengel meinte es offenbar gut mit uns, aber hui, das war knapp gewesen.
Ich lockerte gerade meinen Klammergriff, damit Hayden wieder atmen konnte, als sich der vermaledeite Hengst vor lauter Übermut aufbäumte. Für eine Sekunde fühlte ich nichts als die kalte Nachtluft an meinem Allerwertesten.
Vor Schreck brachte ich keinen Pieps heraus.
Und was machte Hayden? Der Mistkerl lachte.
Dann bekam ich zum Glück auch schon wieder einen Pferderücken unter mich und presste meine Schenkel in Eclipses Seiten, dass es sich für ihn wie ein Schraubstock anfühlen musste.
Doch was daraufhin passierte, war nun wirklich verrückt: Eigentlich hätte ich Stein auf Bein schwören müssen, nie wieder auch nur in die Nähe eines Englischen Vollbluts zu kommen, das noch tollkühner war als sein Reiter. Stattdessen breitete sich ein Prickeln in meiner Brust aus, feiner als aufsteigende Champagnerbläschen, und ich war wie beschwipst vor guter Laune. Als Hayden sich im Sattel zu mir umdrehte, erwiderte ich sein breites Grinsen.
»Fühlt sich Mylady gut unterhalten?«
»Ganz großartig, mein Bester«, flötete ich. »Aber bevor wir das nächste Hindernisrennen antreten, sollte ich dringend mal für kleine Zofen, sonst garantiere ich für nichts.«
Hayden lachte, unterdrückte den Laut jedoch sofort, als sich auf der anderen Seite des Tors den Geräuschen nach eine Kutsche näherte und dort zum Stillstand kam.
Unwillkürlich hielten wir – inklusive Eclipse – die Luft an.
»Heda, Kutscher«, erklang eine Männerstimme. »Fahr deinen Wagen näher an die Hauswand, damit wir dran runterklettern können. Nicht, dass uns zu guter Letzt noch unsere wertvolle Fracht in tausend Stücke zersplittert.«
»Teufel noch eins, was macht ihr Galgenstricke denn da oben?«, erwiderte eine Stimme, die so hohl wie ein leeres Rumfass klang.
»Heb dir deine Fragen für später auf, Morton. Wir wurden von einer Meute geifernder Hunde verfolgt. Wenn wir abkassieren wollen, müssen wir die Fracht auf der Burg abliefern, bevor der Mond untergeht. Sonst halbiert sich der Preis und damit auch dein Lohn. Dann wird es nichts mit dem nächsten Pubbesuch, obwohl du klingst, als wärst du ohnehin schon voll.«
»Schon gut, schon gut, ich komm ja schon. Der alte Morton findet seinen Weg auch nach ein paar Gläschen Rum, darauf könnt ihr euch verlassen.«
Als Nächstes war nur noch undeutliches Gemurre, Hufgeklapper und Räderquietschen zu hören.
Ich streckte mich, um Hayden ins Ohr flüstern zu können. »Damit steht das Ziel der Gauner fest, sie wollen den gestohlenen Spiegel nach Higher Castle bringen. Dann hat Honoré Bauchau tatsächlich die Diebe beauftragt, genau so, wie wir es vermutet haben.« Dass der Mann mit der Spiegelglasbrille hinter dem Einbruch stand, überraschte mich kein bisschen. Es waren seine grauen Augen gewesen, die ich im Spiegel in Lady Arlingtons Boudoir gesehen hatte. Dadurch hatten Bauchau und die Verborgene Gesellschaft das Versteck entdeckt und die beiden Diebe darauf angesetzt, es zu plündern.
»Scheinbar steht heute Nacht ein wichtiges Ereignis an, für das Bauchau den Spiegel unbedingt braucht«, flüsterte Hayden. »Mit etwas Glück holen wir uns nicht nur den Spiegel zurück, sondern erfahren vielleicht auch endlich mehr über die Mondscheinmagie.«
Ich nickte und schlang die Arme um ihn als Zeichen, dass wir losreiten konnten. Trotzdem verharrte Hayden.
»Du kennst doch den Weg nach Higher Castle, du bist dort gewesen, richtig?«, versicherte ich mich. »Ich will ja nicht drängeln, aber so, wie das da auf der anderen Seite des Tors klingt, besteigen die Diebe in diesem Augenblick die Kutsche. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«
Zu meiner Verwunderung löste Hayden meine behandschuhte Hand von seinem Oberkörper und umfasste sie vorsichtig. »Keine Sorge, ich kenne den Weg«, sagte er. »Aber bevor wir losreiten, hätte ich noch eine Bitte: Falls Eclipse wieder zu Kunststücken aufgelegt ist, könntest du deine Fingernägel an einer anderen Stelle in meine Haut graben? Ich will ja nicht jammern, aber mein Rippenbogen fühlt sich an, als sei er mit einem Morgenstern malträtiert worden.«
Oha, da hatte ich es wohl etwas übertrieben. Andererseits war es nicht meine Schuld, dass ich fast einen Abgang von Eclipses Rücken gemacht hätte. »Nimm die Blutergüsse als dezenten Hinweis, deinen Reitstil etwas weniger draufgängerisch zu gestalten«, sagte ich.
Hayden schnaubte. »Beschwerst du dich ernsthaft darüber, dass ich die Diebe gefunden habe, während Lord Arlington und sein Trupp abgehängt wurden?«
»Falls du Lob dafür erwartest, dass wir fast als Schmierflecken am Tor geendet wären, muss ich dich leider enttäuschen«, hielt ich dagegen.
»Mit mir und Eclipse kannst du ganz entspannt sein, wir sind den Herausforderungen durchaus gewachsen.« Hayden stockte. »Zoe, hast du, als ich eben auf meine Reitkünste hingewiesen habe, ein undamenhaftes Geräusch mit den Lippen gemacht?«
»Ja, das habe ich«, gab ich zu. »Und wenn ich nicht gezwungen wäre, mich an dir festzuhalten, weil mein Leben davon abhängt, hätte ich mir noch zusätzlich an die Stirn geklopft.« Diese männliche Selbstüberschätzung war echt nicht auszuhalten. »Du siehst im Sattel nur so gut aus, weil Eclipse ein Top-Pferd ist, auf dem sogar Milchgesicht Ethelbert eine bella figura machen würde.«
Der Blick, den Hayden mir über die Schulter zuwarf, funkelte selbst in der Dunkelheit. »Deiner Meinung nach muss ich auf Eclipse also nicht mehr tun, als mich irgendwie im Sattel halten?«
»Was dir ganz großartig gelungen ist. Sitzen kannst du.«
Ich hätte noch viel mehr zu sagen gehabt, aber Eclipse wieherte, und es klang eindeutig genervt. Außerdem hatte sich die Kutsche längst entfernt, von ihren klackernden Rädern war jedenfalls nichts mehr zu hören.
Hayden räusperte sich. »Wenn du einverstanden bist, streiten wir uns später weiter. Jetzt sollten wir dringend aufbrechen.« Damit gab er Eclipse das Zeichen loszulaufen.
Dieses Mal stachelte Hayden sein Pferd nicht zu Höchstleistungen an, sondern ließ es traben, was mir deutlich lieber war. Dann brauchte ich nur meine Arme um seine Taille legen und nicht meine Fingernägel in ihn schlagen vor lauter Sorge, abgeworfen zu werden. Auch so zogen wir schon genug Aufmerksamkeit auf uns. Nachdem Miss Lucie mir Kleid und Kapuzenmantel geliehen hatte, stand ich Hayden in seiner edlen Aufmachung in nichts nach. Unserer Kleidung nach gehörten wir zu den besseren Kreisen. Das hatte den Vorteil, weniger Fragen aufzuwerfen, als wenn ein junger Adeliger in Begleitung einer Bediensteten zur unsittlichen Stunde unterwegs war. Trotzdem war es besser, niemandem Rede und Antwort stehen zu müssen über unseren Ausflug zu zweit auf einem Pferd. Wobei ich keineswegs im eleganten Damensitz auf Eclipses Rücken hockte, wie es sich eigentlich gehörte. Entweder erwartete man von Damen, dass sie höchstens im Schritttempo ausritten oder liebend gern das Risiko eingingen, sich das Genick zu brechen. Den Sinn mancher Benimmregeln dieser Ära würde ich niemals begreifen.
Je weiter wir uns vom eleganten Knightsbrigde entfernten, desto dicht gedrängter standen die einfachen Häuser, die Straßen wurden enger und die Gasbeleuchtung wurde zuerst spärlicher, bis sie ganz verschwand. Dafür hingen an den Straßenecken Herrschaften ab, die sich ihrem wankenden Gang nach in den Pubs vergnügt hatten, um es mal vornehm auszudrücken. Die Schnapsnasen johlten uns ein paar Dinge zu, die ich lieber nicht wiederholen möchte.
»Möglicherweise wäre es doch schlauer, die größeren Straßen zu nehmen«, schlug ich vor, nachdem uns auch noch eine Horde Kids als »piekfeines Dreckspack« beschimpft hatte. Eine Flasche war haarscharf an meinem Kopf vorbeigeflogen, glücklicherweise leer getrunken, sonst hätte ich jetzt auch noch wie eine Brauerei gestunken.
Hayden schüttelte den Kopf. »Keine gute Idee. Auf den beleuchteten Straßen tummeln sich die Gendarmen, weil sie sich sonst hier in den Nebenstraßen mit den Betrunkenen und Raufbolden rumplagen müssten. Aber wenn du es mir gestattest, könnte ich Eclipse ein wenig Leine lassen. Wir sind für seinen Geschmack ohnehin zu langsam unterwegs.«
»Toll, die Wahl zwischen Pest und Cholera. Ist es denn noch weit?«
»Keine Sorge, wir sind schon an der alten Stadtgrenze, die Dichte der Häuser wird bald abnehmen.«
Nachdenklich ging ich die Optionen durch, war allerdings einen Tick abgelenkt. Unter einer Laterne verhandelte ein Gentleman mit einer auffällig aufgerüschten Lady, die sich nicht zierte, ihre Fußknöchel unter dem Rocksaum aufblitzen zu lassen. Nicht nur das, sogar ihr Knie schaute neckisch hervor – der komplette Skandal in dieser Zeit! Auch das war London anno 1816. Es gab ein Nightlife, von dem eine behütete Miss Lucie aus bestem Hause nicht das Geringste ahnte. Und ich wollte, ehrlich gesagt, auch nicht allzu viel darüber wissen.
Ich seufzte ergeben. »Dann soll Eclipse mal zeigen, was in ihm steckt. Aber keine weiteren Beschwerden, wenn ich mich an dir festhalte.«
»Du meinst wohl, wie festgeschweißt an meinem Rücken klebst.«
»Was alles über deinen Reitstil sagt. Wenn ich auch nur eine Sekunde locker lasse, liege ich im Rinnstein, während du abzischst wie eine Rakete.«
Hayden unterdrückte ein Lachen. »Versteh mich nicht falsch. Ich mag es durchaus, wenn du die Arme um mich schlingst, als ginge es um dein Leben. Dann fühle ich mich wie ein echter Held.«
Der Mann hatte vielleicht Nerven. »Auf dem Rückweg sitze ich vorn im Sattel und spiele mich auf, dann schauen wir mal, wie du das findest«, knurrte ich. »Und jetzt gib Stoff, du Held. Da drüben haben ein paar düstere Gestalten eben das Schaufenster eines Spirituosengeschäfts eingeschlagen. Ich will lieber der Verborgenen Gesellschaft entgegentreten, als hier zu sein, wenn die Gendarmerie eintrifft.«
Eine Tatsache, die Haydens guter Laune keinen Abbruch tat. »Wie Mylady wünschen«, sagte er. Dann schnalzte er mit der Zunge und sofort preschte Eclipse los, als habe er nur auf dieses Zeichen gewartet.
Zu meiner Erleichterung hatte Hayden richtiggelegen und schon bald wurde die Gegend deutlich ländlicher. London war zwar schon eine Weltstadt, aber eben noch nicht bis auf das letzte Fleckchen verbaut wie heutzutage. Als wir schließlich auf einen Wald zuritten, schien es, als wären wir viele Meilen von der City entfernt auf dem Land. Während ich mit einem flauen Gefühl im Magen auf das schwarze Gewirr aus Stämmen und nacktem Geäst blickte, riss die Wolkendecke auf und der Mond kam zum Vorschein.
»Es ist eine Vollmondnacht«, murmelte ich mit meinen vor Kälte ganz tauben Lippen. »Damit wäre auch die Frage geklärt, warum Honoré Bauchau den Spiegel unbedingt heute haben will: Nur das Licht des Vollmonds kann den Spiegel in ein Zeitportal verwandeln.«
»Dann ist es doppelt gut, wenn wir ebenfalls mit von der Partie sind.«
Dieser begeisterte Tonfall ging mir langsam auf die Nerven. »Hayden, kannst du mir einen Gefallen tun?«
Er warf mir einen fragenden Blick zu, während Eclipse zielstrebig in den Wald lief, der dank des kühlen Mondlichts und der Schatten, die er warf, jetzt noch unheimlicher wirkte. »Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um die Plätze auf dem Pferd zu tauschen«, sagte er. »Der Wald führt zum Hügel, auf dem Higher Castle liegt.«
Ich schüttelte den Kopf. »Darum geht es jetzt nicht. Kannst du bitte zugeben, dass du dir ebenfalls Sorgen darüber machst, was uns erwartet? Weil … in meinem Kopfkino ist gerade die Hölle los. Ich sehe traditionelle Opferungsriten, mit denen die Gunst des Mondgottes Thot errungen werden soll, vermummte Gestalten, die unheimliche Beschwörungsformeln singen, damit der Spiegel zum Leben erwacht, und einen Sir Henry, der im Adamskostüm den Mond anheult.«
»Das geht dir alles durch den Kopf – und zwar gleichzeitig?«, versicherte sich Hayden.
Himmel, ich wünschte, es wäre nicht so. »All das, und noch weitere gruselige Sachen, wie mein Zähneklappern beweist. Wer kann schon sagen, was die Verborgene Gesellschaft in dieser Ruine treibt? Das sind doch keine Pfadfinder.« Wirklich, ich war kurz davor zu hyperventilieren. »Also sag schon, dass ich nicht alleine damit bin und du ebenfalls einen Hauch beunruhigt bist!«
Hayden dachte nach. »Ist es okay, wenn ich lüge, nur, um dich zu beruhigen? Weil ich mir nämlich keine Sorgen mache.«
Das hatte ich nun davon, dass ich mich diesem Adrenalinsuchti gegenüber öffnete. »Hayden, das ist doch kein Ausflug«, regte ich mich auf. »Wenn du dich unbedingt amüsieren willst, dann mach das in deinem Club. Oder besuch illegale Faustkämpfe, falls du mehr Aufregung in deinem Leben brauchst.« »Zoe, beruhig dich«, unterbrach Hayden meinen Redeschwall. »Ich mach mir nur aus einem einzigen Grund keine Sorgen: Ich habe dich an meiner Seite, die weltbeste Zofe, besser bekannt als die geheime Verfasserin der WhisperWhisper-Briefe, die schlicht auf alles eine Antwort hat. Deshalb bin ich ganz entspannt unterwegs, schließlich habe ich dich ja in meinem Rücken.«
Oh. Das war süß. Wie gut, dass man im Mondlicht nicht sehen konnte, wie ich meine Gesichtsfarbe von einem verschreckten Weiß zu einem verlegenen Knallrot wechselte – um dann wieder weiß zu werden. Denn mal ehrlich, wenn Hayden seinen französischen Charme spielen ließ, dann doch nur, um mich um den Finger zu wickeln. Mach der kleinen Zoe ein Kompliment und schon vergisst sie alles andere. Oder meinte er es doch ernst? Bevor ich noch mal zu Rot wechselte, verpasste ich ihm lieber einen Schlag gegen die Schulter. »Hör auf, mit mir zu flirten, das ist nämlich ein ganz hinterhältiges Ablenkungsmanöver.«
»Aber eins, das funktioniert«, sagte Hayden eindeutig mit einem Lachen in der Stimme. »Wir sind nämlich fast am Ziel. Um die nächste Biegung liegt auf einem Hügel die Ruine Higher Castle. Auf diesem Wegstück hat mich das letzte Mal der Wachposten erwischt. Am besten verstecken wir Eclipse hinter den Büschen und schleichen uns zu Fuß durchs Dickicht an. Dann sind unsere Chancen größer, unentdeckt zu bleiben.«
»Zu blöd, dass der Mond gerade jetzt so hell am Himmel stehen muss.« Und dass die Nacht so still ist, fügte ich in Gedanken hinzu. Dadurch stieg das Risiko, uns durch mein wild pochendes Herz zu verraten.
Nachdem wir Eclipse sicher untergebracht hatten – was den Hengst übrigens gar nicht zu freuen schien, offenbar hatte er Geschmack am Abenteuer gefunden – , liefen wir los. Beziehungsweise ich tippelte los, weil ich im Gegensatz zu Hayden keine Reitstiefel trug, sondern Miss Lucies Pantoletten. Wenigstens war der Kapuzenmantel aus dunklem Stoff, sodass ich nicht gegen die winterlich kahle Landschaft abstach.
Wir schlugen uns durchs Unterholz abseits des Weges, der zur Burg führte. Als wir den Waldrand erreichten, fragte ich mich, ob die Aufregung überhaupt angebracht war. Denn die im Mondschein liegende Ruine, eine gewaltige Trutzburg aus grobem Stein, sah verlassen aus. Es gab keine Fackeln, die den Weg zum Tor beleuchteten, und in den Fensterscharten zeigte sich nicht der kleinste Lichtschein. Auch von der Kutsche, die die zwei Diebe aufgelesen hatte, war weit und breit keine Spur zu entdecken. Ich wies Hayden darauf hin, während ich hopsend den Pfützen auswich.
»Wahrscheinlich steht die Kutsche im Innenhof«, sagte er.
»Oder mit der Burg war ein anderer Treffpunkt gemeint und wir verschwenden in dieser Einöde nur unsere Zeit.«
»Das sollten wir möglichst schnell herausfinden. So weit alles okay bei dir, Zoe?« Hayden beobachtete mit gerunzelter Stirn, wie ich schimpfend meinen Mantel von einem Dornenzweig befreite und dann in letzter Sekunde einem Schlammloch auswich. »Soll ich dich vielleicht huckepack nehmen? Dein Fortbewegungsstil hat was von einem Frosch mit Wasserallergie.«
Wirklich, was bleibt einem bei so einem Vergleich anderes übrig, als mit erhobenem Kinn voranzuschreiten und den unverschämten Kerl keines Blickes zu würdigen? Andererseits hatte ich die Wahl zwischen ramponierten Schuhen und einem willigen Lastenesel. »Meinst du das Angebot ernst?«, fragte ich also doch, denn bei Hayden und seinem Humor konnte man nie wissen. »Schließlich bist du vorhin schon fast zusammengebrochen, weil ich mich etwas heftiger an dir festgehalten habe.«
»Festgekrallt«, korrigierte Hayden, während er mir galant die Hand reichte, als würde er mich zum Tanz auffordern.
Ich deutete einen Knicks an und hielt ihm meine Hand hin – die er sich plötzlich wenig vornehm schnappte, um mich an sich zu ziehen.
»Hey, jetzt bin ich in den Schlamm getreten«, beschwerte ich mich.
Doch Hayden zog mich bereits hinter ein Gebüsch. »Ich höre Pferdehufe, da kommt eine Kutsche.«
Jetzt hörte ich es auch: Jemand bretterte mit Karacho den Weg entlang. In Deckung warteten wir, bis tatsächlich ein geschlossener Zweispänner in Sicht kam, das Tempo nun gedrosselt. Der Kutscher warf häufiger einen Blick zurück, als dass er sich auf die Burg konzentrierte. Der Wagen rollte an unserem Versteck vorbei und blieb dann stehen.
»Wir wurden entdeckt«, flüsterte ich. »Ich hab ein paar fiese Selbstverteidigungskniffe drauf, mit denen niemand bei einer feinen Dame rechnet. Wie sieht es bei dir aus?«
Hayden krauste die Stirn. »Ich boxe seit meinem vierzehnten Lebensjahr.«
Das erklärte, warum Honoré Bauchau im Hyde Park direkt zu Boden gegangen war, als er Haydens Bekanntschaft machen durfte. Nun ja, und es erklärte auch seine breiten Schultern, die so gar nicht nach englischem Adelsspross aussahen.
In diesem Moment öffnete sich die Wagentür und ein Kerl mit finsterer Miene blickte hinaus. »Jetzt lass es gut sein, Morton«, rief der Mann. »Da war kein Pferdeschnauben im Wald zu hören, das hast du dir in deinem versoffenen Kopf bloß eingebildet. Es sind längst alle in der Burg versammelt und warten auf uns. Also treib endlich deine Gäule an.«
Murrend ließ der Kutscher die Zügel knallen und die Pferde setzten sich wieder in Bewegung.
Blitzschnell traf ich eine Entscheidung. »Komm mit«, flüsterte ich Hayden zu. Dann folgte ich geduckt der Kutsche und sprang hinten auf. Ich suchte noch nach Halt auf dem schmalen Tritt, als Hayden neben mir auftauchte und die Kutsche unter seinem Gewicht wegsackte. Im Inneren des Wagens ertönte Geschimpfe über den holprigen Weg. Doch das ging im Lärm der Kutsche unter, die auf der letzten Wegstrecke noch einmal ordentlich Tempo zulegte.
Hayden strich sich das Haar aus der Stirn, obwohl der Wind es ihm sofort wieder durcheinanderwirbelte. Bildete ich mir das ein, oder musterte er mich durchaus beeindruckt?
»Spontan, aber genial«, sagte er. »Das nächste Mal würde ich mich trotzdem über eine rechtzeitige Ansage freuen. Es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte dir hinterhergewunken.«
Eigentlich wäre es klüger gewesen, den Mund zu halten, auch wenn der Kutscher wegen des Fahrtwinds kaum etwas aufschnappen konnte. Nur hatte Hayden etwas an sich, das es mir unmöglich machte, mich nicht mit ihm zu kabbeln. »Normalerweise fahre ich nicht per Anhalter, aber ich dachte, das sei die perfekte Ausnahme. Hoffentlich bist du nicht zu enttäuscht über die verpasste Chance, mich durch die Gegend zu tragen. Dann könntest du dich noch etwas heldenhafter fühlen.«
Hayden zwinkerte mir zu. »Dazu wäre es gar nicht erst gekommen, weil du mir bestimmt die Sporen gegeben hättest.«
»Musst du eigentlich immer das letzte Wort haben?«
»Selbstverständlich nicht.«
Darauf hätte ich nur zu gern etwas erwidert, aber der Kutscher zügelte erneut die Pferde, als ein Knarren ertönte, das verdächtig nach einem sich öffnenden Tor klang.
Wir waren allem Anschein nach bei der Burg angekommen.
Ich zog meine Kapuze tief ins Gesicht und legte Hayden meinen weit schwingenden Mantel über, damit er sich darunter verbergen konnte. Nicht, dass man noch sein Gesicht aufblitzen sah. Dann holperte die Kutsche auch schon über das Kopfsteinpflaster eines Innenhofs, der von schwach flackerndem Feuerschein erleuchtet war. Als die Räder zum Stillstand kamen, wurden in mir doch Zweifel laut, ob meine Idee nicht eher eine riesige Dummheit war. Jedenfalls brauchte nur einer der Diebe einen Blick zurückzuwerfen, dann wären wir auch schon entdeckt. Da half es auch nichts, dass ich mich so klein wie möglich machte.
»Da seid ihr ja endlich! Wir erwarten euch bereits sehnlichst«, hallte eine Frauenstimme mit einem Akzent, den ich nicht zuordnen konnte, über den Hof. Aus England stammte die Dame jedenfalls nicht.
»Wir haben es geschafft – und der Mond steht voll und hell am Himmel. Wenn das kein Zeichen ist«, sagte einer der Diebe.
Bitte, bitte, flehte ich innerlich, verschwendet keine Zeit mit Rumstehen und Labern, sondern geht in die Burg. Ich konnte gern auf die Erfahrung verzichten, wie schwarz behandschuhte Finger meine Kapuze zurückschoben, während jemand zischte: »Schau mal an, wen wir da haben: eine kleine Lady, die sich verirrt hat.« Vermutlich würde es nicht reichen, schnell loszulaufen und wie beim Versteckenspielen »Sicher!« zu schreien. So etwas wie »Sicher« gab es auf Higher Castle nämlich nicht.
»Dann nehme ich an, dass ihr erfolgreich gewesen seid.« Die Frauenstimme erklang nun erschreckend nah. Sie stieß einen Freudenlaut aus, als die Diebe allem Anschein nach ihre Beute vorzeigten. »Großartig, allein wie sich das Mondlicht in seinem silbernen Grund spiegelt. Ich kann den eingearbeiteten Splitter sehen! Heute ist zweifelsohne die perfekte Nacht für seine Erweckung – und dann wird er uns verraten, wo sein passendes Gegenstück ist, nach dem ich schon so lange suche. Rasch, folgt mir – und nehmt euch welche von den Masken, die am Eingang bereitliegen. Wir wollen die Gesellschaft nicht länger warten lassen.«
»Momentchen«, krächzte der Kutscher. »Hier geht niemand nirgendwohin, bevor der alte Morton nicht seinen verdienten Lohn erhalten hat. Und dann mache ich mich aus dem Staub, diese Ruine ist mir zu unheimlich. Man erzählt sich schlimme Geschichten über das Gemäuer und seine Vergangenheit. Nein, um kein Geld bleibe ich an diesem verdammten Ort!«
»Das brauchst du auch nicht, nimm deine Münzen und geh, so schnell du nur kannst.« In die Frauenstimme hatte sich ein drohender Unterton eingeschlichen. »Und noch ein paar Münzen mehr für eine Extraflasche Rum, die dir vergessen hilft, dass du jemals hier gewesen bist. Fang!«
Etwas flog klimpernd durch die Luft.
Während ich noch die Ohren spitzte, glitt Hayden von der Kutsche und half dann mir hinunter.
»Jetzt oder nie«, raunte er.
Auf Zehenspitzen umrundeten wir die Kutsche, ohne jedoch ein Versteck zu finden. Da gab es nur Mauerwerk aus grob geschlagenen Steinquadern, gegen das wir uns pressen konnten. Anders ausgedrückt würden wir wie auf dem Präsentierteller sitzen, sobald sich die Kutsche von der Stelle rührte.
Der Kutscher jubilierte. Offenbar gefiel ihm, was ihm da an klirrender Münze entgegengeflogen war. Dann ließ er auch schon die Zügel knallen, damit die Pferde sich in Bewegung setzten.
Hayden und ich standen schreckstarr an die Wand gepresst, und waren schlicht nicht zu übersehen.
Langsam rollte die Kutsche an.
Ich bewegte mich in ihrem Schlagschatten mit und zog Hayden hinter mir her. Dabei muss ich zu meiner Schande gestehen, dass ich absolut keinen Plan hatte. Aber jede Sekunde, die wir länger unentdeckt blieben, war eine wunderbare Sekunde. Und dann, als die Kutsche einen Bogen beschrieb, dem wir nicht folgen konnten, weil wir sonst mitten im Innenhof gestanden hätten, ertasteten meine Hände eine Bruchstelle im Mauerwerk. Diese Ruine stand kurz vorm Einsturz, so viel war klar. Der Spalt war gerade groß genug, dass wir uns hineinquetschen konnten, auch wenn wir uns dafür ziemlich verrenken mussten. Nie hätte ich gedacht, dass ich mich darüber freuen könnte, dass Haydens Knie gegen meine Brust drückte und ich mir nicht sicher war, in welches seiner Körperteile ich meine Schulter bohrte.
Vor uns lag nun der spärlich beleuchtete Innenhof – und in ihm standen nicht nur die dunkel gekleideten Einbrecher mit dem Spiegel der Arlingtons, sondern auch eine Frauengestalt in einem bestickten, bodenlangen Umhang, die Kapuze bis in die Stirn gezogen. In der Hand hielt sie eine Laterne, die ihr Gesicht beleuchtete. Es war schneeweiß, ebenmäßig und reglos. Diese Frau musste eine Zeitreisende sein, deren Gesicht bereits vollständig seine Farbe verloren hatte. Sie sieht aus wie die Zwillingsschwester der Marquise de Minuit, dachte ich voller Schreck. Aber als sie etwas sagte, ohne dass sich ihre Lippen bewegten, ging mir ein Licht auf: Das Gesicht der Gestalt war hinter einer venezianischen Maske verborgen, die nur zwei Schlitze für die Augen freiließ.
Glücklicherweise waren Lady Bianco, wie ich die Maskenträgerin kurzerhand taufte, und ihre Schergen damit beschäftigt, der davonfahrenden Kutsche nachzuschauen, während sich das Tor wie von Zauberhand zu schließen begann. Als sie sich abwendeten, um zum Haupteingang der Ruine zu laufen, berührten Haydens Lippen mein Ohr.
»Das ist unsere letzte Chance, bevor das Tor ganz zu ist«, raunte er. »Wenn du dich gleich rausschleichst, kommst du unbemerkt zu Eclipse. Sitz auf und reite einfach los, der Hengst findet den Weg schon allein zurück nach Knightsbrigde. Falls ich bis morgen nichts von mir hören lasse, gib meinem Vater mit einem anonymen Brief Bescheid, wo ich bin. Falls die Aktion hier schiefläuft, bringt es ja nichts, wenn wir beide in der Burg festsitzen.«
Das war mal wieder typisch Hayden, tat großspurig so, als wäre das allein seine Angelegenheit. Und ich war nur sein süßer Sidekick, den er wegschicken konnte, sobald die Sache ernst wird.
»Das mit der Vorsichtsmaßnahme sehe ich ganz genauso, nur mit einem winzigen Unterschied«, sagte ich. »Ich bleibe – und du gehst. Falls man mich entdeckt, wird mir schon nichts passieren. Schließlich weiß Bauchau, dass ich eine Zeitreisende bin, die schon einmal den Spiegel erweckt hat. In seinen Augen wärst du nur ein nutzloses Anhängsel, das er mir nichts, dir nichts entsorgen könnte. Er hat ja keine Ahnung, dass du ebenfalls ein Zeitreisender bist.«
Hayden versteifte sich, was ich dank unseres notgedrungenen Zusammenklebens hautnah mitbekam. »Erinnere mich bitte nicht daran, dass ich die Reise ins 19. Jahrhundert deinen Künsten als Spiegelflüsterin zu verdanken habe.«
Ups, ein Eigentor. Obwohl Hayden behauptete, dass er mir die Sache mit seiner unfreiwilligen Zeitreise nicht übel nahm, hätte ich keinen Penny drauf gewettet, dass das stimmte. Hätte mich jemand, ohne zu fragen, in die Vergangenheit verfrachtet, würde ich jedenfalls nicht bloß mit der Schulter zucken und »C’est la vie« denken.
Bevor wir unsere Diskussion fortsetzen konnten, nahm uns das Tor die Entscheidung ab. Es verschloss sich nämlich mit einem letzten Knarren.
Punktgenau stöhnte Hayden neben mir auf.
Ich verkniff mir einen Kommentar, schließlich hatte ich immer noch ein schlechtes Gewissen, dass er überhaupt hier feststeckte. Anstatt in unserer Zeit herauszufinden, wie viele dreckige Kaffeetassen sich in einer WG-Spüle stapeln lassen, oder mit märchenhaft schönen Studentinnen Party zu machen, spielte er für mich das Kindermädchen. So fühlte es sich jedenfalls an, wenn er mich loswerden wollte, sobald es etwas turbulenter wurde. Wie jetzt, da es galt, die Höhle des Löwen zu betreten.
Darauf bedacht, nicht in den Lichtkreis der Fackeln zu treten, pirschten wir uns zum Eingang der Ruine, durch den Lady Bianco in Gesellschaft der beiden Diebe verschwunden war. Der gemauerte Bogen war bereits vor langer Zeit eingebrochen, sodass die Tür schief in den Angeln hing. Ein Anticken mit meinen vor Kälte steifen Fingern genügte und sie schwang erfreulich leise auf. Dafür lag hinter ihr alles in tiefster Dunkelheit. Es kam mir so vor, als würden wir in einen weit aufgerissenen schwarzen Schlund spazieren.
Wortlos nahmen Hayden und ich uns bei den Händen.
»Keine Wachen«, stellte ich fest.
»Sie gehen wohl davon aus, dass sowieso keiner in die Burg kommt, der hier nichts verloren hat. Deshalb auch die spärliche Beleuchtung im Hof: Es soll niemand angelockt werden.«
Hayden wollte schon einen Fuß in die Finsternis setzen, doch ich hielt ihn zurück. »Und wenn sie Fallen ausgelegt haben?«
Es war zu dunkel, um Haydens Gesicht lesen zu können, aber ich halte jede Wette, dass er die Augen verdrehte. »Deine Fantasie möchte ich haben. Aber gut, gehen wir das Risiko ein und machen etwas Licht.« Er griff in seine Manteltasche und einige Sekunden später leuchtete die Flamme eines Zündholzes auf.
Neugierig sah ich mich um.
Die große Diele war verlassen, dafür standen auf einer Anrichte zwei Kerzenleuchter. Bevor Hayden sich die Finger verbrannte, hatten wir eine Kerze entzündet. Aus dem Augenwinkel sah ich zu meinen Füßen gerade noch etwas davonhuschen.
»Schau mal, Mäuschen«, sagte ich. »Oder sind die Nager für Mäuschen etwas zu groß?«
Hayden inspizierte lieber eine große Kiste, die ebenfalls auf der Anrichte stand. »Hier drin sind jede Menge venezianische Masken. Offenbar bevorzugen die Mitglieder der Verborgenen Gesellschaft ihre Anonymität. Wir sollten unbedingt auch welche tragen für den Fall, dass man uns entdeckt.«
Wenn es ums Verkleiden ging, war ich sofort dabei. »Die sind ja richtig schön! Ich nehme die schwarze Halbmaske, ganz Dame von Welt, und du … du nimmst den Raben.«
»Das Teil mit der Riesennase? Wohl kaum, die hat auch sonst niemand genommen, so viele, wie es davon noch gibt. Ich nehme die gleiche Maske wie du. Das ist sicher unauffälliger, falls wir uns unter die Gesellschaft mischen müssen, um an den Spiegel zu kommen.«
Allein bei der Vorstellung wurde mir mulmig. Mein Bauchgefühl empfahl mir eindeutig einen gut versteckten Beobachtungsposten, auf dem man schön auf Abstand bleiben und jede Konfrontation vermeiden konnte. Wer auch immer hinter der Verborgenen Gesellschaft steckte, mit ihm war nicht zu spaßen. Schließlich hatten diese Leute nicht einmal davor zurückgeschreckt, zweimal hintereinander in das gut bewachte Herrenhaus der Arlingtons einzubrechen.
Nachdem wir unsere Masken aufgesetzt hatten, musste ich ein Grinsen unterdrücken. Hayden sah schon ziemlich heftig nach »50 Shades of Regency« aus in seinem schicken Mantel, mit dem zurückgestrichenen Haar und der Kerze in der Hand, die flackernde Schatten auf sein maskiertes Gesicht warf. Aber für solche Albernheiten war jetzt keine Zeit. Die Ohren gespitzt schlichen wir durch die Diele, an deren Ende sich eine Treppe befand – und uns vor eine Entscheidung stellte: Sollten wir hinaufsteigen oder runter ins Kellergeschoss gehen?
»Lass uns nach oben gehen«, schlug ich vor. »Bestimmt gibt es dort einen Festsaal. So was hat doch jede anständige Burg im Angebot.«
Mit einem unterdrückten Fluch sprang Hayden auf die Treppe. »Hauptsache, wir setzen uns in Bewegung. Deine verdächtig nach Ratten aussehenden Mäuschen werden langsam zutraulich. Eben ist eine graue Pelzkugel über meinen Stiefel geflitzt.«
Die Treppe führte auf eine Galerie, auf der zwischen verstaubten Ritterrüstungen jede Menge Gesteinsbrocken herumlagen. Die marode Bogendecke war durchbrochen von Ritzen und Löchern, durch die das Mondlicht fiel, als wollte es uns necken. Beklommen blickte ich alle paar Schritte hinauf, ob dort auch wirklich alles an Ort und Stelle blieb. Ich hatte keine Lust, diesen Ausflug mit einer Gehirnerschütterung abbrechen zu müssen, bevor der Spaß überhaupt losging.
Als wir am Ende der Galerie vor einer prunkvollen Tür anhielten, presste ich mein Ohr gegen das Holz. »Nichts zu hören«, wisperte ich. »Falls dahinter die Verborgene Gesellschaft versammelt sein sollte, ist sie gerade mit Meditieren beschäftigt.«
»Finden wir es heraus.« Hayden griff nach der Klinke – und fuhr im nächsten Moment zurück, als habe sie ihm einen Schlag verpasst. Erschrocken sah er mich an, dann begriff ich, dass sich die Klinke von allein bewegte.
Jemand öffnete die Tür von der anderen Seite!
Panisch blickte ich mich nach einem Versteck um, aber Hayden hatte bereits eine Idee: Er blies die Kerze aus, dann drückte er mich gegen die Wand und baute sich vor mir auf. Für einen Atemzug dachte ich, dass er uns so verbergen wollte, wie ein Kind, das sich die Augen zuhält und glaubt, dass man es nicht mehr sehen kann. Doch als sich die Tür neben uns öffnete, legte Hayden eine Hand um meinen Nacken, und während ich noch überrascht nach Luft schnappte, versiegelte er meinen Mund mit seinen Lippen.
Es war ein Kuss.
Nein, es war kein Kuss.
Nur seine Lippen auf meinen.
Aber genau da waren sie. Ich konnte ihre Wärme spüren und auch eine leichte Rauheit, die Ahnung eines Geschmacks, der von ihnen ausging … lauter Dinge, die ich so genau eigentlich nicht wissen wollte. Und trotzdem bekam ich sie hautnah mit, und ein Teil von mir machte ein Geräusch, das verdächtig nach einem dahinschmelzenden »Mmhhh« klang. Das war, bevor jemand neben uns verblüfft grunzte.
Statt zurückzuzucken, drängte Hayden sich dichter an mich und neigte sanft den Kopf, sodass seine Lippen sich noch mehr an meine schmiegten. Ich schlang die Arme um ihn, halb schauspielernd, halb, weil ich nicht anders konnte. Die Zeit schien sich auszudehnen, als würde dieser Kuss, der keiner war, sie aus ihren Angeln heben.
Licht fiel auf uns, dann räusperte sich jemand und sagte: »Entschuldigen die Herrschaften bitte vielmals die Störung.«
Als würde man ihn aus einem süßen Traum reißen, löste Hayden sich von mir und funkelte den Störenfried an, der hastig einen Schritt zurücksetze. Seiner Bekleidung und seinem verschreckten Gesichtsausdruck nach handelte es sich um einen Lakaien. »Was schleichst du dich so an, verdammt noch mal?«, blaffte Hayden ihn in bester Adelsmanier an. »Siehst du nicht, dass dich hier keiner braucht?«
Die Laterne in der Hand des Lakaien zitterte. »Es tut mir unendlich leid, Mylord. Es ist nur … Ihr solltet lieber im Gewölbe unter dem Ostflügel bleiben. Dieser Teil der Ruine ist nicht sicher, hier kann jederzeit Mauerwerk herabstürzten.«
»Willst du uns etwa Angst machen, du unverschämter Kerl?«, knurrte Hayden. »Ich finde es hier nämlich durchaus romantisch – und meine Liebste auch. Zumindest fand sie es bis eben.« Er sah mich erwartungsvoll an, jetzt war es an mir.
Okay, was wurde von einer feinen englischen Lady in einer solchen Situation erwartet? »Oh, Darling, eine solche Aufregung ist nichts für meine Nerven«, hauchte ich und lehnte mich an Haydens Schulter, als schwänden mir bereits die Sinne.
Grimmig schlang Hayden einen Arm um mich. »Du solltest besser zusehen, dass du Land gewinnst, solange ich mich um meine Dame kümmern muss.«
Vorsorglich brachte sich der Lakai hinter der Tür in Sicherheit. »Vielleicht wird es Euch freuen zu erfahren, dass das Artefakt soeben gebracht worden ist und die Warterei damit ein Ende hat, Euer Hochwohlgeboren. Bestimmt werdet Ihr schon sehnlichst im Gewölbe erwartet.«
»Wir haben das Artefakt endlich in unseren Händen? Das ist wahrhaftig eine gute Nachricht!« Voller Überschwang gab Hayden mir einen Kuss auf die Wange. Echter ging es wirklich nicht. Bei dieser launischen Darbietung kam dem Lakaien nicht der leiseste Hauch eines Zweifels, dass er es nicht mit einem Vertreter der höheren Kreise zu tun hatte. Für ihn waren wir zwei gelangweilte Mitglieder der Verborgenen Gesellschaft, die sich heimlich für ein Tête-à-Tête davongeschlichen hatten, solange die Zusammenkunft nichts als Warterei zu bieten hatte.
»Das Zeremoniell wird gleich beginnen. Ich habe auf Wunsch der ehrenwerten Hohepriesterin soeben die Lichtschleusen im Westturm geöffnet und der Himmel klart zunehmend auf.« Der Lakai war offenbar so froh, Hayden in gute Laune versetzt zu haben, dass er beim Reden kaum Luft holte. »Die Wachen sind bereits vor sämtlichen Ausgängen postiert, damit nichts und niemand das heilige Unterfangen stören kann.«
Wachen? Na, klasse. Das bedeutete, dass wir uns auch nicht mehr heimlich davonschleichen konnten. Aber das habe ich ja ohnehin nicht vor, beschloss ich kurzerhand und hob mein Kinn so hoch, dass man mir sicherlich in die Nasenlöcher blicken konnte. »Dann sollten wir keine Sekunde mehr verschwenden und uns umgehend dem Rest der Gesellschaft anschließen.«
»Wollen wir zwei Hübschen denn nicht noch ein Weilchen unter uns bleiben und später nachkommen?«, murmelte Hayden, der noch nicht bereit zu sein schien, sich seinem Schicksal zu fügen.
»Wir wollen doch die Wachen in ihrer Pflicht nicht durcheinanderbringen, wenn sie uns hier entdecken«, sagte ich tadelnd. »Am Ende verwechseln sie uns noch mit zwei Eindringlingen.«
Hayden zupfte das Samtband meiner Kapuze zurecht. »Das wollen wir natürlich um jeden Preis vermeiden. Geh voran, Bursche, und leuchte uns den Weg.«
Der Lakai verbeugte sich, dann marschierte er los – allerdings nicht in den Saal, aus dem er gekommen war. Er führte uns wieder über die Galerie zur Treppe, was dann wohl bedeutete, dass kein Besuch eines prunkvollen Festsaals anstand. Stattdessen stiegen wir in den Keller hinunter, der einen muffigen Geruch verströmte. Kaum hatten wir die letzten Stufen erreicht, nahmen wir ein Stimmengewirr wahr. Es klang ganz danach, als sei die Verborgene Gesellschaft mehr als ein intimes Kaffeekränzchen.
An den unverputzten Wänden brannten Fackeln in eisernen Halterungen und leuchteten uns den Weg, während wir immer tiefer in ein unterirdisches Gängelabyrinth vordrangen. Nie hätte ich damit gerechnet, dass sich unter der halb zerfallenen Burg ein solch weitverzweigtes Reich auftun könnte.
Auch Hayden blickte sich staunend um. »Dieses Gewölbe ist unglaublich, als würde ein Großteil der Burg unter der Erde liegen.«
Der Lakai blickte über seine Schulter. »Sehr beeindruckend, fürwahr. Ihr seid sicherlich entzückt, dass Eure großzügige Unterstützung, Higher Castle für dieses besondere Ereignis herzurichten, zu solch einem vortrefflichen Ergebnis geführt hat.« Offenbar zählte er uns zu einer Gruppe wohlhabender Zeitreisebegeisterter, die Honoré Bauchaus Suche nach den Mondscheinspiegeln finanzierte. »Die neueren Gewölbe, durch die wir eben gegangen sind, dienten früher als Lager und Arbeitsräume. Die Krypta, die mein Herr bei seiner Erforschung der Burg entdeckt hat, ist sehr viel älter, in ihrem Kern vielleicht sogar heidnisch. Ein uralter Kultort, verborgen im Schoß von Mutter Erde, versteckt vor den Augen Ungläubiger. Darauf deutet zumindest der Altar hin, auf den der Vollmond sein sagenumwobenes Licht wie durch Zauber richtet. Man könnte sagen, es war eine wundersame Fügung, dass mein Herr sie gefunden hat. Als habe die Krypta nur darauf gewartet, die Verborgene Gesellschaft standesgemäß zu beherbergen und zum Schauplatz der Wiedererweckung des Zeitenspiegels zu werden. Meiner bescheidenen Meinung nach ein Zeichen, dass Thot uns wohlgesinnt ist.«
»Den Eindruck habe ich auch. Nicht wahr, mein Herz?« Hayden plinkerte mich so verknallt an, dass ich ein Grinsen unterdrücken musste. Man konnte es auch übertreiben mit der Performance. Aber gut, das Spiel hatte ich ebenfalls drauf, und die Masken machten es sogar leichter.
»Jeder Moment mit dir im Mondlicht ist eine göttliche Fügung«, schnurrte ich und schaute Hayden tief in die Augen. Offenbar zu tief, denn auf einmal war jede Spur von Albernheit wie weggewischt. Ohne es zu merken, waren Hayden und ich stehen geblieben und schauten einander an, als würden wir uns zum ersten Mal sehen. Und irgendwie war es auch so, als habe jemand an einem Rädchen gedreht und uns beide auf Anfang gesetzt.
Der Lakai räusperte sich verlegen. »Nur noch diesen Stollen entlang, dann sind wir da. Wenn die Herrschaften belieben würden?«
Sichtlich widerwillig löste Hayden den Blick. »Gut, wir sollten wirklich keine Zeit verlieren.«
Der Stollen war nicht mehr als ein von Schutt befreiter schmuckloser Gang, der sich jedoch schon nach einigen Metern in einen kunstvoll gemauerten Vorraum weitete. Hinter einem schweren Vorhang waren jetzt deutlich Stimmen zu hören. Allem Anschein nach tagte dort die Verborgene Gesellschaft.
In der ganzen Aufregung war ich überhaupt nicht dazu gekommen, mir Gedanken zu machen, dass wir gleich mitten unter unseren Feinden stehen würden, lediglich mit einer Maske ausgestattet, die das halbe Gesicht verbarg. Was, wenn die Gesellschaft an einer Tafel saß, an der kein einziger Platz frei war, sodass wir uns gleich verraten würden? Oder sie aus einem Kreis von zwölf ausgewählten Vertretern bestand, die sich bei den Händen hielten und keineswegs auf Nachzügler warteten? Oder man hatte den Altar, den der Lakai eben erwähnt hatte, für eine Opferdarbringung vorbereitet und eben noch mal sorgfältig die Messer geschliffen … Hayden hatte recht, meine Fantasie war echt ein Handicap in solchen Situationen. Allerdings war es nun zu spät, die Röcke zu raffen und schreiend davonzurennen.
Der Lakai zog den Vorhang beiseite, Hayden bot mir seinen Arm an, den ich ganz ladylike nahm, und dann betraten wir die Krypta.
Niemand zeigte mit dem Finger auf uns und schrie: »Spione!«
Es hielt uns auch kein Wächter einen Dolch an die Kehle und forderte das Losungswort. Genauso wenig wollte irgendjemand geheime Tattoos sehen oder begrüßte uns mit einer komplizierten Abfolge von Abklatschern, bei der Hayden und ich nur dumm aus der Wäsche geguckt hätten. Vom Spiegel und der angekündigten Hohepriesterin war allerdings auch nichts zu entdecken, worüber ich, ehrlich gesagt, gar nicht so traurig war. Nach der ganzen Aufregung musste ich mich erst mal akklimatisieren.
Möglichst unauffällig ließ ich meinen Blick schweifen. Was in der Krypta stattfand, war zumindest nach meinem ganzen Kopfkino eine Enttäuschung. Es sah nämlich alles eher nach einem Stehempfang aus, bei dem maskierte Herrschaften in gewisperte Gespräche vertieft waren, während zwischen ihnen Lakaien mit Getränketabletts umherliefen. Wir wurden kurz beäugt, dann wendete sich die Gesellschaft wieder interessanteren Dingen zu. Vermutlich fachsimpelten sie über mögliche Zeitreiseziele oder die Frage, ob man den Mondspiegel reproduzieren und damit ein Riesengeschäft machen könnte. Warum auch nicht? Wer es bis in die Burg geschafft hatte und die Kleidung der namhaften Schneider aus der Bond Street trug, war sicher ein vollwertiges Mitglied dieses exklusiven Clubs. Ich schwor mir, Miss Lucie künftig noch treuer zur Seite zu stehen, weil sie mir so lieb Kleid und Mantel geliehen hatte. In meinem Rüschennachthemd wäre ich schon längst aufgeflogen.
Der Lakai, der uns zur Krypta geführt hatte, verbeugte sich nach allen Regeln der Kunst. »Wünsche den Herrschaften noch einen spektakulären Abend. Ich darf mich nun empfehlen«, säuselte er. Im nächsten Moment war er auch schon im Gedränge verschwunden.
»Und weg ist er. Mist«, schimpfte Hayden. »Ich dachte, er könnte uns zu seinem Herrn, dem Kopf der Verborgenen Gesellschaft führen.« Er machte Anstalten, dem Lakaien zu folgen. Was ja so überhaupt nicht auffällig gewesen wäre.
»Lass uns erst mal die Lage sondieren«, schlug ich deshalb vor.
Hayden zuckte mit den Achseln. »Wir sind in einem Kellerraum voller maskierter Leute. Was gibt es da groß auszukundschaften?«
Ich musste nicht lange nachdenken, schließlich hatte ich massenweise historische Abenteuerromane gelesen. »Potenzielle Fluchtwege natürlich. Außerdem sollten wir so viele Informationen wie möglich sammeln, damit wir später gezielt vorgehen können. Vertrau mir, auf dem Internat, das ich normalerweise besuche, organisiere ich einen Mitternachtsclub, von dem die Schulleitung nicht mal ahnt, dass er überhaupt existiert. Und so sollte es auch hier laufen: Wenn wir uns aus dem Staub machen, darf die Verborgene Gesellschaft keinen Schimmer haben, dass wir überhaupt da gewesen sind.«
Trotz der Maske war zu erkennen, dass Hayden die Stirn in Falten legte. »Hast du etwa einen Ersatzspiegel unter deinen Röcken, den wir ihnen unterjubeln können? Sonst wird es nämlich schwierig mit deinem favorisierten Ninja-Abgang.«
Mit Hayden zu diskutieren war ungefähr genauso sinnvoll wie ein Gespräch mit Spitz-Primadonna Prickelton über sein dünkelhaftes Benehmen. Also schenkte ich mir das und schaute mich stattdessen um.
Die Krypta war ein von Säulen gehaltenes Gewölbe, dessen Boden glücklicherweise tipptopp sauber war. Von ausgeblichenen Schädeln, mit Leichentüchern bedeckten Bahren oder gar aufgehäuften Knochenresten in der Ecke war keine Spur zu entdecken, wie ich zu meiner Erleichterung feststellte. Dafür spannten sich zwischen den Säulen Bögen, die den sich wandelnden Mond zeigten. Das konnte doch kein Zufall sein … Vom Mondlicht selbst war hier unten allerdings nichts zu sehen, die Hauptkuppel versank in Schwärze. Was ich viel interessanter fand, waren die Durchbrüche an den Seitenwänden der Krypta. Soweit es im Licht der Fackeln zu erkennen war, gingen vom Hauptraum weitere Räume ab. Allem Anschein nach war das Erdreich unter Higher Castle durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Möglicherweise gab es sogar einen Tunnel, der in die Stadt zurückführte, oder zumindest einen Fluchtweg nach draußen. Das würde auch erklären, warum der Innenhof nicht voller Kutschen stand. Denn dass diese vornehmen Herrschaften zu Fuß nach Higher Castle gekommen waren, bezweifelte ich doch sehr. Die meisten Adeligen waren ja schon aus der Puste, wenn sie sich nach ihrer runtergefallenen Serviette bückten.
Während ich Hayden über meine Beobachtungen informierte, checkte er die Gäste genauer ab. Jedenfalls versuchte er es.
»Das bringt nichts, in ihren dunklen Mänteln gleichen die Herrschaften einander wie ein Ei dem anderen«, murrte er. »Kannst du Bauchau in diesem Gewühl entdecken?«
Leider war es nicht drin, dass ich mich auf die Zehenspitzen stellte. Eine Dame von Rang hopste nicht auf der Stelle, um sich eine bessere Übersicht zu verschaffen. Also scannte ich ohne allzu große Hoffnung die Menge ab nach der vertrauten Silhouette von Gastgeber Honoré Bauchau, aber auch nach Sir Henry Beowulf Satinville, besser bekannt als Duke of Richmond und vermeintlicher Förderer der Verborgenen Gesellschaft. Doch es waren einfach zu viele Gestalten, die sich darum bemühten, keinen Hinweis auf ihre Identität zu geben. Wer sich in diesen Kreisen tummelte – einer Organisation, die nicht einmal vor Einbrüchen zurückschreckte –, legte wahrscheinlich keinen Wert darauf, erkannt zu werden. Damit lag die Macht und das Geschick der hoffnungsfrohen Zeitreisenden in den Händen derjenigen, die alle Namen kannten. Wer auch immer hier die Fäden zog, er oder sie spielte ein raffiniertes Spiel.
Mit größter Selbstverständlichkeit nahm Hayden zwei Gläser vom Tablett eines vorbeigehenden Lakaien. Dem Sohn einer alleinerziehenden Mutter, der in den Vororten von Paris aufgewachsen war, hatten ein paar Wochen als junger Lord ausgereicht, dass ihm Empfänge genauso alltäglich waren wie ein Schwatz mit den Nachbarn. Meine Nerven hingegen lagen blank. Zofen trieben sich hinter den Kulissen herum und nicht auf roten Teppichen. Deshalb lehnte ich auch nicht ab, als Hayden mir ein Glas mit unbekanntem Inhalt in die Hand drückte. Hastig nahm ich einen Schluck.
Ein großer Fehler, wie sich eine Sekunde später herausstellte, als meine Zunge in Flammen aufging. Entgegen jeder Etikette spuckte ich das Teufelszeug zurück ins Glas. »Schenken die hier Gift aus?«, krächzte ich.
Als müsse er das erst mal genau überprüfen, trank Hayden aus seinem Glas, bevor ich ihn davon abhalten konnte. Im Gegensatz zu mir schien er es jedoch zu genießen, dass sein Mund verätzt wurde.
»Das ist Punsch, ein absoluter In-Drink und Mitbringsel der Seefahrer der Ostindien-Kompanie«, erklärte er weltmännisch. »Wenn du die hochprozentige Mischung runterbekommst, verursacht sie dir nicht nur einen satten Rausch, sondern hilft auch gegen die Kälte. Da sind neben jeder Menge Brandwein nämlich auch richtig gesunde Gewürze drin.«
Ich widerstand dem Bedürfnis, meine Zunge nach Brandblasen abzutasten. »Hochprozentiges, verstehe. Wenn ich jetzt in die Nähe einer Kerze komme, kann ich mich als Feuerschluckerin betätigen.«
Kaum hatte ich das ausgesprochen, loderten neben uns Flammen auf.
»Das war ich nicht!« Sicherheitshalber schlug ich mir die Hand vor den Mund.
Dann erst bemerkte ich, dass in der Krypta verteilte Feuerschalen entzündet wurden. Gleichzeitig setzte das Schlagen von Trommeln ein, wie aus weiter Ferne und doch so eindringlich, dass ich ihre Vibration bis in die